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Es ist noch keine fünfzig Jahre her, dass Entwicklungspsychologen im Säugling ein geschlossenes, von der Umwelt abgeschnittenes System gesehen haben. Erst mit der Säuglingsbeobachtung ist es zu einem bemerkenswerten Wandel gekommen mit der Folge, dass es heute eine breite Vielfalt von Auffassungen zum Säugling gibt. Der von der Kinder- und Jugendpsychiaterin Annette Streeck-Fischer herausgegebene Band versammelt die wichtigsten psychoanalytischen Entwicklungspsychologien von Sigmund Freud, René Spitz, Margaret Mahler, Anna Freud, Melanie Klein, Donald W. Winnicott, Daniel Stern, Joseph D. Lichtenberg, Louis W. Sander, John Bowlby, Mary Ainsworth, Robert Emde, Rainer Krause, Györgi Gergely, Peter Fonagy, Mary Target und Allen Schore. Sie alle haben eine wichtige Bedeutung nicht nur für die Entwicklungspsychologie, sondern auch für die psychodynamische Diagnostik und Therapie. Keines ihrer Konzepte ist überholt. Sie stellen durchweg wichtiges Grundlagenwissen für Studierende, Praktiker und Kliniker bereit. Jeder Beitrag umfasst drei Abschnitte: Leben und Werk des Autors, seine wichtigsten Arbeiten sowie seine Bedeutung für die heutige psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie.
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Seitenzahl: 483
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Annette Streeck-Fischer (Hg.)
Die frühe Entwicklung – Psychodynamische Entwicklungspsychologien von Freud bis heute
Mit 3 Abbildungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-647-99882-4
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de
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© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.
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Satz: SchwabScantechnik, Göttingen EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim
Inhalt
Vorwort
Teil 1: Psychoanalytische Entwicklungstheorien
Samuel Bayer und Annette Streeck-Fischer
Entwicklungstheoretische Ansätze von Sigmund Freud
Lucie Loycke-Willerding
René A. Spitz: Seine Erkenntnisse und Folgerungen aus der direkten Säuglingsbeobachtung
Annette Streeck-Fischer
Margaret Mahler und ihr Entwicklungsmodell
Samuel Bayer und Charline Logé
Anna Freud: Ich-Psychologie, Abwehr und Kinderanalyse
Nikolas Heim
Melanie Klein: Von der Analyse des Kindes zur Begründung der Objektbeziehungstheorie
Lydia Kruska
Donald W. Winnicott – Good enough is good enough!
Teil 2: Säuglingsbeobachtung und daraus folgende Entwicklungstheorien
Anna da Coll und Lucia Röder
Daniel N. Stern: Die Entwicklungstheorie des Selbst
Anikó Zeisler
Robert N. Emde – von den Grundmotiven zur Selbstentwicklung
Adrian Kind
Joseph D. Lichtenberg: Psychoanalyse und Kleinkindforschung – Folgerungen für die Selbstentwicklung
Nora Martinkat
Louis Wilson Sander – Stufen der Entwicklung
Ulrike Mensen und Ricarda Ostermann
Bindungstheorie nach Bowlby und Ainsworth
Teil 3: Neuere Entwicklungstheorien
Jenny Kaiser
Rainer Krause – Die Rolle der Affekte in der neueren analytischen Entwicklungspsychologie
Julius Kohlhoff
György Gergely: Die Entwicklung des affektiven Selbst
Peter Nyssen
Peter Fonagy mit Mary Target: Das Entwicklungskonzept der Mentalisierung
Tobias Becker und Annette Streeck-Fischer
Allan N. Schore – Die rechte Gehirnhemisphäre in der frühen Entwicklung
Entwicklungstheorien im Vergleich – grafische Übersicht
Die Autoren und Autorinnen
Vorwort
Seit den Anfängen der Psychoanalyse haben sich die Theorien zur Psychologie der Entwicklung erheblich verändert. Ausgehend von der Trieblehre wurde die frühe Zeit des Säuglings mit der Vogeleimetapher veranschaulicht (Freud, 1911/1964, S. 232): Danach lebt der Säugling in einem von Reizen weitgehend abgeschlossenen psychischen System, kaum etwas von seiner Umwelt wahrneh-mend, lediglich auf Wärme- und Nahrungszufuhr angewiesen und nur dann eine gewisse Öffnung zur äußeren Realität zulassend, wenn die halluzinatorische Wunscherfüllung versagt. Die Auffassung, die sich in dieser Annahme widerspiegelt, hat noch bis vor etwa fünfzig Jahren auch das Laienwissen geprägt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie meine Mutter einer Bekannten gegenüber die Bemerkung fallen ließ, dass sie in den ersten drei Lebensmonaten ihres Säuglings ganz beruhigt wegfahren könne; das mache gar nichts, weil das Baby davon nichts merke. Glücklicherweise hat sie diesen Rat bei ihrer eigenen Tochter nicht umgesetzt.
Mit dem viel beachteten Buch von Martin Dornes »Der kompetente Säugling« (1993) hat das veränderte Bild der frühen Entwicklung weite Verbreitung gefunden, was der Säugling alles kann. Verfeinerte Untersuchungsmethoden und differenzierte Beobachtungen haben die vielfältigen Fähigkeiten des Säuglings sowie die Bedeutung der frühen Pflegeperson für seine Entwicklung erkennen lassen und schließlich zu einem Paradigmenwechsel geführt, der die Psychoanalyse in erheblichem Maße beeinflusst hat. Wurde die Entwicklung ursprünglich als ein anlagebedingter, genuiner Prozess verstanden, wird darin mittlerweile ein interpersonelles Geschehen gesehen. Die damit einhergehende Modernisierungsbewegung hat nicht zuletzt zu neuen therapeutischen Konzepten geführt, die statt auf die individuelle seelische Binnenwelt auf zwischenmenschliche Bezogenheit und Intersubjektivität zentrieren. Zugleich waren und sind die modernen Entwicklungsauffassungen auch Anlass zu weitreichenden Kontroversen, zumal im Hinblick auf die fundamentale Frage, was noch oder was nicht mehr als psychoanalytisch gelten soll. So hat André Green (2006) die Entwicklungstheorie Daniels Sterns dahingehend kritisiert, dass sie nicht wissenschaftlich sei, sondern Science-Fiction, gründe Sterns Theorie doch in Beobachtungen von außen, erfasse aber die innere Welt eines Säuglings nicht. Gegenstand der Psychoanalyse, so Green, müsse jedoch das dynamische Unbewusste sein, das im Zentrum der psychoanalytischen Entwicklungstheorien stehe. Diese meinen, die Welt des Säuglings aus den Erfahrungen mit erwachsenen Patienten rekonstruieren zu können.
Während auf der einen Seite eine beziehungsfokussierte, relationale Orientierung in der modernen Psychoanalyse an Bedeutung gewinnt, wird von anderer Seite kritisiert, dass damit einer Oberflächlichkeit und Konformität im Dienste gesellschaftlicher Anpassung zugearbeitet werde, mit der der Reichtum, die Komplexität und die Rätselhaftigkeit eines jeden Augenblicks menschlicher Erfahrung verloren gehe. Während auf der einen Seite das Bemühen im Vordergrund steht, mit der Orientierung an wissenschaftlichen Erkenntnissen der frühen Entwicklung die Psychoanalyse anschlussfähig zu halten und auch neurobiologische Befunde des wachsenden Gehirns zu integrieren, wird auf der anderen Seite eine derartige Verwissenschaftlichung abgelehnt, weil damit der Geist der Psychoanalyse verfälscht werde. Bemühungen, konfligierende Theorien zu einem »Common Ground« zusammenzuführen, begrüßen einige, andere tun sie aber als Illusion ab.
Wenngleich mit den psychoanalytischen und psychodynamischen Entwicklungspsychologien einiger Zündstoff verbunden ist, so ist doch allen die Überzeugung von der Bedeutung der frühen Lebenserfahrungen und insbesondere für die Entwicklung der Persönlichkeit gemein. Allen Theorien liegen Beobachtungen an Säuglingen und Kindern zugrunde, auch wenn ihre Konstrukte von jeweils unterschiedlichen Vorannahmen ausgehen. Dies gilt sowohl für die Entwicklungspsychologen, die die frühen psychoanalytischen Entwicklungstheorien geprägt haben, wie auch für die späteren Entwicklungspsychologen, die sich im Unterschied konsequenter an den Säuglingsbeobachtungen und empirischen Ergebnissen der Säuglingsforschung orientiert haben.
Heute prägen die psychoanalytischen Entwicklungspsychologien sehr weitgehend das Verständnis von psychischen und psychosozialen Störungen. Sie sind nicht zuletzt in gegenwärtig verwendete diagnostische Systeme wie etwa die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) eingegangen.
Seit vielen Jahren beschäftige ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit als Kinder- und Jugendpsychiaterin und -psychotherapeutin sowie Psychoanalytikerin mit den verschiedenen psychoanalytischen Entwicklungspsychologien. Im Zusammenhang mit meiner Lehre an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) in Berlin stellte sich bald heraus, dass es für die Studenten zumeist ein schwieriges und aufwendiges Unterfangen ist, die einschlägige Literatur zu den jeweiligen entwicklungspsychologischen Theorien aufzufinden. Zumeist müssen sie auf die Originalarbeiten zurückgreifen, die allerdings zu einem nicht unerheblichen Teil weit und unübersichtlich verstreut, zum Teil auch vergriffen sind. Sekundärliteratur zu den verschiedenen Entwicklungstheorien ist oftmals weiterhin rar. In Büchern zur Entwicklungspsychologie sind oft weniger die verschiedenen psychoanalytischen Entwicklungspsychologien dargestellt, vielmehr werden stattdessen die eigenen Konzepte der jeweiligen Autoren wiedergegeben, während die Originalarbeiten lediglich kurz zusammengefasst werden, vertiefte Informationen aber nicht erlauben.
Dabei sind die psychoanalytischen und psychodynamischen Entwicklungspsychologien anhaltend und grundsätzlich von erheblicher Bedeutung, sind sie doch nach wie vor die Grundlage psychoanalytischen und psychodynamischen klinischen Verstehens, der Diagnostik und therapeutischer Konzepte.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert:
Im ersten Teil werden die frühen Entwicklungstheorien dargestellt, angefangen mit Sigmund Freud über René Spitz, Margaret Mahler, Anna Freud bis hin zu Melanie Klein. Ihre Theorien werden mit dem sogenannten »rekonstruierten Säugling« in Verbindung gebracht. Eine Ausnahme bildet hier lediglich Donald Winnicott, der in einer bis heute für die Entwicklungspsychologie wie die klinische Praxis aktuellen Weise das interpersonelle Geschehen zwischen Mutter und Kind in den Mittelpunkt stellt.
Der zweite Teil des Buches umfasst die Theorien, denen mehr oder weniger extensive Säuglingsbeobachtungen zugrunde liegen. Neben Daniel Stern kommen Robert Emde, Joseph Lichtenberg und Louis Sander zu Wort. Eine Ausnahme bilden hier John Bowlby und Mary Ainsworth insofern, als für ihre Theorie biologische Annahmen von zentraler Bedeutung sind.
Mit den Arbeiten von Rainer Krause, György Gergely, Peter Fonagy, Mary Target und Allan Schore geht der dritte Teil auf neuere Entwicklungen ein, die aus der Bindungsforschung und Neurobiologie hervorgegangen sind und Theorien der Mentalisierung und Affektentwicklung beeinflusst haben.
Die Autoren der Beiträge dieses Buches waren ausnahmslos Studentinnen und Studenten im Masterstudiengang an der IPU. Sie sind heute in ganz verschiedenen Feldern tätig, die es ihnen erlauben, sich mehr oder weniger intensiv mit den jeweiligen Entwicklungskonzepten auseinanderzusetzen. Ihnen ist es zu verdanken, dass es nun dieses Buch gibt.
Annette Streeck-Fischer
Literatur
Dornes, M. (1993). Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt a. M.: Fischer.
Freud, S. (1911/1964). Formulierungen über die zwei Prinzipien psychischen Geschehens. GW VIII (S. 229–238). Frankfurt a. M.: Fischer.
Green, A. (2006). Das Intrapsychische und das Intersubjektive in der Psychoanalyse. In M. Altmeyer, H. Thomae (Hrsg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse (S. 227–258). Stuttgart: Klett-Cotta.
Teil 1
Psychoanalytische Entwicklungstheorien
Samuel Bayer und Annette Streeck-Fischer
Entwicklungstheoretische Ansätze von Sigmund Freud
Leben und Werk
Sigismund Schlomo (Sigmund) Freud wurde am 6. Mai 1856 als Sohn des jüdischen Textilkaufmanns Jacob Freud und dessen Ehefrau Amalia geb. Nathanson in Freiberg in Mähren, dem heutigen Příbor (Tschechien) geboren. Freud hatte zwei Halbbrüder und sieben jüngere Geschwister. 1860 zog die Familie Freud aus finanziellen Gründen über Leipzig nach Wien. Wenige Jahre vor seinem Tod musste Freud aufgrund des zunehmenden Drucks des NS-Regimes Wien verlassen und emigrierte nach London, wo er 1939 an den Folgen einer Krebserkrankung starb.
Freud studierte ab 1873 Medizin an der Wiener Universität, promovierte (1881) und habilitierte (1885) dort. 1902 wurde er an selbiger Universität zum Professor für Neuropathologie ernannt. In den frühen 1880er Jahren begann er seine Forscherkarriere mit einer Reihe von Untersuchungen zur damals noch weitgehend unbekannten medizinischen Anwendbarkeit des Alkaloids Kokain, insbesondere seiner psychopharmakologischen Wirkungen, die er u. a. im Selbstversuch testete. Während einer Studienreise 1885/86 besuchte Freud die Pariser Nervenklinik Salpêtrière, in der er auf Jean-Martin Charcot traf. Charcot behandelte dort Patientinnen mit seelischen Erkrankungen – schwerpunktmäßig Frauen, die an Hysterie erkrankt waren – mittels Hypnose oder Suggestionen. Dass die hypnotisierten Patientinnen Auskünfte über ihr Erleben gaben, erweckte in Freud das Interesse, die seelischen Hintergründe der Hysterie intensiver zu erforschen. Er schreibt, er habe durch die intensive Lehrzeit bei Charcot erst »klinisch sehen gelernt« (Freud u. Freud, 1980, S. 228), und bot Charcot an, seine Arbeiten ins Deutsche zu übersetzen. 1896 eröffnete er in Wien eine neuropsychiatrische Praxis. Im selben Jahr heiratete er seine Verlobte Martha Bernays (1861–1951). Die beiden bekamen sechs Kinder, u. a. ihre jüngste Tochter Anna Freud, die ebenfalls Psychoanalytikerin wurde.
Durch die Behandlung seiner Patientinnen und Patienten gelangte Freud zu der Auffassung, dass seelischen Störungen, insbesondere der Hysterie, reale, verdrängte traumatische Erfahrungen (in der Regel ein sexueller Missbrauch) zugrunde liegen (Affekt-Trauma-Modell bzw. Verführungstheorie). Freuds Hypothese war, dass mithilfe von Deutungen der spontanen Äußerungen der Patienten auf ihre verschlüsselten Ängste geschlossen werden könne und mit Aufhebung der Verdrängung auch der Grund für die Symptombildung entfalle.
Später relativiert er die Verführungstheorie und ersetzte die Lehre vom pathogenen Trauma durch die Lehre von der konflikthaften Phantasie. 1897 formulierte Freud in einem Brief an Wilhelm Fließ u. a. nach selbstanalytischen Betrachtungen erstmals den sogenannten Ödipuskomplex: »Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit« (zit. nach Masson, 1985, S. 293). Durch diese Weiterentwicklung wurde die psychische Realität zum Hauptgegenstand der Psychoanalyse.
Im Jahre 1899/1900 veröffentlicht Freud eines der Grundlagenwerke der Psychoanalyse: »Die Traumdeutung«. Hier führt er zentrale Begriffe der frühen Psychoanalyse ein. Freud verbindet das bereits vorhandene Wissen um die Konflikthaftigkeit menschlicher Sexualität, den Ödipuskonflikt, die Mechanismen der Psychodynamik und der spezifischen Eigenarten des unbewussten Denkens. Er stellt das Unbewusste als das Eigentliche des Seelenlebens dar: »Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane« (Freud, 1900/1961, S. 617 f.). Im weiteren Verlauf seiner frühen psychoanalytischen Theorieentwicklung begründet er bis 1905 die Triebtheorie als libidotheoretisches Konzept. Sexuelle Wunschregungen gelten als Triebfeder psychischer Geschehnisse und als biologisches Fundament und damit wichtigste motivationale Kraft. Mittels Sublimierung kann der Mensch die unterdrückte Libido in kulturelle Leistungen umwandeln. Träume, Symptome und die sogenannte Psychopathologie des Alltagslebens, in der sich Freud mit der Bedeutung von Vergesslichkeit, Feindseligkeit oder Eifersucht beschäftigt, gelten als verschlüsselte Hinweise auf den Konflikt zwischen menschlichen Wünschen und Verboten.
1905 fokussiert Freud in »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« die menschliche Sexualität, anhand derer er seine Triebtheorie entwickelt und beschreibt (Laplanche u. Pontalis, 1975, Stichwort: Trieb). Er spricht dem Kleinkind erotische Impulse zu und betont den Sexualtrieb als zentrale Antriebskraft menschlichen Verhaltens. Freuds Triebtheorie ist von Beginn an dualistisch aufgebaut: zunächst als Dualismus von Sexualtrieben und Ich- bzw. Selbsterhaltungstrieben (Laplanche u. Pontalis, 1975, Stichwort: Trieb). Mit der Einführung des Todestriebs in »Jenseits des Lustprinzips« (1920) konstatiert er den Triebdualismus von Eros, der den Sexualtrieb und den Lebenserhaltungstrieb zusammenfasst, und Thanatos (Freud, 1920/1963). In »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« beschreibt Freud u. a. die sexuelle Komponente des normalen und des pathogenen Verhaltens.
Während sich Freud zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit der Nervenheilkunde vor allem mit Josef Breuer und Wilhelm Fließ wissenschaftlich austauschte, fand er mit der Veröffentlichung der »Traumdeutung« einen erweiterten Anhängerkreis, mit dem er in der sogenannten Mittwochgesellschaft über die Psychoanalyse und kulturelle Themen diskutierte. 1908 fand in Salzburg der erste internationale psychoanalytische Kongress statt.
1916/17 hielt Freud an der Wiener Universität seine letzte Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse. 1923 entwickelt er in »Das Ich und das Es« sein bekanntes Strukturmodell, bestehend aus Ich, Es und Über-Ich. Das Es stellt das Hauptreservoir psychischer Energie dar. Das Es und die Triebe haben wesentlichen Anteil an der Organisation der Psyche.
Freuds Entwicklungstheorien
Eine der wichtigsten Annahmen Freuds für die psychoanalytische Theoriebildung beruht darauf, dass er der frühen Kindheit eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Menschen beimaß. Auf der Erkenntnis, dass die frühen Entwicklungsprozesse alle wesentlichen Persönlichkeitsfunktionen des späteren Lebens prägen, baute er seine Theorien und sein Behandlungskonzept auf.
Zu betonen ist, dass Freuds Forschungsschwerpunkt primär der Krankheitslehre galt und dass er sich aus der Perspektive der Ätiologie psychischer Erkrankungen mit der Entwicklung des Menschen und des Kindes auseinandersetzte. Seine theoretisch-rekonstruktiven Annahmen zur kindlichen Entwicklung stammen primär aus den Behandlungen erwachsener neurotischer Patienten. Freud spricht deshalb in Bezug auf seine entwicklungspsychologischen Theorien von »Konstruktionen« (u. a. Freud, 1937/1961). Auch die bekannte »Krankheits- und Heilungsgeschichte« des kleinen Hans (1905), auf die im folgenden Kapitel genauer eingegangen wird, stellte keine direkte Behandlung Freuds dar.
Die freudsche Psychoanalyse im Allgemeinen und die entwicklungstheoretischen Überlegungen im Speziellen sind im Kontext seiner Triebtheorie zu betrachten:
Freud ging davon aus, dass unbewusste Triebe im Menschen motivations-und handlungsbestimmend wirken. Es ist ein »dynamischer, in einem Drang bestehender Prozeß (energetische Ladung, motorisches Moment), der den Organismus auf ein Ziel hinstreben läßt« (Laplanche u. Pontalis, 1975, S. 525 f.). Freud entwickelte und untersuchte den Triebbegriff am Modell der Sexualität (Freud, 1905/1961). Er stellte dem Sexualtrieb, den er 1905 einführt, jedoch von vorneherein andere Triebe gegenüber (Laplanche u. Pontalis, 1975, Stichwort: Trieb). So ging Freud zunächst von einem Triebdualismus, bestehend aus Sexualtrieb und Selbsterhaltungstrieb, aus. Dieser Dualismus sei »seit den Anfängen der Sexualität am Werk: seit sich der Sexualtrieb von den Funktionen der Selbsterhaltung ablöst, an die er sich zunächst angelehnt hatte« (Laplanche u. Pontalis, 1975, S. 528).
In »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, die Freud 1915 substanziell ergänzt, definiert er den Begriff des Triebes wie folgt: »Unter einem ›Trieb‹ können wir zunächst nichts anderes verstehen als die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle, zum Unterschiede von ›Reiz‹, der durch vereinzelte und von außen kommende Erregungen hergestellt wird. Trieb ist so einer der Begriffe der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen. […] Was die Triebe voneinander unterscheidet und was sie mit spezifischen Eigenschafen ausstattet, ist deren Beziehung zu ihren somatischen Quellen und zu ihren Zielen. Die Quelle des Triebes ist ein erregender Vorgang in einem Organ und das nächste Ziel liegt in der Aufhebung dieses Organreizes« (Freud, 1905/1961, S. 67).
Freud postuliert, dass Triebe nicht ins Bewusstsein gelangen könnten. Ihre »motivationsbestimmende Kraft [könne] nur aufgrund ihrer Auswirkungen auf das psychische Geschehen bewusst werden« (Tyson u. Tyson, 2009, S. 342). Bewusstseinsfähig seien lediglich sogenannte Triebabkömmlinge oder Triebrepräsentanzen, die im Verhalten eines Menschen, in seinen Gedanken, Impulsen und Wünschen Ausdruck finden können. Freud verknüpft mit dem Triebkonzept körperliche und seelische Vorgänge. Ein Trieb, der nicht mit einer Repräsentanz in Verbindung steht bzw. gleichsam als somatische Quelle persistiert, kann sich im Wiederholungszwang ausdrücken (Freud, 1920/1963) oder – so würde man heute sagen – körperlich bzw. handelnd zum Ausdruck kommen.
In Freuds Arbeiten finden sich nur relativ wenige Äußerungen über die frühe Mutter-Kind-Interaktion. Dennoch wird an einigen Stellen deutlich, wie er diese frühe Entwicklungsphase konzeptualisiert. Triebtheoretisch orientiert, beschreibt Freud in seinen Konzepten den Anderen/das Objekt »als Mittel, über das Bedürfnisbefriedigung gesucht und erlangt wird. Der Säugling erlebt das Objekt im Rahmen libidinöser Befriedigung« (Tyson u. Tyson, 2009, S. 80). Da die Libido für Freud lustorientiert ist, kann der Wunsch nach Befriedigung in eine Objektsuche münden, wenn bereits Erinnerungsspuren mit entsprechenden Interaktionserfahrungen gebildet wurden. Freud schreibt dazu: »Aus dem Wunschzustand folgt geradezu eine Attraktion nach dem Wunschobjekt respektive dessen Erinnerungsbild« (Freud, 1895/1987, S. 415).
Freud geht zunächst davon aus, dass der Säugling vom sogenannten Lustprinzip bestimmt ist mit dem Ziel, Lust zu erlangen und Unlust zu vermeiden. In seiner Schrift »Formulierungen über die zwei Prinzipien psychischen Geschehens« führt Freud neben dem Lustprinzip auch das Realitätsprinzip als reiferes Regulationsprinzip des psychischen Geschehens ein. Er beschreibt das Wirken des Lust- und Realitätsprinzips wie folgt: »Ich greife auf Gedankengänge zurück, die ich an anderer Stelle (im allgemeinen Abschnitt der Traumdeutung) entwickelt habe, wenn ich supponiere, daß der psychische Ruhezustand anfänglich durch die gebieterischen Forderungen der inneren Bedürfnisse gestört wurde. In diesem Falle wurde das Gedachte (Gewünschte) einfach halluzinatorisch gesetzt, wie es heute noch allnächtlich mit unseren Traumgedanken geschieht. Erst das Ausbleiben der erwarteten Befriedigung, die Enttäuschung, hatte zur Folge, daß dieser Versuch der Befriedigung auf halluzinatorischem Wege aufgegeben wurde. Anstatt seiner mußte sich der psychische Apparat entschließen, die realen Verhältnisse der Außenwelt vorzustellen und die reale Veränderung anzustreben. Damit war ein neues Prinzip der seelischen Tätigkeit eingeführt; es wurde nicht mehr vorgestellt, was angenehm, sondern was real war, auch wenn es unangenehm sein sollte. Diese Einsetzung des Realitätsprinzips erwies sich als ein folgenschwerer Schritt« (Freud, 1911/1964, S. 230 f.).
Freud ist der Auffassung, dass im Säugling zunächst das Lustprinzip wirke, indem die Triebe Abfuhr und Befriedigung auf kürzestem Wege suchen. Er meint, dass der Säugling über ein von den Reizen der Außenwelt relativ abgeschlossenes psychisches System verfüge (Freud, 1911/1964). Als Metapher hierfür führt Freud das »in die Eischale eingeschlossene Vogelei [an], für das sich die Mutterpflege auf die Wärmezufuhr einschränkt« (Freud, 1911/1964, S. 232). Ein solches geschlossenes, von äußeren Reizen geschütztes System (die Eierschale verweist auf der Reizschutzschranke, siehe Freud 1920/1963) lasse sich zunächst auch bei dem Säugling finden. Dieses modellhaft angenommene psychische System wird ausschließlich vom Lust-/Unlustprinzip bestimmt, schirmt äußere Reize so weit wie möglich ab und versucht die inneren Spannungen so gering wie möglich zu halten, eben auch mithilfe unreifer, dysfunktionaler Mechanismen: »Gebieterische Forderungen innerer Bedürfnisse« (Freud, 1911/1964, S. 231), das heißt Unlusterfahrungen, aktivieren die halluzinatorische Wunscherfüllung. Erst mit dem Ausbleiben der ursprünglich halluzinierten Befriedigung wendet sich der Säugling der äußeren Realität zu. Durch diese Erfahrungen werde das Realitätsprinzip mehr und mehr verankert.
An anderer Stelle nennt Freud den anfänglichen Zustand des Säuglings einen primär narzisstischen. Er beschreibt diesen als einen »ersten (objektlosen) narzißtischen Zustand«, der »durch das völlige Fehlen einer Beziehung zu seiner Umgebung charakterisiert« (Laplanche u. Pontalis, 1975, S. 319) ist. Diese Ansicht hat er allerdings später wieder revidiert.
Nachdem Freud mit seiner Verführungstheorie zunächst ein Erklärungsmodell für die Entstehung von Neurosen fand, hat er diesen Ansatz zurückgenommen und stattdessen ein umfassenderes Modell für psychische Störungen entwickelt. Mit der Triebtheorie legte er den Grundstein einer psychoanalytischen Entwicklungslehre, die im Wesentlichen ein Konstrukt darstellt. Er stellte fest, dass »die neurotischen Symptome nicht direkt an wirkliche Erlebnisse anknüpften, sondern an Wunschphantasien, und daß für die Neurose die psychische Realität mehr bedeute als die materielle« (Freud, 1925/1963, S. 60).
Mit der Entdeckung einer »konstitutionelle[n] sexuelle[n] Anlage des Kindes« (Freud, 1906/1961, S. 156), die »keines äußeren, akzidentellen Anlasses – z. B. einer realen Traumatisierung – bedarf, um geweckt oder gar erzeugt zu werden« (Lohmann, 2006, S. 31), fokussierte sich Freud auf die Entwicklung der Sexualität. Nach Freud sei es ein »folgenschwerer Irrtum« (Freud, 1905/1961, S. 73) anzunehmen, dass der Geschlechtstrieb in der Kindheit fehle. In »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« bestand das Revolutionäre Freuds jedoch nicht allein darin, dass er von einer infantilen Sexualität ausging – das taten auch einige Autoren vor ihm (Früh u. Reichmayr, 2006) –, sondern vielmehr, dass »er die Erkenntnisse der zeitgenössischen Sexologie neu ordnete, verknüpfte und bewertete und deren grundlegende Bedeutung für die menschliche Existenz herausstellte« (Lohmann, 2006, S. 28). Die von Freud in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« dargestellten Erkenntnisse beruhten zum einen auf direkten Kinderbeobachtungen, zum anderen auf der analytischen Aufdeckung bis dahin unbewusster Kindheitserinnerungen seiner neurotischen Patienten.
Freud ging von einer »polymorph perversen« (Freud, 1905/1961, S. 91) Struktur kindlicher Sexualität aus. Darunter ist zum einen die »Vielfältigkeit der Erregungsmöglichkeiten des kindlichen Körpers« (Früh u. Reichmayr, 2006, S. 149) zu verstehen, zum anderen, dass die Libido noch nicht unter dem Primat der Genitalität steht, sondern in Form von prägenitalen Partialtrieben unter der Regie unterschiedlicher erogener Zonen verschiedene Ziele verfolgt (Freud, 1905/1961). Damit äußert sich die kindliche Sexualität in vielfältigen Paraphilien, das heißt in Verhaltensweisen, die von der Norm einer erwachsenen, »normalen« sexuellen Beziehung oder Betätigung abweichen.
Freud ging von einer phasenspezifischen Entwicklung der (infantilen) Sexualität aus: beginnend mit den prägenitalen Organisationen der Libido bis hin zur definitiven Gestaltung des Sexuallebens nach der Pubertät.
Als früheste erogene Zone nahm Freud die orale Zone, den Mund an. Über die Mundschleimhaut – Freud nannte diese Phase orale Phase – erfasst der Säugling die Welt und verschafft sich durch Lutschen oder Ludeln (Wonnesaugen) Lust. »Das Wonnesaugen ist mit voller Aufzehrung der Aufmerksamkeit verbunden, führt entweder zum Einschlafen oder selbst einer motorischen Reaktion in einer Art von Orgasmus. Nicht selten kombiniert sich mit dem Wonnesaugen die reibende Berührung gewisser empfindlicher Körperstellen, der Brust, der äußeren Genitalien« (Freud, 1905/1961, S. 80 f.). Freud erkannte in dem kindlichen Lutschen, das »in einer rhythmisch wiederholten saugenden Berührung mit dem Munde (den Lippen)« besteht (S. 80), noch einen weiteren Aspekt der infantilen Sexualbetätigung: Sie entsteht immer in »Anlehnung an eine der lebensnotwichtigen Körperfunktionen« (S. 83): im Fall der oralen Phase an die Ernährungsfunktion des Mundes. Für Freud ist in der oralen Phase die Sexual-funktion noch nicht von der Ernährungsfunktion differenziert: »Das Objekt der einen Tätigkeit ist auch das der anderen, das Sexualziel besteht in der Einverleibung des Objektes« (S. 98). Die infantile Sexualbetätigung sei stets »durch das Suchen nach einer – bereits erlebten und nun erinnerten – Lust bestimmt« (S. 82). Die orale Sexualbetätigung ist die Wiederholung der Bedürfnisbefriedigung des Saugens an der Mutterbrust. »Die Erfahrung der Befriedigung erschafft den Sexualtrieb, die erogene Zone ist die psychosexuelle Erinnerungsspur einer primären [d. h. einer ursprünglichen] Befriedigung, die wiederholt bzw. wiederhergestellt werden soll« (Bayer u. Lohmann, 2010, S. 171 f.).
Auf die orale Phase folgt die sogenannte anale Phase. In dieser Phase löst die Afterzone die Mundschleimhaut als führende erogene Zone ab. Nach Freud ist ab diesem Punkt »die Gegensätzlichkeit, welche das Sexualleben durchzieht, bereits ausgebildet« (Freud, 1905/1961, S. 99). Er bezieht sich auf die Gegensätzlichkeit zwischen aktiv und passiv. »Die Aktivität wird durch den Bemächtigungstrieb von seiten der Körpermuskulatur hergestellt, als Organ mit passivem Sexualziel macht sich vor allem die erogene Darmschleimhaut geltend« (S. 99). Der Darminhalt stellt »das erste ›Geschenk‹ dar, durch dessen Entäußerung die Gefügigkeit, durch dessen Verweigerung der Trotz des kleinen Wesens gegen seine Umgebung ausgedrückt werden kann« (S. 87). Die Afterzone ist ähnlich wie die Lippenzone durch ihre Lage geeignet, eine Anlehnung der Sexualität an andere Körperfunktionen zu vermitteln. »Kinder, welche die erogene Reizbarkeit der Afterzone ausnützen, verraten sich dadurch, dass sie die Stuhlmassen zurückhalten, bis dieselben durch ihre Anhäufung heftige Muskelkontraktionen anregen und beim Durchgang durch den After einen starken Reiz auf die Schleimhaut ausüben können« (S. 87). In dieser Zeit könne es zu einer Vorherrschaft des Sadismus1 und der Kloakenrolle2 kommen. Freud unterteilt die anale Phase in eine frühe, in der das passive Darmentleeren, das Kotausstoßen, im Vordergrund steht, und eine späte Phase des Kotzurückhaltens.
Als dritte Phase der Sexualorganisation – nach der oralen und analen Phase, die er als »prägenital« (1905/1961, S. 98) zusammenfasste – führte Freud die sogenannte phallische Organisationsstufe/phallische Phase ein (Freud, 1923/1963), die er noch nicht von der ödipalen Phase trennte. Mittlerweile wird sie jedoch primär als phallisch narzisstische Phase (3.–5. Lebensjahr) oder als präödipal-genital bezeichnet. In dieser Phase stand zunächst noch nicht das ödipale Dreieck, sondern vielmehr die Bestätigung der jeweiligen psychosexuellen Differenzierung im Vordergrund.
Freud war der Auffassung, dass in dieser Phase der infantilen Sexualität das »Interesse an den Genitalien und die Genitalbetätigung eine dominierende Bedeutung [gewinnt], die hinter der in der Reifezeit wenig zurücksteht« (Freud, 1923/1963, S. 294). Die Phase sei charakterisiert »durch die Vereinigung der Partialtriebe unter dem Primat der Genitalorgane« (Laplanche u. Pontalis, 1975, S. 383). Sie unterscheide sich jedoch »in einem wesentlichen Punkt von der definitiven Organisation der Geschlechtsreife […]. Sie kennt nämlich nur eine Art von Genitale, das männliche« (Freud, 1905/1961, S. 100).
Das Kleinkind erkenne in der phallischen Phase, dass »der Penis nicht ein Gemeingut aller ihm ähnlichen Wesen« (Freud, 1923/1963, S. 295) ist. Das genitale Gegensatzpaar in dieser Phase heiße demnach noch nicht »männlich und weiblich«, sondern männliches Genital oder kastriert. Freud führt in diesem Zusammenhang den sogenannten Kastrationskomplex ein, der »eine Antwort auf das Rätsel [bietet], das der anatomische Geschlechtsunterschied […] dem Kind aufgibt« (Laplanche u. Pontalis, 1975, S. 242). Die Wahrnehmung der Ungleichheit des Genitals hat eine unterschiedliche Wirkung auf Jungen und Mädchen: Freud war der Auffassung, dass Mädchen die Penislosigkeit als »erlittene[n] Nachteil« (Laplanche u. Pontalis, 1975, S. 242), als Benachteiligung und Minderwertigkeit wahrnehmen. Jungen fürchten hingegen eine Kastration »als Realisierung einer väterlichen Drohung und als Antwort auf […] sexuelle Aktivität; daraus entsteht […] eine heftige Kastrationsangst« (S. 242). Freud exemplifiziert die Kastrationsandrohung anhand eines Beispiels: »Wenn das (männliche) Kind sein Interesse dem Genitale zugewendet hat, so verrät es dies auch durch ausgiebige manuelle Beschäftigung mit demselben und muß dann die Erfahrung machen, daß die Erwachsenen mit diesem Tun nicht einverstanden sind. Es tritt mehr oder minder deutlich, mehr oder weniger brutal, die Drohung auf, daß man ihn dieses von ihm hochgeschätzten Teiles berauben werde« (Freud, 1924/1963, S. 396). Bei Jungen sei diese Zeit von der Kastrationsangst und beim Mädchen vom Penisneid bestimmt.
Die Kastrationsangst steht in enger Verbindung mit dem Ödipuskomplex, dem zentralen Konfliktgeschehen der phallisch ödipalen Phase. Freud erkannte ödipale Triebregungen in der psychoanalytischen Behandlung seiner Patienten, später auch in seiner Selbstanalyse, wie er in einem Brief an Wilhelm Fließ schrieb: »Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis in der frühen Kindheit« (zit. nach Masson, 1985, S. 293). In den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« verweist Freud auf die Ubiquität der ödipalen Krise: »Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen« (Freud, 1905/1961, S. 127).
Es gebe sowohl einen »positiven« als auch einen »negativen« Ödipuskomplex: In seiner positiven Form ist er durch Todeswünsche gegenüber »dem Rivalen als Person gleichen Geschlechts und sexueller Wunsch gegenüber der Person des entgegengesetzten Geschlechts« (Laplanche u Pontalis, 1975, S. 351) charakterisiert. Der negative Ödipuskomplex stellt sich in umgekehrter Form dar: Liebesgefühle für das gleichgeschlechtliche Elternteil und eifersüchtiger Hass gegenüber dem gegengeschlechtlichen. Tatsächlich finden sich beide Arten des ödipalen Konflikts in unterschiedlichem Grad in dem sogenannten vollständigen Ödipuskomplex (Laplanche u. Pontalis, 1975). Für den Jungen besteht die »positive« libidinöse Besetzung darin, dass er die Mutter begehrt und den Vater (mit dem er identifiziert ist) ersetzen möchte. Die »negative« Position besteht darin, dass er den Vater begehrt und, mit der Mutter identifiziert, vom Vater begehrt werden will. Die positive, aktive ödipale Position wird durch die Kastrationsandrohung (als Antwort auf masturbatorische Aktivität o. Ä.) zur Un-Möglichkeit, die negative, passive Position wird durch die Übernahme der weiblichen Position, das heißt, kastriert und penislos zu sein, ebenfalls zur Un-Möglichkeit. »Die unvermeidliche Kenntnisnahme des weiblichen, penislosen Genitales zwingt den Knaben zur Einsicht, daß Kastration tatsächlich möglich sei, wodurch die passive Position die nämliche Gefahr, den Verlust des Genitales, bedeutet und gleichzeitig die Gefahr der Kastration in der aktiven Position realistisch erscheinen läßt« (Staufenberg, 2006, S. 164). Der Junge gerät also in den Konflikt zwischen seinen ödipalen Triebwünschen gegenüber seinen Eltern und dem narzisstischen Interesse an seinem Genital. In diesem Konflikt wendet sich das Kind in der Regel vom Ödipuskomplex ab (Freud, 1924/1963).
Freud (1924/1963) sieht im Ödipuskomplex ein durch die Heredität bestimmtes Phänomen, das »programmgemäß« kommen und gehen muss. Jungen wie Mädchen stoßen auf die Unrealisierbarkeit ihrer ödipalen Wünsche: »das kleine Mädchen, das sich für die bevorzugte Geliebte des Vaters halten will, muß einmal eine harte Züchtigung durch den Vater erleben und sieht sich aus allen Himmeln gestürzt. Der Knabe, der die Mutter als sein Eigentum betrachtet, macht die Erfahrung, daß sie Liebe und Sorgfalt von ihm weg auf einen neu Angekommenen richtet« (S. 395).
Für Freud müsse der Ödipuskomplex »fallen«, wenn die Zeit seiner Auflösung gekommen sei. Er vergleicht es mit dem Ausfallen der Milchzähne und deren Ersetzung durch die bleibenden Zähne und sieht darin gleichsam ein biologisches Phänomen. Die Bewältigung des ödipalen Konfliktes markiert für Freud den vorläufigen Abschluss der psychosexuellen Entwicklung.
Freud bezieht sich in seiner Ödipustheorie ausdrücklich auf die Entwicklung beim männlichen Kind, während ihm die Vorgänge beim Mädchen »dunkler und lückenhafter« (Freud, 1924/1963, S. 400) erschienen. Auf die Rezeption seiner phallozentrischen Perspektive in der Konzeption der infantilen Sexualität wird im abschließenden Kapitel genauer eingegangen.
Die weitere kindliche Entwicklung stellte Freud sich wie folgt vor: »Die Objektbesetzungen werden aufgegeben und durch Identifizierung ersetzt. Die ins Ich introjizierte Vater- oder Elternautorität bildet dort den Kern des Über-Ichs, welches vom Vater die Strenge entlehnt, sein Inzestverbot perpetuiert und so das Ich gegen die Wiederkehr der libidinösen Objektbesetzung versichert. Die dem Ödipuskomplex zugehörigen libidinösen Strebungen werden zum Teil desexualisiert und sublimiert, was wahrscheinlich bei jeder Umsetzung in Identifizierung geschieht, zum Teil zielgehemmt und in zärtliche Regungen verwandelt. Der ganze Prozeß hat einerseits das Genitale gerettet, die Gefahr des Verlustes von ihm abgewendet, anderseits es lahmgelegt, seine Funktion aufgehoben. Mit ihm setzt die Latenzzeit ein, die nun die Sexualentwicklung des Kindes unterbricht« (Freud, 1924/1963, S. 399).
Mit der Pubertät kommt es im Sinne des zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung zu einer Wiederbelebung frühkindlicher Arten des Lustgewinns. Die sogenannte genitale Phase mit einer zeitlichen Einteilung in Vorpubertät und Pubertät ist vor allem in der früheren Phase durch eine Wiederbelebung der ödipalen Situation gekennzeichnet.
In der Folgezeit wurde die psychosexuelle Entwicklungstheorie Freuds vielfach rezipiert, weiter ausgearbeitet und kritisch beleuchtet.
Der kleine Hans
Im Folgenden wird detaillierter auf Freuds Schrift »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« aus dem Jahre 1909 eingegangen. Die berühmte Fallgeschichte stellt die einzige kinderpsychoanalytische Behandlung dar, die Freud veröffentlichte. Freud hat den »kleinen Hans« – sein vollständiger Name war Herbert Graf – jedoch nicht selbst behandelt, sondern die »anamnestische Beobachtung« und »Behandlung« von dessen Vater, Max Graf, beraten/supervidiert. Der Fall des kleinen Hans nimmt auch deshalb eine »hervorragende« (Freud, 1909/1999, S. 244) Bedeutung im freudschen Werk ein, da er, nach Hárnik, »den ausführlichen Nachweis [darstellt], daß die direkte Kinderbeobachtung [,] Freuds Aufstellungen über die Natur der infantilen Sexualität, die er in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« auf Grund von Analysen erwachsener Neurotiker niedergelegt hat, vollinhaltlich« (Hárnik, 1926, S. 28) bestätigt. Mit Hilfe des von Hans’ Vater zur Verfügung gestellten Fallmaterials wollte Freud seine bislang auf Konstruktionen beruhenden Annahmen über den konflikthaften Verlauf der infantilen Libidoentwicklung (von der autoerotischen Sexualbetätigung über die polymorph-perversen Sexualorganisation zum ödipalen Konflikt, der am Kastrationskomplex scheitert) quasi in Direktbeobachtung veranschaulichen und belegen.
Der kleine Hans entwickelte um das fünfte Lebensjahr phobische Symptome, genauer eine Pferdephobie, die ihn daran hinderte, die Straße zu betreten (Freud, 1909/1999). Ab dem dritten Lebensjahr zeigte er ein sehr reges Interesse für seinen »Wiwimacher« (Freud, 1909/1999, S. 245). Der kulturellen Sexualmoral folgend, untersagte die Mutter die Berührungen des Gliedes und sprach eine Kastrationsdrohung aus: »Wenn du das machst, lass’ ich den Dr. A. kommen, der schneidet dir den Wiwimacher ab« (S. 245). Diese Kastrationsandrohung sollte im weiteren Verlauf der Krankengeschichte eine überaus wichtige Rolle spielen. Wilhelm Salber betont außerdem die pathogenetische Relevanz der Geburt von Hans’ Schwester (3,5 Jahre jünger) für die psychosexuelle Entwicklung des Jungen. »Dieses Ereignis verschärft seine Beziehungen zu den Eltern (Eifersucht), stellt seinem Denken unlösliche Aufgaben (die Frage, woher die Kinder kommen; die Geschlechterdifferenz) und belebt durch das Zuschauen bei der Kinderpflege die Erinnerungsspuren seiner eigenen frühesten Lusterlebnisse« (Salber, 2006, S. 66).
Im Fallmaterial wird die libidinöse Besetzung der Mutter deutlich. So kommt der kleine Hans z. B. im Alter von vier Jahren eines Morgens weinend zu seinen Eltern und berichtet: »›Wie ich geschlafen hab’, hab’ ich gedacht, du bist fort und ich hab’ keine Mammi zum Schmeicheln‹ (= liebkosen)« (Freud, 1909/1999, S. 259). Freud deutet diese und zahlreiche weitere Beschreibungen der Eltern als Manifestationen des ödipalen Konflikts. Der kleine Hans hat den Vater als störenden Dritten entdeckt, macht ihn für die Abwesenheit der Mutter verantwortlich, möchte den Vater »weg, beseitigt haben […], um mit der schönen Mutter allein zu sein, bei ihr zu schlafen« (S. 345). »Die beiden Hauptströmungen des normalen Ödipuskomplexes beherrschten ihn also, und die Bestrafung, die er dafür [vom Vater] befürchtete, war der Verlust seines Gliedes, die Kastration« (Hárnik, 1926, S. 28).
Die Ödipussituation führt den kleinen Hans unausweichlich in einen weiteren, inneren Konflikt, den Ambivalenzkonflikt zwischen seinen Beseitigungswünschen dem Vater gegenüber und der Liebe zu ihm. Der konflikthafte und Bestrafungsangst auslösende Hass auf den Vater überfordert das kindliche Ich und muss aus dem Bewusstsein entfernt, das heißt verdrängt werden. Dies ist der Auslöser der eigentlichen Symptombildung, der Tierphobie: »Wenn der kleine Hans, der in seine Mutter verliebt ist, Angst vor dem Vater zeigen würde, hätten wir kein Recht, ihm eine Neurose, eine Phobie zuzuschreiben. Wir hätten eine durchaus begreifliche affektive Reaktion vor uns. Was diese zur Neurose macht, ist einzig und allein ein anderer Zug, die Ersetzung des Vaters durch das Pferd« (Freud, 1926/1991, S. 131).
Hans erwehrt sich seiner triebhaften Gefühle gegenüber dem Vater, indem er sie verdrängt und auf ein anderes Objekt verschiebt: Sie finden entstellten Ausdruck in der Furcht vor dem Pferd. Der »Motor der Verdrängung« (Freud, 1926/1991, S. 136) ist die Angst vor einer drohenden Kastration. »Aus Kastrationsangst gibt der kleine Hans die Aggression gegen den Vater auf: Seine Angst, das Pferd werde ihn beißen […] [ist eigentlich die Angst], das Pferd werde ihm das Genitale abbeißen« (S. 136). Die eingangs beschriebene Kastrationsandrohung der Mutter und die Realisierung, dass Frauen keinen Penis haben, hatten sich beim kleinen Hans zum Zeitpunkt der Symptombildung zur ödipalen Kastrationsangst verdichtet. Die Mechanismen der Verdrängung (Hans empfindet keinen Hass auf den Vater), der Verschiebung (vom Vater auf das Ersatzobjekt Pferd) und der Externalisierung (von der inneren Triebgefahr zur äußeren Gefahr) stehen, sich einander ergänzend, hinter der Symptombildung und bewirken, dass der verdrängte Wunsch, den Vater zu beseitigen, ins Gegenteil umgewandelt ins Bewusstsein zurückkehrt, als Erwartung, vom Pferd gebissen zu werden. An »Stelle der Aggression gegen den Vater tritt die Aggression – die Rache – des Vaters gegen die eigene Person« (S. 134).
Freud versuchte, mit der Analyse des kleinen Hans seine in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« entwickelte Theorie der infantilen Sexualität zu verifizieren. Er nutzte das ausführliche Fallmaterial dieser außergewöhnlichen »Kranken- und Heilungsgeschichte« (Freud, 1909/1999, S. 242), um gleichsam in Direktbeobachtung den intensiven Gefühlskonflikten, den universellen Konflikten (Ödipus- und Kastrationskomplex), nachzugehen, in die ein Kind im Verlauf seiner Libidoentwicklung gerät und die in jeder Entwicklungsgeschichte durchgearbeitet werden müssen. Die »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« gilt bis heute als eine der bekanntesten Fallgeschichten Freuds und kann als klinisch-empirischer Nachweis für den Ödipuskomplex verstanden werden.
Der kleine Hans konnte durch die von Freud supervidierte Behandlung seine Bewegungsfreiheit zurückgewinnen. Die erfolgreiche therapeutische Zusammenarbeit umfasste auch neuartige pädagogische Maßnahmen. So erhielt der kleine Junge u. a. eine Art Sexualaufklärung über den anatomischen Unterschied zwischen Mann und Frau, über Schwangerschaft und Geburt (Stroeken, 2007).
Das Fort-Da-Spiel
Im Folgenden wird eine weitere Fallvignette dargestellt, das sogenannte Fort-Da-Spiel, das Freud 1920 in seiner Monografie »Jenseits des Lustprinzips« zur Diskussion stellt. Mit seiner Darstellung des »selbstgeschaffenen« (Freud, 1920/1963, S. 11) Kinderspiels, das er bei seinem Enkel Ernst beobachtet, verfolgt Freud ganz bestimmte Erkenntnisinteressen, die im Zusammenhang mit der Umgestaltung seiner Trieblehre und der Annahme des Todestriebs stehen.
An dem Garnrollenspiel des eineinhalbjährigen Jungen hebt Freud die das Spiel dominierende Reproduktion seelischer Erfahrungen hervor, die nicht lustvoll, sondern schmerzhaft sind. Dieser Wiederholungsdrang belegt in Freuds Sichtweise eine psychische Tendenz, die über das Lustprinzip hinausweise, die ursprünglicher, elementarer sein soll als das von ihr zur Seite geschobene Lustprinzip (Freud, 1920/1963).
Ernst wird in der Fallvignette als »anständiges« Kind vorgestellt, das in »gutem Rapport mit den Eltern« (S. 12) sei. Trotz seines innigen Verhältnisses zu seiner Mutter weine der kleine Ernst nicht, wenn diese ihn für einige Stunden allein ließ. Freud wohnte für einige Wochen mit seinem Enkel und dessen Familie zusammen. In dieser Zeit beobachtete er ein selbstgeschaffenes Spiel des kleinen Jungen:
»Dieses brave Kind zeigte die gelegentlich störende Gewohnheit, alle kleinen Gegenstände, deren es habhaft wurde, weit weg von sich in eine Zimmerecke, unter ein Bett usw. zu schleudern, sodass das Zusammensuchen seines Spielzeuges oft keine leichte Arbeit war. Dabei brachte es mit dem Ausdruck von Interesse und Befriedigung ein lautes, langgezogenes o-o-o-o hervor, das […] ›Fort‹ bedeutete. Ich merkte endlich, daß […] das Kind alle seine Spielsachen nur dazu benütze, mit ihnen ›fortsein‹ zu spielen. […] Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war. Es […] warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles o-o-o-o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen ›Da‹. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing« (Freud, 1920/1963, S. 12 f.).
Freud erkannte, dass die Spule und die Spielsachen für die Mutter stehen, mit deren Fortgehen sich Ernst im Spiel auseinandersetzte. Er setzte das Verschwinden und Wiederkommen mit seinen Spielsachen selbst in Szene. Die Passivität, die der kleine Junge durch das Verlassenwerden erfährt, wandelt er, trotz der unlustvollen Erfahrung, durch die Wiederholung im Spiel in eine aktive Rolle.
»Dieses Bestreben könnte man einem Bemächtigungstrieb zurechnen, der sich davon unabhängig macht, ob die Erinnerung an sich lustvoll ist oder nicht. Man kann aber auch eine andere Deutung versuchen. Das Wegwerfen des Gegenstandes, so daß er fort ist, könnte die Befriedigung eines im Leben unterdrückten Racheimpulses gegen die Mutter sein, weil sie vom Kinde fortgegangen ist, und dann die trotzige Bedeutung haben: Ja, geh’ nur fort, ich brauch’ dich nicht, ich schick’ dich selber weg. […]. Man gerät so in Zweifel, ob der Drang, etwas Eindrucksvolles psychisch zu verarbeiten, sich seiner voll zu bemächtigen, sich primär und unabhängig vom Lustprinzip äußern kann. Im hier diskutierten Falle könnte er einen unangenehmen Eindruck doch nur darum im Spiel wiederholen, weil mit dieser Wiederholung ein andersartiger, aber direkter Lustgewinn verbunden ist. […] Wir werden so davon überzeugt, daß es auch unter der Herrschaft des Lustprinzips Mittel und Wege genug gibt, um das an sich Unlustvolle zum Gegenstand der Erinnerung und seelischen Bearbeitung zu machen (Freud, 1920/1963, S. 14 f.).
Freud sieht in dem Kinderspiel den Versuch des Kindes, die Trennungserfahrung zu bewältigen. Mit seinem Spiel, dem symbolischen Gebrauch der Spule und der Laute (»o-o-o-o« und »da«) habe der kleine Junge eine Möglichkeit gefunden, sich für das zeitweilige Fortsein der Mutter zu entschädigen, indem er ihr Verschwinden und Wiederkommen mit den ihm erreichbaren Gegenständen in eine spielerische Szene setzt. Für Freud befördert das Spiel die kulturelle Leistung des Kindes zum Verzicht auf Triebbefriedigung, seine wachsende Fähigkeit, mit Versagungen umzugehen und die äußere Realität zu erkennen bzw. zu verarbeiten (Freud, 1920/1963). Als entscheidendes Medium führt er dabei die symbolische Wiederholung ein.
Für Freud war es, wie bereits erwähnt, entscheidend, dass der im Spiel sich manifestierende Wiederholungsdrang über das Lustprinzip hinausweise. Der Reproduktion wohne ein »andersartiger, aber direkter Lustgewinn« (Freud, 1920/1963, S. 14) inne, der sich »primär und unabhängig vom Lustprinzip« (S. 14) äußern könne. Nur deshalb, so Freuds Meinung, könne das Wiederholungsstreben Eindrücke betreffen, die alles andere als lustvoll sind. Dieses Wiederholungsstreben machte für ihn die Annahme des sogenannten Todestriebes erforderlich.
Aus entwicklungspsychologischer Perspektive fällt, angelehnt an Winnicotts Terminologie, auf, dass sich der Junge mit der Holzspule einen ersten »Nicht-Ich-Besitz« (Winnicott, 1958, dt. 1976/2008, S. 257), ein »Übergangsobjekt« (S. 257), schafft. Die Holzspule stellt als Übergangsobjekt eine erste Symbolbildung dar (Winnicott, 1971, dt. 1973/2010), sie ist im objektbeziehungstheoretischen Sinne weder ein inneres Objekt noch ein äußeres Objekt (Winnicott, 1971, dt. 1973/2010), sie kann für ein fehlendes äußeres Objekt eintreten und Schutz gegen Spannungen und Ängste bieten, aber eben nur indirekt.
Für Winnicott setzt ein Übergangsobjekt eine »hinreichend gute Mutter« (Winnicott, 1958, dt. 1976/2008, S. 267) voraus – ein ausreichend gutes, lebendiges, nicht allzu verfolgendes inneres Objekt als Niederschlag einer glückenden Frühphase der Beziehung. Die Beziehung zwischen Ernst und seiner Mutter scheint »hinreichend« gut gewesen zu sein, was durch die freudschen Beschreibungen von einem »anständigen« Kind, das in »gutem Rapport mit den Eltern« (Freud, 1920/1963, S. 12) sei, deutlich wird.
Zu erwähnen ist außerdem, dass Freud das kindliche Spiel »in einem tieferen Sinne [betrachtete], als es im allgemeinen vor ihm geschah, und erkennt in ihm eine wichtige Lebensfunktion dieser Entwicklungsstufe. Unbewußte Konflikte, Interessen, Phantasien und Ängste des Kindes, seine Wünsche, Aggressionen und zärtlichen Strebungen kommen im Spiel zum Ausdruck« (Wolffheim, 1975, S. 62). In der kinderpsychoanalytischen Praxis wird dem kindlichen Spiel bis heute eine entscheidende Bedeutung beigemessen. So hat für Anna Freud die Spieltechnik in der Kinderpsychoanalyse »ohne Zweifel den größten Wert für die Beobachtung des Kindes« (Freud, 1927/1973, S. 49).
Relevanz heute
Freuds Theorien mit ihrem aufklärerischen Impetus nehmen in Gesellschaft und Kultur sowie in der psychoanalytischen Community, national und international, anhaltend einen wichtigen Platz ein. Insbesondere die Entdeckung des Unbewussten hat alle Bereiche des kulturellen Lebens nachhaltig geprägt. Freuds Entwicklungspsychologie haben die Säuglingsbeobachtung und -forschung auf Dauer beeinflusst. Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapien von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen beziehen sich anhaltend auf seine triebdynamischen Konzepte. Seine diesbezüglichen Theorien spielen eine wichtige Rolle in der psychoanalytischen Aus- und Weiterbildung. Darüber hinaus haben seine Theorien deutlichen Einfluss auf die Pädagogik und frühe Erziehung genommen. Seine Aussage, dass die frühe Kindheit eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Menschen habe, hat die nachfolgende Entwicklungspsychologie maßgeblich beeinflusst.
Die »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« gelten neben der »Traumdeutung« zu Freuds bedeutendstem »Beitrag zur Wissenschaft vom Menschen« (Früh u. Reichmayr, 2006, S. 146). Nelly Wolffheim betont die Relevanz seiner Beobachtungen, indem sie darauf hinweist, dass sich durch Freud das Sexualverständnis verändert habe. Es werde nun nicht mehr davon ausgegangen, dass sexuelle Gefühle plötzlich während der Pubertätszeit auftauchen, sondern dass sie bereits in der frühen kindlichen Entwicklung eine entscheidende Rolle spielen (Wolffheim, 1975). Freuds phasenspezifische Entwicklungstheorie zur infantilen Sexualität wurde von zahlreichen Psychoanalytikern rezipiert und weiterentwickelt. Sie bietet bis heute die Grundlage für diverse psychoanalytische Entwicklungsmodelle (z. B. von Erik Erikson). Weiterentwickelt wurde die Theorie u. a. von Karl Abraham (1924), der die psychosexuelle Phasenlehre mit der Entwicklung der Objektliebe in Verbindung setzte und die Subtypisierung vorantrieb.
Freuds Konzepte wurden von Mahler (Mahler, Pine u. Bergman, 1978) und Spitz (1965), die erste systematische Säuglings- und Kleinkindbeobachtungen vornahmen, aufgegriffen. Beide halten u. a. an Freuds Vorstellung fest, dass sich das Affektleben des Säuglings im ersten halben Jahr hauptsächlich durch die Erfahrung von Lust und Unlust strukturiert. So greift Mahler beispielsweise die relative Abgeschlossenheit des psychischen Systems von der Außenwelt auf und bezeichnet das Neugeborene als autistisch, ab der 4.–6. Woche als symbiotisch (Mahler, Pine u. Bergman, 1978).
Früh und Reichmayr (2006) weisen darauf hin, dass die Theorie der infantilen Sexualität in der psychoanalytischen Entwicklungslehre jedoch insgesamt an Einfluss verloren hat. Sie sind der Auffassung, dass Entwicklungen der Objektbeziehungstheorie, der Ich-Psychologie und der Selbst-Psychologie den »konflikthaften Gehalt der Sexualität […] entschärft und verflacht [haben]. [Auch] die moderne Säuglingsforschung und die Bindungstheorie verzichtet […] weitgehend auf die Thematisierung der Sexualität, die sich zwischen ›Bindung‹ und ›Begehren‹« gänzlich verflüchtige (Früh u. Reichmayr, 2006, S. 149).
Die moderne Säuglingsforschung kritisiert an der freudschen Konzeption vor allem die mangelnde Berücksichtigung der frühen Beziehungserfahrungen. Der Säugling sei weit weniger primärnarzisstisch, autoerotisch-objektlos und autistisch, als die Theorie lehrt, er sei durch seine »differenzierten Sinneswahrnehmungen« (Dornes, 1993, S. 51) an der Außenwelt interessiert und »schon in der frühesten Interaktion ein aktiver, initiativer und kompetenter Partner« (S. 61). Die differenzierten Beziehungserfahrungen, die von Anfang an auf der Basis eines intakt bleibenden abgegrenzten Selbstempfindens erlebt werden, seien das zentrale strukturbildende Moment der Frühentwicklung, entscheidender als »die spektakulären Spannungszustände« (S. 72), die die psychosexuelle Entwicklungslehre in den Mittelpunkt stelle. Die moderne Säuglingsforschung relativiert die Triebtheorie (Dornes, 1993). Im Einklang mit dem sogenannten intersubjektivitätstheoretischen Ansatz in der Psychoanalyse (beispielsweise Altmeyer u. Thomae, 2006) soll nicht mehr die Triebtheorie das zentrale Motivationsparadigma der Psychoanalyse bilden, sondern das »Bedürfnis nach Intersubjektivität wäre dann ein basales Motivationssystem und ein primäres psychobiologisches Bedürfnis. Eine Theorie der gewünschten Intersubjektivität, in der das Bedürfnis nach dem Objekt zum Zwecke des affektiven Austauschs […] eine hervorragende Rolle spielt, würde an die Stelle oder zumindest an die Seite der Triebtheorie treten« (Dornes, 1993, S. 161).
Vielfach kritisiert wurde Freud für seinen phallischen Monismus (Rohde-Dachser, 2013) in der Konzeption der infantilen Sexualität. So zeigt Christa Rohde-Dachser, dass Freud mit seinen Theorien (hier kann die psychosexuelle Entwicklung als Beispiel gesehen werden) »die Geschlechterideologie der patriarchalischen Gesellschaft reproduziert« (Rohde-Dachser, 2013, S. VII) und auf diese Weise zeitbedingten und sozial verbreiteten Abwehrstrukturen Folge leistete. Dass Freuds Phallo- und Patriarchzentrismus »den psychoanalytischen Aufklärungsprozess beeinträchtigte, ist vielfach bestätigt worden und hat zu ihrerseits psychoanalytisch gut begründeten Korrekturen an Freuds Auffassungen geführt« (Bayer u. Lohmann, 2010, S. 177). So wird in neueren psychoanalytischen Entwicklungstheorien »die Entwicklung der Psychosexualität und der männlichen und weiblichen Geschlechtsidentität getrennt voneinander konzeptualisiert« (Tyson u. Tyson, 2009, S. 68). Damit werde, so Tyson und Tyson, der Tatsache Rechnung getragen, dass das Interesse kleiner Kinder beiden Genitalien gelte, dem eigenen und dem des anderen Geschlechts. Freuds Konzeption der »Frau als Mangelwesen« (Rohde-Dachser, 2013, S. 58) ist aus heutiger Perspektive nicht mehr zu halten. So wurde dem Konzept des freudschen Penisneides u. a. das Konzept des Gebärneides oder des Brustneides zur Seite gestellt.
Während Freuds Einführung des Todestriebes, die er 1920 in seiner Schrift »Jenseits des Lustprinzips« vorgenommen hatte, größtenteils kritisch und ablehnend in der Fachwelt rezipiert wurde, wurde die ebenfalls in dieser Abhandlung veröffentlichte Beschreibung des Fort-Da-Spiels in den folgenden Jahrzehnten von unterschiedlichen Autoren aufgegriffen, ausgearbeitet und nicht selten zum Referenzpunkt neuer Theorieentwicklungen (beispielsweise bei Jacques Lacan). Insbesondere für die psychoanalytische Konzeption des Symbolbegriffs stellt das Fort-Da-Spiel einen entscheidenden Ausgangspunkt dar.
Freud wurde vielfach vorgeworfen, dass seine monadologische Triebtheorie und der Solipsismus die Beziehung zum Anderen, zum Objekt vernachlässigen. Die Beziehung sei gleichsam ein Nebenprodukt bei einer primären Suche nach Befriedigung (Fonagy u. Campbell, 2017), die intersubjektive Perspektive fehle. Allerdings kann man in dem Vorgang, dass der Trieb die Beziehung des Säuglings zur Mutter beschreibt, auf zwei unterschiedliche Lesarten zugreifen, je nachdem, ob man eine intersubjektive oder eine intrapsychische Perspektive wählt, die – so André Green – zusammen die primäre Matrix bilden, aus der sich »die späteren Differenzierungen von ›intra‹ und ›inter‹ erst ergeben – ihre Gegensätzlichkeit genauso wie ihre Komplementarität« (Green, 2006, S. 234). Green meint, dass es kein Objekt gebe, dass nicht triebbesetzt sei. »Die Erschaffung des Objekts führt rückwirkend zur Erschaffung des Triebs, der das Objekt erschafft« (S. 241).
Die Diskussion um Freud wird weitergehen.
Literatur
Abraham, K. (1924). Versuch einer Entwicklungspsychologie der Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen. Leipzig u. a.: Internationaler Psychoanalytischer Verlag.
Altmeyer, M., Thomae, H. (2006) (Hrsg.). Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta.
Bayer, L., Lohmann, H.-M. (2010). Nachwort. In L. Bayer, H.-M. Lohmann (Hrsg.), Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (S. 163–184). Stuttgart: Reclam.
Dornes, M. (1993). Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt a. M.: Fischer.
Fonagy, P., Campbell, C. (2017). Böses Blut – ein Rückblick: Bindung und Psychoanalyse. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 71 (4), 275–305.
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Freud, S. (1925/1963). Selbstdarstellung. GW XIV (S. 31–96). Frankfurt a. M.: Fischer.
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1Dieser verbindet sich mit den »falschen Sexualtheorien« (Freud) des Kindes: Der Koitus der Eltern, den das Kind beobachtet, fasst es als sadistischen Akt auf, bei dem der stärkere Teil dem Schwächeren etwas mit Gewalt antut. So werde die Rauferei, wie sie sie aus ihrem Kinder-verkehr kennen, ja auch mit sexueller Erregung verbunden. Sexuelle Lust oder Befriedigung wird dadurch erlebt, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen, sie zu demütigen oder zu unterdrücken.
2Das Kind halte das weibliche Genital für einen einzigen Raum, Vagina und After gehörten zusammen. Dann sei es »konsequent, daß das Kind das schmerzliche Vorrecht des Weibes, Kinder zu gebären, nicht gelten läßt. Wenn die Kinder durch den After geboren werden, so kann der Mann ebensogut gebären wie das Weib. Der Knabe kann also auch phantasieren, daß er selbst Kinder bekommt, ohne daß wir ihn darum femininer Neigungen zu beschuldigen brauchen. Wenn sich die Kloakentheorie der Geburt im Bewußtsein späterer Kinderjahre erhält, was gelegentlich vorkommt, so bringt sie auch eine allerdings nicht mehr ursprüngliche Lösung der Frage nach der Entstehung der Kinder mit sich« (Freud, 1908/1976, S. 181 f.).
Lucie Loycke-Willerding
René A. Spitz: Seine Erkenntnisse und Folgerungen aus der direkten Säuglingsbeobachtung
Leben und Werk
René Arpad Spitz wurde am 29. Januar 1887 als Kind wohlhabender ungarischer Eltern jüdischer Herkunft in Wien geboren und wuchs in Budapest auf. In Lausanne und Berlin studierte er Medizin und promovierte 1910 in Budapest. Sein Interesse an der Psychoanalyse wurde durch Sándor Ferenczi geweckt, dessen Schüler er wurde. 1910/11 absolvierte er bei Sigmund Freud in Wien seine Lehranalyse. Während des ersten Weltkriegs war er als Militärarzt in der österreichisch-ungarischen Armee eingesetzt. 1924 übersiedelte er nach Wien, wo er am kinderanalytischen Seminar Anna Freuds teilnahm. Seine erste psychoanalytische Arbeit erschien in der Zeitschrift »Imago«. 1926 wurde er als außerordentliches Mitglied in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen. 1928 zog er nach Berlin und wurde 1930 ordentliches Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft. 1932 ging Spitz nach Paris, wo er an der École Normale Supérieure Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie lehrte. 1935 wurde er in der Societé Psychoanalytique aufgenommen und war als Lehranalytiker tätig. Im selben Jahr erhielt er von Charlotte Bühler einen Forschungsauftrag in der Kinderkrippe der Kinderübernahmestelle der Stadt Wien, der den Beginn seiner späteren systematischen Säuglingsforschung markierte.
1938 emigrierte er mit seiner Frau Ella von Paris nach New York. 1940 wurde er Mitglied des New York Psychoanalytic Institute, dessen Vizepräsident er von 1950–52 war. Er arbeitete in New York als Lehr- und Kontrollanalytiker, war Ausschussmitglied der psychiatrischen Abteilung des Mount Sinai Hospital und Gastprofessor für Psychologie an der Graduate Faculty des City College of New York. 1957 wurde er zum Gastprofessor für klinische Psychiatrie an der University of Colorado Medical School gewählt und übersiedelte nach Denver. Hier war er 1962–63 Gründungsmitglied, Lehranalytiker und erster Präsident der Denver Psychoanalytic Society. Er war einer der Herausgeber der Zeitschrift »The Psychoanalytic Study of the Child«. Nach dem Tod seiner Frau im Jahr 1960 übersiedelte er in die Schweiz zu seiner Familie, wo er Gastdozent in Genf war und 1964 ein Ehrendoktorat bekam. 1968 übersiedelte er wieder nach Denver. Dort starb René A. Spitz am 14. September 1974 (zur Vita siehe Mühlleitner, 1992, S. 311 f.; Altzinger, 2008).
René Arpad Spitz war einer der ersten Psychoanalytiker, der sich mit der systematischen Erforschung der Psychologie des Säuglings und des Kleinkindes beschäftigte. Im Zentrum seines Interesses steht die Frage, was in dem Zeitraum zwischen der Geburt und dem ersten Lebensjahr passiert. Ausgehend von Freuds grundlegenden Annahmen zur psychosexuellen Entwicklung des Kindes erweiterte Spitz diese um Erkenntnisse, die er mit den Methoden der Experimentalpsychologie und der direkten Säuglings- und Kleinkindbeobachtung gewann. Darüber hinaus bezog er theoretische Ansätze der Ich-Psychologie in seine Überlegungen mit ein. Auf diese Weise legte er dar, wie sich die Wahrnehmung des Säuglings von der des Erwachsenen unterscheidet und worin die wesentlichen physiologischen und psychologischen Unterschiede zum Erwachsenen bestehen. Er untersuchte, in welchen Schritten sich die Objektbeziehung des Kindes im ersten Lebensjahr vollzieht, und betonte die dafür so wichtige Rolle der Mutter-Kind-Dyade.
Zur Methode der Säuglingsbeobachtung
Die Population
In seinem Buch »Vom Säugling zum Kleinkind«, das 1965 unter dem Titel »The first year of life« erschien, beschreibt Spitz zunächst die Methoden, die bei der Beobachtung der Säuglinge angewandt wurden. Als Grundregel galt, dass »in jedem Fall […] die Gesamtpopulation in einem gegebenen Milieu ohne Auslese beobachtet werden [musste]« (Spitz, 1965/1969, S. 37). Um möglichst große Gruppen von Säuglingen untersuchen zu können, die unter weitgehend konstanten Umweltbedingungen aufwuchsen, wählten Spitz und seine Mitarbeiter zwei außerhalb der Stadt New York liegende Anstalten aus, aus denen der Hauptanteil der mehrere Hundert Kinder umfassenden Gesamtpopulation stammte (S. 37). Die beiden Anstalten, ein Säuglingsheim und ein Findelhaus, unterschieden sich vor allem hinsichtlich der Sorge für die Kinder (S. 48) und der Sozialisation der Mütter: »Das Säuglingsheim war eine Anstalt des Strafvollzugs, in der straffällige Mädchen, die bei der Einlieferung schwanger waren, abgesondert wurden« (S. 47). Spitz charakterisiert die zumeist minderjährigen Mädchen als »in gewissem Maß sozial fehlangepaßt, manchmal debil, manchmal psychisch geschädigt, psychopathisch oder kriminell« (S. 47), wodurch die Kinder bezüglich ihrer Erbanlage und Herkunft eine negative Auslese darstellten (S. 47). Unter der Obhut einer Oberschwester und ihren Helferinnen wurde jedoch jedes Kind »von seiner eigenen Mutter gefüttert, gepflegt und versorgt« (S. 48). Wenn eine Trennung von ihrem Kind nötig wurde, »trat die Mutter eines anderen Kindes an ihre Stelle oder aber ein schwangeres Mädchen, das auf diese Weise die für die Pflege ihres eigenen zukünftigen Kindes nötige Erfahrung erwerben konnte« (S. 48).
Die Kinder im Findelhaus »stellten einen Querschnitt der von der Fürsorge abhängigen Kinder in einer Großstadt dar« (S. 47). Der größte Teil dieser Kinder »stammte von sozial gut angepassten, normalen Müttern, die nur nicht in der Lage waren, sich und ihre Kinder zu erhalten« (S. 48). Ein Teil dieser Mütter war verheiratet, der andere ledig. Hinsichtlich der Sorge für die Kinder war die Situation im Findelhaus schlechter als im Säuglingsheim, da die Kinder zum einen weniger Kontakt zu ihren eigenen Müttern hatten und zum anderen »jede Schwester für etwas mehr als sieben Kinder zu sorgen hatte« (S. 49), was in der Praxis bedeutete, dass »jedes Kind bestenfalls ein Zehntel der Zeit einer Schwester zur Verfügung« (S. 49) hatte.
Das experimentelle Vorgehen
Die Säuglinge wurden nach der longitudinalen Methode beobachtet, das heißt »während relativ langer Zeiträume […], die maximal zwei bis zweieinhalb Jahre umfassten« (S. 36). Jedes Kind wurde im Schnitt vier Stunden pro Woche und zweihundert Stunden pro Jahr beobachtet. Dabei wurden wöchentlich abwechselnd männliche und weibliche Beobachter eingesetzt, um den möglichen Einfluss des Geschlechts auszuschließen. Die Beobachtungen wurden protokolliert (S. 36). Einmal im Monat wurde bei den Kindern der Bühler-Hetzer-Test, auch Wiener Test genannt, durchgeführt. Dabei handelt es sich um einen Entwicklungstest, der auf einem an 69 Säuglingen durch ständige Beobachtung gewonnenen »Inventar des zu erwartenden Durchschnittsverhaltens« (S. 38) im ersten Lebensjahr aufbaut. Die Fallgeschichten jedes Kindes wurden ergänzt durch schriftliche Berichte über die Gespräche mit den Eltern sowie mit dem Pflegepersonal; darüber hinaus gehörten zu den Unterlagen in vielen Fällen auch die Ergebnisse aus den Rorschach- und Szondi-Tests der Mütter (S. 43). Um »eine objektive und dauerhafte Aufzeichnung« (S. 42) zu gewährleisten, kam schließlich die von Spitz 1933 eingeführte Methode der »Film-Analyse« zum Einsatz. Mit einer Filmgeschwindigkeit von vierundzwanzig Bildern pro Sekunde und der sich daraus ergebenden Bildfolge von acht Bildern pro Sekunde für den