Das All im eignen Fell - Clemens J. Setz - E-Book

Das All im eignen Fell E-Book

Clemens J. Setz

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Beschreibung

»Hatte jemals irgendein einzelner Mensch eine größere zerstörerische Wirkung auf die deutschsprachige Lyrik als Elon Musk? Ich glaube nicht.«

Mehrfach kündigte Clemens J. Setz an, nie wieder Gedichte in Buchform zu veröffentlichen – um es in vorliegendem Band doch zu tun. Es handelt sich um Poesie der besonderen Art, denn sie ist ursprünglich in einem Medium entstanden, das es nicht mehr gibt: Der legendäre Mikroblogging-Dienst Twitter ist Geschichte, seit er von Elon Musk übernommen wurde. Er heißt jetzt bekanntlich X und funktioniert ganz anders. Das kreativitätsfördernde Zeichenlimit wurde entfernt, aber vor allem: Längere Zeit inaktive Accounts werden für immer und unwiederbringlich gelöscht – und mit ihnen die vielen poetischen Wunderkerzen, die dort funkeln.

Das All im eignen Fell ist ein Erinnerungsbuch im doppelten Sinn. Es versammelt in einem ersten Teil eine Auswahl von Setz' eigenen, inzwischen gelöschten Twitter-Gedichten. Und erzählt im zweiten die kurze, aber umso blütenreichere Geschichte einer Gattung, die Schritt für Schritt aus unserer Wirklichkeit entfernt wird.

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Seitenzahl: 98

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Cover

Titel

Clemens J. Setz

Das All im eignen Fell

Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp 1559.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: nach einem Konzept von Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-78017-6

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorbemerkung

Erster Teil

Twittergedichte – Eine Auswahl aus den Jahren 2015-2022

Zweiter Teil

Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie

1 Alle Imseln

2 Unser Rimbaud

3 Der Champion der Poesie

4 New Sentences

5 Die Angst des Schwans im Kettenkarussell

6 Die Abenteuer von

DJ

Lotti

7 Liaghts Out

Dank

Fußnoten

Informationen zum Buch

Eichhörnchen auch nur Augenbrauenpaar auf vier Rädern

@standseilbahn, 14. ‌8. ‌2018

Wie eine kranke Mikrowelle fliegt ein Flugzeug an

@GuavenJ, 6. ‌10. ‌2018

an obese blue whale that's almost spherical seems possible

@tao_lin, 6. ‌3. ‌2012

Die Schatten werden länger,

die schweigsamen Affen der Dinge.

Oskar Loerke

Vorbemerkung

Es war mal ein Mann namens Clemens

der war Chef eines Schreibunternehmens

Er schrieb sehr spontane

Entwicklungsromane

von der Kunst des Sich-seiner-selbst-Schämens

Lange habe ich herumgekräht, dass ich keine Gedichte mehr in Buchform, sondern nur noch auf Twitter veröffentlichen möchte. Und jetzt das. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Twitter so rasch verschwinden würde. Es heißt jetzt »X« und funktioniert ganz anders. Das Zeichenlimit wurde entfernt. Man kann jetzt, wenn man will, auch Romane auf X veröffentlichen. Das ist natürlich eine Katastrophe. Es ist ungefähr so, als würde man auf allen Tennisplätzen der Erde die Netze entfernen.

Dieser Vergleich stammt übrigens nicht von mir, sondern vom amerikanischen Dichter Robert Frost, der einmal gefragt wurde, warum er denn immer in gereimter oder gebundener Sprache schreibe und nie in dem doch viel freieren »free verse«. Frost antwortete, er wolle auch nicht ohne Netz Tennis spielen. Man kann natürlich, wenn man will, durchaus Tennis ohne Netz spielen, aber wenn es auf der Welt nur noch Plätze ohne Netz gibt, wird keine neue Generation von Spielern mehr heranwachsen, die noch so etwas wie Sinn, Verfeinerung und athletische Schönheit im Einhalten der klassischen Tennisregeln entdecken kann.

Dasselbe gilt leider auch für Twitter. Die Begrenzung auf 140 und später 280 Zeichen brachte ungeahnte Freiheiten in der Poesie hervor. Mich brachte es auf eine Sache, für die ich mich früher immer geschämt habe: meinen Reimzwang. Schon seit meiner Kindheit flüchte ich mich in diesen eigenartigen Tic, vor allem in Momenten der Bedrängnis oder der Ratlosigkeit. Gereimtes wirkt aus irgendeinem Grund viel entschärfter und wertvoller. Man kann es, immer wenn man möchte, zu den meisten bekannten Kinderliedmelodien singen. Es kann also so schlimm gar nicht sein. Ja, ich liebe den Reim, besonders wenn er an vollkommen unangebrachten Orten erscheint. Oder, wie der umnachtete Ballett-Gott Vaslav Nijinsky es in seinem Tagebuch (einem meiner ewigen Lieblingsbücher) ausdrückte: »Ich spreche gern in Reimen, denn ich bin selbst ein Reim.«

Im ersten Teil dieses Erinnerungsbuches habe ich daher eine Auswahl meiner größtenteils gereimten Twittergedichte versammelt. Das gedruckte Buch hat nun leider, zumindest was Langlebigkeitsversprechen angeht, eindeutig gegen Twitter gewonnen. Laut den dort nun waltenden Regeln sollen alle länger inaktiv bleibenden Accounts nach einer Weile automatisch gelöscht werden, was bedeutet, dass auch meiner bald verschwinden wird. Bei einem Buch geht das nicht so leicht.

Das Für-immer-gelöscht-Werden ist ein vollkommen neuartiges Element in dieser Spielart deutschsprachiger Dichtung. Viele wichtige und stilbildende Accounts der frühen Blütezeit sind inzwischen gelöscht, und nichts, wirklich keine Macht der Welt, kann das rückgängig machen und den einstigen Reichtum rekonstruieren. Wenn keine Sicherungskopien existieren, befinden sich diese wunderbaren Werke, ein höchst seltsamer Gedanke, inzwischen tatsächlich außerhalb des Universums, und man kann sich, so wie ich das hier versuchen werde, nur noch an sie erinnern. Ich weiß nicht, ob es so eine derart gründliche und irreversible Entseelung jemals zuvor in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur gegeben hat.

Im zweiten Teil dieses Buches habe ich einige dieser verschwundenen Werke in Porträts versammelt, ergänzt durch die Feier momentan noch aktiver oder zumindest besuchbarer Accounts, deren poetischer grind mich bis heute erfreut und inspiriert.

Erster Teil

Twittergedichte – Eine Auswahl aus den Jahren 2015-2022

@clemensetz

Twittergedichte

Eine Auswahl aus den Jahren 2015-2022

Normale, meine Mitmenschen über mein Leben informierende Tweets habe ich natürlich immer wieder versucht.

heute ist so heiß du spürst den Herzschlag in den Gasthaushirschgeweihen

Gibt Chiropraktiker-Nackeneinrenkgeräusch-Compilations auf Youtube Wer da beim Anschauen nicht Nasenbluten bekommt hat keine seele und auch keine rechte Ehr im Leib

Sich nachts in einer Betonmischmaschine einrollen, im Anzug, als Erwachsener

Jetzt wieder sechs Monate lang eiskalt und stockdunkel die ganze Zeit, dann drei Tage Amseln und ein Vogi das den ganzen Tag "egypt egypt egypt" ruft, dann bumm Hitze

Manchmal wurden die Ergebnisse etwas besser, wenn ich alle meine Sätze, als wäre ich der Bewohner einer Literaturzeitschrift, in unregelmäßigen Zeilenumbrüchen abschickte.

Wer würde gewinnen

bei Kampf Wal gegen Riesenrad?

Meine Intuition sagt Riesenrad

weil wendiger größer und auch

weil es beinhaltet kleine Menschen

in Kabinen die mitkämpfen können

mit kleinen Pistolen zB

oder Anti-Wal-spray

Aber die Zeichenbegrenzung auf Twitter brachte schließlich doch die Notwendigkeit mit sich, den Großteil meiner Äußerungen zu reimen. Damit konnte ich der unguten Hintergrundstille entgegenwirken, die sich in allzu kurzen, aphoristischen Äußerungen häufig einschleicht. Aphorismen klingen ja fast immer so, als würden Tote zu einem sprechen. Ein Reim dagegen macht das Ganze farbig, heiter, durchblutet. Und das ist, gerade wenn es um die Wünsche und Sehnsüchte einer Person geht, eine gut nutzbare Technik zur Wahrung der Übertragungsqualität unserer Gefühle.

LIEBESLIED

Ich wär dein Bud Spencer

du mein Terence Hill

so raufen wir uns durchs Leben

Und wenn die Welt

uns prügeln will

wirds Schlägereien geben

Ich wär dein Bud Spencer

du mein Terence Hill

Wir stolpern durch schwingende Türen

In jedem Saloon

wirds mucksmäuschenstill

wenn wir einander berühren

Ich denke immer noch viel über die Massenschlägereien in den Filmen von Terrence Hill und Bud Spencer nach. Sie rühren mich ungewöhnlich stark. Ich liebte sie schon als Kind, aber schaute sie mir nie aufgrund ihrer ästhetischen oder choreographischen Herrlichkeiten an, wie etwa die von Bruce Lee oder Jackie Chan. Man sieht bei den meisten Faustschlägen, dass sie am Gegner vorbeischlagen. Es sind die, außerhalb von Cartoons, am wenigsten von Hass geleiteten Gewaltszenen, die es gibt. Männer meiner Generation weinen vor Rührung, wenn in Fight Club Tyler Durden sagt: »I wanted to destroy something beautiful«, nachdem er einen seiner Adepten halb totgeprügelt hat. Bei Hill und Spencer würde so eine Empfindung niemals auftauchen. Man will nichts zerstören, bloß etwas aushandeln, in der Ebene, in der Wüste, vor einem Wasserfall, vor einer klapprigen Westernkulisse. Man prügelt sich nicht einmal, um die Ungerechten und Unterdrücker zu zertrümmern und zu zerreißen, sondern um sie zu läutern. Am Ende hilft man einander sogar, wie in allen wahren Liebesgeschichten, vom Boden auf (wie etwa in Die rechte und die linke Hand des Teufels). Ja, man prügelt sich, um einander daran zu erinnern, dass man aus denselben Elementen besteht, aus Haut und Schweiß und Staub. Aber zurück zum Thema.

MONDNACHT

Die Luft ging durch die Felder,

die Ähren wogten sacht,

es rauschten leis die Wälder

so sternklar war die Nacht

Und meine Seelen spannten

weit ihre Flügel aus,

erschreckten Elefanten

als wärn sie eine Maus

Zur Zeit der Pandemie fand sich auf Twitter Anlass für besonders viele Gedichte. Im ersten Jahr riet das österreichische Außenministerium eines Tages von Reisen auf den gesamten Erdball ab.

Reisewarnung für die ganze Welt

Und auf dem Mars der Rover sitzt und bellt

begreift nicht was die Erde grad befällt

Die Anglerfische tief im Meer erhellen

ihr sorgenvolles Antlitz. Robben bellen:

Die Warnung gilt nur für die ganze Welt

doch Gottseidank nicht für die ganzen Wellen

Im April 2020 war die Lombardei die am schlimmsten von der ersten Covid-Welle getroffene Region Europas. Inmitten der dramatischen Berichte über die täglichen Todeszahlen entdeckte ich einen Beitrag über Esel, welche die neugeborenen, für die langen Almabtriebe noch zu schwachen Lämmer vom Berg in die Täler tragen.

Every spring in Lombardy

‘donkey nannies’ carry lambs

down the mountains, carefully,

to the waiting ewes and rams

It's a somber spring this year

in Lombardy and other places

but the ‘nannies’ still appear

bringing lambs with smiling faces

Ganz anders als meine alltäglichen Gedanken kreisten meine Twittergedichte in erster Linie um häusliche und jahreszeitliche Themen.

KALTER TAG

Mir ist so kalt

Meine Ohren frieren

und meine Stirn

Meine Fingerspitzen frieren

auch meine Füße

meine Beine

und sogar

meine Krähen

HERBSTTAG

Gewaltig endet so das Jahr

Der Baum kriegt gelbe Strähn ins Haar

Auf Ästen kriegt er gelbe Pfoten

So lobt die Erde ihre Toten

HAIKU

Bitte ist ein Arzt

unter den Passagieren

Waldweg im Spätherbst

SONNTAG

Die Sonne hat schon früh geschienen

doch nur als dünner Rest

Sie wärmt mir die Gesprächsplatinen

und auch mein Krähennest

Doch sonst wärmt sie nicht wirklich viel

Sie tut sich schon sehr schwer

Am Horizont ein Fußballspiel

Mein Herz ein kleiner Bär

Es ist Herbst und mir gehen Sockenpuppen

durch den Kopf

Solche mit komischem Ausdruck

oder mit für normale Hände

viel zu kleinem Sackkörper

während draußen die Blätter usw

Im Sommer bleiben die Menschen oft stehen

und rühren sich kaum mehr von der Stelle

und werden starr, wie die sich im Drehen

straffenden Ketten der Karusselle

Die Sonnenblumen

verprügelt und braun

vornübergekippt

am Gartenzaun

Kein Biber schwimmt mehr

im Kanal

Die Blätter sterben

Herbst brutal

DER 2. SEPTEMBER

Nun brennt das Licht im Schulgebäude

viel länger jeden Tag

Im Kürbis wartet Lebensfreude

wie Geld im Briefumschlag

Mein Wellensittich schluckte ach

die Fernbedienung runter

Kastanien fallen in den Bach

Es fehlt der schiefe Turm im Schach

Die Wege werden bunter

WINTER

Wer wird sich um meine Schildkröten kümmern,

die sich im Keller verstecken?

Elf Jahre nonstop überwintern sie schon.

Ich wollte, ich könnte sie wecken.

Manchmal hebt sich ein Gedanke

wie so eine Parkplatzschranke

und so können Maus und Lurch

wieder ungehindert durch

HERBST

Der Sommer hängt am letzten Apfelstängel

Ich fühle mich als hätt ich Nährstoffmängel

Der Ast vorm Fenster hat im Schlaf geweint

Wann kommt der Winter Frage für ein Freund

BERLIN

Berlin, o Berlin

Stadt wie ein Friseurtermin

jetzt bin ich wieder in dir

Hier ist nichts gewöhnlich

Alle Dichter heißen hier

Jan Bleutge oder so ähnlich

Nur hier und da gab es thematisch etwas weiter ausholende Versuche.

RUND

Ich wäre gern ein Gürteltier

dann wär ich kugelrund.

Den ganzen Tag läg ich vor dir,

kompakt und kerngesund.

Ich wär so gern ein kleiner Ball

aus warmen Panzerplatten.

Ein Wesen wie ein Krampfanfall

mit einem kurzen Schatten.

Ich passte gut in eine Hand.

Ich wäre ein geringer

gedankenloser Gegenstand.

Geduldspiel für die Finger.

So rund war ich schon lang nicht mehr

und werd's auch nie mehr sein.