Der Trost runder Dinge - Clemens J. Setz - E-Book

Der Trost runder Dinge E-Book

Clemens J. Setz

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Clemens J. Setz erzählt über das Absurde und Groteske des menschlichen Zusammenlebens. Das ganz und gar Unerwartete bricht in das Leben seiner Figuren ein. Ihr Schöpfer erzählt davon einfühlsam, fast zärtlich. Durch Falltüren gestattet er uns Blicke auf rätselhafte Erscheinungen und in geheimnisvolle Abgründe des Alltags, man stößt auf Wiedergänger und auf Sätze, die einen mit der Zunge schnalzen lassen. Der Trost runder Dinge ist ein Buch voller Irrlichter und doppelter Böden – radikal erzählt und aufregend bis ins Detail.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 416

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Clemens J. Setz

Der Trost runder Dinge

Erzählungen

Suhrkamp

So können wir Menschen für höhere Wesen Bilderuhren abgeben, weil in jene zweite Welt, wenn hier unten unsere Todtenglocke läutet und schlägt, unser Bild aus dem Gehäuse tritt.

Jean Paul, Siebenkäs, nach: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm

Um die Erde dreht sich ein rundes Licht fremder Herkunft.

Empedokles, Fragment 67

Inhalt

Südliches Lazarettfeld

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Das alte Haus

Kvaløya

Geteiltes Leid

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Die zwei Tode

Die Gesichter in den Liftspiegeln der Hochhäuser

Die Katze wohnt im Lalande'schen Himmel

1

2

3

Spam

Vorgehen

Das Schulfoto

Otter Otter Otter

1

2

3

4

5

6

7

Zauberer

Elpenor

Frau Triegler

Ein See weiss mehr von der Erdkrümmung als wir

1

2

3

Das Christkind

Die Frau

Die Lebenden

Suzy

Jugend

Südliches Lazarettfeld

1

Ich weiß noch, dass ich an dem Tag recht früh erwachte. An Träume erinnere ich mich nicht. Ich zog mich an und trat auf den Balkon. Es wurde gerade hell, aber die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen. Ein leichter Wind bewegte die Katzenminze. Ich rauchte eine Zigarette und studierte dabei eine dämmerungsträge Spinne, die etwas oberhalb des Geländers in ihrem schon halb aufgegebenen Nachtnetz hing. Es war später März, und auf der Hausmauer war viel los. Die Feuerwanzen klebten schon wieder am Hinterteil zusammen.

Unten im noch dunklen Garten waren Autos geparkt mit aktivierten Sicherheitssystemen: Hinter jeder Windschutzscheibe blinkte eine kleine Raumstation. Ein Specht bearbeitete einen Baumstamm, aber er war schlecht synchronisiert, das Klopfen passte nicht zu seinen Kopfbewegungen. Er hüpfte mehrere Äste ab und maß dem Baum den Puls. Ich bekam davon ein mulmiges Gefühl, wie Durst, und ging zurück in die Wohnung, um etwas zu trinken. Wie immer, wenn man ein volles Glas Wasser durch einen Raum trägt, ohne dass es überschwappt, befiel mich das leicht übernatürliche Fernlenkgefühl. Selbst wenn ich versuchte, absichtlich ein bisschen Wasser zu verschütten, hielt mein inneres Lot irgendwie dagegen und glich alles aus. Zu Mittag würde ich nach Kanada fliegen, für vier Wochen. Es war der Flug OS 4977.

Für den Vormittag war Föhnwind vorhergesagt. Ich schaute mir Wetterseiten im Internet an und betrachtete später unser holzgeschnitztes Barometer im Vorzimmer. Es bestand aus zwei tanzenden Bauersleuten, einem Mann und einer Frau, und je nach Luftdruck verschwand einer von beiden in das Gehäuse. Zu keiner Zeit war es ihnen erlaubt, sich gemeinsam in ihrem Heim aufzuhalten. Wie fast jeden Morgen befiel mich beim Anblick des altertümlichen Messgeräts die Gewissheit, dass die sich ins Häuschen zurückdrehende Figur, sobald sie um die Ecke bog und unsichtbar wurde, in einer anderen, weit entfernten Wohnung, wenn nicht überhaupt auf einem ganz anderen Kontinent oder Planeten, in Erscheinung treten würde.

Ich kontrollierte die Zeit. Noch etwa eine Stunde, dann ging es los, Taxi, Flughafen, warten, dann fast einen halben Tag oben im Loch. Es half nicht viel, dass man aus dem Flugzeugfenster Wolkenfelder und den endlosen Atlantik würde sehen können, man war abgeschnitten von der Welt, man erstreckte sich nicht mehr. Ich hörte, dass meine Frau aufgestanden war: Im Schlafzimmer wurden alle über Nacht aufgerollten Teppichecken heruntergeklappt. Dann lief sie, ohne mich zu bemerken, an mir vorbei, und im Raum roch es für einen Augenblick nach etwas lang Vergangenem, nach Adventskalender oder Dinosaurierbuch.

»Hoffentlich gibt es WLAN an Bord«, sagte ich.

»Ah, guten Morgen.«

»Ich bin schon seit einer Stunde wach«, erklärte ich. »Sorry, ich hab das Gespräch ohne dich begonnen.«

»Gibt's vermutlich nicht. Also Internet. Aber lass mich mal aufwachen.«

Kurze Zeit später ging in der Wohnung, als zweite Sonne des Vormittags, der Kaffeeduft auf. Meine Tasse war mit einem vielfarbigen Mandelbrot-Muster bedruckt.

Beim Frühstück hörten wir analoges Radio, wie die Menschen im Mittelalter. Eine Jazzband spielte Summertime und Begin the Beguine. Marianne fragte mich nach dem Titel des Liedes. Ich nannte ihn. »Beginen«, murmelte sie vor sich hin. Sie stand an der Anrichte und befühlte die Avocados. Dann sagte sie: »Beginen, die Avocados befühlten.«

»Ja«, sagte ich. »So lebte man damals bei uns in Europa.«

Marianne hielt sich die Nase zu und imitierte die Durchsage eines Flugkapitäns beim Erreichen der Reiseflughöhe. Meine Damen und Herren. Sie versprach sich aber mehrere Male und musste neu anfangen.

»Warum halten die sich eigentlich immer die Nase zu, wenn sie Durchsagen machen?«

»Wahrscheinlich wegen dem Druckausgleich«, sagte sie.

»Ah.«

»Avocados befühlen«, sagte Marianne. »So geht's dahin mit der Zeit. Früher haben die Menschen morgens höchstens ihr Antoniusfeuer oder ihre Pestsäule befühlt.«

»Tarzan ist als Baby mit dem Fallschirm aus einem brennenden Flugzeug gesprungen. Man sieht es gleich am Anfang des Films.«

Marianne schnitt sich eine Scheibe Brot ab.

»Er hat aber nie richtig sprechen gelernt«, sagte sie. »Das hast du ihm zumindest voraus.«

»Ich bin nervös.«

»Aber schau, du bist dort dann mit anderen Leuten zusammen. Wer ist denn noch zu dem Ding eingeladen?«

»Norbert Gstrein.«

»Beginen befühlen Norbert Gstrein«, sagte Marianne.

Ich lachte über den Satz. Allerdings merkte ich an meinem Lachgeräusch, dass ich mich allmählich zu fürchten begann: Ich legte zu viel Nachdruck ins Gelächter. Marianne suchte das Bild des genannten Autors auf ihrem iPhone und zeigte es mir.

»Ich weiß, wie er aussieht«, sagte ich, aber nahm das Handy trotzdem in die Hand. Eines der Bilder vergrößerte sich dabei automatisch, und Gstrein füllte das Display aus. Ich legte einen Finger auf seine Nase.

»Lauter Österreicher in den Bergen Kanadas. Und lesen einander da Dinge vor.«

»Ja«, sagte ich. »Da geht dann allerhand vor sich. Schau, wie ernst er schaut.«

»Melken gemeinsam die Gletscher, die nichts dafürkönnen.«

»Austrian Culture Forum«, gab ich zur Antwort.

»Norbert Gstrein«, sagte Marianne. »Und zehn Stunden im Flieger. Wie im neunzehnten Jahrhundert. Hast du alles?«

Wir kontrollierten meinen Koffer. Ich war mir sicher, dass ich alles eingepackt hatte, aber durch das gemeinsame Durchsehen aller Fächer entstand Geborgenheit, die ich vielleicht später, oben im Loch, abrufen und in Schläfrigkeit würde umwandeln können. Mir fiel auf, dass Marianne auf ihren Fingernägeln gekaut hatte.

»Melatonin-Tabletten?«

»Hier.« Ich tippte auf die Brusttasche meines Sakkos.

»Und dir wird sicher nicht kalt, so?«

»Ich kann nicht jetzt schon in dem nordischen Dings rumlaufen.«

»Gibt es in Kanada eigentlich Polarlichter?«

»Norbert Gstrein«, antwortete ich.

»Ah ja«, sagte Marianne.

»Literaturfestivals sind wie gestohlene Nasen«, sagte ich.

Aber Marianne merkte nun auch, dass ich nur meinen aufsteigenden Fluchtreflex überwitzelte, und streichelte mir über den Nacken.

»Lass deine Nase halt hier«, sagte sie. »Ich pass so lang auf sie auf.«

2

Vor dem Haus hing an der Laterne, in einen blauweißen Gurt geschnallt, ein Monteur. In den Alleebäumen wühlte der Wind, es war unnatürlich warm. In der Einfahrt lag ein verlorener Wollhandschuh in der Haltung eines angespülten Seesterns. Beim Gehen hielt ich mit meiner freien Hand die Ringschnur meiner Kapuze fest, als hinge ein Ballon daran. Die Sonne trat hinter eine Wolke, und ich erwartete, dass mit dem Lichtwechsel irgendetwas Neues sichtbar würde, vielleicht die winzigen Comicgesichter, die in den Mauerrissen der Häuser wohnen. Eine Krähe auf dem Gehsteig deutete ein Hüpfen an, es sah aus wie ein Achselzucken, das machte mir Eindruck. All die Erscheinungen bei Föhnwetter! Ein uralter Mann, sozusagen mitvergilbt mit den Postkarten seines Geburtsjahrhunderts, hielt sich sehr aufrecht und redete mit sich selbst, während er gegen den Sturm anging. In seinem braunen Spazierstock mussten, so dachte ich mir, ganze Kometen eingerollt gespeichert sein.

Ich bog um die Ecke und ging in Richtung Taxistand. Aus der Bäckerei kam ein starker Geruch. Und da war auch mein Kirchturm. Ich sah ihn immer, wenn ich im Bett lag und aus dem Fenster schaute, also waren ihm auch meine finstersten Grübeleien und peinlichsten Fantasien nicht fremd. Er kannte das alles. Es empfiehlt sich aber auch allgemein, in unruhigen Momenten hohe Gebäudespitzen zu betrachten. Etwas geschieht dann, der Kopf ist erhoben, der Blick ruht auf einer überschaubaren, nur von Himmelsfarbe umgebenen Sache. In seiner Gegenwart wurde ich ein wenig mutiger. Und im Taxi löste sich meine Beklemmung noch weiter auf: Die Stadt drehte sich räumlich um uns. Der Taxifahrer lobte die Fortschritte eines Straßenausbaus. Der Kirchturm hatte so ausgesehen, als wäre ihm das Zifferblatt als Schnuller für die Nacht gegeben worden.

»Meine Aufregung ist nicht mehr so schlimm«, schrieb ich an Marianne.

»Ok«, antwortete sie. »Ich geh dann einkaufen. Schreib mir, wenn du einsteigst.«

Jetzt war auch die Sonne wieder frei von Wolken. Die Menschen hingen an ihren langen Vormittagsschatten. Ein Radfahrer hielt sich, ohne abzusteigen, an einer Ampelstange fest. Die frischen Kondensstreifen am Himmel blendeten.

Im Lift zur Abflughalle stand ich zuerst allein, dann stieg, auf Höhe der Parkebene, eine Frau ein. Als der Aufzug gehalten hatte, war innen zu hören gewesen, wie die Frau draußen das Haltesignal des Lifts mit ihrer Stimme imitiert hatte, bing-bang. Jetzt stand sie schweigend neben mir und hielt den Griff ihres Trolleys fest. Ihre Körperhaltung war die eines Menschen, der Scherben aufkehren muss und darüber untröstlich ist. Beim Aussteigen warf ich noch einen Blick hinunter in die Spalte zwischen Kabine und Fahrstuhlschacht, man sah sehr weit. Menschen auf Flughäfen, dachte ich, ihr zielstrebiges Verhalten, ihr leidgeprüftes Aussehen.

In der Warteschlange vor der Sicherheitskontrolle schrieb ich wieder an Marianne. Aber sie war, wie immer wenn ich verreiste, nicht gut erreichbar. Sie ging dann einkaufen oder stürzte sich in irgendeine Arbeit, das war jedes Mal so; nur früher hatte es mich irritiert. Jetzt hielt ich es sogar für recht gesund. Sie lenkte sich ab. Und ich steigerte mich weniger in meine Reisenervosität hinein, wenn ich nicht sofort jemandem davon berichten konnte. Außerdem gab es mir ein geborgenes Gefühl, zu wissen, dass sie sich um die Wohnung kümmerte, sie verschönerte und neue Dinge für sie aussuchte … Ich legte meine unangenehm münzpralle Brieftasche in den Korb, sie war mir peinlich. »Ich hätte doch mein Münzfach ausleeren sollen«, sagte ich zu dem Sicherheitsbeamten. Dann winkte man mich in den Ganzkörperscanner, in dessen Innerem der Mensch, laut erklärendem Piktogramm, eine fast biblische Prophetenhaltung einzunehmen hatte.

Vermutlich tat das viele Reisen, wie man so sagt, der Beziehung nicht gut. Abends aus Hotelzimmern anrufen, einander berichten, was in den letzten Stunden geschehen ist, das jeweilige Wetter vergleichen, und so weiter. Zur Beruhigung schaute ich mir die Stadt Banff im Internet an, in die man mich eingeladen hatte. Hohe Berge, Schnee, tiefblauer Himmel. Ein komischer Name, Banff, man dachte dabei sofort an ein Akronym. BANFF, Britishcolumbia Aviation Northamerican Flight ‌… Federation. Vielleicht sollte man vor dem Flug noch einen Kaffee trinken. Ein Mann vor mir hatte riesige Schweißflecken auf seinem Hemd, wie im Hochsommer, und mir fielen unsere jeden Morgen aufs Neue vom Schicksal zusammengesteckten Feuerwanzen auf der Hauswand ein. Rund zwanzig Stunden lang würde rund um mich helllichter Tag herrschen. »Wie im Mittelalter«, dachte ich.

Einer der Monitore, aber nur einer von vielen, zeigte eine Windows-Fehlermeldung und strahlte dadurch, inmitten all der undurchsichtigen Sicherheitsvorgänge, so etwas wie eine warme und vertrauenswürdige Menschlichkeit aus. Ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder zu ihm hinschaute, während man mein Gepäck mit gespieltem und etwas onkelhaftem Interesse durchsuchte. Allerdings machte mir keiner der Sicherheitsmenschen die Freude, etwas wie »so viele Bücher« zu murmeln. Dabei hatte ich acht eingepackt. Wer konnte schon wissen, ob sich in Kanada etwas zu lesen finden würde. Es waren Bände mit Kurzgeschichten: Akutagawa, Philip K. Dick, Hebel, Beattie, Kracht, Barthelme, Stanišić, Clemens Meyer; lauter unbrave, prächtige Strolche. Ich stellte mir ein Eselsohr auf einer Buchseite vor, so stark, dass es im Röntgenscanner der Sicherheitskontrolle als kleiner leuchtender Strich erschien.

3

Noch wurde kein Gate für den Flug nach Toronto angezeigt. Einige viel spätere Flüge, diese Lieblinge der Lehrerin, besaßen natürlich bereits eines. Es war wohl noch Zeit, um etwas zu trinken zu besorgen. In ihrem Camel-Gehege standen die Raucher, umhüllt von milchiger Luft. Nun, da meine Flugangst gewichen war, empfand ich Scham. In einem Schaufenster begegnete mir mein Spiegelbild und erinnerte mich daran, wie wacker ich wieder mal den Reisenden spielte. Es war alles da, die Haltung, die Kleidung, das treuherzige Gesicht. Autor reist herum, weil er nicht davon leben kann, verwandelt sich also in lebendes Ersatzbuch, sitzt auf Flughäfen bla, weil sonst bla. In der Hoffnung, dass ich meinen Abscheu vor mir selber vielleicht abschütteln könnte, indem ich ihn für kurze Zeit ins Irreale steigerte, bestellte ich im Getränkekiosk auf Englisch, obwohl ich mich noch in Österreich aufhielt. Ich verwendete einen weltmännischen, weitgereisten Tonfall. Aber man reagierte ruhig und gefasst.

Als ich zur Monitorwand zurückkam, wurde das Gate angezeigt, und ich stellte fest, dass ich direkt daneben stand. Nur etwa fünf Meter zu gehen. Da war der Beweis: Toronto, OS 4977. Von dort dann Weiterflug nach Calgary, dann mit Auto ins Offene, Freund, ins Gebirg'. Ich musste das Wort »gebenedeit« vor mich hin murmeln. Hier, auf den endlosen Sitzbänken, saßen auch schon einige demselben Flug entgegenwartende Menschen, ein jeder mit seinem Buch als Lenkrad. Zerstreut stellte ich mir vor, dass sich die Flughafenangestellten, wie bei Botschaften, technisch gesehen bereits auf kanadischem Boden befanden, wenn sie gesprächsbereit unter dem Bildschirm standen. Auf dem Monitor sprang ein grüner Leuchtpunkt hin und her. Er ließ mich an einen Drucker denken, den ich einmal besessen hatte. Inmitten rasch durchwechselnder Gerätschaften war er alt geworden, und man hatte es ihm lange nicht angemerkt. Aber irgendwann bekamen alle Ausdrucke diese großen runden weißen Stellen. Dann druckte er fast nur noch weiß, aber immer noch langsam und genau, Zeile für Zeile, manchmal für mehrere Minuten über einem einzelnen Wort sinnend, wie Ernest Hemingway. Am Ende brauchte er halbe Tage für eine leere Seite und murmelte und holte Luft und versuchte, sich zu sammeln. Dabei blinkte seine kleine grüne Seele am rechten oberen Rand: signal wird empfangen, signal wird empfangen. »Nein, mir wird nichts passieren«, sagte ich mir. Flugzeuge waren äußerst sicher. Aber sollte nicht das Boarding langsam losgehen? Wie zur Antwort schüttelte jemand neben mir eine Milchflasche. Ich übersetzte mir das Geräusch in: »Jeff is the name is the name is the name.«

Ich hatte ein Kreuzworträtsel auf dem iPhone etwa zur Hälfte gelöst, als die Durchsage kam, dass sich das Einsteigen um vierzig Minuten verzögern würde. Ein Mann, der mir gegenübersaß, schüttelte den Kopf und packte sein Wurstbrot wieder aus, das er schon eingewickelt und halb in seiner Manteltasche verstaut hatte. An der Art, wie er das Wurstbrot behandelte, wurde klar: Es war seine Seele, die er uns Mitreisenden vor Beginn des Fluges noch schnell zeigen musste. In meiner Erinnerung besitzt er die gleichen Züge wie eine der Bauernfiguren im Barometer. Sein Name war gewiss Lehrer Nolte oder so, jedenfalls strahlte er etwas Bundesdeutsch-Untröstliches aus, bebrillt, in jägergrüner Joppe. »Dabei bin ich schon so lange wach«, sagte ich mir.

Ich ging auf die Toilette, und als ich zurückkam, gönnte ich mir einen direkten Sitznachbarn, die Dichte der Menschen im Wartebereich war optimal dafür. Ich wählte eine Frau, die wie ein verdorrtes Kindermädchen aussah. Nach einer Weile steckte sie ihr Getränk zurück in den Rucksack und saß mit neutralem Gesichtsausdruck da. Das freute mich. Die Leute hier waren unschlüssig, sie besaßen keinerlei Vorteil mir gegenüber. Ich glaube, es sollte Springball-Spender in Flughafentoiletten geben.

Ein weiteres Mal schrieb ich an Marianne.

»So langweilig, wir müssen warten, alle hier ratlos, boredom didldum«, tippte ich.

Ein sehr kleines Kind hielt ein Tablet in der Hand, dessen Display es immer wieder dazu brachte, dieselbe feierliche Tippgeste auszuführen; vom Zuschauen wurde mir ganz abgeschliffen und murmelglatt zumute, so häufig wiederholte sich die Bewegung.

4

Nach einer weiteren Stunde Warten begannen mir die Schultern einzuschrumpfen. »So verdorrt ein Baum zur Jahresneige«, sagte ich mir und fühlte trotz des ironisch-weihevollen Tons für einen Augenblick ein echtes herzjammerndes Elend in mir aufsteigen, als begänne nun bald wieder die Schule. Man gab uns Durchsagen, versorgte uns mit Zahlen. Ich betrachtete die anderen Reisenden. Sie alle würden nie im Leben auf den Mond gelangen, das war klar, und noch hatte es ihnen niemand gesagt. Also stand ich auf und wechselte zu den Panoramafenstern. Weit draußen fuhr ein Bus eine Schleife, mitten in der leeren Ebene; das Einzige, was ihm Gesellschaft leistete, waren die auf den Boden gemalten weißen Leitlinien. Und zwei Flugzeuge wurden, ernst wie Fiakerpferde, von je einem winzigen Steuervehikel an den langen Wasserrutschen der Gates vorbeigeführt. Die Sonne neigte sich schon in den Nachmittag.

Auf einem Bildschirm über den Sitzplätzen lief ein Nachrichtensender ohne Ton. Man sah einige Männer auf einer Open-Air-Bühne, die sich über ihre Gitarren beugten wie über zu scherende Schafe. Dann eine Aufnahme des Publikums. Die Menschen wedelten mit Papierfahnen.

Marianne antwortete, sie gehe jetzt einkaufen.

»Stressabbau«, schrieb ich zurück. »Ich muss hier immer noch warten aber bald geht Erlös.«

Es war ein Autokorrekturfehler. »Es los«, schrieb ich.

Sie schrieb nichts. Nach einer Weile kam ein »ok«. Ich stellte mir ihre lange, vermutlich bis zum Abend gehende Einkaufsrunde vor. »Wir dürfen leider noch immer nicht Barden«, schrieb ich. »Boarden.«

Aber sie antwortete nicht mehr, also öffnete ich ihr Profil und schaute mir ihr Foto an. Es war damals bei unserem Besuch in Chartres aufgenommen worden, an jener Stelle der unbegreiflichen Kathedrale, wo jedes Jahr angeblich genau zum Frühjahrsäquinoktium ein feiner Lichtstrahl durch ein Fensterloch auf den Steinboden fällt. Vor den Toren der Kirche hatte es geregnet, ein eisiges, nüchtern-heidnisches Nieseln, das den geduckt gehenden Menschen und den Häuserfassaden ihr eigentliches Aussehen zurückgab.

Ich aß eine mitgebrachte Banane. Anschließend wanderte ich umher und zählte Brillen. Die Mitarbeiterinnen des Bodenpersonals hinter dem Schalter telefonierten, hörten aber die meiste Zeit nur zu, ihre Lippen bewegten sich kaum.

5

Die lange Wartezeit machte alle Menschen zu Figuren in meinem Computerspiel. Sie wurden NPCs, non-playable characters. Ich stellte mir Unaussprechliches mit ihnen vor. Wer würde einen Flugzeugabsturz in Alaska überleben und wer nicht? Dieses Baby hier hatte zum Beispiel nicht die geringste Chance. Es empfände zwar vermutlich als einziger Passagier keinen Ekel vor Kannibalismus, aber ihm fehlten die körperlichen Kräfte und die Koordination, um jemandem das Wangenfleisch mit einer Nagelfeile abzutrennen. Es war übrigens einer jener Säuglinge, die alle anderen Eigenschaften zugunsten ihrer Pausbäckigkeit aufgegeben haben; wo andere längst ihre Arme und Beine entdecken und sie zu bewegen lernen, sind diese immer noch full-time mit dem stetigen Runder-Werden ihrer Wangen beschäftigt. Man legt sie in eine Eiswüste, und sie runden sich noch mehr, bis sie platzen, garstige Ballone.

Wo mochte mein Koffer in diesem Augenblick wohl sein? Es gab gewiss unheimliche Zwischenreiche, die das Gepäck durchwandern musste. Tiere reisten auch in diesen Bereichen, ich hatte schon mehrere Male die tristen Käfige mit den ratlos hechelnden Hunden darin gesehen. Für Labors bestimmte Rhesusaffen wurden von Air France sogar in durchsichtigen Kunststoffröhren transportiert. Ich schrieb eine Nachricht an Marianne. Sie war vor 58 Minuten zum letzten Mal online.

»Und, weiß man schon was?« Aus irgendeinem Grund hatte ich die Frage so heurigenhaft heiter gestellt, dass sie mir sofort peinlich war. Die Austrian-Dame am Schalter erklärte mir, dass sich der Abflug leider noch eine Weile verzögern würde. Man versuche alles.

»Ah, okay«, sagte ich und blieb für einige Sekunden vor dem Gateschalter stehen, obwohl ich keine Folgefrage hatte.

Neben mir stellte ein Mann dieselbe Frage auf Englisch, allerdings in ernstem und beherrschtem Ton, er konnte es viel besser als ich. Ein Erwachsener. Und er erhielt dieselbe Antwort. Ich stellte mir vor, ihm brüderlich um den Hals zu fallen und laut loszugrölen, wir sind verloren, das ist der Krieg, der Schwed' steht vor den Toren. Ich begriff, dass ich in einer Traube von Menschen stand, die nicht viel gemeinsam hatten, außer dass sie höflich blieben.

Aber nun gab es wieder eine Durchsage. Der Abflug verzögere sich um weitere sechzig Minuten, hieß es. Ein technisches Problem.

»Geil es ist doch ein technisches Problem lolz«, schrieb ich an Marianne. »Ich stürze bestimmt ab es dauert außerdem noch so lang sie suchen wohl eine neue Marianne.«

Ich starrte auf den Autokorrekturfehler.

»Maschine«, schrieb ich in die nächste Zeile. »Haha fucking autocorrect.« Aus dem fucking hätte das Chatprogramm um ein Haar ein rücklings gemacht.

6

Ein Mann mit Heftpflaster über dem Daumen blies auf seinen Kaffee. Dazu aß er Nüsse aus einem winzigen Plastiksäckchen, die ihn offenbar durch ihren Geschmack überraschten. Ich starrte ihn an, stellte mir vor, sein entzündeter Daumen wärme den Kaffeebecher, und taufte ihn Victor. Als er meinen Blick bemerkte, verwandelte sich sein Nüsse-Essen in ein hastiges Zu-Ende-Kauen. An seiner ängstlichen Reaktion erkannte ich ihn als Mitwartenden. Auch er wollte »doch nur nach Kanada«. Glücklicherweise existierte direkt neben uns ein Getränkeautomat. Ich ging zu ihm und gab ihm einige meiner Münzen.

Auf dem Frankfurter Flughafen hatte ich vor Jahren einen Getränkeautomaten gekannt, der mit seinem Greifarm immerzu ins Leere fasste und ihn danach eifrig hin und her bewegte, so als könnte er dadurch all die Mineralwasser- und Colaflaschen, die man ihm aufgrund seines Steuerungsfehlers weggenommen hatte, aus der Luft zurückzaubern.

Der Guthabenstand auf dem Display des Automaten zeigte genau 3,65. Die Tage im Jahr. Ich schaute zurück zu meinem Sitzplatz, der zweifellos noch etwas von meiner Körperwärme abstrahlte. So sah das also aus. Ich suchte die Wand neben dem Automaten nach Spinnen ab, aber es gab keine.

Einmal nieste ich laut, und obwohl mich von links eine junge Familie sonderbar dankbar anblickte, hatte es doch keinen Zeitsprung gegeben, es lag immer noch die Wartezeit vor uns, endlos. Als es in der Durchsage hieß, dass um 15 Uhr ein Update folgen würde, nahm ich die Nachricht zuerst ohne Emotion hin, dann ärgerte ich mich über die wie in der Volksschule der Reihe nach aufgezählten Uhrzeiten und schrieb an Marianne. Sie reagierte erst nach zehn Minuten. »Oje«, schrieb sie. Ich schickte ein Selfie zurück, das mich beim Gate sitzend zeigte, mit düsterem Blick.

»Warten ist Gletscher melken«, schrieb ich. Nach einer Weile fügte ich noch »i könnt schrein / wie norbert gstrein« hinzu und ertappte mich, wie ich darüber lachte.

»Ach, das ist dumm«, schrieb Marianne. »Dann kommst du zu spät nach Kanada.«

»Haha«, antwortete ich.

»Du, ich mach hier dann mal weiter«, sagte sie. »Schreib mir, wenn es bei euch losgeht.«

»Ok.«

7

Um 16 Uhr ließ man uns einsteigen. Man entschuldigte sich für die entstandenen Unannehmlichkeiten. Ich schrieb an Marianne, dass es nun endlich losgehe. Sie antwortete nicht sofort, und ich schaltete das iPhone aus: Der Rest der Welt erlosch, und es gab nur noch, wie in einer Art erzwungenem Zen, diesen Moment hier.

Hier mein Ticket.

Hier mein Pass.

Und dies ist mein Zwirn.

Wir marschierten durch den Schlauch. Vor dem Eingang zum Flugzeug staute es sich. Menschen mit kleinen Rollkoffern. Meine Brüder und Schwestern. Von irgendwoher kam so etwas wie Sonnenlicht und sogar Blätterschatten, der plötzlich auf den Sakkos und Rücken vor mir sichtbar wurde, aber es war nur ein optischer Effekt. Wenn wir erst in der Luft waren, würde alles gut werden. Gesichter, Hinterköpfe. Tageszeitungen.

Nun begann die Phase der lauten Gedanken. Ich fügte mich in meinen Sitzplatz ein wie die Batterie ins Batteriefach. Für die nächsten Stunden nur die eigenen Hände, Knie und Fußspitzen als menschliche Gesellschaft. Aber was wenn. Was wenn doch. Nein, die Stewardessen hatten keinen Blick für mich übrig. Man verstaute Gepäck in den oberen Fächern. Non-playable characters mit ihren Schicksalen, die in ihrer Brust tickten, paar Zeilen Programmcode. Ich versenkte mich in den Anblick all der kahlen Stellen auf fremden Hinterköpfen, und dabei kam mir das Wort »Anknüpfungspunkte« in den Sinn. Zusätzlich gab ich den kahlen Stellen Namen. Diese hier zum Beispiel, auf dem Kopf eines dünnen, abgekämpft aussehenden Mannes, sah aus, als müsste sie Scotty heißen. Hi, I'm Scotty the Bald Spot. I like pillows, hats and warm summer rain.

Ein Mann mit Clipboard erschien, er wollte ins Cockpit. Man telefonierte. Man verhandelte. Draußen kümmerten sich winzige Menschen um das Flugzeug, ich spürte ihre Bemühungen auf meiner Stirnhaut. Ich war ja nun Gulliver, diese riesige Maschine. Es war immer noch stürmisch. Ziehende Wolken und getrocknete Tröpfchenspuren an der Scheibe. Dazu plötzliche Erinnerungen an einen Park in Salzburg, mit Spatzen und Kindern um ein altes Rondell. Ich taufte das Erinnerungsbild auf den Namen Ralph. Ein Portal von Chartres namens Ralph. Christus der Löwe, genannt Ralph. Man ließ uns lange sitzen, aber dann schlossen die Flugbegleiter die Türen. Langsam rollte das Ganze los. Blieb stehen. O altes Portal, o Rondell. Wir fuhren weiter und blieben wieder stehen. In der Ferne bellte eine Wetterfahne.

8

Nach dreißig Minuten kam eine Durchsage. Wir wurden gebeten, noch einmal auszusteigen. Ein Bus bringe uns zum Terminal zurück. Gemecker blühte ringsum auf. Die englischsprachigen Passagiere warteten noch, bis die Durchsage für sie wiederholt wurde, dann atmeten auch sie enttäuscht aus und schüttelten die Köpfe. Das Flugzeug war schon zum Rollfeld unterwegs gewesen. Aber nun konnte es offenbar nicht mehr. Oder vielleicht das Wetter. Meine Sitznachbarin sagte: »Die sind doch geisteskrank.«

Ich antwortete: »Das ist jetzt schon das neunte Mal, dass ich nach Kanada zu fliegen versuche. Jedes Mal dasselbe.«

Sie akzeptierte meine Lüge, nickte entrüstet und stand auf, setzte sich aber gleich wieder hin. Wir mussten ja auf den Bus warten.

»Da beginnt man allmählich zu zweifeln, dass es das Land überhaupt gibt«, sagte ich.

»Wirklich eine Frechheit«, sagte die Frau.

Im Bus lehnte ich mich an die Scheibe. Ich war nun fügsam und lenkbar, man hätte mir alles befehlen können. Ein müder, willenloser Hase auf einem Feld. Mit roten Augen. In der Hand hielt ich das Novellenbuch von Akutagawa. Die Silben seines Namens holperten in meinem Kopf durcheinander. »Jeff ist gravely unterzuckert yo«, sagte ich mir. Die Leute standen dicht aneinandergedrängt, meist fassten zwei Hände denselben Haltegurt. Der Himmel war aber immer noch hell. Wie spät war es? Angestellte wedelten die aufgebrachten Passagiere in eine Richtung. Wir waren klägliche, vergebliche Passagierversuche: Das Universum hatte seine Materie an diesen speziellen Punkten im Raum zusammengeballt zu Menschenfiguren und diese dann in Passagiere zu verwandeln versucht, aber vergeblich. Es blieb bei unfertigen Versuchen. Und nun zückten sie alle ihre Laserschwerter, tippten darauf herum oder hielten sie sich an die Wange. Andere blätterten in ihren Reisepässen, als stünde da vielleicht die Antwort. Wir wurden gebeten, vor den Umbuchungsschaltern zwei Schlangen zu bilden. Da ich mich nicht besonders beeilt hatte, stand ich ganz hinten. Es war kurz nach siebzehn Uhr. Mein Magen knurrte.

Für Marianne war ich seit mehr als einer Stunde in der Luft, auf dem Weg nach Kanada. Ich ließ mein iPhone ausgeschaltet. Mir gefiel mein Parallelwelt-Ich besser als dieses. Flieg du nur. Ich stehe hier derweil in der Warteschlange. Vor mir hundert Menschenleiber. Einige davon setzten sich auf ihre mitgebrachten Koffer. Aber die meisten knickten weich in den Seiten ein, und die Menschen sanken mit ihrem Gepäckstück zu Boden. Ich spürte das Ziehen in den Waden der Mitreisenden, einfach durch Hinschauen. Ich trank etwas Wasser. In einiger Ferne entdeckte ich den Getränkeautomaten. War es derselbe? Er wies vielleicht noch mein in ihm deponiertes Guthaben auf! Nein, wir waren ganz woanders.

9

Die Umbuchungsdame war, wie sich herausstellte, gar nicht enttäuscht darüber, dass ich nicht mehr fliegen wollte, nicht morgen früh, auch nicht morgen Nachmittag. Ich schüttelte zu allem den müden Kopf, wie Kinder in der Werbung vor dem minderwertigen Produkt. Sie schenkte mir eine mit zweihundert Euro aufgeladene Entschädigungs-Karte. Ich war gerührt und bedankte mich. »Die kann ich überall verwenden?«

Sie sagte ja. Wie froh sie über einen dankbaren, ruhig sprechenden Passagier war. Mein Koffer werde dann auf mich warten.

»Ah ja«, sagte ich.

»Einfach an der Gepäckausgabe.«

»Dann geh ich da jetzt hin«, sagte ich.

Ich klang in der Tat etwas betrunken. Also setzte ich einen Schritt nach dem anderen, Ryu-no-su-ke-a-ku-ta-ga-wa. Ein Hund kam in die Küche. Der Tod auf der Straße als Windstoß. Ein Springball im Wappen eines Inselstaates.

An der Gepäckausgabe fühlte ich ein warmes Glühen in mir. Das waren die Abendstunden, die nun, nach einiger Verzögerung, in meinen Körper strömen durften. Auf dem Laufband wurden Schi sichtbar, dann folgten einige identische Koffer. Am Nachbarband kreiste seit längerer Zeit ein Objekt ganz in Rot. Ich taufte es Dominik. Ich war so müde, dass ich andauernd im Bodenmuster versteckte Hakenkreuze zu erkennen versuchte. Im Taxi nach Hause stellte sich ein wohliges Gefühl von Vollständigkeit ein. Im Radio war von Venezuela die Rede. Warum auch nicht. Venezuela, ein weiterer Puzzlestein. Selbst die Sockenfalte in meinem Schuh, auf die ich seit Verlassen des Flugzeugs bei jedem Schritt getreten war, akzeptierte ich als Accessoire.

Als ich in unserer Straße ausstieg, roch es schon nach Abend, nach frisch geläuteten Glocken. Ob die abends und morgens knapp überm Horizont stehende Sonne wohl kurz ins Innere der im Kirchturm schwingenden Glocke scheint, sozusagen »ihr unter den Rock«? Lässt der Winkel das zu? Warum auch sonst der Glocke auf allen vier Seiten breite Fenster im Turmgemäuer lassen? Die Alleebäume standen reglos, der Beginn eines Films. Aber nun flatterte eine Krähe zwischen ihnen und landete, sich wappentierhaft gegen den Abendhimmel abzeichnend, auf einem Ast. »Dreißigjähriger Krieg«, dachte mein müder Kopf. Und: »So nahmen wir um Michaelis Regensburg ein, in der Frühe.«

Drei Polizisten gingen in einiger Entfernung über die Straße, und es sah so aus, als hielten sie einander an den Händen. Es war schon die Stunde, da die Kofferräume der überall in die Siedlung heimkehrenden Familien ein wenig länger offen bleiben durften. Menschen waren zusammen einkaufen gewesen. Und nun hing auch junger, frischer Frühlingsgeruch in der Luft. Es würde Marianne bestimmt überraschen, dass ich nach Hause kam. Vielleicht war sie gar nicht da und würde erst zu später Nachtzeit zurückkehren, wenn überall im Bezirk die Schornsteine zu knistern und zu wachsen begannen. Ich schaltete mein iPhone wieder ein.

10

Beim Betreten des Hauses fiel mir der ungute Geruch auf, der im Treppenhaus hing. Nein, Rauch war es nicht, auch kein Gas. Keiner der gefährlichen Gerüche. Er wurde stärker, je weiter ich meinen schweren Koffer nach oben trug. Jemand hatte in allen Halbstöcken die Fenster aufgemacht. Vor der Wohnungstür war er fast unerträglich. Ich bemerkte, wie sich meine Gesichtszüge auf »besorgt« stellten, noch bevor konkrete Gedanken da waren. Ein grausiger Geschmack stieg mir in die Kehle. Ich fingerte den Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf.

Nie werde ich den Anblick vergessen, der sich mir beim Öffnen der Tür bot. Überall, auf dem Boden liegend oder an die Wände gekauert, lagerten fremde Menschen. Im Vorzimmer waren es sechs. Aber man sah sofort, dass es in allen Räumen der Wohnung auf ähnliche Weise weiterging. Es waren alte und junge. Bündelweise. Sie lagen auf Matten oder auf Kartonstücken. Ihre Kleidung war in miserablem Zustand, sie war zerrissen, fleckig, verschmolzen mit ihren Trägern. Die meisten Männer hatten zerzauste Bärte.

Ich muss wohl einige Zeit regungslos dagestanden sein. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist die aufrecht schreitende Person – die einzige unter all den Kauernden –, die im Türrahmen zum Wohnzimmer erschien. Sie schaute nicht in meine Richtung. Sie beugte sich zu einem der einquartierten Menschen hinunter und reichte ihm etwas, das er im Liegen wie eine Schlafpuppe umherzen konnte: Es war meine Kaffeetasse mit dem Mandelbrot-Muster. Still sich bedankend, hob der Mensch den Kopf, dann rollte er sich wieder zusammen. Wer waren diese Leute? Woher kamen sie? Die aufrechte Person war Marianne. Sie verschwand nun im hinteren Teil der Wohnung, in der übrigens kaum Lampen brannten. Alle Zimmer lagen in dämmrigem Halblicht.

Natürlich lief ich ihr hinterher. Jeder hätte demselben Impuls nachgegeben. Ich ging wie auf Schnee, mit seltsam gedämpften Schritten. Marianne war auf den Balkon hinausgetreten. Ich konnte ihre Gestalt gerade noch gegen die dürftigen Lichtquellen der Nachbarbalkone erkennen, sie beugte sich nieder und richtete sich wieder auf. Ich machte ein paar hastige Schritte in mein Arbeitszimmer, hielt dabei eine Münze in meiner Hosentasche fest umklammert und atmete durch ein Nadelöhr. Vielleicht war das der Tod. Es roch sehr feucht in meinem Zimmer, nach Hafenwasser. Ich wollte brüllen. Wer sind diese Leute? Aber das Ungeheure der Frage lähmte jede Möglichkeit der Artikulation.

Auch in meinem Bett wurde gelitten. Vier Männer hatte man dort untergebracht. Sie lagen eng aneinandergeschmiegt und atmeten schwer. Unter meinem Arbeitstisch lagerten ebenfalls vier Gestalten, alle in Wolldecken gehüllt, es waren Jugendliche. Einer von ihnen schaute mich an. Er hielt seinen Mund etwas schief und hatte die Lippen ein wenig gespitzt. Vor ihm auf dem Boden lag meine Elektrozahnbürste mitsamt dem Aufladekabel. Die meisten Decken, die Marianne offenbar verteilt hatte, waren mir neu. Nur einige wenige erkannte ich. Da war zum Beispiel die Fernsehdecke, in die ich sonst meine Füße wickelte. Ich verließ das Zimmer. In meinem Mund sammelte sich Spucke, aber ich konnte nicht mehr schlucken. Da ich sonst nichts zu tun wusste, legte ich meinen Wohnungsschlüssel vorsichtig in die vergoldete Schale im Wohnzimmer. Auch hier lagen Menschen auf dem Boden. So viele. Zerlumpt und siech, mit selbst im Dämmerlicht gut erkennbaren Schwären auf der Haut. Und einige wenige Fliegen surrten, Frühstarter im Kirchenjahr. Man sah sie nicht, aber hörte sie. Das Gewand, das Marianne trug, war von der Farbe alter steinerner Säulen. Ich nahm es erst jetzt, mit einiger Verzögerung, wahr, und nur der Ausdruck »Norbert Gstrein«, nun vollends fremdartig und bedrohlich geworden, zog wie ein Banner durch meinen Kopf. Meine inneren Windmühlen standen still.

Einer der rund um den Fernseher gruppierten Männer trug ein Hemd mit Charlie-Chaplin-Aufdruck. Für einen kurzen Moment hielt ich mich daran fest, an der Abbildung des Schnurrbarts und der Melone. Der Mann hatte die Augen geschlossen und umklammerte mit seiner Hand einen Schulterzipfel des Hemdes. Hier im Wohnzimmer war der Gestank am schlimmsten. Süßliche und grelle Reize wechselten sich mit bitteren und herben ab. Und der Anblick der nebeneinander liegenden, ja wie in einem unheimlichen Holzschnitt eng umeinander geschlungenen elenden Körper erinnerte mich an eine Dokumentation über Sklavenschiffe, die ich vor längerer Zeit gesehen hatte. Aber diese Menschen waren freiwillig hier. Sie alle wirkten erleichtert, in Sicherheit, am Ziel. Es war genau dieser Augenblick, als mir klar wurde, dass ich das alles hier niemals hätte sehen dürfen.

Marianne trat vom Balkon in die Wohnung. Zuerst erkannte ich ihr Gesicht nicht, ihren Ausdruck. Ich dachte, dass es an den schummrigen Lichtverhältnissen liegen musste, die sie so fremd aussehen ließen. Aber dann verstand ich: Sie war glücklich. Ja, so sah das aus. Zugleich wurde mir klar, dass diese Freude, diese selbstverständliche Heiterkeit zumindest in meiner Gegenwart bislang immer gefehlt hatte, egal wie freundlich und gelöst unser Umgang gewesen war. Sie blühte geradezu, wie in stillem Stolz. Wo sonst sah man solche Freude? Vielleicht in diesem Gemälde von Breughel, »Die Bauernhochzeit«, im Gesicht der am Tisch sitzenden Braut. Aber immerhin verstand ich, dass das hier, dieses mir so vollends unbegreifliche Lazarett in unserer Wohnung, die reale Welt war. Für alles außerhalb dieser Welt hatte es bei Marianne immer Verstellung gebraucht, Selbstbeherrschung und Geduld. Es war nicht ihr Leben gewesen.

Vorsichtig trat sie über einige der auf dem Wohnzimmerboden lagernden Männer und kam so, in einer etwas ungelenk wirkenden Seitwärtsdrift, langsam auf mich zu. Der schlimme Geruch wurde dabei, vermutlich weil ihre Bewegungen die Luft im Zimmer verwirbelten, noch etwas stärker. Marianne sah mich, aber sie sagte nichts. Ich glaubte ihr den Weg zu versperren und sie so zumindest zu irgendeiner Art von Konfrontation zu zwingen. Aber dann schritt sie, nach einem knappen Kopfschütteln, mit einem Mal auf mich zu und, ohne mich auch nur im Geringsten zu streifen, an mir vorbei. »Unsinn«, hörte ich sie murmeln.

Staunend wandte ich mich um und sah, wie sie sich zu einem unter unserem Barometer kauernden älteren Mann niederbeugte. Ihm fehlten Nase und Ohr, dazu hatte er einige kahle Stellen auf seinem Kopf. Er sah aus, als hätte er viele Tage und Nächte ratlos und wartend in irgendeiner mörderischen Wüste zugebracht. Ich glaubte zu erkennen, dass er sich leise bei Marianne bedankte. Dafür erhielt er von ihr so etwas wie einen Kuss auf die Stirn, dann sank er zurück auf seinen Karton und rollte sich in seine Decke.

Das alte Haus

Ich hielt einen Kamm, mein Anzug war braun, am Horizont drehten sich Kräne. Es war ein grellweiß verputztes Haus in der Vorstadt. Ich stellte mich als »Peter Ulrichsdorfer« vor. Der Vater der (laut Klingelschild) Familie Scheuch, ein schnauzbärtiger Mann, hörte sich meine Bitte an, nickte, streckte mir die Hand entgegen und sagte, ja, kein Problem, ich könne mich gern ein wenig umsehen. Nur herein, bitte. Vielleicht würde ich ja tatsächlich etwas wiedererkennen.

»Wann genau haben Sie denn hier gewohnt?«, fragte er mich.

»Vor sehr langer Zeit«, sagte ich. »Ich bin als Kind oft umgezogen, aber hier waren wir am längsten, fast sieben Jahre. Bis ich dreizehn war, ungefähr.«

Ich legte eine Hand auf den Türrahmen, der neu aussah, und zog sie gleich wieder weg, als wäre ich enttäuscht.

»Ach so, ja«, sagte Herr Scheuch und legte einen Finger auf sein Kinn, als müsste er nachdenken. »Wir sind letzten Sommer eingezogen. Vorher hat hier eine alte Frau gewohnt. Zuser.«

»Zuser«, wiederholte ich nachdenklich. »Nein, sagt mir nichts.«

Ich schritt ins Vorzimmer des Hauses. Zwei Kinder standen dort. Als sie mich sahen, verschwanden sie in Richtung Treppe. Und, Jackpot, eine Ehefrau gab es auch, Herr Scheuch erklärte ihr kurz, weshalb ich hier war. Daraufhin stellte sie sich, Friede sei mit ihr, in einiger Entfernung auf und tat so, als beschäftige sie sich mit den Gegenständen in einem der Regale. Herrlich! Ich kannte dieses wachsame Woanders-Hinschauen, es war mir inzwischen so geläufig wie früher die verschiedenen Ohrenstellungen meines Hundes Jeff. Eine bestimmte Stellung bedeutete Alarm, eine andere Entspannung, eine andere Spielfreude, und so weiter. Ich wüsste sehr gern, wie es Jeff heute geht. Von den Leuten, bei denen er jetzt wohnt, hat man mir erzählt, dass es gute Menschen seien. Gute Menschen mit einem großen Herz.

»Ja, hier, dieses Zimmer, genau«, sagte ich und deutete im Kreis herum. »Aber es ist doch alles sehr verändert.«

»Och«, sagte Herr Scheuch.

»Aber damals war ich auch kleiner«, sagte ich.

Ich ging also in die Hocke und schaute zur Decke empor. Außerdem steckte ich den Kamm zurück in meine Brusttasche, er hatte seine Aufgabe erledigt. Nichts wirkt so unschuldig wie ein Mann, der sich, bevor er an deiner Tür klingelt, noch eben rasch gekämmt hat.

»Hier geht es zur Küche«, sagte Herr Scheuch.

Ich erhob mich und ging ihm einige Schritte hinterher.

»Aber das hier ist alles von uns«, sagte er.

»Jaja, ich seh schon«, sagte ich. »Es ist wirklich sehr nett, dass Sie mich mein altes Zuhause anschauen lassen.«

Ich ging zurück ins Wohnzimmer.

»Dürfte ich mir das da hinten ansehen? Da war ich immer nach der Schule, glaub ich.«

Herr Scheuch nickte.

»Ja, ja natürlich«, sagte er, »ich hab ja Verständnis für … für Ihre Situation. Wie gesagt, Sie können sich gern umsehen.«

Ich machte einen unsicheren Schritt nach vorne, in Richtung des zweiten Raumes, der rechts neben der Eingangstür lag, aber dann blieb ich stehen und stützte mich an der Lehne des schweren Fauteuils ab. Als wäre mir schwarz vor Augen geworden, hielt ich eine Hand vor mein Gesicht und schüttelte langsam den Kopf.

»Geht's Ihnen nicht gut?«, fragte die Frau.

Aber es klang wie abgelesen. Sie war noch nicht in der Szene, noch nicht in character.

Herr Scheuch, dessen Vornamen ich gerne gewusst hätte, ging in die Küche. Er kam mit einem Glas Wasser zurück. Er besaß eines jener grübchenreichen, unfreiwillig dauervergnügten Gesichter, wie Gott es all jenen mitgibt, die man etwas zu früh aus ihrem Kokon drückt.

»Hier bitte«, sagte er.

Jetzt erst fiel mir auf, dass er ziemlich durchtrainiert aussah. Das Gesicht hatte mich abgelenkt. Sein Bizeps spannte den Stoff seines Hemdes, als er mir das Glas hinhielt. Und auch am Hals gab es deutlich sichtbare Muskeln.

»Es geht schon«, sagte ich, »danke. Es ist nur diese Wucht. Dass sich alles so verändert hat. Ich bin seither so oft umgezogen. Sogar in Schweden hab ich gewohnt.«

Schweden deshalb, weil gerade der Buchstabe S dran war. R war letztes Wochenende gewesen, in dem Gespräch mit der tätowierten Reptilienfrau im Typhoid Club in der Rechbauerstraße. Rumänien.

»Ah, Schweden«, sagte Herr Scheuch. »Wo denn?«

»Es ist alles so verändert hier«, klagte ich. »Es tut mir leid.«

»Naja«, sagte die Frau. »Verändert, hm.«

»Und was ist damit?«, fragte Herr Scheuch und deutete auf ein altes Klavier. »Das stand schon da, als wir eingezogen sind.«

»Nein«, schüttelte ich den Kopf. »Nie gesehen.«

Er schien davon tatsächlich ein wenig enttäuscht. Vielleicht würde er nun, so wie die meisten, beginnen, mir sein Haus vorzuführen, ob irgendeiner der Winkel und Gegenstände vielleicht meine Erinnerung berühren konnte, aber nein, er nickte nur und sagte:

»Ah, so, ja. Und wo genau in Schweden?«

»Stockholm«, sagte ich. »Aber wie gesagt, das war nur kurz. Meine Familie ist ziemlich oft umgezogen.«

»Stimmt, haben Sie erwähnt«, sagte der Mann. »Ich war da immer sehr gern. In Stockholm.«

»Könnte ich«, begann ich. »Könnte ich, ich meine … Wäre es ein Problem, wenn ich mir noch den Garten ansehen würde? Sie waren wirklich sehr freundlich.«

Eine Pause entstand. Dann sagte Herr Scheuch:

»Aber nein, kein Problem. Hier, bitte, Sie sehen ja die Tür.«

Er zeigte auf eine hohe gläserne Terrassentür. Ich deutete eine dankbare Verbeugung an und ging durch die Tür in den Garten. Die frische Luft war jetzt genau das Richtige, einen Augenblick konnte man so noch Ruhe und Gewissheit atmen, bevor die notwendigen Schritte eingeleitet wurden. Eine weiße Gießkanne stand im Gras neben einem fernsteuerbaren Spielzeugauto. Und weiter hinten eine hässliche, müde Hollywoodschaukel.

Als ich mich umdrehte und aus dem Garten zurück ins Wohnzimmer der Familie Scheuch gehen wollte, standen auf einmal zwei Männer vor mir. Der eine war Herr Scheuch, der andere seine ungenaue Kopie. Nicht nur, dass sie einander ähnlich sahen, sie trugen auch dieselbe Art von schlampig kariertem Hemd, aber die schlechte Kopie war um einen halben Kopf größer als Herr Scheuch.

»Mein Bruder«, sagte der Gastgeber.

»Alex«, sagte der Mann und legte eine Hand auf seine Brust.

»Angenehm«, sagte ich. »Peter Ulrichdorfer.«

»Wie?«, sagte der Bruder und neigte sich etwas zu mir herunter, um besser hören zu können.

»Ulrichdorfer.«

»Aha«, sagte er.

»Ulrichsdorfer oder Ulrichdorfer?«, fragte Herr Scheuch.

»Ohne s«, sagte ich. »Obwohl die meisten Briefe, die ich erhalte, an das überzählige s adressiert sind, haha.«

Die Männer deuteten ein Lächeln an.

Ich bemerkte, dass der Bruder namens Alex etwas unter seinen Arm geklemmt hatte. Es war ein Fotoalbum.

»Und, erkennen Sie irgendwas wieder?«

»Es ist alles so anders«, sagte ich. »Aber es ist wirklich nett von Ihnen, dass Sie mir erlaubt haben, mich überall … Sagen Sie, haben Sie im Garten viel verändert?«

»Wir wollten Ihnen noch das hier zeigen«, sagte Herr Scheuch und deutete auf das Fotoalbum unter dem Arm seines Bruders.

»Das hat die alte Frau Zuser dagelassen«, sagte Alex.

Die Männer lachten über diese Bemerkung.

Wir gingen zurück ins Wohnzimmer. Herr Scheuch schloss die Terrassentür hinter mir. Es werde langsam kalt, meinte er. Vielleicht würde später noch Regen kommen.

»Ja dann, vielen Dank«, sagte ich.

»Sorry, ich bin vorhin zu spät gekommen«, sagte der Bruder. »Sagen Sie noch mal, in welchem Zimmer haben Sie gewohnt?«

Er legte mir eine Hand auf die Schulter.

»Ach, das war oben. Eines der Kinderzimmer. Aber ich habe Ihre Geduld schon viel zu lang …«

»Nein, nein, kein Problem«, sagte Herr Scheuch.

Ich bedankte mich herzlich bei den beiden Männern, auch der Frau winkte ich zu und machte einige Schritte in Richtung Tür. Dabei ließ ich eine Hand in die Tasche des Leihanzugs gleiten und umklammerte den Stunmaster 500.

»Sehen Sie mal hier«, sagte Alex. »Erkennen Sie das vielleicht wieder? So hat die Einfahrt ausgesehen, bevor wir gekommen sind.«

Ich beugte mich zu dem Bild und nickte.

»Ja, ein bisschen sieht das so aus wie damals. Aber ich weiß nicht, ich glaube, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut.«

»Siehst du? Sein Gedächtnis ist schlecht«, sagte Herr Scheuch zu Alex.

»Ja, das alte Problem«, sagte Alex und blätterte um. »Und wie schaut das hier aus?«

»Auch sehr fremd«, sagte ich.

»Och«, sagte Alex und schüttelte den Kopf.

Sein Halsbereich wäre nun leicht zu erreichen, dachte ich. Die Kontakte des Stunmasters waren schon etwas abgenutzt, man musste oft fester zustoßen, ein zusätzliches Risiko. Ich blickte zur Seite, auf Herrn Scheuch. Er hielt eine schwere Vorhangstange in der Hand. Mit der konnte man vermutlich einem Rhinozeros den Schädel einschlagen. Aber er tat so, als ärgere er sich, dass ihm das Ding aus Versehen in die Hand geraten war, und lehnte die Stange neben sich in eine Zimmerecke.

»Möchten Sie sich vielleicht noch hinsetzen und die Bilder durchschauen?«, fragte Alex und hielt mir das Fotoalbum hin.

»Oh …«

»Es sei denn, es ist alles viel zu emotional für Sie oder so.«

»Nein, nein«, sagte ich. »Wirklich sehr freundlich von Ihnen.«

»Er erkennt nichts wieder«, sagte Herr Scheuch.

In diesem Augenblick trat Frau Scheuch neben mich. Sie hielt einen Teller, darauf lag ein Stück Kuchen. Es war dunkelgelb.

Wir saßen auf dem Sofa. Ich hatte das Fotoalbum in der Hand und dachte ein Wort: unprofessionell. Das Album in der Hand zu halten und darin zu blättern war unprofessionell. Mich mit Kuchen bewirten zu lassen war unprofessionell.

»Ja, das Zimmer oben«, sagte Scheuch. »Welches war es denn?«

Ich dachte nach und wiegte unsicher den Kopf hin und her, aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.

»Zum Garten raus oder zur Straße?«, half mir der Bruder weiter.

Es klang nicht ganz ernst.

»Zum Garten«, sagte ich, als wäre es mir gerade erst jetzt wieder eingefallen.

Die Männer wechselten einen Blick.

»Genau, den Garten haben Sie ja schon gesehen«, sagte Alex.

»Wissen Sie, das könnte tatsächlich ein Problem werden, Ihr altes Zimmer anzusehen«, sagte Herr Scheuch. »Das ist nicht persönlich gemeint, Herr Ulrichdorfer, sorry, Ulrichsdorfer, es ist nur so, dass der Jeremias jetzt drin wohnt. Wir sagen Jerry zu ihm.«

»Oh, ist okay«, sagte ich, »ich wollte nur einmal das Haus wiedersehen. Der Eindruck ist ohnehin nicht der, den ich mir erwartet habe.«

Mit solchen leicht vorwurfsvollen Formulierungen hatte ich in der Vergangenheit oft Erfolg gehabt. Aber hier blieb sie wirkungslos.

»Naja, wir könnten ihn schon fragen«, meinte der Bruder.

Herr Scheuch lehnte den Kopf zur Seite und schüttelte ihn:

»Nein, das bringt ihn nur durcheinander.«

»Jaja, das schon«, sagte Alex. »Aber er«, er deutete mit dem Daumen auf mich, »er ist immerhin im Haus seiner Kindheit, das ist eine emotionale Situation, und er kann sein altes Zimmer nicht betreten, nicht einmal für eine Sekunde, da hilft es vielleicht«, bei diesem Wort berührte er meine Schulter, »wenn man es ihm sagt.«

Eine Weile schwiegen alle. Ich bemerkte, dass der Teller mit Kuchen inzwischen auf dem Boden stand, direkt neben meinen Füßen. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn dort hingestellt zu haben.

»Ist Ihr Sohn krank?«, fragte ich.

»Unser Sohn?«, fragte Herr Scheuch.

»Der war gut«, sagte Alex.

»Nein, nein«, sagte Herr Scheuch. »Der Jeremias wohnt da oben. Er hat einen Finger verloren.«

»Einen Finger?«

Herr Scheuch und sein Bruder schauten sich an. Eine stumme Entscheidung wurde getroffen. Herr Scheuch seufzte, hob dann die Hand und zeigte mir den Mittelfinger, fuck you.

»Nicht erschrecken«, sagte er. »Dieser hier. Dieser Finger hier fehlt ihm. Sehen Sie?«

»Ja, das war grauenvoll«, sagte der Bruder. »Es ist ja nicht allein die Tatsache, dass er einen Finger verloren hat, sondern die Art, wie –«

»Ja, wie gesagt, ich weiß nicht«, unterbrach ihn Herr Scheuch.

»Wir haben angefangen«, sagte der Bruder, »also müssen wir auch … Sonst ist es unfair, oder?« Er wandte sich zu mir. »Er hat ihn sich selbst abgenagt. Immer wieder.«

»Immer wieder?«

»So wie du das sagst, klingt das, als wär er ihm nachgewachsen«, sagte Herr Scheuch.

»Ich hab gemeint, nicht plötzlich«, korrigierte sich Alex lachend. »Nicht im Affekt, sondern jahrelang, eine kontinuierliche Arbeit.«

Er machte eine Geste mit der Hand, als schneide er die Luft vor ihm in dünne Scheiben.

»Wie hat er das gemacht?«, fragte ich.

»Immer ein bisschen. Hm, wie soll man das erklären.«

»Und das ausgerechnet in Ihrem alten Zimmer«, sagte Herr Scheuch.

»Ja, hm, wie soll man …«, wiederholte der Bruder, und sein Gesicht drückte einen tiefen, mysteriösen Schmerz aus.

»Es sind immer diese langsamen Übergänge im Leben«, sagte Herr Scheuch. »Die sind das Problem, nicht die raschen. Jeden Tag ein kleines bisschen weniger, fünf Jahre lang. Bis der Finger dann irgendwann … hm. Ich weiß nicht, warum man das so schlecht wahrnimmt. Ich meine, wir haben nicht weggeschaut, das nicht. Wir geben schon acht aufeinander.«

Der Bruder schüttelte auf zustimmende Weise den Kopf.

»Muss so sein wie in diesen Alcatrazfilmen«, fuhr Herr Scheuch fort, »wo die jahrzehntelang mit einem Teelöffel einen Tunnel graben oder so. Und der Tunnel wächst jeden Tag, naja, wie viel Millimeter werden das sein, Alex?«

Der Bruder hob die Schultern gleichzeitig mit den Augenbrauen, dann bekam sein Gesicht einen nachdenklich rechnerischen Ausdruck und er sagte:

»Naja, sicher verschwindend gering. Ein, zwei Millimeter am Tag, maximal.«

»Ja, und –«

»Wenn überhaupt«, ergänzte der Bruder.

»Und so erklären wir uns das«, sagte Herr Scheuch. »Aber die Wahrheit weiß am Ende natürlich nur Gott.«

»Absolut«, sagte Alex.

Und dann hefteten sich die Augen beider Männer wieder auf mich.

»Wow«, sagte ich. »Das ist wirklich … Wow.«

Eine ungeheure Enttäuschung breitete sich in mir aus. So musste es sich anfühlen, wieder und wieder aus seinem Heim vertrieben zu werden.

»Verstörend, ja«, sagte Herr Scheuch. »Da oben in Ihrem Zimmer, zum Garten raus.«

»Dieser Finger«, sagte Alex und zeigte mir noch einmal die Geste. »Auch noch der längste.«

Die beiden Männer standen gleichzeitig auf. Im Bemühen, ein zumindest gleichschenkeliges Kräftedreieck mit ihnen zu bilden, erhob ich mich ebenfalls. Aber da das Fotoalbum noch auf meinen Knien gelegen war, fiel es mir auf den Boden. Als ich mich danach bückte, rutschte der Stunmaster aus meiner Tasche.

Der Bruder bückte sich danach.

»Schau«, sagte er und gab das Gerät an Herrn Scheuch weiter.

Der wischte mit der Hand darüber und betrachtete es, schaltete es ein, schaltete es aus. Dann gab er es mir zurück.

»Und, erkennen Sie wirklich nichts wieder?«, fragte der Bruder und legte mir seine Hand auf den Rücken.

Sanft geleitete er mich zur Tür.

»Ich weiß nicht«, sagte ich.