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»Hatte jemals irgendein einzelner Mensch eine größere zerstörerische Wirkung auf die deutschsprachige Lyrik als Elon Musk? Ich glaube nicht.«
Mehrfach kündigte Clemens J. Setz an, nie wieder Gedichte in Buchform zu veröffentlichen – um es in vorliegendem Band doch zu tun. Es handelt sich um Poesie der besonderen Art, denn sie ist ursprünglich in einem Medium entstanden, das es nicht mehr gibt: Der legendäre Mikroblogging-Dienst Twitter ist Geschichte, seit er von Elon Musk übernommen wurde. Er heißt jetzt bekanntlich X und funktioniert ganz anders. Das kreativitätsfördernde Zeichenlimit wurde entfernt, aber vor allem: Längere Zeit inaktive Accounts werden für immer und unwiederbringlich gelöscht – und mit ihnen die vielen poetischen Wunderkerzen, die dort funkeln.
Das All im eignen Fell ist ein Erinnerungsbuch im doppelten Sinn. Es versammelt in einem ersten Teil eine Auswahl von Setz' eigenen, inzwischen gelöschten Twitter-Gedichten. Und erzählt im zweiten die kurze, aber umso blütenreichere Geschichte einer Gattung, die Schritt für Schritt aus unserer Wirklichkeit entfernt wird.
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Seitenzahl: 98
Clemens J. Setz
Das All im eignen Fell
Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp 1559.
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Umschlaggestaltung: nach einem Konzept von Willy Fleckhaus
eISBN 978-3-518-78017-6
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
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Vorbemerkung
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Erster Teil
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Twittergedichte – Eine Auswahl aus den Jahren 2015-2022
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Zweiter Teil
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Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie
1 Alle Imseln
2 Unser Rimbaud
3 Der Champion der Poesie
4 New Sentences
5 Die Angst des Schwans im Kettenkarussell
6 Die Abenteuer von
DJ
Lotti
7 Liaghts Out
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Dank
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Fußnoten
Informationen zum Buch
Eichhörnchen auch nur Augenbrauenpaar auf vier Rädern
@standseilbahn, 14. 8. 2018
Wie eine kranke Mikrowelle fliegt ein Flugzeug an
@GuavenJ, 6. 10. 2018
an obese blue whale that's almost spherical seems possible
@tao_lin, 6. 3. 2012
Die Schatten werden länger,
die schweigsamen Affen der Dinge.
Oskar Loerke
Es war mal ein Mann namens Clemens
der war Chef eines Schreibunternehmens
Er schrieb sehr spontane
Entwicklungsromane
von der Kunst des Sich-seiner-selbst-Schämens
Lange habe ich herumgekräht, dass ich keine Gedichte mehr in Buchform, sondern nur noch auf Twitter veröffentlichen möchte. Und jetzt das. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Twitter so rasch verschwinden würde. Es heißt jetzt »X« und funktioniert ganz anders. Das Zeichenlimit wurde entfernt. Man kann jetzt, wenn man will, auch Romane auf X veröffentlichen. Das ist natürlich eine Katastrophe. Es ist ungefähr so, als würde man auf allen Tennisplätzen der Erde die Netze entfernen.
Dieser Vergleich stammt übrigens nicht von mir, sondern vom amerikanischen Dichter Robert Frost, der einmal gefragt wurde, warum er denn immer in gereimter oder gebundener Sprache schreibe und nie in dem doch viel freieren »free verse«. Frost antwortete, er wolle auch nicht ohne Netz Tennis spielen. Man kann natürlich, wenn man will, durchaus Tennis ohne Netz spielen, aber wenn es auf der Welt nur noch Plätze ohne Netz gibt, wird keine neue Generation von Spielern mehr heranwachsen, die noch so etwas wie Sinn, Verfeinerung und athletische Schönheit im Einhalten der klassischen Tennisregeln entdecken kann.
Dasselbe gilt leider auch für Twitter. Die Begrenzung auf 140 und später 280 Zeichen brachte ungeahnte Freiheiten in der Poesie hervor. Mich brachte es auf eine Sache, für die ich mich früher immer geschämt habe: meinen Reimzwang. Schon seit meiner Kindheit flüchte ich mich in diesen eigenartigen Tic, vor allem in Momenten der Bedrängnis oder der Ratlosigkeit. Gereimtes wirkt aus irgendeinem Grund viel entschärfter und wertvoller. Man kann es, immer wenn man möchte, zu den meisten bekannten Kinderliedmelodien singen. Es kann also so schlimm gar nicht sein. Ja, ich liebe den Reim, besonders wenn er an vollkommen unangebrachten Orten erscheint. Oder, wie der umnachtete Ballett-Gott Vaslav Nijinsky es in seinem Tagebuch (einem meiner ewigen Lieblingsbücher) ausdrückte: »Ich spreche gern in Reimen, denn ich bin selbst ein Reim.«
Im ersten Teil dieses Erinnerungsbuches habe ich daher eine Auswahl meiner größtenteils gereimten Twittergedichte versammelt. Das gedruckte Buch hat nun leider, zumindest was Langlebigkeitsversprechen angeht, eindeutig gegen Twitter gewonnen. Laut den dort nun waltenden Regeln sollen alle länger inaktiv bleibenden Accounts nach einer Weile automatisch gelöscht werden, was bedeutet, dass auch meiner bald verschwinden wird. Bei einem Buch geht das nicht so leicht.
Das Für-immer-gelöscht-Werden ist ein vollkommen neuartiges Element in dieser Spielart deutschsprachiger Dichtung. Viele wichtige und stilbildende Accounts der frühen Blütezeit sind inzwischen gelöscht, und nichts, wirklich keine Macht der Welt, kann das rückgängig machen und den einstigen Reichtum rekonstruieren. Wenn keine Sicherungskopien existieren, befinden sich diese wunderbaren Werke, ein höchst seltsamer Gedanke, inzwischen tatsächlich außerhalb des Universums, und man kann sich, so wie ich das hier versuchen werde, nur noch an sie erinnern. Ich weiß nicht, ob es so eine derart gründliche und irreversible Entseelung jemals zuvor in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur gegeben hat.
Im zweiten Teil dieses Buches habe ich einige dieser verschwundenen Werke in Porträts versammelt, ergänzt durch die Feier momentan noch aktiver oder zumindest besuchbarer Accounts, deren poetischer grind mich bis heute erfreut und inspiriert.
@clemensetz
Twittergedichte
Eine Auswahl aus den Jahren 2015-2022
Normale, meine Mitmenschen über mein Leben informierende Tweets habe ich natürlich immer wieder versucht.
heute ist so heiß du spürst den Herzschlag in den Gasthaushirschgeweihen
Gibt Chiropraktiker-Nackeneinrenkgeräusch-Compilations auf Youtube Wer da beim Anschauen nicht Nasenbluten bekommt hat keine seele und auch keine rechte Ehr im Leib
Sich nachts in einer Betonmischmaschine einrollen, im Anzug, als Erwachsener
Jetzt wieder sechs Monate lang eiskalt und stockdunkel die ganze Zeit, dann drei Tage Amseln und ein Vogi das den ganzen Tag "egypt egypt egypt" ruft, dann bumm Hitze
Manchmal wurden die Ergebnisse etwas besser, wenn ich alle meine Sätze, als wäre ich der Bewohner einer Literaturzeitschrift, in unregelmäßigen Zeilenumbrüchen abschickte.
Wer würde gewinnen
bei Kampf Wal gegen Riesenrad?
Meine Intuition sagt Riesenrad
weil wendiger größer und auch
weil es beinhaltet kleine Menschen
in Kabinen die mitkämpfen können
mit kleinen Pistolen zB
oder Anti-Wal-spray
Aber die Zeichenbegrenzung auf Twitter brachte schließlich doch die Notwendigkeit mit sich, den Großteil meiner Äußerungen zu reimen. Damit konnte ich der unguten Hintergrundstille entgegenwirken, die sich in allzu kurzen, aphoristischen Äußerungen häufig einschleicht. Aphorismen klingen ja fast immer so, als würden Tote zu einem sprechen. Ein Reim dagegen macht das Ganze farbig, heiter, durchblutet. Und das ist, gerade wenn es um die Wünsche und Sehnsüchte einer Person geht, eine gut nutzbare Technik zur Wahrung der Übertragungsqualität unserer Gefühle.
LIEBESLIED
Ich wär dein Bud Spencer
du mein Terence Hill
so raufen wir uns durchs Leben
Und wenn die Welt
uns prügeln will
wirds Schlägereien geben
Ich wär dein Bud Spencer
du mein Terence Hill
Wir stolpern durch schwingende Türen
In jedem Saloon
wirds mucksmäuschenstill
wenn wir einander berühren
Ich denke immer noch viel über die Massenschlägereien in den Filmen von Terrence Hill und Bud Spencer nach. Sie rühren mich ungewöhnlich stark. Ich liebte sie schon als Kind, aber schaute sie mir nie aufgrund ihrer ästhetischen oder choreographischen Herrlichkeiten an, wie etwa die von Bruce Lee oder Jackie Chan. Man sieht bei den meisten Faustschlägen, dass sie am Gegner vorbeischlagen. Es sind die, außerhalb von Cartoons, am wenigsten von Hass geleiteten Gewaltszenen, die es gibt. Männer meiner Generation weinen vor Rührung, wenn in Fight Club Tyler Durden sagt: »I wanted to destroy something beautiful«, nachdem er einen seiner Adepten halb totgeprügelt hat. Bei Hill und Spencer würde so eine Empfindung niemals auftauchen. Man will nichts zerstören, bloß etwas aushandeln, in der Ebene, in der Wüste, vor einem Wasserfall, vor einer klapprigen Westernkulisse. Man prügelt sich nicht einmal, um die Ungerechten und Unterdrücker zu zertrümmern und zu zerreißen, sondern um sie zu läutern. Am Ende hilft man einander sogar, wie in allen wahren Liebesgeschichten, vom Boden auf (wie etwa in Die rechte und die linke Hand des Teufels). Ja, man prügelt sich, um einander daran zu erinnern, dass man aus denselben Elementen besteht, aus Haut und Schweiß und Staub. Aber zurück zum Thema.
MONDNACHT
Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder
so sternklar war die Nacht
Und meine Seelen spannten
weit ihre Flügel aus,
erschreckten Elefanten
als wärn sie eine Maus
Zur Zeit der Pandemie fand sich auf Twitter Anlass für besonders viele Gedichte. Im ersten Jahr riet das österreichische Außenministerium eines Tages von Reisen auf den gesamten Erdball ab.
Reisewarnung für die ganze Welt
Und auf dem Mars der Rover sitzt und bellt
begreift nicht was die Erde grad befällt
Die Anglerfische tief im Meer erhellen
ihr sorgenvolles Antlitz. Robben bellen:
Die Warnung gilt nur für die ganze Welt
doch Gottseidank nicht für die ganzen Wellen
Im April 2020 war die Lombardei die am schlimmsten von der ersten Covid-Welle getroffene Region Europas. Inmitten der dramatischen Berichte über die täglichen Todeszahlen entdeckte ich einen Beitrag über Esel, welche die neugeborenen, für die langen Almabtriebe noch zu schwachen Lämmer vom Berg in die Täler tragen.
Every spring in Lombardy
‘donkey nannies’ carry lambs
down the mountains, carefully,
to the waiting ewes and rams
It's a somber spring this year
in Lombardy and other places
but the ‘nannies’ still appear
bringing lambs with smiling faces
Ganz anders als meine alltäglichen Gedanken kreisten meine Twittergedichte in erster Linie um häusliche und jahreszeitliche Themen.
KALTER TAG
Mir ist so kalt
Meine Ohren frieren
und meine Stirn
Meine Fingerspitzen frieren
auch meine Füße
meine Beine
und sogar
meine Krähen
HERBSTTAG
Gewaltig endet so das Jahr
Der Baum kriegt gelbe Strähn ins Haar
Auf Ästen kriegt er gelbe Pfoten
So lobt die Erde ihre Toten
HAIKU
Bitte ist ein Arzt
unter den Passagieren
Waldweg im Spätherbst
SONNTAG
Die Sonne hat schon früh geschienen
doch nur als dünner Rest
Sie wärmt mir die Gesprächsplatinen
und auch mein Krähennest
Doch sonst wärmt sie nicht wirklich viel
Sie tut sich schon sehr schwer
Am Horizont ein Fußballspiel
Mein Herz ein kleiner Bär
Es ist Herbst und mir gehen Sockenpuppen
durch den Kopf
Solche mit komischem Ausdruck
oder mit für normale Hände
viel zu kleinem Sackkörper
während draußen die Blätter usw
Im Sommer bleiben die Menschen oft stehen
und rühren sich kaum mehr von der Stelle
und werden starr, wie die sich im Drehen
straffenden Ketten der Karusselle
Die Sonnenblumen
verprügelt und braun
vornübergekippt
am Gartenzaun
Kein Biber schwimmt mehr
im Kanal
Die Blätter sterben
Herbst brutal
DER 2. SEPTEMBER
Nun brennt das Licht im Schulgebäude
viel länger jeden Tag
Im Kürbis wartet Lebensfreude
wie Geld im Briefumschlag
Mein Wellensittich schluckte ach
die Fernbedienung runter
Kastanien fallen in den Bach
Es fehlt der schiefe Turm im Schach
Die Wege werden bunter
WINTER
Wer wird sich um meine Schildkröten kümmern,
die sich im Keller verstecken?
Elf Jahre nonstop überwintern sie schon.
Ich wollte, ich könnte sie wecken.
Manchmal hebt sich ein Gedanke
wie so eine Parkplatzschranke
und so können Maus und Lurch
wieder ungehindert durch
HERBST
Der Sommer hängt am letzten Apfelstängel
Ich fühle mich als hätt ich Nährstoffmängel
Der Ast vorm Fenster hat im Schlaf geweint
Wann kommt der Winter Frage für ein Freund
BERLIN
Berlin, o Berlin
Stadt wie ein Friseurtermin
jetzt bin ich wieder in dir
Hier ist nichts gewöhnlich
Alle Dichter heißen hier
Jan Bleutge oder so ähnlich
Nur hier und da gab es thematisch etwas weiter ausholende Versuche.
RUND
Ich wäre gern ein Gürteltier
dann wär ich kugelrund.
Den ganzen Tag läg ich vor dir,
kompakt und kerngesund.
Ich wär so gern ein kleiner Ball
aus warmen Panzerplatten.
Ein Wesen wie ein Krampfanfall
mit einem kurzen Schatten.
Ich passte gut in eine Hand.
Ich wäre ein geringer
gedankenloser Gegenstand.
Geduldspiel für die Finger.
So rund war ich schon lang nicht mehr
und werd's auch nie mehr sein.