11,99 €
Eines Tages ist es da. Steht am Ende einer Sackgasse mitten in der Stadt. Es ist ein großes Kind. Den Blick hält es demütig zu Boden gesenkt, seine Haut ist rissig. Tagsüber versammeln sich die Bewohner der Stadt um dieses Kind, veranstalten Kundgebungen und Konzerte. Nachts schlagen sie auf es ein, mit Fäusten, Stöcken und Ketten – auf die Skulptur aus weichem, niemals trocknendem Lehm, auf das Mahlstädter Kind. Der Künstler hat es ihnen zur Vollendung überlassen, hat ihnen die Aufgabe übertragen, es »in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes zu bringen«. Zuerst treibt die Kunstbegeisterung die Bewohner der Stadt, dann kommen sie als Pilger ihrer Wut, verlieren prügelnd die Kontrolle über sich und beinahe auch ihren Verstand. Nach den beiden von der Kritik bejubelten und mit Preisen ausgezeichneten Romanen "Söhne und Planeten" und "Die Frequenzen" legt der österreichische Autor Clemens J. Setz nun einen Band mit Erzählungen vor. Es sind Geschichten gespickt mit grotesken Ideen und subtilem Horror, voller gewalttätiger Momente und zärtlicher Gesten. Wie in den Romanen präsentiert sich Setz auch in der kurzen Form als scharfer Beobachter der menschlichen Natur und einfühlsamer, geradezu liebevoller Porträtist ihrer Eigenarten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 395
Eines Tages ist es da. Steht am Ende einer Sackgasse mitten in der Stadt. Es ist ein großes Kind. Den Blick hält es demütig zu Boden gesenkt, seine Haut ist rissig. Tagsüber versammeln sich die Bewohner der Stadt um dieses Kind, veranstalten Kundgebungen und Konzerte. Nachts schlagen sie auf es ein, mit Fäusten, Stöcken und Ketten – auf die Skulptur aus weichem, niemals trocknendem Lehm, auf das Mahlstädter Kind. Der Künstler hat es ihnen zur Vollendung überlassen, hat ihnen die Aufgabe übertragen, es »in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes zu bringen«. Zuerst treibt die Kunstbegeisterung die Bewohner der Stadt, dann kommen sie als Pilger ihrer Wut, verlieren prügelnd die Kontrolle über sich und beinahe auch ihren Verstand.
Die Erzählungen von Clemens J. Setz sind gespickt mit grotesken Ideen und subtilem Horror, voller gewalttätiger Momente und zärtlicher Gesten. Wie in den Romanen präsentiert sich Setz auch in der kurzen Form als scharfer Beobachter der menschlichen Natur und einfühlsamer, geradezu liebevoller Porträtist ihrer Eigenarten.
»Hier ist ein Autor zu erleben, der sprachliche Tricks und Kniffe beherrscht, von denen man vorher noch gar nicht wusste, dass es sie gibt.« Die Welt
Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren. Studium der Mathematik und Germanistik in Graz; Obertonsänger, Übersetzer und freier Schriftsteller. Er lebt in Graz. Für Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2011 ausgezeichnet.
Clemens J. Setz
Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes
Erzählungen
Suhrkamp
Umschlagabbildung: Gregori Maiofis, Adversity makes strange bedfellows, © WBA Entertainment, Nashville/USA
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© Suhrkamp Verlag Berlin 2011
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN 978-3-518-74590-8
www.suhrkamp.de
Milchglas
Die Waage
Die Visitenkarten
Das Gespräch der Eltern in Hänsel und Gretel
Die Vase
Weltbild
Der Schläfer erwacht
Die Blitzableiterin oder Éducation Sentimentale
Mütter
Die Leiche
Das Herzstück der Sammlung
Condillac
Das Riesenrad
Character IV
Eine sehr kurze Geschichte
Kleine braune Tiere
Die Entschuldigung
Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes
Für Julia
ATTENTION!
WHEN THE TRAIN IS NOT STOPPEDIT WILL BE CONSTANTLY MOVING
Hinweisschild in einemamerikanischen Zug
Il ragazzo non osa guardarsi nel buio,
ma sa bene che deve affogarsi nel sole
e abituarsi agli sguardi del cielo, per crescere un uomo.
Cesare Pavese
Es gab sie wie Sand am Meer, sie waren überall und allgegenwärtig, die Grauzonen von Traurigkeit, Wahnsinn und Einsamkeit in Gegenständen, Gebäuden und Situationen: offen stehende Garagen mit einem unveränderlichen Ölfleck auf dem Boden, überquellende Mülltonnen, dreibeinige Hunde oder – sehr schlimm – Haltestellen, als wäre man angekettet unter freiem Himmel; dann einzelne Dinge, verbogenes Besteck, braun beränderte Fäustlinge, Körner aus Winterstreugut, die in den flüssigen Schuhabdrücken auf dem Küchenfußboden schwimmen, ausgebrannte Telefonzellen, Büsche, die nach Urin riechen und trotzdem von Hunderten Spatzen bewohnt sind, die verblassenden Farben der eigenen Sommerkleidung im Untergangslicht eines Treppenhauses, in dessen schummrigen Halbstöcken kleine taufbeckenartige Vorrichtungen stehen, ohne einen Hinweis auf Sinn und Zweck; die ganze entsetzliche Melancholie und Verlorenheit eines Bahnsteigs, der Pendelblick nach links: Schienen, endlos, dann nach rechts: dasselbe, und der vergebliche Versuch, sich festzukrallen in den Rockfalten der Mutter angesichts dieser ausweglosen Unendlichkeit, die einem am nächsten Tag auf harmlosere Weise wieder begegnet, in der Schule, als Zahlenstrahl.
Und die abendlichen Planeten Mars und Venus, mit ihren fühlerartigen Ausläufern, wenn man sie anzwinkert: kleine Bernsteininsekten über den Dächern der Stadt.
Ich schlief fast keine Nacht mehr durch, seit Bernd, mein Bruder, ausgezogen war. Früher hatte mich immer sein Schnarchen beruhigt, sein Gemurmel im Schlaf, seine Bewegungen, die träge und einförmig waren wie die eines aufgehenden Backteigs.
Jede Nacht hatte ich Albträume: lange, unfreundliche Korridore, in denen man mit verschiedenen Graden der Unbeweglichkeit kämpfen musste; verschlossene Türen mit fremdsprachigen Aufschriften; meine Mutter, die mich nicht mehr wiedererkennt und meinen Bruder bittet, mir zu zeigen, wo der Ausgang ist; Verfolgungsjagden durch unseren Keller, in dem Atommüll lagert; ein sterbendes Tier, das sich in einen der schwarzen Regenschirme geflüchtet hat und daraus nicht mehr zu vertreiben ist; rötliches Eis, das beim Schlittschuhlaufen bricht; Clownsschminke, die man nicht mehr ab bekommt. Und in beinahe jedem Traum begegnete ich einer blauen Flamme wieder, die plötzlich irgendwo hochzüngelte, aus meiner Armbanduhr, aus einem Stück Brot, aus einem Brückengeländer, das sich in diesem Moment auflöste und mich in den Fluss stürzen ließ, aus Geldbörsen, Eistüten, Legosteinen, fremden Augen. Ich hasste die blaue Flamme, ihre Farbe war das Entsetzlichste an ihr, dieser Ton von Blau, den ich tagsüber nirgends erblicken konnte. Er ließ sich auch nicht mit Buntstiften auf Papier malen, die verfügbaren Schattierungen aus der Pelikan-Zeichenbox reichten dafür nicht aus. Ich versuchte, der Flamme einen Namen zu geben, damit sie mich endlich nicht mehr heimsuchte, aber es half nichts.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!