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»Ich finde es durchaus ehrenwert und korrekt, Zitate zu erfinden. Ich mache das öfter«, heißt es in Clemens J. Setz’ »Gedankenspielen über die Wahrheit«. Wie genau nimmt es der Büchner-Preisträger hier nun mit der Wahrheit? Er wartet auf mit originellen Funden aus Literatur, Film und Geschichte. Es ist ein geistreich-fingerfertiges Herantasten an den Wahrheitsbegriff. Zugleich zeigt Setz, wie festes Wissen und (scheinbare) Wahrheiten ausgelegt oder in Frage gestellt werden können.
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Seitenzahl: 27
Clemens J. Setz
Gedankenspiele über die
Wahrheit
Literaturverlag Droschl
James Hogg (1770–1835) ist eine Ausnahme unter den Schäferdichtern, denn er hütete bis zu seinem 40. Lebensjahr tatsächlich Schafe.
Klappentext der Reclam-Ausgabe von Hoggs »Die privaten Memoiren und Bekenntnisse eines gerechtfertigten Sünders«
Vielleicht ist nichts ganz wahr – und sogar das nicht.
Multatuli (Eduard Douwes Dekker)
1. Willemsens Version
Ich bekenne: Ich liebe Roger Willemsen. Vor allem seine Reisebücher. Dabei glaube ich nicht unbedingt an ihren Wahrheitsgehalt. Dieser spielt für mich keine besondere Rolle, obwohl Willemsen selbst viele der Anekdoten in Interviews und bei Liveauftritten durchaus als authentisch darstellte. In dem 2010 erschienenen Buch Die Enden der Welt, vielleicht seinem besten, erzählt er folgende amüsante Anekdote über den österreichischen Dichter Franz Grillparzer:
»Ich erzähle ihnen, wie gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Dichter Franz Grillparzer an die Adria reiste, um zum ersten Mal das Meer zu sehen, das er nicht fotografiert oder gefilmt kennen konnte. Ich berichte, wie wir Leser den Atem anhalten, tritt doch hier ein Dichter, ein Mann des Wortes, zum ersten Mal in seinem Leben vor das Original des Ozeans, und was schreibt er in sein Tagebuch: ›So hatte ich’s mir nicht gedacht.‹«
Willemsen hatte diese Geschichte mit der unschlagbaren Pointe offenbar sehr gern, denn er erwähnte sie bei jeder seiner Lesungen, die ich über die Jahre besuchte, und ich las sie auch in einem Interview mit Jan Drees: »Mir fällt«, sagt Willemsen da, »immer eine Episode in den Tagebüchern von Grillparzer ein, der ein eher misanthropischer Mann war und der irgendwann einmal zum ersten Mal zum Ozean reist und wir halten den Atem an, was nicht häufig vorkommt bei Grillparzer, und denken: Wie wird ein Mann, der es nie gefilmt gesehen hat, das Meer sehen? Wie wird er das beschreiben? Und er reist ans Meer. Er steht davor. Und Grillparzer schreibt ins Tagebuch: So hatte ich es mir nicht vorgestellt.«
Grillparzers Tagebücher sollte man unbedingt lesen. Ein herrlicher Brummfetzen. Eine Art Ein-Mann-Twitter im Österreich des 19. Jahrhunderts: schlechtgelaunt, sensibel, reich an Einsichten, reich an Intrigen-Spürsinn, störungsängstlich, poetisch intense, streng im Urteil. Nachdem ich dieser anmutigen Grillparzer-Anekdote nun so oft in Willemsens Worten begegnet war, interessierte es mich natürlich, die Originalstelle zu finden. Ich suchte – und fand sie nicht. Der Grund dafür war allerdings nicht, dass Willemsen sie etwa erfunden hatte, nein, sie hatte sich in seinem Gedächtnis, vielleicht im Strom ihrer häufigen Wiedergabe, abgeschliffen und verschlankt und verjüngt, hatte so viel Ballast abgeworfen, bis am Ende nur noch jener einzelne ikonische Satz übrig blieb, der durchaus auf einer Stufe steht mit anderen gewichtig-weltbewegenden lakonischen Erzählsätzen der Weltliteratur wie z. B. »Kein Geistlicher hat ihn begleitet« oder »An diesem Tage lasen wir nicht weiter«.
Es stellte sich heraus, dass ich die Stelle längst kannte. Sie enthält den berühmten Satz allerdings nur als einen unter vielen ähnlichen. Und es ist sogar, ganz entgegen dem Eindruck, den Willemsens Wiedergabe erweckt, eine überraschend ausführliche und erregte Beschreibung des Meeres. Grillparzer sah es zum ersten Mal von Villa Opicina aus, dem Vorort von Triest, von wo man heute mit einer charmanten altertümlichen Straßenbahn über den Berg hinunter in die schöne Stadt schweben kann. Die Stelle lautet so: