Die Frequenzen - Clemens J. Setz - E-Book

Die Frequenzen E-Book

Clemens J. Setz

3,8

Beschreibung

Walter und Alexander waren Freunde, als sie noch Kinder waren - nun kreuzen sich ihre Wege wieder Dies ist die Geschichte von Walter, dem Sohn eines Architekten mit Einfluss. Er will Schauspieler werden - oder will es nur sein Vater? Walter bekommt seine Chance, als ihn Valerie, eine Psychotherapeutin, die bessere Tage gesehen hat, engagiert, um in Gruppensitzungen fiktive Patientenrollen zu spielen. Doch er geht zu sehr in seiner Rolle auf. Dies ist die Gechichte von Alexander. Er ist Altenpfleger, ein junger Mann mit ausufernder Phantasie, die sich im Schatten einer einsamen Kindheit entwickelt hat. Alexander kündigt seinen Job, und er will seine Freundin loswerden, um mit Valerie zusammenzuleben. Doch die wird eines Tages brutal zusammengeschlagen... Nach "Söhne und Planeten", seinem Debüt, das ihm einhelliges Lob der Kritik einbrachte, legt Clemens J. Setz ein Werk vor, das alle Erwartungen sprengt: atemberaubend kraftvoll, bunt, sprachgewaltig und zart.

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Clemens J. Setz

Die Frequenzen

Clemens J. Setz

Die Frequenzen

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2009 Residenz Verlag

im Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Covergestaltung: Ramona ScheiblauerUmschlagbild: Bildagentur plainpicture

ISBN ePub:978-3-7017-4221-9

ISBN Printausgabe:978-3-7017-1515-2

für Julia

Erster Teil: Menschen im Spiegel

He was sometimes sceptical about technology, which contributed to making his own mechanical inventions primitive and full of human, plant, and animal parts. While most machines work to make difficult tasks simple, his inventions made simple tasks amazingly complex. Dozens of arms, wheels, gears, handles, cups, and rods were put in motion by balls, canary cages, pails, boots, bathtubs, paddles, and live animals for simple tasks like squeezing an orange for juice or closing a window in case it should start to rain before one gets home.

www.rubegoldberg.com

Alles Beständige büßt seine Eindruckskraft ein. Alles, was die Wände unseres Lebens bildet, sozusagen die Kulisse unseres Bewusstseins, verliert die Fähigkeit, in diesem Bewusstsein eine Rolle zu spielen. Ein lästiges dauerndes Geräusch hören wir nach einigen Stunden nicht mehr.

Robert Musil

Die Zugfahrt

Gerade als er eine passende Formulierung für seine Begrüßung gefunden hatte, wurde der junge Mann am Zugfenster von einem Tunnel überrascht, dessen unvermittelt einsetzende Finsternis ihm wie zur Verhöhnung sein bleiches Gesicht in der zitternden Fensterscheibe vorhielt. Sein Gesichtsausdruck, der halb offen stehende Mund und die quecksilbrig über sein Spiegelbild wandernden Regentropfen gaben ihm für einen Augenblick das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein.

Er schüttelte den Kopf über seine Schreckhaftigkeit, griff in die Mantelinnentasche und berührte die kleine, scharfkantige Fahrkarte, nur um sich zu versichern, dass alles in Ordnung war. Dabei streifte er an sein Hemd. Es war schweißnass.

Nach kurzer Zeit tauchte der Zug wieder aus dem Tunnel zurück ins trübe Tageslicht. Der grau gefleckte Oktoberhimmel hing immer noch schwermütig und tief über der Landschaft. Wenn man lange genug schaute, wirkte er sogar ein wenig durchhängend, als befände man sich unter einer Matratze in einer riesigen Schlafkoje.

Der junge Mann stellte verärgert fest, dass er seine Begrüßung wieder vergessen hatte, und versuchte sich zu erinnern, aber das Einzige, was ihm in den Sinn kam, war die verschwommene Endlosschleife der vorübersausenden Vegetation am Rand der Bahnstrecke, kurz vor der Einfahrt in den Tunnel, als er aus dem Fenster gestarrt hatte. Während er nachdachte, legte sich ein Knöchel seiner linken Hand auf seine Oberlippe und wanderte langsam Richtung Nasenspitze. Als die Hand dort angekommen war, sprang ein Funke über, und ihm wurde klar, dass alle Anstrengungen zwecklos waren, die Formulierung war verschwunden, für alle Zeiten verloren.

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

Er stand auf, um sich ein wenig zu bewegen. In diesem Moment neigte sich der Zug etwas zur Seite, eine scheinbar unendliche Kurve, und der junge Mann musste ein paar Schritte in Richtung Abteiltür machen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Seine Blase machte sich bemerkbar. Er taumelte durch den schwankenden Gang, seine Hand berührte die eiskalte Fensterscheibe. In den Abteilen, an denen er vorbeikam, saßen Menschen auf Standby-Betrieb. Die Toilette war ein winziger, lichtarmer Raum, eine mittelalterliche Büßerzelle. Als er sich umdrehte, um die Tür hinter sich zu schließen, streiften seine Mantelschöße die metallfarbene Kloschüssel, die mehr an einen umgedrehten Stahlhelm erinnerte. Trotz der Enge zog er den Mantel aus und warf ihn sich, nach Art eines Flagellanten, über die Schulter. Der Lärm in der Kabine war unerträglich. Über die trüben Milchglasscheiben wanderten schwarze Attrappen von Regentropfen.

Walter hatte große Mühe, seinen Urinstrahl zu kontrollieren. Mehrere Male traf er neben die Kloschüssel, auf den Boden und die Wand, auf der zwei kleine Rinnsale abwärts wanderten.

Als er fertig war, betätigte er die Spülung. Einige Sekunden lang geschah nichts, dann öffnete sich in der Schüssel ein brüllendes, dreckverkrustetes Loch und gab einen kurzen Blick auf die unter dem Zug dunkel dahinflimmernden Schwellen frei; zumindest kam es Walter so vor. Genau hatte er nicht hingesehen.

Sich das Hemd wieder in die Hose steckend, schwankte er zurück zu seinem Abteil.

Durch die Fenster am Gang konnte er sehen, dass sich draußen eine Vorstadt zu bilden begann. Häuser mit tief in die Stirn gezogenen Dächern duckten sich hinter Hecken und dichte Baumreihen. Zäune plapperten vorbei. Ein einzelnes Auto mit einem großen, schwarzen Skisarg auf dem Dach stand hinter einem Bahnschranken und winkte dem vorbeidonnernden Zug mit seinen Scheibenwischern hinterher. Ein Autofriedhof schob sich ins Bild und bot dem Blick des Reisenden einen Haufen kaputter Autos auf einer silbernen Plattform dar, von denen manche durch den Schleier des Regens aussahen wie schlampig aus der Verpackung gewickelte, halb geschmolzene Pralinen.

Dann kamen die ersten Menschen, gebeugte Gestalten unter Regenschirmen, mit Einkaufstaschen und Kindern an der Hand. Die Stadt begann und der Zug wurde langsamer.

Walter ließ die Tür des Abteils gleich offen stehen, zog sich seinen Mantel wieder an, weckte seinen alten Reisekoffer und zerrte ihn vom Gepäckfach herunter, dann reihte er sich in die Schlange ein, die sich in dem engen Zugkorridor gebildet hatte. Er blickte durch das Fenster auf den Bahnsteig, ob vielleicht jemand gekommen war, um ihn abzuholen, aber er konnte nichts erkennen; nur eine alte Frau, die eine rote Gießkanne trug und offenbar Blumen verkaufte.

Man hatte ihm ausdrücklich gesagt: Warte auf dem Bahnsteig. Und um sich zu vergewissern, holte er aus der anderen Mantelinnentasche den Zettel hervor, auf dem er das E-Mail ausgedruckt hatte, und las die betreffende Stelle dreimal hintereinander. Lieber Walter! Dass du schon morgen kommst, ist für uns nicht – Zeilenumbruch. Auf dem nächsten Wort saß sein Daumen, der Nagel abgekaut bis aufs Fleisch.

Zumindest hab ich nichts falsch gemacht, dachte er.

Er stieg die Metallstufen hinunter auf den Bahnsteig. Auf festem Boden fühlte er sich sofort ein wenig sicherer. Als er merkte, dass er im Weg stand – entsetzlich hektische Menschen, die ihren Zug erwischen mussten, der schon wieder im Begriff war weiterzufahren –, ging er zu einer der Bänke auf dem Bahnsteig und ließ sich nieder. Sein Koffer lehnte sich an sein linkes Bein.

Nein, es war niemand gekommen. Die Frau mit der Gießkanne hielt ihre Hand auf und ein junger Mann zählte Münzen hinein. Eine der langstieligen Blumen, die in der Gießkanne steckten, hatte einen großen, feucht und schwer herabhängenden Kopf mit einer weit aufklaffenden Blüte. Sie sah aus wie eine gähnende Schlange.

Walter wandte den Blick den Menschen zu, die mit seinem Zug weiterfahren würden, vermutlich die ganze Nacht, in weit entfernte Städte. Der Zug ließ sich noch etwas Zeit zum Verschnaufen, sein großes schwarzes Haupt in der Tränke am Ende des Bahnsteigs. Walters Blick glitt über die Menschen hin, die meisten waren nicht besonders interessant, bis er ein Pärchen entdeckte, das gerade Abschied voneinander nahm. Die Frau stand hinter dem Fenster im Zugabteil und der Mann an der schmutzig-gelben Begrenzungslinie am Bahnsteig. Die Leute mussten ihm ausweichen, mit ihren Koffern und Kindern und allem, was man sonst noch im Leben hinter sich herziehen musste. Doch das Paar bekam vom regen Verkehr ringsum nur wenig mit, beide sprachen miteinander in ihre Mobiltelefone. Der Anblick erinnerte ein wenig an Gefängnisbesuche aus amerikanischen Filmen. Und dann kam unvermittelt der Moment, da sie beide auflegen mussten, aus irgendeinem Grund, und die Frau begann ihr Gepäck im Abteil zu verstauen. Sie sah nicht mehr aus dem Fenster, eine Strähne fiel ihr ins Gesicht und sie wischte sie weg, und ihre Reise und ihr Fortsein begannen in diesem Augenblick vor den Augen des Mannes, der weiter in das Abteil starrte wie ein Fensterputzer in ein Büro voller rätselhafter Vorgänge. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und klopfte an die Scheibe.

Walter musste lächeln.

Und da war sie wieder, das bekannte, vertraute Gesicht. Die Frau im Abteil sah zu dem Mann nach draußen und winkte, als wollte sie sagen: Ja, ich seh dich schon. Eine blecherne Lautsprecherdurchsage verkündete das Urteil. In diesem Moment setzte sich der Zug in Bewegung, schwerfällig, schleppend, wie ein Trauerkondukt.

Walter erhob sich und trottete davon.

Er trat aus dem Bahnhofsgebäude, hinein in den Nieselregen. Er umrundete ein paar merkwürdig geformte Mülltonnen im Eingangsbereich. Auch hier war niemand zu sehen.

Im Schutz eines schmalen Vordachs ging er um die Ecke. Über die Windschutzscheiben der Autos lief Wasser. Neben dem Bahnhof war ein kleines Kino, kein heruntergekommenes Pornokino wie in der Stadt, aus der er gerade gekommen war, mit sirenenhaft quietschenden Eingangstüren und wundgescheuerten Wänden, sondern eines, das sich auf Filmklassiker spezialisiert hatte. Überall hingen abgerissene Kinoplakate, die stellenweise mit der Mauer verschmolzen waren. Vertigo. Metropolis.

Walter hatte den Eindruck, dass ihm jemand folgte. Als er sich umblickte, bemerkte er Tropfen auf seiner Schulter. Seine rechte Wange fühlte sich merkwürdig an, als befände sich der eigentliche Blickwinkel seiner Augen dort.

Er stolperte.

Als er sich bückte, um zu sehen, was da im Weg gelegen war, sah er nichts, nur den regennassen Asphalt. Walter suchte sein Handy in der Manteltasche. Seine Finger streiften das Ticket. Einfach, nicht hin und zurück. Er würde eine Weile hier bleiben.

Er wog das kleine Telefon in seiner Hand. Er überlegte, ob es sich lohnte, jemanden von seiner Familie anzurufen. Aber seit er die sonderbare SMS-Nachricht bekommen hatte, machte ihm das Handy Angst, und er hätte es am liebsten auf dem Asphalt zertrümmert. Das ist das Ende, stand in der anonymen Nachricht, die irgendwo im Nervensystem des kleinen Apparats gespeichert war.

Walter war sehr schnell abgereist, um nicht schuld zu sein – woran auch immer. Egal, worum es ging, er war unschuldig und das würde so bleiben.

Das Ende

Es ist gut, dass das Ende endlich da ist. Schon viel zu lange ist es aufgeschoben worden. Gut, dass es jetzt bald soweit sein wird, dank Valerie, die ich vor kurzem mit einer derartigen Wucht kennen gelernt habe, dass mir davon immer noch die Ohren glühen, dank meines auf exakt zwei Jahre befristeten Dienstvertrages und dank der trägen Überzeugungskraft des Sommers, die selbst den Verstand des größten Feiglings zur Vollendung hindrängt. Die Entscheidung ist gefallen.

In den gepflasterten Hof fällt jetzt täglich mehr Sonne, überall riecht es nach Seifenblasenlauge und nach etwas, das an das blähheiße Plastikinnenleben von Staubsaugern erinnert und, dazu passend, nach herumfliegendem Staub, der mehr wird und munter aufwirbelt, wenn man sich ihm nähert, weil es gar kein Staub ist, sondern ein Schwarm winziger Mücken, die sich in die schattige Hauseinfahrt verirrt haben. Und alle Oberflächen, besonders metallene und solche unter einer frischen Lackschicht, vibrieren und zittern wie Wüstensand, wenn man sie lange und gedankenschwer betrachtet. Die Balkone in der Nachbarschaft haben alle ein wenig zugenommen, man stellt jetzt massive Schirme auf und weiß flimmernde Liegestühle; Blumenkästen an den Geländern, und das eine oder andere Windrad erscheint über Nacht, dreht sich ein wenig, weil es das am besten kann, und verschmilzt mit dem Hintergrund.

Teppichfrauen aus einem anderen Jahrhundert lehnen sich aus den Fenstern und peitschen ihre Bettvorleger aus. Das Geräusch, das dabei entsteht, ist selbst bei geöffneten Fenstern nicht unangenehm. Es hallt weit über den Hof und erinnert dabei ein wenig an das befreiende Knacken, wenn der Druckausgleich ein beunruhigendes Summen in den Ohren endlich zum Verstummen bringt. Es ist ein milder, weicher Lärm, der höchstens ein paar nervöse Nachtvögel aus einer hohen, etwas zittrigen Baumkrone aufschreckt, ehe sie wieder auf ihre Plätze zurückkehren: eine sich öffnende und schließende Faust.

Störend ist nur der Lärm der vielen Überschallflugzeuge, die mehrmals am Tag über die Häuser hinweg fliegen, seit der Himmel wieder aufgetaut ist. Ein anschwellendes, nacktes Fauchen, die grelle Perversion einer Espressomaschine, das an dem Punkt, da es seinen Höhepunkt erreicht, sich noch ein weiteres Mal überschlägt.

Der Sommer ist eine erstaunliche Zeit. Du stellst dich auf deinem Fahrrad auf, als wäre es der Bug der Titanic, du atmest eine Spinne ein, die sich unwissend von einem tief hängenden Ast abgeseilt hat, du hustest und wühlst mit deinen Fingern in deinem Mund, und die Finger kehren feucht zurück und glänzen in der Sonne. Vor ein paar Tagen bin ich einfach drauflosgefahren, um die ungewöhnlichsten Dinge zu entdecken. Einen Fahrradfriedhof mitten auf einem verlassenen Feld. Ein ausgestorbenes Landgasthaus, aus dessen Schornstein ein Paar Skier ragten. Eine Vogelscheuche in der Haltung eines Gekreuzigten. Das Rad steuerte von selbst durch die Landschaft mit ihren üppigen Wolkengebirgen, in der Ferne Siedlungen, Berghänge, dick bestrichen mit einer Schicht blühender Bäume. In der Ferne rauschte ein flimmernder Streifen Autobahn. Und über der ganzen Szenerie kreiste ein kleines, graues Zeppelinjunges auf der Suche nach seiner Herde.

Vor lauter Aufregung über das nahe Ende bleibe ich ganze Nächte lang wach und verwandle mich, so wie andere Leute sich bei Einbruch der Dunkelheit in Superhelden verwandeln oder in Serienmörder, in den Mann am Fenster.

Es gibt eine Reihe von Spielen, die man nachts an seinem Fenster spielen kann. Sterne zählen. Mit dem Laser-pointer Nachbarhäuser abfahren und mit dem kleinen Leuchtpunkt obszöne Nachrichten buchstabieren. Mit Ferngläsern anderen Leuten beim Leben zusehen. Sie zeigen sich gern am Fenster, sehen oft hinaus, in den Mond oder in den Nachthimmel, es liegt in ihrer Natur. Wenn sie bemerken, dass man sie beobachtet, machen sie kleine Verrenkungen, flüchten und erscheinen an einem anderen Fenster der Wohnung wieder, meist dem linken, von mir aus betrachtet, was auf einen instinktiven Fluchtreflex nach rechts schließen lässt, die Richtung der Hauptorientierung bei Rechtshändern, von wo sie dann ungläubig hrüberstarren. Manchmal lassen sie die Jalousien hinunter und es ist plötzlich völlig still. Manchmal aber bleiben sie stehen, in der Dunkelheit, sich unsichtbar wähnend, und sehen herüber, neugierig und vielleicht ein wenig sehnsüchtig zu erfahren, wer sie da beobachtet.

Bei Menschen, die abends unten auf der Straße gehen, ist es einfacher. Sie bemerken nicht, dass sie beobachtet werden, und man kann sie wie auf Kommando dazu bringen stehen zu bleiben.

Da ist eine Frau, die schwere Einkaufstaschen trägt. Da sind zwei Jugendliche, die ineinander schwanken, weil sie betrunken sind. Da ist ein alter Mann, der mit seinem Stock den Asphalt stempelt. Und da ist ein schwarzer Hund, der einsam durch die Gegend streunt. Niemand scheint sich um ihn zu kümmern.

Der Trick ist ganz einfach. Man hebt eine Hand, als wollte man ungläubig die Fensterscheibe berühren oder den Menschen auf der Straße einen Segensgruß spenden. Man sucht sich einen unter ihnen aus. Der alte Mann mit dem Stock. Man konzentriert sich auf seinen Nacken. Bekanntlich ist der Nacken der empfindlichste Teil des Körpers, die Haut im Nacken spürt sogar die Stimmung dessen, der einen von hinten anstarrt. Man zählt im Geiste von fünf rückwärts bis null. Bei null ballt man die Hand zu einer Faust und schickt ihm das Kommando BLEIB STEHEN, so entschlossen wie möglich. Man muss es ihm regelrecht in den Nacken hämmern.

Es funktioniert nicht immer. Von zwanzig Versuchen gelingt vielleicht einer. Diesmal bleibt der alte Mann nur kurz stehen, um seinen Schirm, der gerade noch ein Stock gewesen ist, auszuschütteln, und geht dann wieder weiter. Er hat andere Dinge zu tun als auf die Empfindungen in seinem Nacken zu hören.

Der Hund ist längst außer Sichtweite.

Es ist jetzt so hell, dass man bis zum Einkaufszentrum sehen kann. Der alte Mann wandert langsam daran vorbei.

Auftritt eines Obdachlosen, man erkennt es von weitem an den vier Lagen Kleidung, die er übereinander trägt. Er kratzt sich am Hals, sieht nach links und rechts, ob ihm jemand zusieht (aber ja), dann zieht er sich die Hose herunter und hockt sich auf das kleine Spielzeug-Raumschiff, in dem man für einen Euro sein Kind durchschaukeln lassen kann.

Seit wenigen Stunden ist es Montag, der letzte Tag der Woche. Meine Woche begann bisher immer mit dem Dienstag. Der Dienstag ist ein alter Mann mit Blumen am Hut, sehr gelb im Gesicht, und seine Augen sind fast nur Zwinkern. Das Gelb erinnert an die Farbe von giftigem Weizen, eine albtraumhafte Schattierung von dunklem Gold. Der Mittwoch hat die seltsamste Farbe, wahrscheinlich, weil er als einziger Tag der Woche nicht auf die helle Silbe -tag endet. Er ist gesprenkelt, ein wenig wie ein Wollknäuel aus verschiedenfarbigen Fäden. Der Donnerstag ist majestätisch und rein, seine Farbe ist ein helles Silber, das irgendwie mit dem Tastgefühl der Fingerspitzen verwandt ist. Der Freitag ist entschieden grün, aber sonst fehlt es ihm an Charakter, er ist das fünfte Rad am Wagen, er übertritt gewissermaßen eine Symmetrie. Der Samstag ist dunkel, fast braun, manchmal auch schwarz, aber es ist ein schönes Schwarz, die Farbe eines Wundschorfs, kurz bevor er sich löst und neu gewachsene rosa Haut freigibt. Der Sonntag schließlich ist dunkelblau, aber trotzdem hat er etwas von einem Stück Schokolade, in das man beißen möchte. Der Montag kommt in meiner Aufzählung deshalb als letzter, weil er der hässlichste Tag der Woche ist und den ersten Platz nicht verdient hat, er ist rot und nackt, wie ein Stück Fleisch.

Das ist die Woche des Synästheten Alexander Kerfuchs.

Die letzten zwei Wochen im Altersheim werden noch so verlaufen, mit den heillosen Überforderungen des Montagmorgens und den verklingenden Stressakkorden des Freitagnachmittags. Der Kaffee ist zu kalt, wollen Sie mich vergiften? Mir ist da ein Malheur passiert, schon wieder. Ich muss einen Brief schreiben, helfen Sie mir. Und die gute alte Zeit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Alles geht den Bach runter, allen voran der Bach selbst. Noch zwei Wochen Pflegedienst, aufräumen, putzen, Betten beziehen, Unterhaltungen austeilen, Kaffee servieren, unter den Heizkörper gepurzelte Schachfiguren aufsammeln. In meinem Kalender häufen sich kleine Smileygesichter, die die überstandenen Tage markieren. Für den Samstag am Ende der Zeit habe ich einen glücklichen, breit grinsenden Vogel mit Fliegerhelm gezeichnet.

Ich habe den Heimbewohnern versprechen müssen, ihnen meine Telefonnummer zu hinterlassen. Es ruft sie ja sonst niemand an. Die meisten verstehen überhaupt nicht, was das kleine Ding in ihrer Hand soll, was Ringtones sind und warum es nicht zu klingeln aufhört, wenn man es sich ans Ohr hält.

Also spielen wir ein wenig damit, um es kennen zu lernen.

– Hier ist der Ausschaltknopf.

Frau Gotthard antwortet:

– Ja.

– Und das ist gleichzeitig der Ausschaltknopf, sage ich.

Sie bemerkt es sogar noch vor mir. Sie beginnt zu grinsen.

– Ah, jetzt habe ich Unsinn geredet, haben Sie gehört? Zweimal Ausschalt…

Ihr Kopfzittern nickt.

– Gleichzeitig der Einschaltknopf, wollte ich sagen. Probieren Sie mal.

Sie blickt eine Weile auf das Telefon in ihrer Hand, dann hebt sie den Kopf und stellt eine sehr ernste Frage, auf die es keine Antwort gibt:

– Wohin ist sie gegangen?

– Wer?

– Sie war eben noch hier.

Der Dämmer, in dem sie kurz darauf versinkt, ist so tief, dass es davon im Zimmer kälter wird.

Mit weißem Klebeband habe ich auf meinem Schlafzimmerboden den Umriss einer Tatort-Leiche gebastelt. Als Lydia die Figur zum ersten Mal sah, sagte sie, nun wisse sie endlich, warum sie ausgezogen sei. Und womit ich ihre Abwesenheit ausfülle.

– Du betrügst mich mit einem Beweisstück, sagte sie kichernd, kniete sich hin und zupfte am losen Ende eines Klebestreifens herum.

Mit ihren eckigen Proportionen und der Ökonomie ihrer Bestandteile (siebzehn Streifen) erinnert die Figur ein wenig an ein Ampelmännchen. Da der eine Arm schräg vom Körper absteht, als strecke sie sich nach etwas schwer zu Erhaschendem, schläft meine Hand oft schon nach kurzer Zeit ein, wenn ich mich in den Umriss lege.

Ich liege auf dem Rücken und starre nach oben. Da ich gerade noch in die Sonne geschaut habe, wandern große rote Flecken über die Decke, wie die Wachsklumpen in einer Lavalampe. Es ist so unbequem hier auf dem Schlafzimmerboden, dass ich schon nach ein paar Minuten einschlafe.

Ich begegne sonderbaren Frauen, die ihre kaputten Lampenschirme durch Schneekugeln ersetzen, die sie in einem Steinbruch abbauen. Mit den Schneekugeln statt der Glühbirnen verringert sich die Zimmertemperatur um ganze zehn Grad.

Als ich erwache, stelle ich überrascht einen neuen Rekord fest. Fünf Stunden am Stück. Draußen ist es schon dunkel. Dann höre ich das Geräusch zum ersten Mal. Ein Poltern, als würde irgendwo ein Sack Kartoffeln über einer Treppe ausgeschüttet, dann ein lauter Knall. Wenig später wiederholt sich das Geräusch, dann wieder und wieder.

Ich bleibe liegen. Eine Sirene ertönt – eines jener Signale, die erfunden wurden, damit man nicht vergisst, dass die Welt in der Nacht noch existiert, allen Laterna-Magica-Spielen des eindösenden Gehirns zum Trotz. Das dazugehörende Bild drängt sich sofort auf: ein stillstehender Rettungswagen, grau in der Nacht, wie alle Autos, stößt seinen einsamen Ruf aus. Da er sich nicht von der Stelle rührt, muss es ein Hilferuf sein. Ein Rettungswagen, der selbst um Hilfe ruft. Ein Wagen, der in seinen Ketten singt wie das Meer singt Kettenmeer in my chains like the sea –

Das Geräusch weckt mich. Ein bedrohliches leises Poltern, gefolgt von einem lauten Knall. Diesmal ist es lauter. Und näher.

Am nächsten Morgen klopft es an der Tür, und ich erhebe mich aus meinem harten, geometrischen Nest. Mein Nacken schmerzt und der Rücken schwört, er sei soeben neun Stunden auf einer Streckbank gelegen. Schnell ziehe ich etwas an, währenddessen klingelt es. Ich schwanke ins Vorzimmer. Hinter meinem Rücken halte ich, wie eine Waffe, die man zu gegebener Zeit hervorholen und dem Gegner an die Kehle drücken kann, mein Telefon.

Ich öffne die Tür einen Spaltbreit. Das Gesicht von Herrn Steiner, dem Vermieter, schwebt dort draußen, ein lachender Halloween-Kürbis, in ein fantasievolles Kopftuch gewickelt, wie es sonst nur Bäuerinnen tragen. Aus seinem ordentlichen Hemdkragen schaut ein türkises Gewandstück hervor, das unmöglich zu der Garderobe eines Erwachsenen gehören kann. Der Alte verfällt, seit ich hier in seinem Haus wohne, auf immer seltsamere Verhaltensweisen. Einmal im Sommer hat er sogar vergessen, sich eine Hose anzuziehen. Meist geht er mit einem Pyjamaoberteil durch die Gegend.

Ich erweitere den Türspalt, so dass man nun zumindest einen Arm hindurchstrecken könnte. Einen Arm mit einer Handgranate.

– Herr Steiner, guten Morgen.

– Guten Morgen. Ich wollte Ihnen nur … also, damit Sie das jetzt nicht missverstehen …

– Ist etwas passiert?

– Passiert – nein, nichts Schlimmes, ich wollte Sie nur –

– Ich bin gerade etwas in Eile.

– Also, ich will Sie auf keinen Fall aufhalten, aber es hat da nämlich ein paar Beschwerden gegeben –

– Weswegen?

– Also nicht direkt Beschwerden, also … Bemerkungen, wegen des Lärms spätnachts.

– Aha?

– Und da wollte ich Ihnen nur sagen, dass Sie das nicht waren.

– Wie meinen Sie?

– Sie waren das nicht, sagt Herr Steiner.

Mit meiner freien Hand mache ich eine Geste, die alles Mögliche bedeuten kann.

– Nein, nein, sagt Herr Steiner, als hätte ich gegen seine Behauptung protestiert, Sie waren das mit Sicherheit nicht. Ich weiß das.

– Okay.

– Ich wollte es Ihnen nur rechtzeitig sagen, bevor Sie jemand darauf anspricht.

– Danke.

– Sie sind immer ganz leise, erklärt er mir. Bis auf das eine Mal.

– Ach das, sage ich. Na ja, aber das war nur … Sie wissen ja, wie das ist. Junge Menschen, die der Welt zeigen wollen, dass sie existieren.

– Vom Balkon aus, sagt er mit mehr Ironie in der Stimme, als ich ihm zugetraut hätte.

– Es war ja nur das eine Mal. Kommt auch nicht mehr vor.

Ich spiele ein wenig mit dem Türspalt, um zu sehen, ob ich ihn dadurch vertreiben kann. Es funktioniert nicht. Er bleibt stehen, obwohl er bereits alles gesagt zu haben scheint.

– Aber das neue … das kommt von überall, sagt er.

– Was ist überall?

– Na, die Beschwerden. Der Lärm. In den oberen Stockwerken, aber auch ganz unten. Das können also nicht Sie sein.

– Ach so. Nein … Nein, ich war’s auch nicht. Wie Sie gesagt haben, ich bin immer ganz leise.

– Eben.

– Ah ja, Herr Steiner, wenn Sie schon einmal hier sind, sage ich, wegen meiner Tür …

Er schaut verständnislos.

– Sie schließt nicht mehr richtig. Sie erinnern sich, ich hab Sie schon einmal darauf angesprochen. Theoretisch kann jeder hier einfach reinspazieren. Und außerdem hab ich schon seit Wochen keine Post mehr bekommen und es haben mir verschiedene Leute versichert, sie hätten mir Briefe geschickt, also …

Derselbe dumme Blick.

– Am besten, ich schreibe Ihnen einen Brief mit all meinen Problemen, sage ich.

– Ja, lacht er. Haha.

– Okay.

Er macht immer noch keine Anstalten zu gehen. Mit dem Daumen wähle ich meine Festnetznummer. Herr Steiner sieht mich unterdessen freundlich an, aber auch etwas verwirrt. Der Grad der Verstörung, unter der ein Mensch zu leben gezwungen ist, beeinflusst erwiesenermaßen die Dauer seiner Blicke. Je starrer die Augen, desto verstörter.

Es klingelt, ich zucke zusammen.

– Entschuldigung, ich –

Ich deute ins Innere.

– Ich muss dann wieder zurück. Also

dann. Also.

– Oh, ja …

Herr Steiner macht ein paar Schritte rückwärts, wendet sich dabei langsam von mir ab, während ich lächle und die Tür sanft schließe. Merkwürdig, denke ich noch, sonst beschweren sich die Nachbarn immer direkt. Die Mieter unter mir klopfen, wenn sie spätnachts um Ruhe bitten wollen, von unten an die Zimmerdecke, das immer gleiche Zeichen: der erste Teil von SOS.

Wenn ich im Hof das Rad aufsperre, kommt es vor, dass ich dem Kind aus der Wohnung unter mir über den Weg laufe. Es ist der Sohn einer Frau um die Vierzig. Sie geht mit einer großen, sehr dunklen Sonnenbrille durch den hellen Tag, und manchmal trägt sie dabei nichts als einen Bademantel und dazu passende Sandalen. In den frühen Morgenstunden kann man jede Woche einen anderen Mann aus der Wohnungstür kommen sehen. Der Mann zieht sich die Krawatte an oder kämmt sich, während er langsam und mit O-Beinen die Treppe hinuntersteigt.

Im Winter hat der Junge oft Miniatur-Schneemänner gebaut (der Schnee bleibt im Hof nie lange liegen und wird vom Hausmeister schnell auf einen schmutzigen Haufen geschaufelt, der dann humorlos in einer Ecke liegt und schmilzt) oder sich an strategischen Punkten mit einem Ast im Anschlag postiert. Manchmal, wenn ich durch den Schnee an den weiß eingepuppten Fahrrädern vorbeiging, die dort im Hof ihren Winterschlaf hielten, schoss er auf mich, mit zwei Fingern, zwei Pistolen, abwechselnd, P’tschiu, P’tschiu!, und schaute mich dabei mit diesem aufgeregten, von der Kälte rot gebackenen Gesicht an. Wenn ich dann stehen blieb und ihn ebenfalls anschaute, duckte er sich hinter den Schneehügel oder hinter eines der Autos, erschien aber gleich wieder, mit einem fast schon unheimlichen Blitzen in den winzigen Augen, und schoss erneut, diesmal eine ganze Salve, laut und leidenschaftlich, aus seinem Ast-Gewehr: T-t-t-t-t-t! Ein wenig schauderte mich bei der Vorstellung, dass die Welt für dieses einsame Kind für kurze Zeit in Ordnung gewesen wäre, wenn ich in diesem Augenblick einfach umgefallen wäre, nur für diesen sehr kurzen, kostbaren Moment. Und natürlich wäre das alles andere als schwer gewesen, ein kleiner Hechtsprung in den Schnee, Ah, ich bin tot! Aber aus irgendeinem Grund verweigerte ich ihm, was ich den alten Männern bei meiner Arbeit manchmal gewährte, kleine Proben meiner Schauspielkunst.

Jetzt, im Sommer, verbringt er ganze Nachmittage dort unten. Ich kann ihn stundenlang vom Fenster aus betrachten. Aus den lallenden Rufen seiner Mutter, die oft mit einem großen Glas Wasser, in dem sich tanzend eine Tablette auflöst, auf dem Balkon steht, schließe ich, dass er Gerald heißt. Gerald Katzek. Er dürfte um die sieben oder acht sein, vielleicht auch älter.

Die Leute halten mich bestimmt für wahnsinnig, wenn sie mich hier sehen, in meiner Wohnung, eine unbewegliche Silhouette, die nachts in ihre Fenster starrt. Ich stehe da und versuche nicht zu blinzeln. Wenn irgendwo eine Jalousie heruntergeht, habe ich das Spiel gewonnen.

Vor zwei Tagen stand ein Möbelwagen vor dem Haus. Zwei kräftige Männer, von denen einer Schweißflecken von den Achseln bis hinunter zum Gürtel hatte, trugen einen Kühlschrank aus dem Haus, ein großes, klobiges Ding, das sich sehr genierte, keine antike Standuhr oder eine geheimnisvolle Ritterrüstung zu sein.

Wie lange steht dieses Haus noch? Hundert Jahre. Zweihundert, höchstens. Dann kommen Bulldozer, vermutlich ferngesteuert, und räumen die Mauern fort, reißen die Zwischendecken ein, schaufeln alles auf die Seite, die Ziegel, die Holzrahmen der Fenster, die Türen, und ganz oben, auf der Spitze der Staub- und Gerölllawine, die der Bulldozer vor sich herschiebt wie der Mistkäfer seinen großen, roten Sisyphosball, sitzt ein einzelnes Stofftier, unklar, welcher Spezies, da es nur mehr wenige überlebenstüchtige Vogelgattungen und menschengroße Ratten gibt, die in den ausgestorbenen Villenvierteln der Städte hausen und auf einen brillanten Einfall der Evolution warten. Und hie und da sieht man noch Eidechsen, die frech auf der Fassade eines Bankgebäudes oder einer ehemaligen Grundschule in den Todesstrahlen der verrückt gewordenen Sonne sitzen. Irgendwann kommen größere Bulldozer und räumen die alten Bulldozer aus dem Weg, mit größeren und kräftigeren Kiefern. Dann auf einmal gibt es keine Bulldozer mehr, nur noch ausgeschlachtete Geräte, graue Skelette von Fahrzeugen. Industrieruinen wie Korallenriffe, mitten in der Wüste. In manchen Oasen wächst noch Gras, Erinnerungen an frühere Zeiten. Dann ist alles nur mehr eine weite, staubige Marslandschaft. Gesteinsformationen wie Puzzlespiele für zukünftige Intelligenzen, die an kosmischer Schlaflosigkeit leiden und deshalb fremde Planetenoberflächen zu lösen versuchen. Hin und wieder hallt ihr erregtes Heureka durch den leeren Weltraum.

Im Fenster gegenüber geht das Licht an. Ein Schatten, undefinierbar in Geschlecht und Alter, huscht vorüber. Eine Küche. Menschen am Herd. Essen kochen, Tiere füttern, Uhren reparieren. Wasserfälle hinunterrudern, johlend. Kein Wesen will zu Nichts zerfallen.

Ich sollte wieder mehr vor die Tür gehen. Ich sollte Valerie öfter sehen.

Die Qualität oder der Charme eines Kunstwerks zeigt sich mitunter darin, ob es sich in unserer Erinnerung selbstständig verwandelt. Wie viele Leute erinnern sich beispielsweise an einen Tropfen, der aus einer der zerfließenden Uhren von Dalí quillt, ohne dass ein solcher Tropfen auf dem Bild tatsächlich zu sehen wäre. Andere erzählen von einer Beute, die Breughels Jäger im Schnee ins Tal tragen, aber auch sie ist eine Ergänzung unserer Erinnerung. Oft geht das Gedächtnis einen Schritt weiter als die Kunst. Es gibt keine Schlange um Laokoons Hals. In Munchs Schrei ist rechts im Bild keine große, blutunterlaufene Sonne zu sehen, die sterbend über der Landschaft hängt.

Und dennoch könnte ich schwören: Valerie trägt eine Taufkette aus Weißgold um ihren hübschen Hals.

Der Garten der Fasane

Eine Lautsprecherdurchsage ertönte. Die metallisch nuschelnde Damenstimme sprach die Ortsnamen falsch aus. Walter lächelte und fühlte sich schon ein wenig zuhause, obwohl ihn niemand abholen gekommen war. Seine Abreise war immerhin sehr kurzfristig gewesen.

– … weiterer Anschusszug nach …

Anschuss?

Walter hatte eine große Schwäche für falsch ausgesprochene Wörter, vor allem Namen. Fremdsprachige Akzente waren dabei sehr hilfreich, aber mehr noch liebte er Muttersprachler, die sich zeit ihres Lebens mit einem einzigen Wort ihrer Sprache nicht anfreunden konnten und es immer wieder falsch betonten, in unermüdlichen Variationen. Seine Schwester Mirja war ein Beispiel. Wenn sie sagen wollte, dass jemand eine Top-Figur hatte, sprach sie es immer so aus, dass man unweigerlich an die unwahrscheinlichere Topf-Figur denken musste, an etwas Plumpes und unfreiwillig Komisches.

Seine Vorliebe hatte sich auch auf andere Bereiche ausgeweitet. Er liebte es, wenn jemand diese quietschenden Geräusche auf den Saiten einer Gitarre erzeugte, wenn er nicht schnell genug zwischen zwei Akkorden wechseln konnte. Und er liebte Chet Baker, der ja im Grunde überhaupt kein Sänger war, aber doch der beste, den man sich vorstellen konnte, voll zurückhaltender Leidenschaft und hocherotischer Eintönigkeit. Verdutzten Audiophilen kaufte er alte Schallplatten ab, die wie ein Fahrradreifen zu der Form einer liegenden Acht verbogen waren und eierten. Als Kind hatte er einmal zugesehen, wie jemand ein Klavier stimmte, und sich entschieden, auf keinen Fall Klavierstimmer zu werden. Entsetzlich, diese richtigen Töne und Frequenzen und Feineinstellungen!

KERfuchs, fiel ihm ein.

Er lächelte.

KERfuchs. KerFUCHS. Keeerfuchs. Du betonst es falsch! Ihr alle betont es falsch! Man muss sich ein stummes H denken!

Er hatte jetzt lange genug gewartet. Trotz des ungemütlichen Wetters ging er los, sofort erfasste ihn der Regen. Walter versuchte sich den Koffer über den Kopf zu halten, aber das Ding war einfach zu schwer. Er vollführte einen hilflosen Tanz und wäre beinahe von einem Bus angefahren worden, den er nicht bemerkt hatte. Gott sei Dank waren Busfahrer in Kleinstädten sehr viel friedlichere Menschen, und der Bus war einfach langsamer geworden, anstatt wie wild um sein Leben zu hupen. Aber dann sah Walter, warum der Bus langsamer geworden war. Einige Meter entfernt stand das Schild einer Haltestelle. Er rannte dem Bus nach.

Eine alte Frau schälte sich aus der Tür. Die drei Stufen bis zum regennassen Boden waren ein Schwindel erregender Abstieg ins Ungewisse. Walter bot ihr seinen Arm an, aber für die alte Frau war er unsichtbar. Sie schaffte es allein.

Er setzte sich in den hinteren Teil des Busses. Auf dem Platz neben ihm saß ein angebissener Apfel, der wie in Trance hin und her schaukelte, als der Bus sich in Bewegung setzte. Er legte sich seinen Koffer auf die Oberschenkel und spürte, wie die Haut seiner Beine unter dem Gewicht in den Schaukelbewegungen hin und her gezogen wurde. Das Gefühl irritierte ihn so sehr, dass er den Koffer wieder zwischen die Beine klemmte.

Nachdem er ausgestiegen war, betrachtete er noch die Türen, die sich geschmeidig hinter ihm zusammenfalteten. Es regnete jetzt schon viel weniger, und Walter fuhr sich mit der Hand durch die feuchten Haare.

Er bog in seine Straße ein. Nur wenige Häuser standen hier. Ganz am Ende befand sich das Haus seiner Familie. Das größte.

Ein Mann, der allein ein weißes Tandem schob, überquerte die Straße. Als er Walter sah, nickte er zur Begrüßung. Walter tat so, als würde er auf seine Schuhe schauen.

Er sah fremde Kinder in der breit angelegten Einfahrt des Hauses spielen, eine Szene, die ihn sonderbar berührte, als hätte er sie irgendwann schon einmal erlebt. Die Kinder malten trotz des Regens mit Kreide etwas auf den nassen Beton. Als er näher ging, erschraken sie und ließen sich von ihm wie Rehe verscheuchen. Ein Kind ließ sogar einen Handschuh liegen und rannte nun mit einer nackten Hand nach Hause. Walter hob den Handschuh auf, es war der linke. Er versuchte zu erkennen, was die Kinder auf die Straße gemalt hatten, aber es ergab keinen Sinn. Zwei geometrische Figuren, die sich in einem seltsamen Winkel schnitten.

Die trägen Schreie der Gartenfasane wehten über den Zaun. Bei Regen waren die Vögel zwar meist im Gehege, aber sie ließen es sich nicht nehmen, das schlechte Wetter lautstark zu kommentieren. Früher war hinter dem Haus nur ein alter, seniler Garten gewesen, der sich in allerlei Hirngespinsten aus Unkraut und Kletterpflanzen erging, mit einem kleinen, schwarzen Tümpel in der Mitte, von dem wie von einer unverheilten Platzwunde am Hinterkopf der ganze geistige Verfall auszugehen schien. Nachts konnte man meinen, das Röcheln der sich gegenseitig verdrängenden und zu Tode würgenden Schlinggewächse zu hören. Dann hatte Walters Vater angefangen, den Garten in einem künstlerischen Sinn neu zu konzipieren. Er fertigte Pläne und Skizzen an, und nach einer schlaflosen Nacht voller Inspirationen schaffte er ein paar zahme Fasane an.

Von außen sah das Haus noch verfallener aus, als er erwartet hatte. Anscheinend erledigte seit langer Zeit niemand mehr irgendwelche anfallenden Arbeiten. Das Dach machte einen unerhört schäbigen Eindruck, und das, was man vielleicht eine Veranda hätte nennen können, erinnerte an ein zur Hälfte aus dem Mund geschobenes künstliches Gebiss. Besucher, die diese offensichtlichen Mängel bemerkten und so waghalsig waren, diese anzusprechen, wurden von seinen Eltern, besonders von seinem Vater, der ein angesehener Architekt war, daraufhingewiesen, dass es darauf nicht ankomme. Wenn die Besucher daraufhin den kaputten Fußboden und die im Koma liegenden Möbel im Inneren des Hauses sahen, sprachen sie entweder bereits von einem bestimmten Flair des Vergangenen, der über allem liege, oder sie kamen nicht mehr zu Besuch.

Walter betrat das Haus. Die Tür war, wie für kleine Ortschaften üblich, nicht verriegelt.

– Hallo?

Das Wohnzimmer sprang ihn an und fiel ihm um den Hals, überschüttete ihn mit uralten Erinnerungen, die wie einstudierte Szenen durch sein Gedächtnis geisterten. Ein Daumenkino aus Stimmen, Gerüchen und Schattenrissen. Er ging in die Küche, warf einen Blick auf die Terrasse. Auch da war niemand.

Er ließ den Koffer unten stehen und ging die Treppe hinauf. Er öffnete die Tür zu seinem Zimmer und trat ein. Er musste durch den Mund atmen. In dem Zimmer roch es nach sterbendem Teppich. Er machte ein Fenster auf und ging wieder nach unten.

– Hallo?

An einer Wand im Wohnzimmer hing das Porträt eines seiner Vorfahren, des Orgelbaumeisters Joseph Jeremias Lengel, ein ernstes Gesicht mit weißem Haar, das hinter den Ohren hervorbüschelte, das glatte Plateau der Glatze aber unangetastet ließ, in der sich eine von dem unbekannten Maler vorbildlich eingefangene Lichtreflexion spiegeln konnte, die selbst der geschmackvollen Rundung eines Fürstenhelms würdig gewesen wäre. Walter wusste nicht genau, in welchem Verwandtschaftsverhältnis er zu diesem Orgelbauer stand, dessen Gesicht so verwirrt aus der Leinwand starrte, als frage er sich, wie um alles in der Welt es ihn in dieses Jahrhundert verschlagen hatte, in dem es keine Kutschen mehr gab und auch keine rechte Moral.

Dass niemand im Haus war, bedeutete wahrscheinlich, dass sie ihn doch abholen gegangen waren. Sie mussten sich verpasst haben.

Er versuchte Mirja anzurufen, es läutete sechs Mal, dann meldete sich eine Computerstimme und sagte sinnlose Zahlenreihen auf, also ging er zurück in sein Zimmer, diesmal mit seinem Koffer, der mehrmals an die Treppenstufen stieß und das alte Holzgeländer erzittern ließ. Mindestens drei Tage wollte er hier bleiben. Dann konnte er ja sehen, wie es weiterging. Er brauchte auf jeden Fall ein gewisses Zeitpolster, eine Distanz zu all den verwirrenden Ereignissen.

Als er seine Kleider in den Kasten legen wollte, sah er, dass der Schrank völlig ausgehöhlt worden war. Die Stange, an der sonst die Kleiderhaken hingen, fehlte. Die Kleiderhaken lagen wie Büroklammern verstreut auf dem Kastenboden. Er suchte in seinem Zimmer nach der Stange, fand sie nirgends, dann fiel es ihm ein, und ein nachsichtiges Lächeln überflog sein Gesicht. Natürlich. Er öffnete den Koffer und kramte den langen Metallstab hervor. Natürlich, natürlich. Wie dumm von ihm.

– X!

Statische Elektrizität entlud sich, als er den glänzenden Stab berührte. Er befestigte ihn in seinem Kasten, der anerkennend knarrte, und hängte die Kleiderbügel auf. Sie klirrten leise.

Zu seinem großen Erstaunen stellte Walter fest, dass das Haus auf der Gartenseite ein wenig hergerichtet worden war. Zumindest konnte man die Fassade jetzt wieder als solche erkennen, und die Dachfenster glänzten ordentlich und geometrisch, sie mussten gerade geputzt worden sein. Es sah so aus, als hätte sich das Haus zu einem feierlichen Anlass als Haus verkleidet.

Die Schaukel hing immer noch von einem Ast des Nussbaumes, der schon seit vielen Jahren außer Betrieb war. Ein großes Geschwür wuchs auf seinem Hals und raubte ihm die Luft. Kleine Singvögel sprangen verwirrt von Ast zu Ast und zerbrachen sich den Kopf darüber, ob und wie dem Baum noch zu helfen war.

Die Fasane waren nicht in ihrem Gehege. Sie gingen zerstreut in der Wiese herum und unterhielten sich eingehend mit dem Boden unter ihren Füßen. Die nervösen Vögel hielten Einbrecher besser fern als jeder Wachhund oder gar eine Alarmanlage. Das Geschrei, das sie schon bei der geringsten Irritation machten, übertraf jedes Gebell oder Sirenengeheul.

– Walter! He!

Die Stimme seiner Schwester.

– Wo warst du denn?, sagte Mirja. Ich hab dich überall gesucht!

– Auf dem Bahnhof, sagte er. Wie angekündigt …

Er umarmte sie kurz.

– Da haben wir, haha, da haben wir uns wohl irgendwie verpasst.

Sie lachte, als wäre es das Komischste, was ihr seit langer Zeit passiert war. Vom Garten her ertönte aufgeregtes Geschrei. Einer der Fasane hatte es irgendwie auf das Sitzbrett der Schaukel geschafft und schien nun zu überlegen, wie er wieder herunterkommen sollte. Er begann sich auf sonderbare Weise vor und zurück zu wiegen, als stände er auf einem Skateboard. Ein hellbrauner Rivale, der ihm von unten zusah, schrie ihn unterdessen in wildem Protest an, wie ein empörter Punkterichter. Ein paar helle Fasanenhennen gingen im Gras spazieren, die Köpfe gesenkt wie unter Kapuzen, auf der ständigen Suche nach Nahrung. Sie pickten nebeneinander auf den immer gleichen Stellen im Gras herum, als machten sie Smalltalk. Im Sommer wichen die Vögel manchmal von ihrer vegetarischen Diät ab und fingen Insekten und Käfer. Deshalb waren sie jetzt, im Oktober, wohlgenährt und selbstbewusst. Während die Hennen fast einfärbig waren, kleideten sich die Hähne in ein schillerndes Harlekinsgewand in kräftigen Breughelschen Herbstfarben, das von einer roten Kriegsbemalung in den ständig empörten Gesichtern gekrönt wurde.

– Setzen wir uns, sagte Mirja und deutete auf die nassen Gartenmöbel, die auf der Terrasse standen.

Walter gehorchte. Er fragte sich, wo seine Eltern sein mochten. Wenig später kam Mirja mit einem Tablett wieder, auf dem sie zwei Limonadegläser balancierte. Schweigend saßen sie nebeneinander.

Mirja erzählte Walter schließlich, dass vor kurzem einer der Fasane in der Nacht von einem Fuchs oder einer streunenden Katze angefallen worden sei. Es sei dem Fasan irgendwie gelungen, dem Angreifer zu entkommen. Mit verletztem Fuß soll sich der Hahn bis vor die Terrassentür geschleppt und dort die Nacht lang gelegen haben, bis Mirja ihn endlich am Morgen fand und trösten konnte. Der Hahn sei völlig hysterisch gewesen und habe am ganzen Körper gezittert. Er habe büschelweise Federn verloren. Sie habe den wehklagenden Vogel in den Gepäcksträger ihres Fahrrads gesetzt und sei mit ihm zum Tierarzt gefahren. Wenige Tage später gockelte er schon wieder prächtig und angeberisch im Garten umher und hatte den Zwischenfall völlig vergessen.

– Sie sind schwierig, sagte Mirja. Aber ich kümmer mich um sie.

– Sicher, sagte Walter.

Sie schwiegen wieder und nippten an der Limonade. Ein typisches Gartengetränk, dachte Walter. Alle Menschen, die in Gärten sitzen, trinken Limonade. Er blies in seinen Strohhalm und die neongelbe Flüssigkeit blubberte.

Später kam Wind auf und brachte Unruhe unter die Fasane. Die Terrassentür überlegte sich knarrend, ob sie mit einem lauten Knall zufallen sollte, und weiße Hemden turnten lautlos über eine Wäscheleine.

– Warum bist du gekommen?, fragte Mirja.

– Ich wollte euch sehen.

– Ja, aber warum?

– Hab ich doch gerade gesagt, ich wollte –

– Nein, ich möchte einen Grund hören.

Walter schwieg.

– Angsthäschen, sagte seine Schwester.

Es war ein Zauberwort zwischen ihnen. Sie gebrauchte es immer dann, wenn sie wusste, dass sie schlauer oder mutiger oder verschlagener war als er. Walter hatte sich zwar inzwischen abgewöhnt, jedes Mal wie ein Pawlowscher Hund darauf zu reagieren und unverzüglich Entschuldigungen oder Erklärungen zu winseln, aber es war ihm trotzdem noch immer unangenehm, das Wort zu hören. Das Schlimmste war die Verniedlichungsform, die so unnatürlich wirkte, fast schon bedrohlich. Angsthäs-chen, so hätte ein Horrorfilm heißen können.

– Warum also?, fragte seine Schwester.

– Ach, wegen einer … einer Frauengeschichte.

Da er in Bedrängnis war, hatte Walters Stimme einen Ton angenommen, den nur er hören konnte. Geflunker. Funkensprühendes Geschwätz. Er streckte sich ein wenig, knackte mit einem Fingergelenk, dann ergänzte er:

– Es hat da eine kleine … Meinungsverschiedenheit gegeben.

– Mit einem Mann?, fragte seine Schwester interessiert.

– Ja.

– Na da schau her! Du Hetero!, lachte Mirja und klatschte in die Hände. Passt gar nicht zu dir, aber steht dir gut, das kann ich dir versichern.

– Danke.

– Habt ihr euch geprügelt?

Walter machte nur einen bescheidenen Gesichtsausdruck, so wie ihn Männer machen, die auf ihr Vermögen angesprochen werden. Aber er spürte, wie seine Hände vor Scham heiß und fleckig wurden. Er verschränkte sie vor der Brust.

– Walter!

Sein Vater kam auf die Terrasse und breitete die Arme aus, ließ sie aber gleich wieder sinken. Ein unfertiger Flugversuch.

– Hallo, sagte Walter.

– Wie’s scheint, solltest du deinen Kalender neu aufziehen, sagte sein Vater fröhlich. Er geht zwei Monate vor. Wir haben dich nicht vor Weihnachten erwartet.

– Ja, sagte Walter und drückte die dargebotene Hand seines Vaters, die sich überraschend gut anfühlte. Ich hab mir gedacht, ich besuche euch einfach mal. Kennst du das, plötzliche Sehnsucht?

Der vorausberechnete Satz traf ins Schwarze, genau wie erwartet.

– Kenn ich, sagte sein Vater mit einem begeisterten Nicken. Ich habe schließlich den Alrauer Sendeturm entworfen, damals, 98. Wenn diese gedehnte Deltoid-Struktur nicht Sehnsucht ausdrückt, dann weiß ich auch nicht, haha.

Der alte Mann legte sich beide Hände auf die Schultern, obwohl es nicht besonders kühl im Garten war. Der herbstliche Wind war auf eine für Stadtränder typische Art milde und versöhnlich. Mirja schaute Walter wissend von der Seite an. Unser kleines Geheimnis, sagte ihr Blick. Frauengeschichte

Sie aßen gemeinsam zu Abend. Sein Vater fragte ihn, was er so mache. Schauspieljob? Großartig. Wo denn? Oh, sehr exotisch. Gut bezahlt? Toll, toll. Dann erzählte er Walter lang und breit von seinem neuesten Projekt. In Graz würden drei bis vier eigens von ihm entworfene Litfaßsäulen aufgestellt, die man durch eine kleine Luke betreten konnte. Drinnen, im Innenraum, könnte man sogar Platz nehmen. Großartig, oder?

– Ja, sagte Walter.

Da er die Augen nicht verdrehen konnte, weil es sein Vater hätte sehen können, verdrehte Walter die Zunge. Aber es war nicht dasselbe.

– Hast du gerade die Augen verdreht?, fragte sein Vater belustigt.

– Nein, natürlich nicht. Mir gefällt deine Idee. Ist schön frisch.

– Ja, nicht? Frisch, das stimmt. Dieses Wort wäre mir nicht eingefallen, aber es trifft die Sache auf den Kopf.

– Auf den Kopf, aha.

Jetzt verdrehte er wirklich die Augen. Sein Vater lachte.

– Du kleiner Wirrkopf, sagte er und boxte seinen Sohn auf den Oberarm.

Als Walter später noch in seinem Zimmer auf und ab ging, bemerkte er, dass die Vorhänge nicht mehr die waren, die bei seinem letzten Besuch vor den Fenstern gehangen waren. Missmutig zupfte er an den neuen Vorhängen. Sie fühlten sich an wie die plastikharten Kittel, die man in Krankenhäusern anziehen musste. Die Straße vor dem Haus war still. Unten schliefen alle. Die Stunde war so reglos wie die Fasane in ihrem Gartenverschlag, die von Langstreckenflügen über den Himalaja träumten.

Walter legte sich in sein altes Bett, das ihn mit einem beunruhigenden Knacken in seinen Eingeweiden begrüßte. Als er sich zur Seite drehte, sank die Matratze mehrere Zentimeter ab. Zum Spaß sagte er ein kleines Nachtgebet auf.

Er träumte von der Busfahrt vom Bahnhof hierher, auf dem Platz neben ihm saß eine kleine, goldene Glühbirne, die mit einer dünnen Stimme zu ihm sprach.

– Sinwir, sagte die Glühbirne.

Der Bus rüttelte und schaukelte. Die Schirmkappe des Fahrers, die zugleich irgendwie auch eine schwebende Aubergine war, leuchtete im vorderen Teil des Busses. Aber ob dazu auch ein Körper gehörte, ließ sich nicht genau sagen.

– Sinwir nischtalle?, fragte die Glühbirne.

Walter fand, dass es besser war, ihr zuzustimmen.

Als er aufwachte, merkte er, dass es noch sehr früh war. Er fror. Die Heizung wurde jeden Morgen um Punkt sechs automatisch aktiviert. Er blickte aus dem Fenster. Die Welt war ein verregneter Schwarzweißfilm.

Da war plötzlich die glänzende Formulierung wieder, die ihm im Zug entfallen war. Er wiederholte den Satz leise für sich. Aber er war gar nicht so gut, wie er gedacht hatte. Er war sogar völlig banal. War es überhaupt dieser Satz gewesen? Er versuchte den Satz zu verdrängen. Zur Strafe geisterte er ihm mehrere Stunden im Kopf herum.

Was bin ich für ein elender Feigling, dachte er.

Aktionen

Ah, die vorletzte Woche! Ich bin nervös und voller Vorfreude wie ein Fisch vor dem schwebenden Köder und schlage die Zeit mit unsinnigen Aktionen tot. Auf dem Weg in die Arbeit habe ich im Bus einem Kind, das zur Schule fuhr, erzählt, ich sei sein Ich aus der Zukunft. In fünfzig Jahren, habe ich gesagt, machen die Menschen nicht mehr Urlaub in irgendwelchen fernen Gebieten oder Städten, sondern reisen nur noch in der Zeit. Der Name des Kindes war auf seiner Schultasche zu lesen. Deswegen. Der Junge, der nicht im mindesten erstaunt war und mich vermutlich für einen vollkommenen Idioten hielt, hat mich gefragt, wie alt ich denn jetzt sei. Sechzig, habe ich geantwortet, aber für mein Alter sehe ich noch gut aus, oder? Ja, in der Zukunft sei das ganz leicht. Er hat nur genickt und sich wieder seinen Schuhspitzen gewidmet, die er konzentriert anstarrte.

Okay, das war gelogen, aber ich habe mit dem Gedanken gespielt. Welches Kind trägt heutzutage noch ein Namensschild auf der Schultasche?

Wenig später, als ich in die Straße einbiege, wo das Heim liegt (nur noch wenige Tage!), überlege ich, etwas Ähnliches mit einem der Alten zu versuchen, aber mir will keine Konstellation von altem und neuem Ich einfallen, die einigermaßen auf ihre Situation anwendbar wäre. Nein, der Trick funktioniert nur bei Menschen, die keine lange Vergangenheit haben.

Eine rötlich gefleckte Katze hockt auf der Mauer neben dem Fahrradständer. Warum ich heute nicht mit dem Rad gekommen sei, fragt sie. Dann gähnt sie, wodurch sich ihr Kopf in ein offenes Maul verwandelt, und schüttelt sich, dass ihre Ohren wie Taubenflügel gegeneinander flappen.

AKTION. Tauschen Sie Ihr altes Handy JETZT gegen ein neues ein. Die Leute im Altersheim bekommen die alten Modelle. Sie sind zwar gratis, aber dafür funktionieren sie kaum mehr. Manche Geräte erleiden durch die Trennung von ihren früheren Besitzern einen Schlaganfall, und Teile des Displays sind jetzt schwarz und gefühllos. Anderen fallen die Tasten aus wie kaputte Zähne. Antennen sind abgebrochen oder geknickt. Klingeltöne eiern wie das Gedudel alter elektronischer Geburtstagsbillets.

Da ich nicht mehr lange hier sein werde, mache ich keine schwierigen Arbeiten mehr. Man meckert mit mir deshalb, das heißt, Max meckert, aber das ist mir egal. Er hat mir nichts mehr zu sagen.

– Warum sitzt du noch immer hier rum?, fragt er.

Wasch dies, putz das. Los. Ich nicke freundlich, dann gehe ich wieder in meine Ecke und erkläre Frau Lorca, wie man Namen in ihr neues Telefon einspeichert. Sie tippt den Namen ihres Sohnes nun schon zum sechsten Mal, er heißt Markus, aber es kommt immer nur Markupq heraus. Sie ist verzweifelt, ihre Finger sind zu langsam. Zur Ablenkung erzählt sie mir, wie sie einst auf diesen Namen gekommen ist. Eine lange Auseinandersetzung mit ihrem Mann, der sich eigentlich Herfried gewünscht habe und jetzt schon siebzehn Jahre unter der Erde sei. Kettenraucher. Siebzehn Jahre. Während sie spricht, schaut sie zur Decke, wo absolut nichts zu sehen ist.

– Schauen Sie doch mal her, sage ich. Hier bin ich.

Ich winke. Frau Lorca sieht mich an.

– Ich sehe Sie, sagt sie mit höchster Klarheit in ihrer Stimme.

– Okay. Hier, nehmen Sie es mal in die Hand. Ich sag Ihnen dann, welche Knöpfe Sie drücken müssen, damit die Kurzwahl-Funktion –

– Ich bin doch nicht blind, sagt sie und starrt mich wütend an.

– Okay, das hab ich ja auch gar nicht behauptet, nur –

– Ich seh schon!

Sie nimmt mir das Telefon aus der Hand und hält es fest, als müsste sie es vor mir beschützen.

– Wenn Sie den Menü-Knopf einmal –

Aber sie dreht sich weg. Sie steckt das Handy in ihre schlaffe Brusttasche. Für einen Augenblick habe ich Lust, es von dort einfach wieder hervorzuholen und sie anzufahren: Ich wiederhol’s nicht noch einmal, also hören Sie mir verdammt noch mal zu, wenn Sie wollen, dass Ihr Sohn Sie wenigstens hin und wieder mal anruft!

Dann sehe ich, dass ihre Mundwinkel sich verselbständigt haben und unverständliche Signale an die Außenwelt senden: Entrüstung, Entwürdigung und tiefen Abscheu. Ich stehe auf.

– Ich komm dann später wieder, Frau Lorca.

Sie reagiert nicht. Mit dem Ärmel ihrer Weste wischt sie sich über die Augen.

– Ich bin nicht blind, sagt sie. Ich sehe Sie schon.

– Okay.

– Ich sehe schon, was Sie da …

Den Rest verstehe ich nicht mehr, feindseliges Gemurmel. Ich flüchte in den Aufenthaltsraum, wo ein ständig vor und zurück wippender Mann, der eigentlich ins untere Stockwerk gehört, und Herr Sedlatschek vor einem Schachbrett sitzen. Figuren befinden sich nur wenige darauf, nicht einmal die beiden Könige, aber dafür redet Herr Sedlatschek ohne Pause auf seinen Besucher ein, der ihn währenddessen nicht einmal ansieht. Das Licht eines frühen Tages fällt schräg und leicht gekrümmt durch die Fenster. Ein leerer Vogelkäfig lehnt in einer Ecke und wartet darauf, dass ihn endlich jemand repariert, die quietschende Tür, die nicht mehr richtig schließt. Auch Bilder gibt es, echte Gemälde, die an den Wänden hängen als Fenster in eine albtraumhaft erstarrte Welt voller Heuwagen, Sonnenuntergänge und verwitterter Jägerhochsitze. Es gibt jede Menge leerer Sessel und ein ständig zugeklapptes Klavier, es gibt tief fliegende Lampions, die einzigen Lichtquellen bei Nacht, es gibt Blumentöpfe, die große, wirre Gewächse gebären, und an der linken Wand, unter einem Bücherbord, steht ein buntes, breitschultriges Sofa, das in einsamen Stunden manchmal so tut, als wäre es eine riesige Mehlspeise mit Schokoladenglasur.

Ich spähe auf den Gang. Niemand da. Keine Spur von Max.

Nur ein kleines Feuerwerk diesmal, ein wenig Beschäftigung, gerade so viel, dass sie für einen Augenblick aus der Vorhölle herauskommen. Außerdem brauche ich etwas, in das ich die negativen Schwingungen der nervösen Frau Lorca verwandeln kann. Lauthals singen oder fluchen ist ja nicht erlaubt.

Zur Sicherheit nehme ich meine beiden Telefone aus den Taschen und lege sie auf den Schuhschrank vor der Tür zum Aufenthaltsraum. Mit Anlauf? Ich bin kein Stuntman, aber warum eigentlich nicht. Herrn Sedlatscheks quakende Stimme wird ein wenig lauter, vermutlich redet er von steigenden Preisen und Politikern, deren Namen er nicht einmal richtig ausspricht, die er aber trotz allem abgrundtief hasst.

Fertig. Das linke Knie schonen. Aufprall mit dem rechten.

Der leere Vogelkäfig blinkt, das Startsignal.

Fertig. Los.

– … und sag ich natürlich bist du eigentlich noch ein Mensch der sich einfach alles mit einem erlauben darf weil wie Sie ja wissen ist mein Sohn also mein Sohn hat sich vorher überhaupt nie irgendwo schlecht aufgeführt weil er auch nie etwas getrunken hat aber seit seine Frau seine Freundin besser gesagt ihm dieses Kind in die Welt … Ja, was –

Meine Hand rutscht an Herrn Sedlatscheks Schulter ab wie an einem glitschigen Felsvorsprung. Als hätte ich einen Lichtschalter berührt, flackern seine Augen auf, wie ich im Fallen gerade noch sehen kann.

– Aah!

Ich donnere auf zwei leere Stühle, sie kippen um, werden von meinem Gewicht mitgerissen, mein Knie (das linke, das linke!) schlägt brüllend am Boden auf, ich wimmere auf und die Männer hinter mir reden wirr durcheinander.

Ich bleibe regungslos zwischen den Stühlen liegen. Meinem Bein erlaube ich ein, zwei filmreife Zuckungen. In der Peripherie meines Gesichtsfeldes sehe ich die aufgeregten, scheuen Bewegungen der beiden alten Männer. Herr Sedlatschek wiederholt es immer wieder, gefallen, hingefallen, gestürzt, in überraschenden Permutationen. Sein Gesprächspartner, ich hätte es wissen müssen, ist einer der Sprachbehinderten von unten, einer von den Reha-Robotern, nicht ein einziges biegsames Gelenk im Körper.

Es dauert eine Zeit, bis sie sich aus dem Raum bewegt haben. Natürlich gehen sie wie kleine Kinder die Schwester holen. Sehr gut. Keine erste Hilfe. Kein Ansprechen, kein Rütteln, nicht einmal ein heiserer Hilferuf. Ich werde ihnen heute Abend keinen Zucker auf den Brei geben, zumindest nicht so viel Zucker, wie sie sich wünschen. Und ich werde reinspucken. Feiglinge. Nur Glück, dass ich heute Abend gar nicht Dienst habe.

Als Herr Sedlatschek (alleine, die Mumie aus dem zweiten Stock hat sich verkrochen) mit einer Schwester zurückkommt, stehe ich schon wieder aufrecht, lächle über mein kleines Missgeschick, halte mir mein Knie, das bei einer kleinen Bewegung unangenehm knackt, und sage:

– Nichts passiert. Bin nur gestolpert …

– Er war ja bewusstlos!, protestiert Herr Sedlatschek plötzlich sehr laut mit scharf betontem S.

Die Schwester beugt sich zu ihm hinunter:

– Scheint ihm aber nichts passiert zu sein, Herr Sedlatschek.

– Total weg …

Herr Sedlatschek sieht zwischen der Schwester und mir hin und her. Sein Blick verfinstert sich.

– Ich bin nur gestolpert und hab mir das Knie gestoßen.

Ich hüpfe ein wenig.

– Ist … ist … einfach liegen geblieben, sagt Herr Sedlatschek etwas leiser und nur zur Schwester, die ihn freundlich annickt.

– Ich versteh schon, Herr Sedlatschek, sagt sie.

– Ich war doch nicht bewusstlos, sage ich, ich bin nur gestolpert.

– Ja, Herr Sedlatschek, sehen Sie, ist gar nichts passiert, sagt die Schwester.

– Aber … er kann sich vielleicht nicht erin-

– Vielleicht war es ja der Stuhl, den Sie gesehen haben, schneidet sie ihm das Wort ab. Die Stühle da hinten sind umgekippt. Schauen Sie.

Herr Sedlatschek schüttelt den Kopf. Dann besinnt er sich und schaut tatsächlich auf die Stühle, die umgekippt auf dem Boden liegen. Vielleicht …? Er hat verloren. Man nimmt ihn nicht ernst. Er kennt das. Alle kennen das. Und wissen, dass man dann nur mehr durch Gesten auf sich aufmerksam machen kann, oder durch völlige Apathie. Es ist wie eine ständig vorweggenommene Maulsperre. Worte sind völlig nutzlos, man kann mit ihnen nichts mehr anstellen, also hält man sie zurück.

Ich lächle die Schwester an. Wie ist sie eigentlich auf den Stuhl gekommen? Für einen Augenblick habe ich den Eindruck, dass sie mein geheimes Spiel vielleicht mitspielt. Dieser Gedanke geistert mir bis Dienstschluss durch den Kopf.

Als ich später am Aufenthaltsraum vorbeikomme, sehe ich dort Herrn Sedlatschek mit zwei anderen Bewohnern stehen, einer halbblinden Frau und einem kahlen Greis, der in Symbiose mit einem sprechenden Rollstuhl lebt. Herr Sedlatschek deutet auf die beiden Stühle und dann auf den Boden. Sein alter Mund bewegt sich und bildet Sätze. Die anderen hören ihm interessiert zu.

Das war gratis, denke ich, wie Jim Carrey in Truman Show, während er mit Seife einen Astronautenhelm um sein Spiegelbild zeichnet. Extra für dich, du alte Jammertante. Davon kannst du die nächsten Monate zehren, wenn ich schon längst in Freiheit bin und dein Gesicht vergessen habe.

Wie habe ich Valerie kennen gelernt?

Es gibt eine Reihe von befreundeten Therapeuten, die außerhalb des Heims praktizieren. Manche kommen zu uns, andere müssen besucht werden. So wie Valerie. Sie leitet ein Institut für Lebensführung. Ihre Spezialgebiete sind Stressbewältigung und Übergewicht. Eine Menge fette, frustrierte alte Frauen gehen zu ihr, und wenn es Klientinnen von uns sind, brauchen sie einen Begleiter. Mich.

Der schönste Gegenstand im Heim ist der kleine Begleiterplan, der auf der fantasielosen Pinnwand neben dem Speisesaal hängt. Ich verbringe viele Stunden davor. Sooft es geht, schreibe ich meinen Namen in die herrlich winzigen Kästchen (zu klein für zwei Namen).

Nur äußerst selten werde ich dabei gestört.

– Ah, Kerfuchs, da versteckst du dich!

– KERfuchs! Man spricht es –

– Ja ja, schon gut. Deinen Namen kann ohnehin niemand richtig aussprechen.

Max hat sich angeschlichen. Er muss beobachtet haben, dass ich mich wieder in den Begleitdienst eingetragen habe. In alle noch freien Kästchen. Valerie, Valerie, Valerie.

Er seufzt, lehnt den langen, schwarzen Metallstab, von dem früher einmal efeugemusterte Vorhänge hingen und der jetzt nur mehr als Werkzeug dient, etwa zum Verschieben der zentnerschweren Blumentöpfe, die in jedem Gang stehen, an die Wand. Der Metallstab fällt sofort um.

– Keeerfuchs, sagt Max, mir ist aufgefallen, dass du dich in letzter Zeit richtig um die Begleitdienste reißt.

– Ja?

– Eine ruhige Kugel schieben, jetzt, wo du gehst … ist doch so, oder?

Max ist etwa dreißig, trägt eine Glatze, spricht gern in Ellipsen und hat die Manieren eines nihilistischen Militärarztes. Er stiehlt gerne Aschenbecher aus Restaurants und baut aus ihnen babylonische Türme aus dunklem Glas. Er wettet auf den Ausgang von Nahost-Friedensverhandlungen wie andere auf Sportergebnisse. Beim Gehen rempelt er alles an, was ihm in den Weg kommt, sogar parkende Autos. Kinder und Tiere meiden ihn. Außerdem ist er dafür bekannt, dass er in seinen Nachtdiensten Angst und Schrecken verbreitet, er lässt alte Menschen stundenlang um Hilfe klingeln, und wenn er sie endlich erhört, macht er gehässige Bemerkungen über den Gestank ihrer vollgepinkelten Bettdecken, so lange, bis sie irgendwann nicht mehr klingeln und einfach nur still daliegen in ihrem Elend. Max hat schon zwei Disziplinaranhörungen hinter sich, in denen er sich allerdings erfolgreich gegen alle Beschwerden behaupten konnte. Alle haben vor ihm Angst, die Kollegen, die Heimleitung, die Angehörigen der alten Menschen. Aber in letzter Zeit scheint er sich ein wenig gebessert zu haben. Man munkelt, er habe eine Freundin.

Er bleibt hinter mir stehen, während ich mein Kürzel, die dunkelgoldene Silbe Ker, in den Dienstplan schreibe. Als ich fertig bin, weicht er mir umständlich aus und fragt, ob er sich meinen Bleistift ausborgen dürfe.