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In einem Wohnheim für behinderte Menschen wird die junge Natalie Reinegger Bezugsbetreuerin von Alexander Dorm. Der Mann sitzt im Rollstuhl, ist von unberechenbarem Temperament und gilt als »schwierig«. Dennoch erhält er jede Woche Besuch – ausgerechnet von Christopher Hollberg, jenem Mann, dessen Leben er vor Jahren zerstört haben soll, als er ihn als Stalker verfolgte und damit Hollbergs Frau in den Selbstmord trieb. Das Arrangement funktioniere zu beiderseitigem Vorteil, versichert man Natalie, die beiden seien einander sehr zugetan. Aber bald verstört die junge Frau die unverhohlene Abneigung, mit der Hollberg seinem vermeintlichen Freund begegnet. Sie versucht, hinter das Geheimnis des undurchschaubaren Besuchers zu kommen und die Motive seines Handelns zu verstehen.
Dieser Roman ist eine Bergwerksfahrt in die Welt des Clemens J. Setz. Sie fördert ihre innere Ordnung zutage, ihre Geheimnisse und Prinzipien: Macht und Ohnmacht, Sinnsuche und Orientierungsverlust, Unterwerfung und Liebe in allen Spielarten – fürsorglich, respektvoll, besessen, Liebe als Wahn und als Manipulation. Und Rache. So subtil und schmerzhaft, dass die Frage nach Täter und Opfer in namenloses Gelände führt.
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Seitenzahl: 1345
In einem Wohnheim für behinderte Menschen wird die junge Natalie Reinegger Bezugsbetreuerin von Alexander Dorm. Der Mann sitzt im Rollstuhl, ist von unberechenbarem Temperament und gilt als »schwierig«. Dennoch erhält er jede Woche Besuch – ausgerechnet von Christoph Hollberg, jenem Mann, dessen Leben er vor Jahren zerstört haben soll, als er ihn als Stalker verfolgte und damit Hollbergs Frau in den Selbstmord trieb. Das Arrangement funktioniere zu beiderseitigem Vorteil, versichert man Natalie, die beiden seien einander sehr zugetan. Aber bald verstört die junge Frau die unverhohlene Abneigung, mit der Hollberg seinem vermeintlichen Freund begegnet. Sie versucht, hinter das Geheimnis des undurchschaubaren Besuchers zu kommen und die Motive seines Handelns zu verstehen.
Dieser Roman ist eine Bergwerksfahrt in die Welt des Clemens J. Setz. Sie fördert ihre innere Ordnung zutage, ihre Geheimnisse und Prinzipien: Macht und Ohnmacht, Sinnsuche und Orientierungsverlust, Unterwerfung und Liebe in allen Spielarten – für sorglich, respektvoll, besessen, Liebe als Wahn und als Manipulation. Und Rache. So subtil und schmerzhaft, dass die Frage nach Täter und Opfer in namenloses Gelände führt.
Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren. Er studierte Mathematik und Germanistik, entschied sich gegen den Lehrberuf und wurde Schriftsteller. Neben Gedichten und Essays (u. a. für Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und Die Welt) schreibt er vor allem Erzählungen und Romane, für die er zahlreiche Preise erhielt.
Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Bände:
Indigo. Roman, 2012
Die Vogelstraußtrompete. Gedichte, 2014
Glücklich wie Blei im Getreide. Nacherzählungen, 2015
Clemens J.
Setz
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre
Roman
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der Ausgabe:
Erste Auflage 2015
© Suhrkamp Verlag Berlin 2015Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des
öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und
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Abbildung im Kapitel Gespräche über Lebendiges © Larry Rains / iStockphoto
Abbildung im Kapitel Chat »The sun, street light and Parallax edit« © Brocken Inaglory, eigenes Werk. Lizenziert unter GFDL über Wikimedia Commons
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagfoto: Lucas Zimmermann
eISBN 978-3-518-74300-3
www.suhrkamp.de
ERSTER TEIL
In den südwestlichen Territorien findet sich ein bestimmter Baum, von den Einheimischen Langer Arm genannt, der im Sturm seine Äste weit auswirft, nach der Art von Kindern, die mit Stöcken spielen. Der Abstand zwischen den einzelnen Bäumen ist mitunter ziemlich groß, und die ausgeworfenen Äste treffen nur selten einen anderen Baum. Wenn dies geschieht, wirft der getroffene Baum, so zumindest behaupten es die ortskundigen blackfellers, recht bald einen Ast zurück, in dieselbe Richtung, aus der der erste Ast geflogen kam. Und so geht es immer weiter, über die Jahre und Jahrhunderte, sozusagen in trautem Zwiegespräche dieser sonst so isoliert dastehenden uralten Bäume. Manche bezeichnen diesen sturmbegünstigten Austausch, in ihrem Verständnis solcher Naturvorgänge vielleicht etwas fehlgeleitet, auch als Rache.
Charles Victor Eglantine, TerraAustralis Cognita, 1874
… varying as the fashions, but the luminous details remain unaltered.
Ezra Pound, I Gather the Limbs of Osiris
Abschluss
– Folgen Sie diesem Heißluftballon !
Der Taxifahrer drehte den Kopf und schaute in die Richtung, in die Natalies Arm wies. Tatsächlich war da ein Ballon an der von ihrem Finger angepeilten Stelle zu sehen: ein fingerhutgroßer umgekehrter Wassertropfen im wolkenlosen Blau des Stadtrandhimmels, mit einem erahnbaren Firmenlogo auf der Außenhaut.
Natalie ließ ihren Arm sinken. Es war nicht abzusehen, wie der Taxifahrer reagieren würde. Ihr Herz klopfte, noch konnte alles schiefgehen. Sein Gesicht verriet nichts.
Es war der letzte Tag ihrer Ausbildung, und sie hatte gewaltig verschlafen. Im Grunde hatte sie alles schon hinter sich, alle Fachbereichsarbeiten geschrieben, alle Prüfungen bestanden, das Diplom gehörte ihr, war ab sofort Teil ihres Namens, also würde niemand wütend sein, wenn sie nicht zum Abschlussfest erschien. Aber sie hatte sich wochenlang darauf gefreut: Red Bull veranstaltete für die Ausbilderinnen und Absolventinnen aller Behindertenpädagogik-Lehrgänge des Landes einen fröhlichen Ballon-Tag, und selbstverständlich waren auch alle ehemaligen Schützlinge eingeladen, zwei Sonderballons würden mit rollstuhlgerechten Gondeln ausgestattet sein. Und Natalie war drei Stunden zu spät. Dreieinhalb.
Aber das hielt den Taxifahrer nicht davon ab, sich Zeit zu lassen, um die Informationen zu verarbeiten. Natalie begann ihn zu hassen, seine Schultern, seine schneeweißen Haare – doch da fuhr er unvermittelt los, ohne eine weitere Frage zu stellen. Natalie ließ sich in den Sitz zurückfallen, schnallte sich an, klatschte lautlos in die Hände und lachte. Geschafft ! Alles lief wieder glatt. Sie hatte letzte Woche elf Bewerbungen abgeschickt und stand in Kontakt mit der Welt. Vielleicht würde sie die Ballone noch aus der Nähe sehen, diese herrlichen sphärischen Gebilde, bei deren Anblick man innerlich runder und vollkommener wurde. Es würde doch ein schöner Tag werden !
Da meldete sich der Fahrer. Er wisse nicht, wie er das machen solle, sagte er. Er bringe sie gern überall hin, aber der Ballon … Er sprach das Wort mit Betonung auf der ersten Silbe aus. Allein dafür hätte Natalie ihn ohrfeigen können. Die Musik in ihrem Kopf verstummte. Sie lehnte sich nach vorn.
– Lassen Sie mich aussteigen, sagte sie.
– Haben Sie Adresse ?
Nein, die hatte sie vergessen. Es war ja auch nicht der Sinn einer dreistündigen Verspätung, gut vorbereitet und mit allen Informationen versorgt zu sein, oder ? Verdammter Idiot.
– Ist egal, sagte sie. Ich steig hier bitte aus.
Der Fahrer seufzte und hielt an. Weit waren sie nicht gekommen.
– Ich habe gehofft, es ginge zumindest bis zur Stadtgrenze, sagte Natalie. Einfach so, ohne Fragen.
Es hatte keinen Sinn mehr. Er hatte alles kaputtgemacht.
– Ja soll ich Sie bringen ? Bis Stadtgrenze ? Ist ka Problem. Aber Bállon …
Der Fahrer deutete mit einer irritierend würdevollen Handbewegung auf das in großer Entfernung schwebende Flugobjekt.
– Ballón, korrigierte Natalie und versuchte, sich von dem tiefehrlichen Taxifahrerschnurrbart, der ihr schneeweiß aus dem Gesicht entgegenleuchtete, nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Hier. Stimmt so.
Sie gab ihm einen Fünf-Euro-Schein, mehr als genug für eine so kurze Fahrt. Er bedankte sich kopfschüttelnd bei ihr, hielt den Schein in der Hand und blickte drein, als hätte er nun wirklich jeden Glauben an – aber nein, stellte Natalie fest, sein Glaube an die Menschheit war immer noch intakt. Da, man sah es an seinem Nacken. Bestimmt konnte er ganz viele Sprachen. Deprimiert stieg sie aus dem Taxi.
Es wäre ohnehin zu spät gewesen. Dreieinhalb Stunden. Sie hatte gestern Abend das Muskelrelaxans genommen, davon schlief sie zu gut. Sie überquerte die Straße und lief in einen heißen Sommerwindstoß. Unruhe überkam sie, die Hände und Fingerspitzen fühlten sich komisch an, aurig – das war ihr Wort, seit der Kindheit, für den Zustand, der einem Grand-Mal-Anfall vorauszugehen pflegte. Aura, aurig. Es war so, als wäre man in unangenehm heißer, dichter und intimer Verbindung mit der Umgebung. (Ist es wieder aurig ?, fragte ihre Mutter, und Natalie nickte benommen.) Aber ihr letzter großer Anfall lag elf Jahre zurück.
Mein Gott, einfach bis zur Stadtgrenze, ohne zu fragen – zumindest diese Freude hätte der Taxifahrer ihr machen können ! Elender Weltbürger. Kein Wunder, dass Haare und Bart schneeweiß waren. Er lebte an den Verhältnissen vorbei. Da es sonst nichts gab, was ihr irgendeine Richtung vorschlug, ging sie weiter auf den kilometerweit entfernten Heißluftballon zu. Sie stellte sich vor, wie das Leben des Taxifahrers in seinem Heimatland gewesen sein musste. Heimatländer, das hatten sie ja alle.
Sie schüttelte ihre Finger aus. Kein Anfall. Nicht hier auf der Straße. Nicht nach elf Jahren ohne. Nicht wegen ein paar Ballone … Ballons … Ballonen ? Wie war die Mehrzahl ?
Okay, einfach nicht darüber nachdenken. Irgendeine Mehrzahl hat das Wort. Und sie ist unter diesen dreien.
Ich bin wieder siebzehn, sagte sie sich. Der Gedanke konnte sie manchmal beruhigen. T-minus-eins. Bei null nächstes Jahr wird das Leben schlagartig stockdunkel und witzlos und mau. Dann korrigierte sie ihr Alter, um keine Unordnung im Kopf zu bekommen, schnell auf den richtigen Wert – einundzwanzig – und dachte daran, wie sie demnächst zu Vorstellungsgesprächen erscheinen würde, in einem langen Ballkleid und mit einer Tiara auf dem Kopf. Der Ballon war wirklich sehr weit entfernt, man konnte keine Einzelheiten erkennen. Bestimmt schickte der Taxifahrer jeden Monat Geld nach Hause, an seine dreizehn Töchter.
Als der vorgewitterliche Zustand ihrer Nerven nachließ, blieb sie vor einem kleinen Café stehen und ruhte sich aus. Ich hab mich zu sehr aufgeregt, sagte sie sich. Vielleicht auch die Schuld des Zaubermedikaments gestern Nacht. Sie hatte Glück, das aurige Gefühl war verschwunden. Und es war ein angenehmer, warmer Nachmittag. Durch das Fenster des Cafés sah man das Auf und Ab der Kellner und die Pantomimen sich ernährender Menschen. Ein feiner Essensgeruch lag in der Luft. Ein Mann mit einem chirurgischen Mundschutz im Gesicht lief an ihr vorbei, er trug eine schwarze Aktentasche. Dann geschah irgendetwas mit der Sonne, als würde eine Overheadfolie vorgeschoben, und das Licht wurde seltsam, ein bleiernes Gelb. Ein Auto fuhr aus einer Parklücke.
Die blauroten Festballone waren jetzt so weit entfernt, dass sie wie Glaskörpertrübungen aussahen. Als Kind hatte Natalie einmal einen Zaubertrick entdeckt, mit dem man all die weit entfernten Dinge, die interessant und geheimnisvoll waren – ein Mann mit Hasenohrenhut in einer Schiliftgondel, ein pfauiges Windrad auf einem Nachbarbalkon, eine bunte Verzierung in einem Krankenhausfenster, ein Werbeplakat im Schlepptau eines Segelflugzeugs –, scharf stellen konnte. Egal, welcher Gegenstand in der Ferne verschwamm, man musste nur eines tun: sich zwei Finger ganz nah ans Auge halten und das Ding über den Rand der Finger hinweg betrachten. Wie im Dunstspiegel einer Wasserfallkante erschien dann das Ding um einiges schärfer, aber zugleich etwas unsicher, flackernd. Wenn man die Finger bewegte, waberte das Ding hin und her, als wäre es dehnbar. Ließ man die Hand ruhig, war es wieder ganz deutlich zu sehen, merkwürdig konserviert, in einem senfkorngroßen Bilderrahmen. Es funktionierte sogar mit Sternen. Am besten ging es, wenn man aus Daumen und Zeigefinger jeder Hand einen zusammengepressten Vogelschnabel bildete und diese beiden Schnäbel einander küssen ließ. Der entstehende Zwischenraum war ein winziges Karo, durch das man blicken konnte. Damals hätte sie nicht sagen können, ob diese Zauberkunst von ihren Fingern oder von ihren Augen ausging. Ihre Augen konnten noch ganz andere Dinge. Im Auto zur Klinik zum Beispiel, jeden Dienstagmorgen, wählte sie sich einen kleinen schwarzen Fleck auf dem Fenster neben ihrem Sitz aus und machte dann, indem sie die Augen auf Weitsicht stellte, zwei daraus. Diese beiden identischen, leicht unscharfen Flecken wurden so zu den Rädern eines Skateboards, das auf Leitplanken, auf Feldern und (während der Rückfahrt, wenn sie ausgestreckt auf dem hinteren Sitz lag) auf ineinanderfließenden und auf und ab wippenden Überlandleitungen dahinfuhr. Durch eine winzig kleine Drehung des Gesichts konnte man die Achse der Skateboardräder verändern, und das Ganze wurde ein Geschicklichkeitsspiel. Manchmal stellte sie sich ein kleines Männchen auf dem Skateboard vor. Oder sie dachte an eine scharfe Klinge, die wie ein Flügel aus dem Auto ragte und alle Telefonmasten und Zäune und sogar die Bäume in der langen Allee vor der Klinik absägte. Oder butterweich durchschnitt, ohne dass sie in zwei Teile zerfielen. So wie es ein Ninjaschwert mit einer Kerze machte. Ein Hieb, und die Kerze steht scheinbar unversehrt da, als hätte man sie verfehlt, aber du weißt ganz genau, dass sie den unheilbaren Riss in sich spürt, die unsichtbare, quer durchs Universum reichende Trennfläche. Dann ein sanfter Stups mit dem Finger, und die obere Hälfte fällt ab.
Da es warm war, blieb sie bis zum Abend draußen. Sie nahm ein spätes Mittagessen im Foyer-Restaurant eines Hotels ein, neben einer Gruppe von Schweizern, die fast alle angenehm runde, glänzende Köpfe hatten, zumindest ein kleines Trostpflaster für die verpassten Ballone. Sie schaute in verschiedenen Buchhandlungen vorbei und blätterte in Atlanten. Gewisse Länder hatten eine merkwürdig unbestimmbare Farbe, eine Mischung aus Braun und Violett, und wenn man sie lange anschaute, begannen sie zu flimmern. Sie hielt eine dicke, kiloschwere Biografie des isländischen Schriftstellers Halldór Laxness in der Hand und las die beiden letzten Seiten, die vom Tod des Dichters handelten. Er war demenzkrank, konnte nicht mehr sprechen, aber spielte noch Bach am Klavier; wenig später fiel er die Treppe hinunter. Dann stand Natalie vor dem Horror-Regal und stellte sich, an Erdmännchen denkend, auf die Zehenspitzen. Es gab keinen neuen Stephen King, auch Peter Straub war unverändert. Ein paar unbekannte Titel mit interessanten Covermotiven, aber die Namen der Autoren gaben ihr kein geborgenes Gefühl.
Sie überlegte lange, was sie sich zur Belohnung kaufen sollte. Sie hatte immerhin eine ganze Ausbildung erfolgreich hinter sich gebracht, einundvierzig Mal hatte sie sich in dem einen Jahr verletzt, fast immer aus Tollpatschigkeit. Ein spastisch gelähmtes Kind war ihr einmal in einer Lifttür stecken geblieben, und sie hatte in Panik an ihm gezerrt, und das Kind hatte ihr hinterher, mit blauen Flecken am ganzen Körper, sogar verziehen; zwei Down-Syndrom-Jungen, beide schon Ende zwanzig, hatten um ihre Hand angehalten und sie davon überzeugt, dass es Menschen von fast außerirdischer Güte und Liebenswürdigkeit gab; sie hatte gelernt, den Schwerpunkt ihres Körpers und die natürliche Tragkraft ihres Knochengerüstes auszunutzen und unbewegliche Menschen zu heben und zu halten; sie hatte sich Beruhigungsgriffe und Geduldsmantras angeeignet, war nach Brettspielen und ASMR-Videos süchtig geworden und hatte, den heutigen Tag nicht mitgerechnet, nur ein einziges Mal verschlafen. Sie war mit Eltern fertiggeworden, deren Kinder niemals irgendetwas erlernen würden, weil sie ein kaum funktionierendes Gehirn hatten; sie war mit Eltern fertiggeworden, die sie dafür verantwortlich machten, dass ihre Kinder später einmal keine Astronauten werden würden; sie war mit Eltern fertiggeworden, die häufig weinten und Bücher über Trauerarbeit lasen, obwohl ihre Kinder noch am Leben waren. Sie hatte den Tod eines schwerstbehinderten Jungen miterlebt, dessen Mutter ihm am Morgen, bevor sie ihn in die Schule brachte, zu viel von seinem Beruhigungsmittel gegeben hatte. Still für sich war er an seinem eigenen Speichel erstickt, und man bemerkte es erst gegen Mittag. Wie ein Teddybär war er kopfüber in seinem Krabbelgehege im Klassenzimmer gelegen, in einem braunen Overall aus einem speziellen, auch nicht mit den Zähnen zerreißbaren Stoff. Natalie hatte die ganze Nacht lang gewürgt und gekotzt. Aber sie war am nächsten Tag wieder hingegangen. Sie war unbeschadet durch jene finstere, in den ersten drei Monaten einsetzende Phase gegangen, in der man das Gefühl bekommt, als wäre man der einzige Punkt im Universum, der noch nach den Prinzipien von Logik und Vernunft funktionierte. Man diskutierte mit einem sich ständig im Kreis drehenden Blinden darüber, ob ein heißes Geschirrtuch gefährlich sei oder nicht; man erschreckte einen vierzigjährigen Mann durch das Herantragen einer Handvoll Schnee so sehr, dass er in Ohnmacht fiel; man wickelte einen Dreizehnjährigen mit verkümmerten Extremitäten, der blitzschnell nach seiner eigenen Scheiße grabschte und sie quer durch den Raum warf; man wurde angekotzt, man wurde für den Teufel gehalten, man wurde angeschrien von Menschen, die nie sprechen gelernt hatten; man spürte, wie man einem Kind mit Glasknochen durch eine ungeschickte Drehbewegung das Schlüsselbein brach, einfach so, und das Kind sagte nur leise Uh und lief rot an und begann schwer zu atmen. Oder man philosophierte mit einem Alzheimerpatienten darüber, wo das Schwimmbad in Wahrheit versteckt war. Mein Gott, dieser unvergessliche Nachmittag mit dem unsichtbaren Schwimmbad ! Weinrauch, so hatte der alte Herr geheißen. Und er war auf der Suche nach dem Schwimmbad. Welches, konnte er nicht erklären. Aber es war irgendwo, vielleicht in den Wänden, vielleicht unterm Fußboden. Natalie widersprach ihm nicht. Einen ganzen Nachmittag lang. Herr Weinrauch selbst hätte das Thema spätestens nach einer halben Stunde schon wieder vergessen, aber Natalie hatte immer wieder von neuem davon angefangen, damit der wunderbare Strom nicht aufhörte. Hinterher hatte ihr der Schädel gedröhnt, und am Abend war sie vor dem Ticketschalter im Kino in Tränen ausgebrochen, weil dort alles so wunderbar vernünftig zuging. Jeder sprach zum Thema, es entspann sich ein kleiner, sinnvoller Dialog über die gewünschte Sitzreihe und den Eintrittspreis. Dann, eine Woche darauf, war Herr Weinrauch in seinem Bett gestorben, und sie hatte sich für die Heulminute in der Kinowarteschlange gehasst, selbst den Film fand sie nachträglich misslungen, obwohl er ihr eigentlich gefallen hatte.
Als es dunkel wurde, ging sie nach Hause. Niemand wartete dort auf sie. Die Luft war immer noch warm wie am Mittag, als wäre die Dämmerung in der Stadt nur eine Fehlleistung der Augen. Straßenlaternen: Lichtkneipen für Insekten. Schaufensterpuppen: Cartoonfiguren in den Kleidern ihrer Zeichner. Und Sterne: Welten, die so klein waren, dass Hunderte von ihnen zwischen ein paar abendliche Baumäste passten.
Arbeit
In diesem Frühling warnten die Zeitungen vor einem Virus, das bestimmte Nagetierarten in Asien befiel. Häufig sah man das Bild eines lehmbraunen Japanischen Bilchs, der völlig gesund wirkte, wäre da nicht die rätselhafte Bildunterschrift gewesen. Sonst war viel von einer neuen digitalen Währung und einem revolutionären Wiederbegrünungssystem für Wüsten die Rede, einige Leute bauten sich Bunker, und der Weihnachtsbrief eines Menschen, der vor fünfundachtzig Jahren gestorben war, traf Ende Mai mit enormer Verspätung irgendwo ein. Auf die amerikanische Botschaft im Libanon wurde ein Anschlag verübt, und am selben Tag ging ein Mädchen in einem knallroten Elchkostüm über die Tegethoffbrücke. Wie jedes Frühjahr war die Stadt voller Baustellen, und an den Sonntagen standen die Bagger in anmutiger Erstarrung da, den Schaufelarm zur sanften Drohgebärde gegen den Himmel erhoben. Die hohen, alten Bäume am Rand des Stadtparks wurden beschnitten, Passanten bildeten Gruppen und schauten bei den Arbeiten zu, am Ende blieben nur die kleineren Äste stehen, krumm und nutzlos wie Tyrannosaurus-Rex-Arme. In derselben Woche bezog Natalie ihre neue Wohnung in einem der äußeren Bezirke der Stadt. Die Wohnung lag im ersten Stock. Im Hof des Hauses standen drei Liegestühle, die von allen Mietern verwendet werden durften. Dann gab es noch einen Parkplatz für vier Autos, ein paar moderne, empfangsantennenartige Wäscheständer und einen niedrigen Nussbaum, der so aussah, als wäre ihm seine Brille ins Gras gefallen.
Schon wenige Wochen nach ihrem Umzug und dem Abschluss ihrer Ausbildung fand Natalie Arbeit in dem kleinen, privaten Betreuten Wohnheim der Villa Koselbruch, in der Nähe des Sanatoriums St. Leonhard. Man bot ihr eine Stelle mit sechsundsechzig Prozent Beschäftigungsausmaß an. Das bedeutete, drei Angestellte würden sich zusammen zwei ganze Stellen teilen. Von diesem Bild ging etwas Heimeliges aus: zusammenstehen, sich aneinanderdrücken unter einem Regendach, Schutz vor den Elementen. Natalie gefiel die Rechnung, denn sie wusste noch aus der Schule, dass die Zahl, die sie da fortan mit sich herumtragen würde, endlos weiterging. Und dass es nicht wenigen Menschen auf dem Arbeitsmarkt so erging, machte es natürlich noch schöner: 66,6666… % Im Grunde durfte man das Prozentzeichen gar nicht hinschreiben, da es ja kein Ende gab. Die drei Punkte waren Schummelei, die Zahl in Wahrheit so lang wie ein Lichtstrahl.
Ende Juni gab es einen Orientierungstag, gefolgt von einer zweiwöchigen Probezeit, während deren das Beschäftigungsverhältnis ohne Angabe von Gründen jederzeit aufgelöst werden konnte. Aber das geschah nicht, denn Natalie fügte sich, wie sich die Kolleginnen, angeführt von der gütigen Leiterin Astrid Koller-Verdyl, schnell einig waren, sehr gut in das bestehende Team ein. Früher, so erzählte man ihr, hätten diese Probephasen oft ganze Monate gedauert, eine graue, schwerfällig-unkompakte Vorzeit, die man sich kaum mehr vorstellen konnte. Natalie hatte nach diesen ersten beiden Wochen natürlich noch keine Bezugis, aber das würde sich mit der Zeit gewiss ergeben. Bezugis – so nannte man die Klienten, für die sie in Zukunft Erstanlaufstelle sein würde, sie würde deren Bezugsbetreuerin werden. Und Klienten – so nannte man die Bewohner des Heims. Fast alles hier hatte einen eigenen Namen, wie Disneyworld-Geld, das in der Außenwelt wertlos war. Man sprach intern übrigens nur selten von einem Betreuten Wohnheim, obwohl dieser Ausdruck auf einigen Schildern und auch auf der Homepage stand, sondern von Trainingseinheiten. Denn das Ziel war, dass die Klienten eines Tages möglicherweise eine eigene Wohnung, bezahlt vom Geld eigener Arbeit, haben und keine Bezugsbetreuer mehr brauchen würden. Bislang war dies bei zweien gelungen. Ihre Fotos hingen, mit einfallsreichen Ornamenten verziert, im Teamsitzungszimmer, das zugleich die Betreuerinnenküche war. Ihre Namen wurden immer noch erwähnt, und Natalie kam es in einem unüberwachten Denkaugenblick sogar vor, als würden die Betreuerinnen manchmal vor diesen Bildern knien und beten.
Die Einrichtung beschäftigte permanent zwei Zivildiener. Diese beiden jungen Männer lernten einander im Grunde nie kennen, da man ihre Arbeitszeiten genau komplementär aufgeteilt hatte. Man setzte sie für einfache Arbeiten ein und für das, was im Vertrag als Hol- und Bringdienste bezeichnet wurde. Das Saubermachen des Kühlschranks etwa wurde von den Zivildienern erledigt. Helfen beim Essenholen, Helfen beim Essenausteilen, Dinge zusammenbauen, Einkäufe erledigen. Auch verschiedene soziale Tätigkeiten wurden von den Zivis erwartet, wie Kartenspielen oder Puzzles legen, aber die meisten taten sich damit ungeheuer schwer, da sie, bis auf wenige Ausnahmen, immer gerade frisch aus der Schule kamen, grüne siebzehn oder achtzehn Jahre alt und ungefähr so selbstsicher wie Rehe, die sich auf ein Kreuzfahrtschiff verirrt hatten. Wenn sie sich allzu ungeschickt im Umgang mit den schwierigeren Klienten anstellten, tat man ihnen – so besagte es ein ungeschriebenes Gesetz im Wohnheim – den Gefallen, sie stattdessen eine kaputte Steckdose reparieren zu lassen, nachdem man ihnen vorher beschrieben hatte, wo sie den dafür benötigten Schraubenzieher herholen und bis wann sie ihn wieder zurückbringen sollten.
Natalie arbeitete in den ersten zwei Wochen neben den Zivis her, mit dem Auftrag, alles zu beobachten, möglichst viele Fragen zu stellen und zu lernen. Während dieser Zeit stand ihr Name, mysteriöserweise in Anführungszeichen, auf dem Whiteboard im Sozialraum.
Natalie war froh über die Anwesenheit der Zivis, denn wegen ihrer leichten Nervosität in dieser Anfangsphase fielen ihr häufig Dinge aus der Hand, Schlüssel, Schuhlöffel, Besteck. Wenn ein Zivi in der Nähe war, genügte ein Blick, und er hob den Gegenstand für sie auf. Natalie hatte seit ihrer frühesten Kindheit eine heftige Abneigung gegen das Sich-Bücken. Wenn sie mit ihrem Kopf in die Nähe des Bodens kam, streifte sie jedes Mal den Tod. Dies hing mit ihrer Grand-Mal-Vergangenheit zusammen. Die Anfälle traten, so zumindest hatte sie als kleines Mädchen gedacht, vor allem dann auf, wenn sie sich bückte, denn dann rollte eine Murmel in ihrem Kopf in eine falsche Ecke. Wenn sie sich ihr Leben lang einfach kerzengerade hielt, würde sie auch keine Anfälle mehr bekommen. Noch als Teenagerin hatte sie für eine gewisse Zeit eine Wasserwaage mit sich herumgetragen. Sie war die große Bilderrahmen-Zurechtrückerin in ihrer Familie. Heute wurde sie nur noch selten vom Tod gestreift, ein eiskalter, tiefer Augenblick, der für gewöhnlich gleich wieder vorbeiging.
Wenn das ungute Gefühl länger blieb, machte sie oft das Licht im Bad aus und stellte sich im Dunkeln vor den Spiegel. Dann ging sie mit ihrem Gesicht ganz nah an die Scheibe und schaltete, mit der Reichweiten-Verlängerungshilfe eines Kleiderbügels, das Licht wieder ein. Wenn sie Glück hatte, konnte sie dann sehen, wie ihre Pupille – man konnte sich ja immer nur auf eine konzentrieren – schrumpfte. Wie der O-Mund eines überraschten Insekts zog sie sich zusammen. Nach Art eines Weltraum-Portals in einem Sci-Fi-Film, kurz nachdem das Raumschiff hindurchgeschlüpft ist. Natalie kontrollierte gern ihre Reflexe, ihre Wachheit, die kleinen Inseln von mysteriösem Eigenleben, die ihr Körper unterhielt. Bei der Pupillenreaktion gab es eine angenehme Verzögerung, wie bei einer Webcam, diesen leichten Delay, der einen für den Bruchteil einer Sekunde in jenes Element zu tauchen schien, von dem man sonst ausgeschlossen war: die unbeobachtbare Welt. Das eigene Gesicht mit geschlossenen Lidern; der eigene Nacken; Porträtköpfe auf Gemälden, die fähig waren, sich zu bewegen und einem eine Nase zu drehen, wenn man nicht hinschaute.
Natalie konnte keinen Lichtschalter betätigen, ohne ihn nicht zumindest für ein paar Sekunden genau an der Übergangskante zwischen Strom und Nichtstrom zu balancieren. Es war natürlich unmöglich, denn die meisten Lichtschalter hatten eine Sprungfeder eingebaut, die ihnen stets eine Richtungsentscheidung abnötigte. Doch eines Tages blieb der Lichtschalter im Bad tatsächlich in der Mitte stecken, das Licht flackerte kurz, blieb dann weg, aber der Schalter war weiterhin in labilem Gleichgewicht: absolut parallel zur Wand, im Niemandsland zwischen Ein und Aus. Nach Jahren geduldigen Balancespiels ein kleiner, bizarrer Erfolg. Natalie ging aus dem Badezimmer. Sie hätte viel darum gegeben, jetzt niesen zu können, einfach um das eigenartige Gefühl zu vertreiben, das der Kippschalter-in-Balance ihr vermittelte. Dann bekam sie Angst, dass irgendwo ein Kabel durchbrennen könnte, wenn sie es so ließ, und sie beendete, schweren Herzens, den einmaligen Schwebezustand.
Über ihrer Badewanne hing ein riesiges Poster mit Kaiserpinguinen. Die auberginenrunden Vögel hatten sich unter der tiefstehenden Polarsonne wie Schachfiguren verteilt, still und abwartend, und warfen lange, herausfordernde Schatten übers Eis. Natalie salutierte – manchmal in echt, manchmal nur innerlich – jeden Morgen vor den Pinguinen. Dabei hielt sie für einen Augenblick die Luft an und wölbte den Bauch nach vorn. Es versetzte ihr einen kleinen, hellblauen Stromstoß von Glück.
Natalie liebte alles, was weltumspannend war, wie Live-Sendungen, Mondphasen oder die Romane von Stephen King. All die Dinge, die in jedem beliebigen Augenblick von möglichst vielen Menschen wahrgenommen und gemocht wurden. Sie liebte es, Geräusche und Stimmen aufzunehmen und über den Kopfhörer anzuhören, wenn sie spazieren ging und auf der Straße die vorüberziehenden Seelen der Menschen betrachtete. Sie liebte Magazine und Versandkataloge, die älter waren als sie. Sie liebte ihr eigenes Passfoto. Manchmal holte sie ihren Reisepass, der ein Ablaufdatum hatte wie Milch, aus dem Schrank und betrachtete das fremde, ernste Gesicht darin. Sie stellte sich vor, das winzige Mädchen, dem das Passgesicht gehörte, bei sich in einem Schuhkarton zu beherbergen. Wenn sie die Geduld verlor, warf sie die nervige Kleine gegen die Wand. Und sie liebte ihren neuen Freund, der in den Räumen ihrer Wohnung seit kurzem ein und aus ging: einen Kater, den sie Chat nannte.
Gleich nach dem Aufstehen wurde in Natalies Wohnung der Fernseher eingeschaltet. Das war nicht immer so gewesen, aber inzwischen konnte sie nicht mehr anders. Sie freute sich sehr darüber, dass sie sich mit einem Medium, das ihr früher so auf den Geist gegangen war, doch noch hatte anfreunden können. Seither machten ihr auch Kaufhausmusik und riesige animierte Werbeflächen nichts mehr aus. Ich kann alles aushalten, ich werde erwachsen. Je später es wurde, desto stärker wurde ihr Bedürfnis nach einer Live-Sendung. Am Morgen konnte sie durchaus auch Filme und andere aufgezeichnete Sendungen laufen lassen, aber dann kam der Abend. Da geschah etwas Ungutes mit der Atmosphäre, und dann kam die Stunde, da der Himmel erste kleine Sterne zugab, als fielen sie ihm nun unleugbar wieder ein, die Bäume sagten ihre Fingeralphabete hektischer auf, während sich die riesige Kuppel über der Stadt hob und fortgeweht wurde in den Weltraum. Als wohnte man in einem Observatorium, das sich jeden Abend öffnete. Der Drang nach einer Live-Sendung wurde zu dieser Zeit unbeherrschbar stark. Denn wenn etwas live war, sah und hörte man genau das, was gerade jetzt im selben Augenblick irgendwo anders geschah. Man war also an zwei Orten gleichzeitig. Bei einer aufgezeichneten Sendung war man dagegen zugleich in der Vergangenheit und in der Gegenwart, und das war nie eine große Hilfe; im Gegenteil, man wurde davon nur innerlich astronautig und einsiedlerisch.
Jetzt, im Sommer, schlief sie nachts in einem zerknitterten T-Shirt, bis es so stark nach ihr roch, dass die Inzestschranke überschritten schien, wenn sie es noch einmal anzog. An manchen Tagen blieb sie nackt und ging erst am Morgen, gleich nach der Dusche, in die Küche, um sich etwas zum Anziehen auszusuchen. Aus Platzgründen stand dort der Wäscheständer. Der Fußboden rund um dieses insektenartig symmetrische Gebilde war immer etwas kühler. Und diese besondere, speisekammerhafte Kühle assoziierte Natalie mit dem ch in dem Wort getüncht. Es war ein und dieselbe Empfindung.
Nach einer verschwitzten Nacht war ihr Dekolleté talgig und glänzend. Sie liebte es, mit dem Zeigefinger über diesen Bereich zu reiben, dabei entstanden graue Flusen aus Haut. Sie befürchtete, dass sie durch diese neue Angewohnheit eine alte, schon lange überwundene Sucht – das Ausdrücken von Mitessern auf eigener und fremder Haut – neu beleben könnte, und die Befürchtung schien nicht ganz unrealistisch, aber es war doch etwas anderes: Hier zauberte man ja die teigig-fettige Substanz sozusagen aus dem Nichts. Einfach durch Reibung. Und was sich bildete, wurde durch geschickte, enge Rollbewegungen der Finger zu kleinen Kügelchen verarbeitet. Diese schmeckten bitter. Man konnte sie auch anzünden, wenn einem danach war, aber das Ergebnis war wenig eindrucksvoll. Einige der Kügelchen sammelte Natalie im Inneren einer bestimmten Wäscheklammer, die eine kleine Kerbe aufwies, sodass man sie sofort erkannte und nicht aus Versehen öffnete. Irgendwann würde sie so viel von ihrer abgerubbelten Haut in dem engen Maul der Wäscheklammer abgelegt haben, dass diese, nach Art eines Gebissabdrucks beim Zahnarzt, ein geformtes Stück produzierte. Man könnte ganze Städte aus unserer eigenen Substanz bauen.
Der Kater hatte eine merkwürdige Art, sich auszudrücken. Seine Stimmlage war eigentlich ganz angenehm, aber oft, wenn er gedankenverloren irgendwo saß und man ihn von hinten berührte, gab er genau jenes Geräusch von sich, das Super Mario macht, wenn er auf ein Tier trifft und schrumpft: Dnrr-dnrr-dnrr. Dann stand er auf, putzte die Stelle, die man berührt hatte, und verfiel in ein Miauen, das meist in ein Gähnen überging. Der halbe Kopf schien entzweizugehen, wenn der Kater gähnte. Es sah aus wie diese Venusfliegenfallen. Karl sollte da sein, dachte Natalie. Mein Bruder sollte das alles hier sehen und irgendetwas dazu sagen. Wieso war er so weit weggezogen ? Es würde ihm gefallen, mich so zu sehen.
Manchmal, kurz nach dem Aufwachen, hatte Natalie das Gefühl, dass ihre Bewegungen, ja tatsächlich alle noch so unbedeutenden Änderungen ihrer Körperhaltung, unsichtbare, sich über die Nachbarschaft und den Horizont bis in andere Städte und Kontinente erstreckende Konsequenzen hatten. Wie in dieser Sci-Fi-Story über den Schmetterling, der einen Wirbelsturm am anderen Ende der Welt verursacht, und die Leute dort wissen nicht mal, dass er es war, dem sie die Ruinen ihres Hauses in Kansas verdanken. Vielleicht galt ein ähnliches Prinzip auch für die Luft, die Natalies große Zehen am Morgen verwirbelten, wenn sie sich, erste Wach-Bojen des noch schlummernden Körpers, selbständig von der Decke befreiten und hin und her bewegten. Und bestimmt war es so, dass diese winzigen Veränderungen ihrer Lage, ihrer Fingerstellung, ihrer Kieferhaltung in der Folge einem weit entfernt von ihr lebenden Menschen entsetzliche Qualen zufügten. Sie war mit ihm verschränkt über ein dichtes kausales Netz, nichts gehörte nur ihr, es ging alles immer weiter, ein Atom stieß ans andere, und am Ende der Kette saß der arme Kerl, wie hieß er wohl, Juan vielleicht oder Mordechai oder Salim, auf jeden Fall von dort unten. Er hatte ausschließlich Pech und Leid und Elend in seinem Leben – und das nur aufgrund einer kleinen Veränderung von Natalies Kinn-Hals-Winkel während des Badens.
In ihren sanften Minuten dachte sie daran, sich bei dem armen Unbekannten zu entschuldigen, indem sie eine Fensterschnalle sanft berührte oder etwas Beruhigendes in den Thermostat des Heizkörpers flüsterte. Und in düsteren Perioden, etwa in den Tagen nach dem Tod des Kindes, damals, während der Ausbildung, war Juan ihr ständiger Begleiter. Ihre immerwährende zerstörerische Wirkung auf dieses für sie unsichtbare und sonst auf keinem denkbaren Wege beeinflussbare Leben wurde da so deutlich und klar wie die Luft, die sie umgab, es war die Musik der Sphären, die Blaskapelle hinterm Horizont. Oft dachte sie daran, sich einfach, Juan zuliebe, nicht mehr zu bewegen. Aber davon bekam sie Nackenschmerzen, und sie verfluchte ihr fernes, unbekanntes Opfer und stellte sich vor, wie er seine Tochter missbrauchte und es eigentlich verdiente, von ihr auf molekular-planetarem Weg gequält zu werden.
Wie sah die kausale Kette wohl aus ? Wenn ich so liege, dachte sie, nur mit dieser kleinen Beinbewegung, dann habe ich vielleicht am Morgen ein kribbeliges Gefühl im Arm, und deshalb verliere ich ein, zwei Sekunden am Morgen, und deshalb sehe ich jemanden auf der Straße anders an, und der merkt sich diesen Blick und leitet ihn weiter an jemanden am Telefon, und so reisen diese zwei Sekunden als leichte Verwerfung durch die Welt. Und Dinge, die sie vor Jahren gemacht hatte: eine Zeitung, die eine hässliche Knickfalte hatte, glattstreichen; einen schon schlaff gewordenen Luftballon anfassen und ihm dadurch diese Orangenhautflecken zufügen; den klebrigen Deckel eines Honigtopfs zuerst mit den Nägeln und dann, wenn die Hebelwirkung so nicht ausreicht, doch mit allen Fingern anpacken, sich ekeln und die Finger überdehnen usw. – all das erreichte Juan erst heute, in dieser Sekunde. Sie stellte sich Juan, wenn sie an ihn dachte, seltsamerweise immer an einem Bahnübergang vor. Eine Kappe saß auf seinem Kopf. Er hatte eine Hand am Hinterkopf, blinzelte ins abendliche Licht des Planeten und wunderte sich, warum so viel Unglück und Elend über ihn hereinbrechen musste, er war doch stets freundlich zu allen. Sie fragte sich, ob es theoretisch möglich wäre, Juan zu helfen. Aber sie konnte ja in keinem Augenblick ihres Lebens wissen, welche Entscheidung, welche noch so minimale Lageveränderung ihn erreichen würde, und wann, und mit welcher Heftigkeit.
Jeder Mensch auf der Welt hatte einen Juan. Auch Juan hatte einen Juan. Auch sie war irgendjemandes Juan. Der weißhaarige Taxifahrer, den die Ballone überfordert hatten, war der Juan der halben Welt. Ihr Blick fiel auf den Kater, der mit dem ewigvergnügten Gesichtsausdruck seiner Spezies auf der Couch eingeschlafen war, eingerollt zu einer Form, die an ein großes D oder ein menschliches Ohr erinnerte: die Beine ausgestreckt an sein Gesicht gepresst. Er schlummerte tief und fest. Nur sein Schweif war noch wach und vollführte einladende Ringelbewegungen. Es war deutlich: Er hatte den Nirwana-Sprung schon hinter sich, er hatte keinen Juan.
Markus
Während der Ausbildung hatte sich Natalie manchmal die Gelenke überdehnt oder sie zu sehr strapaziert. Oft schmerzten ihre Schulter und ihr Nacken. Schuld daran waren natürlich die vielen falschen Hebe-Aktionen, die sie durchgeführt hatte. Einen hundertzehn Kilo schweren Mann, der sich von oben bis unten angeschissen hatte, im Alleingang zu waschen und zu wenden, ohne dass man selbst dabei der Länge nach in die hellorangen Exkremente fiel – das war eine Aufgabe, nach deren Erledigung einem der ganze Körper wehtat und unerträglich eng wurde, als hätte man einen einzelnen Gummihandschuh als Overall angezogen.
Natalie hatte sich seither angewöhnt, unsichtbare Tiere auf ihre Schulter und in den Nacken zu setzen und sich den ganzen Tag so zu verhalten, als müsste sie aufpassen, dass diese Tiere nicht herunterfielen. Diese Technik machte ihr jede ihrer Bewegungen bewusst, verlieh ihnen Sanftheit und Genauigkeit, und dies trug zur raschen Genesung der strapazierten Gelenke und Muskulatur bei.
Am besten half eine unsichtbare Maus. Die setzte sie sich, wenn die Schulter am Morgen schmerzte, auf die beleidigte Stelle und achtete darauf, sie nicht zu vergessen. Zwischendurch stupste sie den imaginären Nagetierbeistand mit einem Finger an oder rückte den Kragen zurecht, damit die Maus einen soliden Stoffuntergrund hatte. Manchmal schlief die Maus, ihr zirkadianer Rhythmus stellte sich ganz selbstverständlich ein. Nebenbei behielt sie die Gegenwart der Schultermaus leichter im Gedächtnis, wenn sie ihr einen Namen gab. Ein Name ist für eine Maus, was eine Maus für eine Schulter ist: eine Stabilisierungsmaßnahme.
Es war eigentlich das Einzige, was sie vermisste, seit sie ihren Freund Markus davongejagt hatte: die Spiele mit unsichtbaren Tieren. Markus war darin sehr gut gewesen. Sie hatte ihn nach einer unangenehmen Szene hinausgeworfen, aber er meldete sich immer noch manchmal, schickte ihr Geschenke und so Zeug. Sie hatte ihm erklärt, dass sie befreundet bleiben konnten, sie habe nichts gegen gelegentliches Chatten oder Telefonieren. Und er, was hatte er gesagt ? Ich verstehe. Auf diese passive Dings, diese aggressive Art – und so jemandem hatte sie einst voller Vertrauen und Liebe in den Mund gepisst ! Ja, solche Fehlkalkulationen unterliefen einem im Leben. Aber gut, sie hatte ja damals nicht wissen können, als was für ein Jammerteig er sich entpuppen würde.
In ihrer besten Zeit war es allerdings wunderbar gewesen mit ihm. Sie hatten es sich zur täglichen Gewohnheit gemacht, über Tiere und Wesen zu sprechen, die gar nicht da waren. Es gehörte zu den Ritualen ihrer Vertrautheit. Anfangs war es das Reden in Babysprache gewesen, später kamen ausgefallene und absurde Kosenamen dazu, dann wurden diese allmählich von den imaginären Tieren ersetzt. Vermutlich waren Natalies Schultermäuse, die zuerst als reine Selbsthilfe- und Muskelentspannungstechnik gedacht waren, ein Ausgangspunkt des Rituals, aber genau wusste das keiner mehr. Einer von ihnen konnte mitten im Gespräch eine Hand aufhalten und sagen: Diese braune Haselmaus ist davon allerdings unbeeindruckt. Und der andere ging darauf ein, hob die Maus von der Hand und untersuchte, ob der Grund für ihr Unbeeindrucktsein vielleicht in der Tatsache ihrer viel zu langen Tasthaare zu finden war. So entspann sich eine Szene, jeder fügte immer ein Detail, eine Wendung, einen Twist hinzu. Einige der Tiere kehrten oft wieder.
Manchmal fragte sie sich, wie sich die Berichte über das Nagetier-Virus, die diesen Frühling und Sommer beherrschten, wohl auf diese Spiele ausgewirkt hätten.
Eines Tages kam einer von ihnen – tatsächlich lag über der Frage, wer von ihnen es gewesen war, ein unergründliches Tabu – auf die Idee, dass ein höchst sonderbares Tier bei ihnen lebte, das ausschließlich aus einem runden Körper bestand, eine weiße Fellkugel. Das Spiel bestand darin, dass man von Zeit zu Zeit auf das weiße Tier hinwies: wie sehr es schon wieder gewachsen sei oder wo es nun wieder feststeckte. Das Tier war input- und outputlos, es besaß weder Ein- noch Ausgang. Selbst wenn man es zwischen den Händen drehte und abtastete, zeigten sich keinerlei Öffnungen. Auch konnte es nicht besonders viel, und wovon es sich ernährte und wie es sich am Leben erhielt, war völlig unklar. Das weiße Ding rollt schon wieder durch die Küche, sagte Markus beim Essen. Es versteht nicht, was wir machen. Essen ist ihm fremd. Oder: Du kannst gern zu mir in die Wanne kommen, sagte Natalie durch die Gebirge aus Badeschaum, aber pass auf, dass du das weiße Ding nicht unter Wasser drückst. Es geht so leicht unter.
Das weiße Ding wuchs unterdessen immer weiter, und meist hielt es sich in ihrem Schlafzimmer auf. Oft tat Markus beim Betreten des Schlafzimmers so, als müsste er die Fellkugel auf die Seite rollen. Einmal hüpfte es auf dem Bett herum, und sie konnten nicht schlafen gehen. Mit der Zeit gewann das seltsam eigenschaftslose Wesen einige Freunde dazu. Die braune Haselmaus, die mitten in Gesprächen, gerade wenn nichts in den besprochenen Themen auf sie hinwies, auf leeren Handflächen zu entstehen pflegte, lief oft über das weiße Fell. Und eine kleine jadegrüne Schlange, die sich sonst meist in Natalies Stirnfransen versteckte, erlebte das Glück, von dem weißen Ding abgleiten zu dürfen. Das weiße Ding freilich konnte diese neuen Gefährten weder sehen noch hören, der Tastsinn war alles, womit es sich mit seiner Umwelt austauschen konnte, und selbst das war nur eine Theorie. Natalie ertappte sich immer häufiger dabei, dass sie sich Sorgen um die Abgeschiedenheit der Fellkugel machte, um ihr begrenztes Weltwissen und das Rätsel ihrer vollkommenen Bedürfnislosigkeit. Nach und nach wurde es schwierig, das weiße Ding nicht mindestens drei- oder viermal am Tag zu erwähnen. Wenn sie es aus irgendeinem Grund länger vergessen hatten, etwa weil ein lauter Streit oder eine stumm ausgetragene Meinungsverschiedenheit sie beide viel zu weit ins Reale hineingedrängt hatte, war seine Rückkehr stets von einer Bemerkung begleitet wie: Wo ist es wohl wieder unterwegs gewesen ?
Viele spätnächtlich schrankenlose Gespräche, solche, die man murmelnd mit auf den Kopfpolster gedrückter, vom Gewicht des eigenen Schädels gelähmter Wange führte, kreisten um die Befindlichkeit des weißen Dings. Manchmal erschien es ihnen hoffnungslos und bemitleidenswert, dann wieder stellte es einen seltsamen Triumph über die irdischen Verhältnisse dar, es war sozusagen eine triviale Lösung für ein äußerst komplexes Geflecht von Problemen. Und es war weich. Markus fand, dass es dem glatten, beweglichen Fell auf der Stirn eines Hundes glich, Natalie war eher für den feinen weißen Kinnflaum einer Katze. Teilweise trieben sie das Spiel mit dem weißen Rätseltier so weit, dass es ein echtes Problem darstellte, wenn sie Details vergessen hatten, etwa den Namen eines der Freunde des Tieres oder den Ausgang eines kleinen Abenteuers von vergangener Nacht. Es war, als wäre in ihren intimen, spielerischen Gesprächen seit geraumer Zeit ein Kind anwesend, dem man in den Gutenacht-Fortsetzungsgeschichten eine konsistente, widerspruchsfreie Welt bieten musste.
Erst jetzt, da ihre Beziehung Vergangenheit war, konnten sie darüber sprechen. Sie konnten sich an die Zeit mit dem weißen Ding erinnern und einzelne Merkmale ihrer Unterhaltungen und ihrer fast religiösen Furcht vor dem Durchbrechen der gemeinsamen Fiktion aufgreifen und drehen und wenden und untersuchen. Aber es machte sie jedes Mal traurig, besonders im Skype-Chat, wo alles so fliesenmäßig weiß und sauber war. Also ließen sie es wieder bleiben.
Besonders die Endphase der Beziehung war schlimm gewesen. Diese unglaubliche Langeweile. Es begann damit, dass sie Markus aus einer Laune heraus irgendwelche unterhaltsamen Aufgaben zuteilte, die er erledigen musste. Etwa eine ganz bestimmte Route zu nehmen, wenn er nach Hause kam, und sich den Namen auf jedem Hund-vermisst-Flyer zu merken. Oder einen ganzen Tag seine rechte Hand nicht zu gebrauchen, wenn er neben ihr mit Gegenständen hantierte. Einmal bat sie ihn, er möge drei verschiedene Haarshampoos verwenden und die Flaschen ohne Etikett aufbewahren, sodass sie den verschiedenen Gerüchen neue, passende Namen geben konnte. Sie brachte ihn dazu, sich die Beine zu rasieren. Sie schlug ihm vor, eine von vier Drogen in leichter Dosierung zu nehmen, Psilocybin-Pilze, MDMA, Cannabiskekse oder Amphetamine, und ihr unter der Wirkung einen Liebesbrief zu schreiben, und sie musste raten, welche Droge aus ihm sprach. Sie erfand ein Spiel, bei dem man sich in der Stimme und im Tonfall des anderen artikulieren musste. Ein anderes Spiel bestand aus Echo-Antworten, wie es Kinder machen, wenn sie ihre Eltern in den Wahnsinn treiben wollen; allerdings war das in ihrem Fall gerade nicht das Ziel, im Gegenteil, der Vorsprecher (der, dessen Echo der andere war) musste seine Formulierungen so wählen, dass die Wiederholung des letzten Satzteiles eine zärtliche oder zumindest produktive Scheinantwort ergab. Hast du mich lieb ? – Lieb. Es war erlaubt, die Betonung zu ändern, aber nicht den Wortlaut. Das musste man einige Zeit durchhalten, dann kam der andere dran. Es war eine exotische Art von Selbstgespräch, die dabei entstand, da einer von beiden alles vorgab, sich aber gleichzeitig in den anderen hineinversetzen musste, um allzu viele Nonsense-Echos zu vermeiden. Schon nach einigen Minuten fühlte es sich für beide wie ein echter, die Verhältnisse ungewöhnlich erhellender und nur an der Oberfläche etwas auf der Stelle tretender Dialog an. Ihr Rekord war ein ganzer Nachmittag in diesem Stil.
All diese Wiederbelebungsversuche ihrer Beziehung kosteten viel Mühe und Kraft, aber Natalie gab nicht auf. Markus machte die meisten Aktivitäten nach einer kurzen Phase der Verblüffung bereitwillig mit, und manchmal war sie sehr stolz auf ihn. Einmal hatte sie ihm gesimst, er solle, wenn er von der Uni nach Hause kam, die Hosentaschen voller Nüsse haben. Und dann war er tatsächlich angestapft gekommen, ausgebeult und stolz wie ein Kind in einer selbstgebastelten Faschingsverkleidung.
Sie fertigte T-Shirts für ihn an, auf die sie bestimmte Motive drucken ließ, von denen sie sich eine interessante Reaktion von ihm erwartete: das Gesicht des Turiner Grabtuchs, Jeffrey Dahmers Kühlschrank, John Updikes Nase in Nahaufnahme, ein Abschnitt aus dem Koran auf Arabisch. Aber er fand es jedes Mal bloß witzig und trug das T-Shirt einige Tage lang, bis zum nächsten T-Shirt. So war sie halt, seine verrückte Freundin. Immer lustige Ideen. Natalie hätte ihn am liebsten geohrfeigt.
Und dann tat er ihr den Gefallen und schrieb eine Erzählung über sie. Am nächsten Tag warf sie ihn raus. Sie war zwar erst einundzwanzig, aber auch sie hatte sich über die Jahre einige klare Grenzen wachsen lassen.
Streunen
Die zwei Wochen dauernde Phase der Orientierung in der Villa Koselbruch ging schnell vorbei. Während dieser Zeit schloss Natalie mit allem Freundschaft. Sie versuchte, für alles Verständnis und Geduld aufzubringen. Die Bewohner waren anfangs ein wenig scheu, vor allem diejenigen, die in den Trainingswohnungen lebten. Ihr Wert auf der Adamski-Schreber-Skala lag bei 7 oder sogar 8,5.
Die Bezahlung war nicht berauschend, aber Natalie hatte ohnehin nicht vor, viel zu essen und zuzunehmen. Neunundvierzig Kilo, dabei würde es bleiben. Und Schuhe, na ja, es dauerte, bis so ein neues Paar wirklich vollkommen durchgelatscht war. Der Rest konnte ruhig für Miete und Betriebskosten draufgehen. Sie fragte sich, ob sie, so wie alle alten Menschen, später mal behaupten würde, dies hier wäre die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Der Gedanke war ekelig, aber es sprach vieles dafür. Seit Markus fort war, war sie so frei, dass sie sich fast jeden Tag nach der anstrengenden Arbeit selbst belohnen konnte, indem sie streunen ging.
Man musste die hellen, warmen Sommerabende nutzen. Natalie trieb sich bis spät in die Nacht bei der Radwegunterführung herum. Sie trug eine Baseballkappe, sodass man sie häufig für einen jungen Mann hielt. Ach, die bittere Enttäuschung in den Gesichtern mancher Männer und ihre höflichen zwei, drei Schritte rückwärts, die Augen, die nach links oder rechts weiterwanderten. Später, auf dem iPhone, konnte man ihre Stimmen meist gar nicht hören, sie sprachen so leise, sogar das abendliche Rauschen der Bäume übertönte sie.
Natalie wusste, dass ihre Anatomie verwirrend sein konnte. Ihr Körper sah, selbst aus der Nähe betrachtet, nicht sehr weiblich oder gar kurvenreich aus. Die Kosenamen aus ihrer Vergangenheit umfassten eine Reihe schmaler, meist aufrecht gehender Tierarten. Die Laufente wurde am häufigsten genannt, gleich danach kam die Jesus-Echse, die auf flinken Zauberbeinchen übers Wasser rannte. Ja, sie war sehr dünn. Ein Oberkörper wie ein Sack voller Hirschgeweihe. Nein, sie wurde schon lange nicht mehr aggressiv, wenn sie so etwas zu hören bekam.
Natalie rauchte nicht, aber sie hatte beim Streunen immer ein Heftchen Streichhölzer dabei. Nachts ergaben sich fast alle interessanten Gespräche über die Frage nach Feuer. Markus hatte ihr vor langer Zeit das Prinzip erklärt: Die meisten streunenden Männer gingen immer ohne Feuerzeug aus dem Haus, denn sie waren in einer solchen Situation ängstlicher als Frauen und brauchten, wenn sie der Mut verließ, einen realen Anreiz, um weiterzumachen. Sie rauchten den ganzen Tag keine einzige Zigarette, sodass sich der Drang aufbaute, und dann konnten sie irgendwann nicht mehr anders, als nachzufragen, ob jemand Feuer hatte. Damit kamen sie über die erste Hemmschwelle. Natalie liebte diese nervösen, rotfleckigen Bubengesichter. Als kämen sie alle direkt aus der Kaserne. Manchen zitterten sogar die Finger, zwischen denen die Zigarette klemmte. Natalie erlöste sie, indem sie ein Streichholz anriss, und dann beobachteten sie gemeinsam, wie sich in der Dunkelheit der zischende Löwenmähnenkopf bildete und in eine lautlose, flaggenträge Flamme verwandelte, die man hin und her ziehen konnte. Danke, sagte der Mann, während er den ersten wohlverdienten Rauch ausatmete. Und dann kamen die nächsten Schritte.
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