Die Gartenvilla - Cristina Caboni - E-Book
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Die Gartenvilla E-Book

Cristina Caboni

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Beschreibung

Eine geheimnisvolle Villa voller Spiegel. Eine Frau, die auf rätselhafte Weise verschwindet. Und eine unbeirrbare Heldin, die Jahre später alles ans Licht bringt ...

In den 50er Jahren träumt die junge Eva von einer Karriere als Schauspielerin im verheißungsvollen Amerika. Doch als Glanz und Ruhm ausbleiben und sie sich in den gutaussehenden Michele verliebt, bricht sie alle Zelte ab und folgt ihm in seine Heimat Italien, in eine Villa ans glitzernde Meer, wo sie eine Familie gründet. Das Leben könnte süßer nicht sein – bis eine verhängnisvolle Begegnung alles verändert …
Positano in der Gegenwart: Die zwanzigjährige Milena wächst bei ihrem Großvater Michele auf. Ihre Großmutter Eva, die vor Jahrzehnten auf geheimnisvolle Weise verschwand, hat sie nie kennengelernt, doch als im Garten ein vergrabener Leichnam gefunden wird und alle vor einem Rätsel stehen, begibt sie sich auf Spurensuche …

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Seitenzahl: 283

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Buch

In den Fünfzigerjahren träumt die junge Eva von einer Karriere als Schauspielerin im verheißungsvollen Amerika. Doch als Glanz und Ruhm ausbleiben und sie sich in den gut aussehenden Michele verliebt, bricht sie alle Zelte ab und folgt ihm in seine Heimat Italien, in eine Villa ans glitzernde Meer, wo sie eine Familie gründet. Das Leben könnte süßer nicht sein – bis eine verhängnisvolle Begegnung alles verändert …

Sorrento, in der Gegenwart: Die zwanzigjährige Milena wächst bei ihrem Großvater Michele auf. Ihre Großmutter Eva, die vor Jahrzehnten auf geheimnisvolle Weise verschwand, hat sie nie kennengelernt, doch als im Garten ein vergrabener Leichnam gefunden wird und alle vor einem Rätsel stehen, begibt sie sich auf Spurensuche …

Autorin

Cristina Caboni lebt mit ihrer Familie auf Sardinien. Ihr Debütroman »Die Rosenfrauen« verzauberte die Leser weltweit und stand in Deutschland wochenlang auf der Bestsellerliste. Mit ihren nächsten Romanen »Die Honigtöchter«, »Die Oleanderschwestern«, »Der Zauber zwischen den Seiten« und »Die Seidentöchter« konnte sie an ihren phänomenalen Erfolg anknüpfen und ihre Fans jedes Mal aufs Neue begeistern. »Die Gartenvilla« ist Cristina Cabonis sechstes Buch und entführt die Leser in eine Villa nach Sorrento, in der unentdeckte Geheimnisse darauf warten, ans Licht zu kommen …

Von Cristina Caboni bereits erschienen:

Die Rosenfrauen · Die Honigtöchter · Die Oleanderschwestern · Der Zauber zwischen den Seiten · Die SeidentöchterBesuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Cristina Caboni

Roman

Deutsch von Ingrid Ickler

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »La Casa degli specchi« bei Garzanti, Milano.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © Cristina CaboniLicense agreement made through Laura Ceccacci Agency S.R.L.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Nikel

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © mauritius images/Panther Media GmbH/Alamy; www.buerosued.de

KW · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24166-7V001www.blanvalet.de

Prolog

Der Schaum auf ihrem kleinen Fuß ist weiß, obwohl das Meer, das ihn ans Ufer gespült hat, strahlend blau ist.

Fasziniert schaut Milena erst auf den Schaum, dann auf das Meer, und fragt sich, wie das möglich sein kann. Sie hält die Hand ins Wasser und zieht sie wieder heraus, durchsichtige Wassertropfen perlen von der Haut ab. Erst als sie sich zu einem Rinnsal verbinden, werden sie langsam wieder bläulich.

Blau ist ihre Lieblingsfarbe. Bei Farben muss sie immer an die Menschen um sie herum denken, die alle ihre eigene Farbe haben. Ihre Mutter Marina, die jung gestorben ist, stand für Grün, für frische Blätter im Frühling; Gold oder Silber gehört zu ihrem Großvater Michele, wie alles, was er in seiner Werkstatt herstellt. Und sie selbst liebt neben dem Blau des Meeres das Rosa des Sonnenaufgangs.

Wenn man sich alle zusammendenkt, sehen die Farben aus wie ein Regenbogen.

Am Himmel sieht Milena eine Möwe ihre Kreise ziehen, die Flügel bewegen sich auf und ab, haben den Rhythmus ihres Atems, der kommt und geht. Der Duft in der Luft macht sie glücklich, es riecht nach Ginster, Wasserlilien und Salz. Für sie der Geruch nach Heimat.

Die Villa ihres Großvaters thront hoch oben auf einer Felsklippe, eingerahmt von üppigen Zitronenbäumen. Im Innern hängen Spiegel, vor denen sie früher auf Marinas Schoß gesessen und ihren Geschichten gelauscht hat. Sie fragt sich, ob sie den Regenbogen immer noch wie früher dort sehen würde, jetzt, wo Mama nicht mehr da ist und die Erinnerungen an sie immer mehr weichen.

Beide Gedanken machen sie traurig.

Bevor sie starb, hatte die Mutter ihr gesagt, sie brauche vor nichts Angst zu haben, weil sie stets auf sie aufpassen werde. Und sie solle immer laut und nie leise lachen, sonst könne man es im Himmel nicht hören. Sie habe es eines Nachts ausprobiert, allerdings gedämpft, um die anderen nicht zu wecken und kein Geheimnis zu verraten. Außerdem ermahnte sie ihre kleine Tochter, durch die Halle mit den Spiegeln zu tanzen und dabei zu schweben wie ein Schmetterling.

Milena liebt Falter sehr, mag sie jedoch nicht berühren, zu groß ist ihre Angst, sie zu zerdrücken. Sie sieht ihnen lieber bewundernd aus der Ferne zu, wie sie auf den Blumen sitzen, die der Großvater überall im Garten gepflanzt hat. Ihre Flügel sind so zart und empfindlich wie die Rosenblüten, die der Wind an den Strand geweht hat.

Das Mädchen sammelt sie auf und rennt anschließend zu einer Muschel, die auf den Sand gespült wurde. Während sie sie aufhebt, schwappt eine neue Welle hoch bis an den Saum ihres Kleides. Aus vollem Hals lachend, lässt sie sich vom Wasser umarmen, alles wird nass, sogar ihre Haare, aber in ihrer Hand liegt eine weiße Muschel, und als die Sonne sie getrocknet hat, glänzt sie in allen Farben des Regenbogens. Zufrieden steckt Milena ihre Regenbogenmuschel in die Tasche ihres Kleides und rennt auf den Großvater zu, der auf einem Stein in der Nähe sitzt und das Gesicht in den Händen vergraben hat.

Sein Kopf schießt nach oben. »Hallo, mein Schmetterling, bist du müde? Möchtest du nach Hause?«

Seine Enkelin schüttelt den Kopf. »Nein! Ich möchte dir etwas geben, das alle unsere Farben hat, es ist eine Regenbogenmuschel.«

Als sie dem alten Mann ihren Fund hinhält, lässt ein Sonnenstrahl die Schale leuchten.

»Du hast recht, man nennt das Perlmutt. Die Muschel ist wunderschön, ich danke dir, mein Schatz.«

Obwohl er sie anlächelt, sieht Milena Tränen in seinen Augen.

Es schmerzt sie, wenn Großvater weint und trotzdem so tut, als wäre alles in Ordnung, wenn er sie lächelnd durch die Luft schwingt und ihr sagt, sie sei das beste und schönste Mädchen der ganzen Welt.

Bevor ihre Mutter starb, hat sie ihrer Tochter erklärt, sie müsse den Großvater ganz oft umarmen und ganz fest drücken. An ihrer Stelle, weil sie es ja nicht mehr selbst tun könne. Und sie solle ihm sagen, dass sie ihn liebe und immer lieben werde.

Milena, die gerne der Bitte ihrer Mama folgt, schließt die Augen und schmiegt sich in seine Arme. Bei ihm fühlt sie sich rundum sicher und geborgen, und noch etwas, das die Mutter gesagt hat, fällt ihr in diesem Moment ein.

Wenn Einsamkeit sie quäle, solle sie in die Silberspiegel schauen, denn dort würde sie finden, was sie suche.

Zusammen mit ihrer Liebe.

1

Die Welle war gewaltig, furchteinflößend und schaurig schön, rollte auf sie zu und brach. Milena wusste, dass sie sie verschlingen würde, wenn sie nicht zurückwich.

In diesem Augenblick dachte sie an ihren Großvater, der sie vor der Gefahr der spitzen Felsen im Meer gewarnt hatte, damals, als er ihr das Schwimmen beibrachte.

Sie schloss einen Moment die Augen und öffnete sie wieder, nahm dann allen Mut zusammen und schwamm der näher kommenden Welle entgegen, spürte schon ihre bedrohliche Kraft. In einer Sekunde wäre sie bei ihr, würde sie mit sich reißen und unter Wasser ziehen. Es war der letzte Moment zur Umkehr. Kraftvoll und entschlossen änderte sie die Richtung und entfernte sich von ihr, bis sie eine ruhige Stelle erreicht hatte, die so blau war, wie es nur das Meer sein konnte.

Als sie das Ufer erreichte, brannte das Salz in ihrer Kehle, und ihr Herz raste. Sie hatte es geschafft, hatte richtig reagiert. So wie es ihr vom Großvater beigebracht worden war.

Schaudernd, dabei voller Stolz, stieg sie aus dem Wasser und streifte sich das dünne Kleid über den Badeanzug, drehte die tropfenden schwarzen Haare, die ihr über die Schultern fielen, zu einem Knoten. Dabei merkte sie, dass sie zitterte. Lag es am Wind oder an den Gedanken an das, was hätte passieren können? Sie wusste schließlich, wie gefährlich die Felsküste war, und hatte es dennoch getan. Weil sie mit einem Mal erkannte, bewusst nach der Herausforderung gesucht zu haben.

Eine unbezwingbare Energie schien tief in ihr zu stecken, sie zu zwingen, einem solchen Drängen nachzugeben. Wenngleich der Vergleich hinkte, kam sie sich vor wie eine Ballerina, die sich geradezu zwanghaft von der Musik treiben ließ.

Bevor sie sich auf den Heimweg machte, schaute sie hinauf zu den mächtigen Felsen, die sich über der malerischen Bucht erhoben und sie mit ihrer majestätischen Pracht einen Moment lang von allen anderen Gedanken ablenkten.

An diesem Morgen waren lediglich wenige Besucher an den Strand von Torre Sponda gekommen. Er verdankte seinen Namen einem mittelalterlichen Turm, der dort stand und als Sehenswürdigkeit galt. Den Touristen war der Himmel offenbar zu wolkenverhangen. Für Milena hingegen war es ein perfekter Tag, schließlich wusste sie, wie schnell die Septembersonne durchbrach. Lächelnd nickte sie ein paar vorbeigehenden Einwohnern Positanos zu.

Ursprünglich hatte sie lediglich barfuß am Strand spazieren gehen wollen, erst beim Anblick der Wellen, die sich an den Felsen brachen, war das Verlangen, den Schaum und das Salz auf ihrer Haut zu spüren, übermächtig geworden und hatte sie ins Meer getrieben. Immer tiefer war sie hineingegangen, der Wind hatte ihre Haare zerzaust und die Strömung sie irgendwann mit sich gerissen, um ihre elementare Kraft und ihre Überlegenheit zu beweisen. Zunächst hatte sie Herzklopfen und musste ihre Angst überwinden, dann hatte sie den Wellen getrotzt und gewonnen.

Ein entscheidendes Ergebnis für sie, eine wichtige Bestätigung.

Immerhin war sie hierher zurückgekehrt, um ihren Mut und ihre Tatkraft wiederzufinden. Um zu verstehen. Sie schlang das Badetuch um ihre Schultern und lief auf die Treppe zu, die zur Villa führte, und stieg die Steinstufen hoch. Dabei versuchte sie an nichts anderes zu denken als an das Meer und die Sonne, sich einzig auf das zu konzentrieren, was sie vor sich sah.

Wie immer, wenn sie in Positano war, ging es ihr besser als in Rom, weil das immerwährende Rauschen des Meeres und der betörende Blumenduft ihre Seele umhüllten. Dieser magische Ort voller Farben, Düfte und Geräusche war ihr so vertraut, als wäre sie nie weg gewesen. Die salzige Meeresbrise gehörte ebenso dazu wie die bittersüßen Aromen der Zitronenbäume.

Hier fühlte sie sich wirklich zu Hause, bei ihrem Großvater, und nicht bei ihrem Vater im pulsierenden Rom. Positano war ihr Zufluchtsort.

Nicht zuletzt die silbernen Spiegel faszinierten sie. Es gefiel ihr, sich darin zu betrachten, ihr Gesicht, ihre Gestik, ihre Mimik. Es war fast, als würde sie vor sich selbst stehen und sich fragen, wer sie wirklich war. Diejenige, die in der Halle stand, oder eine der Gestalten in den zwölf Spiegeln. Wenn Milena an ihnen vorbeiging, hatte sie das Gefühl, ihre Seele zu sehen, in jedem Spiegel anders, mal ebenmäßig, mal verzerrt. Es war ein verwirrendes Spiel von Sein und Schein. Wer war sie wirklich?

Ihr Großvater hatte diese alten Spiegel nach dem Kauf des Hauses im Keller gefunden und neue Rahmen aus Silber geschmiedet, die er mit filigranen Ranken und Blättern sowie prachtvollen Rosenblüten und anderen Vorlagen aus der Natur versah. Milena fühlte sich beim Anblick dieser Meisterwerke wie in einer anderen, verzauberten Welt.

Wenn bloß alles anders gekommen wäre, schoss es ihr durch den Kopf, denn selbst hier war das Schicksal zeitweilig hart mit den Bewohnern umgesprungen. Sofort verdrängte sie diesen wehmütigen Gedanken wieder und dachte stattdessen an eine Lebensweisheit, die ihr der Großvater mitgegeben hatte.

Wenn und Hätte führt zu nichts. Etwas ist oder ist eben nicht, und damit muss man sich abfinden.

Am Ende der Treppe angekommen atmete sie tief durch und blickte fast ehrfürchtig auf das vertraute Gebäude. Wie an der Amalfiküste üblich, war die Villa auf einem Felsplateau errichtet. Arkaden auf einer in einem himmelblau und sonnengelben Karo gefliesten riesigen Veranda prägten ihre Architektur. Darunter lag ein terrassenförmig angelegter Garten mit einem Gewächshaus und einem Zitronenhain. Milenas Lieblingsplatz befand sich im Schutz der Bogengänge, von wo aus sie stundenlang auf das Meer blickte, bis die Dunkelheit alles verschluckte und ihr nicht mehr als eine süße Erinnerung blieb.

Sie ging durch die Terrassentür ins Haus, stieg die Treppe zu ihrem Zimmer im ersten Stock hoch und duschte. Danach zog sie ein einfaches T-Shirt und eine Hose an. Ihre Haare ließ sie feucht. Sie liebte es, wenn sie an der Luft trockneten und sich anschließend ganz leicht und locker anfühlten.

In Gedanken versunken, ging sie wieder nach unten und betrat die Veranda.

»Guten Morgen, Milena, du bist ja sehr früh auf.«

Überrascht schaute sie nach unten. Ihr Großvater stand unter einer prachtvollen, violett blühenden Bougainvillea. Lächelnd ging sie zu ihm.

»Ich war in aller Herrgottsfrühe am Strand. Wie geht es dir heute?«

Michele sah sie einen Moment lang unschlüssig an. Gleich bei ihrer Ankunft war Milena aufgefallen, dass er neuerdings lange Pausen beim Sprechen machte – so als habe er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und seine Gedanken in Worte zu fassen.

»Sehr gut, wie immer. Was die Ärzte sagen, vergessen wir lieber. Wenn die Leute weniger auf sie hören würden, wäre bestimmt die Hälfte aller Krankheiten auf der Welt verschwunden.«

War es wirklich so einfach, bezweifelte seine Enkelin, denn gestern beim Wiedersehen war sie sehr erschrocken gewesen, wie sehr er in kurzer Zeit gealtert war. Regelrecht geschrumpft. Sein sonst so fester Händedruck war zittrig geworden, das Hemd schlotterte ihm um den Körper. Und jetzt bei hellem Tageslicht bot er ein noch traurigeres Bild.

»Hast du schon gefrühstückt?«, fragte er und deutete hinauf zur Terrasse, wo der Tisch mit einem Milchkrug, frischem Brot, Butter, Zitronenmarmelade und Feigengelee gedeckt war.

»Ja, ich habe vor meinem Spaziergang gefrühstückt«, sagte Milena, die nach wie vor die fruchtig-würzigen Aromen der Zitronenzesten und des Kaffees im Mund spürte. »Rosaria hatte in weiser Voraussicht alles in der Küche vorbereitet. Soll ich dir jetzt Gesellschaft leisten?«

Michele nickte. Er aß gerne draußen, verbrachte seine Tage ohnehin am liebsten an der frischen Luft und werkelte im Garten, wenngleich seine Finger inzwischen von Arthritis verkrümmt waren und man sich kaum mehr vorzustellen vermochte, dass er einmal einer der berühmtesten Gold- und Silberschmiede Italiens war, vielleicht reichte sein Ruf damals sogar über die Landesgrenzen hinaus.

Zärtlich lächelte Milena ihn an und dachte an die ferne Zeit, als sie staunend neben ihm gestanden und seine Arbeiten bewundert hatte. Wie von Zauberhand war das Rohmaterial vor ihren Augen in prächtige Kunstwerke, in Ringe, Broschen, Armbänder und Ketten verwandelt worden. Von all den Schmuckstücken, die er ihr geschenkt hatte, mochte sie eines ganz besonders: ein ovales Medaillon aus Weiß- und Gelbgold. Drückte man es ganz sanft, klappte es auf, und ein Foto ihrer Mama mit ihr im Arm und dem Großvater dahinter kam zum Vorschein.

Es war ihr Glücksbringer, eine ständige Erinnerung an die Liebe ihrer Mutter und ihres Großvaters.

Inzwischen war aus ihm ein gebrechlicher Mann geworden. Trotzdem hielt er sich einigermaßen aufrecht, seine schlohweißen Haare fielen ihm, wie bei einem Künstler üblich, bis auf die Schultern, seine wettergegerbte Haut und die wissend dreinblickenden blauen Augen erzählten von einem langen, wechselhaften Leben.

»Warte, ich helfe dir«, sagte sie, als er sich anschickte, die Treppe nach oben hochzugehen.

»Lass mal, ich habe ja den Stock.«

Selbst wenn sie erkannte, wie schwer es ihm fiel, und fürchtete, er könnte stürzen, respektierte sie seinen Wunsch. Er war immer ein stolzer Mann gewesen, stolz auf sich, auf seine Arbeit, seinen Garten. Und auf sie, seine Enkelin.

Milena zwang sich zu einem Lächeln und versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken.

Dass er nicht mehr gesund war, darüber diskutierten die Ärzte schon länger. Er litt an Demenz, denn die Erinnerung an früher schwand mehr und mehr. Und dass diese Krankheit praktisch nicht heilbar war, fand sie besonders ungerecht und falsch. Entsprechend liebevoll schaute sie ihn an und bemühte sich, ihre Sorgen zu verbergen, wünschte sich von ganzem Herzen, er könnte noch einmal für kurze Zeit der Mann werden, der er einmal gewesen war.

Der Wind drehte sich und wehte Stimmen herüber, die sie ablenkten und aus ihrer Traurigkeit rissen.

Am Rand des durch eine Feldsteinmauer begrenzten Anwesens hinter dem Gewächshaus standen ein paar Männer in Arbeitskleidung neben Schubkarren und mit Schaufeln. Ihre Gesichter ließen sich nicht erkennen, und sie verstand nicht, was sie sagten, merkte lediglich, dass ihre Stimmen aufgeregt klangen.

»Wer ist das?«

Michele, der stehen geblieben war, brauchte eine Weile, bis er antwortete. »Bauarbeiter. Die Mauer wurde durch die schweren Regenfälle im Frühling in Mitleidenschaft gezogen, weißt du das nicht?«

»Nein, das hast du mir nicht mitgeteilt. War der Schaden groß?«

»Die Mauer stürzte an mehreren Stellen ein, deshalb habe ich mich entschlossen, sie abreißen und eine neue bauen zu lassen. Die alte habe ich vor vielen Jahren mit eigenen Händen errichtet, deine Mutter war als Kind ein richtiger Wildfang und kaum zu bändigen. Wie naiv es doch war zu glauben, eine Mauer würde sie vor allen Gefahren schützen können. Das Schicksal hat uns einen unerwarteten Streich gespielt.«

Seine Stimme brach, in seinen Augen erschienen Tränen, und in Gedanken war er weit weg. Nach dem Tod seiner Tochter hatte er sich mit Arbeit betäubt, seine Gefühle waren dabei erstarrt. Es hatte lange gedauert, bis es Milena gelungen war, den Panzer zu durchdringen und ihren Weg zu seinem Herzen zu finden.

»Komm, wir gehen ein Stück«, schlug sie vor, und der Großvater nickte.

Der betörende Duft wurde bei jedem Schritt intensiver. Alles stand in voller Blüte, Bienen schwärmten herum und kehrten mit reicher Beute zurück in ihren Stock. Milena versuchte sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren, um nicht an das denken zu müssen, was ihr auf der Seele lag. Ihre Mutter. Die Frau, die sie nie richtig kennenlernen durfte, weil allzu früh das Schicksal erbarmungslos zugeschlagen und sie ihr genommen hatte.

»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Michele.

Sie war überrascht über seine Frage, bis sie sich erinnerte, dass er ihr bis in die Seele zu schauen vermochte und es unmöglich war, etwas vor ihm zu verheimlichen.

Sie zuckte mit den Schultern. Dass sie nicht wie sonst nach Positano gekommen war, um hier Urlaub zu machen, sondern um in Ruhe über ihre Zukunft nachzudenken, das musste sie mit sich selbst ausmachen.

»Es geht mir wie immer. Mach dir keine Sorgen, ich komme damit klar, auf eigenen Füßen zu stehen.«

Der Alte streichelte ihre Hand. »Auf eigenen Füßen stehen und glücklich sein, das ist nicht das Gleiche.«

Er hielt inne und schaute sie zärtlich an. In seinen Augen lag nicht der Hauch eines Vorwurfs, und in diesem Augenblick fühlte Milena sich leichter als in den letzten Monaten, in denen sie innere Kämpfe ausgefochten hatte.

»Ich habe etwas vor, das mir wahrscheinlich viele Probleme machen wird«, sagte sie plötzlich. Und vielleicht das Ende meiner Träume sein wird, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Bloß Probleme? Oder ebenfalls Chancen?«

Unschlüssig wiegte sie den Kopf hin und her. »Vielleicht ja, vielleicht nein.«

Das Risiko war auf alle Fälle groß. Im Grunde stürzte sie sich kopfüber in die Tiefe, ohne zu wissen, ob sie Flügel besaß, die sie tragen würden. Andererseits war frei zu sein und die Luft auf ihrer Haut zu spüren das Einzige, bei dem sie sich lebendig fühlte. Viel zu lange hatte sie tatenlos zugeschaut, jetzt würde sie aufstehen und handeln. Und das, obwohl sie verdammt große Angst hatte, ins Bodenlose zu fallen und nicht mehr aufstehen zu können.

»Wenn das schiefgeht, Großvater …«, sagte sie, ohne den Satz zu beenden.

Micheles Hand strich ihr übers Haar. »Vielleicht geht ja alles gut. Du musst zu schwimmen beginnen, mein Kind. Früher oder später kann man sich nicht mehr einfach treiben lassen.«

Er hatte so recht, dachte sie, aber alles war so schwer.

Nach den vielen Jahren des Treibenlassens auf der Schauspielschule hatte sie sich auf ein wichtiges und außergewöhnliches Projekt eingelassen. Ein Risiko, verbunden mit einer Chance. Sie war wie elektrisiert und gleichzeitig voller Angst.

»Ich frage mich, warum du immer recht hast, Großvater.«

Das eben noch ernste Gesicht hellte sich auf. »Das ist eine Nebenwirkung des Alters, mein Schatz. Man nennt es Erfahrung.«

Es war so unkompliziert, sich in seiner Gesellschaft wohlzufühlen. Alles schien möglich. Es gab keine Wut, keine bitteren Gedanken. Als sie ihren Kopf an seine Brust legte, wurde ihr schlagartig bewusst, dass das der erste Moment seit Langem war, in dem sie mit sich und der Welt im Reinen war.

Sie fasste sich ein Herz. »Ich habe einen Vorsprechtermin, der möglicherweise alles ändern wird.«

Jetzt war es raus. Er würde sich für sie freuen, das wusste sie. Und ihr würde seine moralische Unterstützung guttun, selbst wenn sie ihr nicht wirklich half. Falls sie tatsächlich einen Schritt nach vorne machen wollte, musste sie über ihren eigenen Schatten springen.

»Du solltest begeistert sein.«

Er zog sie an sich. »Das bin ich – mehr oder weniger zumindest.« Michele lachte. »Alles wird gut, glaub meinem Gefühl.«

»Die Rolle ist sehr anspruchsvoll«, wandte sie ein. »Bestimmt gibt es geeignetere Kandidaten als mich.«

Michele musterte sie eindringlich. »Das kannst du nicht wissen, solange du nicht auf der Bühne stehst und es ausprobierst.«

»Immerhin ist es für mich das erste Mal, die anderen haben viel mehr Erfahrung.«

»Das mag sein, dafür hast du Herz und Fantasie.«

Milena wusste selbst nicht, warum sie das Wagnis überhaupt einging, wenn sie ihre Chancen so gering einschätzte. Vermutlich um sich herauszufordern und sich zu mehr Selbstbewusstsein zu zwingen. Schon als Kind hatte es ihr nicht genügt, ein Buch zu lesen, sie musste sich in die handelnden Personen hineinversetzen, in die Welt der Königinnen, Feen oder Hexen.

»Konzentrier dich auf die schönen Dinge, belaste dich nicht mit Problemen«, fuhr der Großvater fort, »behalt dein Ziel im Blick und frag dich jeden Abend, ob du wirklich alles dafür getan hast, es zu erreichen. Das allein zählt, mein Schatz.«

Wenn alles so unproblematisch wäre, wie er es darstellte, dachte Milena seufzend und blieb vor einem Baum stehen, strich mit dem Zeigefinger über eine Zitrone, roch daran und sog den würzigen Duft in sich ein. Sie konnte es schaffen, sofern sie all ihre Kraft und ihren Mut zusammennahm. Der Rest würde von alleine kommen.

Als ihr Großvater beim Weitergehen etwas zurückblieb, kam ihr eine Kindheitserinnerung in den Sinn. Damals war es umgekehrt gewesen, er war langsamer gegangen, damit sie mit ihm Schritt halten konnte. Gleichzeitig hatte er sie immer aufmunternd angelächelt, eine liebevolle Motivation, ohne jeden Druck. Bei diesem Gedanken wurde ihr noch jetzt warm ums Herz.

»Ich liebe dich, Großvater.«

»Das hast du lange nicht mehr gesagt, mein Schmetterling«, erhielt sie zur Antwort.

Schmetterling. Ein Kosename, der sie in ihre Kindheit zurückführte, in Tage des Friedens und der Freude. Sandburgen, frisch gepresster Orangensaft, Zitronenkuchen. Und ein Haufen duftender Schalen, den Rosaria zum Trocknen auf dem Tisch ausbreitete. Aus dem Fruchtfleisch kochte sie Marmelade, in der sie rühren durfte, bis die Masse sämig genug war, um in die Weckgläser gefüllt zu werden. All das war lange her.

Ein Schrei unterbrach ihre Gedanken, und sie drehte sich zu der Gruppe der Arbeiter um.

»Was ist los?«, fragte sie verwundert.

»Ich weiß es nicht«, erhielt sie zur Antwort. »Komm, schauen wir nach.«

Großvater und Enkelin begaben sich zu dem Bautrupp, der im Bereich der eingestürzten Mauer Backsteine und rote Ziegel aufgeschichtet hatte und dessen Schubkarren Furchen in den von der Sonne verbrannten Rasen gezogen hatten. Hier wuchs im Sommer nichts außer Kapernsträuchern und Ginster, die gut mit dem kargen Boden zurechtkamen. Neben dem Schutthaufen standen einige Männer und starrten auf den Boden.

»Der ist bereits länger da unten.«

»Logisch, seit gestern liegt der bestimmt nicht da.«

Ohne zu verstehen, um was es ging, verrieten ihnen die aufgeregten Stimmen, dass etwas absolut nicht in Ordnung war.

Milena sah ihren Großvater fragend an. »Von was reden die eigentlich?«, verlangte sie zu wissen.

Einer der Arbeiter hob den Kopf und machte eine abwehrende Handbewegung. »Bleiben Sie lieber weg, das ist kein schöner Anblick.«

Verwirrt schaute sie die Arbeiter an, die sie zumeist von früher kannte. Warum verrieten sie nicht, um was es ging. Ihre anfängliche Neugier verwandelte sich in Sorge.

»Giulio, verrat mir um Himmels willen, was ihr da gefunden habt«, bat sie den immer etwas grimmig dreinblickenden Gärtner, der seit Ewigkeiten für sie arbeitete und ihr früher wegen seines Aussehens Angst gemacht hatte. Mit den Pflanzen hingegen ging er hingebungsvoll um. Seine schwieligen Hände schienen die zarten Gewächse geradezu streicheln zu wollen.

Jetzt schwieg er, starrte zu seinem Arbeitgeber und wischte sich verlegen die Hände an den Hosenbeinen ab. So hatte ihn Milena nie zuvor erlebt.

»Du hast meine Enkelin gehört, sag ihr, was los ist?«, forderte Michele ihn auf.

»Wir haben etwas Schreckliches gefunden.«

Als jemand fluchte und ihm einen düsteren Blick zuwarf, fuhr der Gärtner sich mit den Fingern durchs Haar, bevor er weitersprach.

»Es war reiner Zufall, eigentlich waren wir gerade fertig.« Er deutete auf einen Haufen Zweige. »Wir haben die Büsche geschnitten, um besser graben zu können. Die neue Mauer braucht schließlich ein gutes Fundament, das haben Sie uns selbst gesagt.«

Milena hatte den Eindruck, als würde Giulio mit ihrem Großvater sprechen wie ein Kind, das verlegen war und um den heißen Brei herumredete. Warum benahm er sich so seltsam? Fast wirkte es, als hätte er etwas getan, das Michele missfallen könnte.

»Ja, das weiß ich noch. Was soll also passiert sein? Hauptsache, die Mauer hält dieses Mal stand«, erhielt er zur Antwortet.

Der Gärtner schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht«, sagte er und deutete auf das Loch zu seinen Füßen.

Milena trat näher und blickte hinein. Man konnte wenig erkennen, doch es schien sich um einen eingestürzten Brunnenschacht zu handeln, vom dem sie nichts wusste. Sie beugte sich weiter vor, bis unter ihr der Boden nachzugeben drohte und Giulio sie am Arm packte.

»Pass auf, das geht tief runter.«

»Wer hat den denn gegraben?«, fragte sie, ohne den Blick abzuwenden.

Giulio schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Scheint eine alte Zisterne für Regenwasser zu sein. Eine Seite ist eingestürzt, wahrscheinlich durch das kleine Erdbeben neulich … Aber darum geht es nicht.«

Die Spannung war mit Händen zu greifen. Alle schienen auf etwas zu warten.

»Ich habe sie gefunden«, meldete sich einer der Arbeiter zu Wort und hielt eine Taschenlampe hoch, schaltete sie an und leuchtete nach unten. Vorsichtig kehrte Milena an den Rand des Loches zurück, starrte in den Schacht und entdeckte im Lichtschein ein schemenhaftes Etwas. Ihr Atem stockte, das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»O mein Gott!«, brach es aus ihr heraus, während ein Schauer ihr über den Rücken jagte.

Aus der Tiefe starrte sie jemand an. Aus leeren Augenhöhlen und mit schreckgeweitetem Kiefer. Ein Mensch, von dem nichts als Knochen übrig war.

»Da unten liegt ein Skelett«, presste sie entsetzt und mit versagender Stimme hervor, als hätte sie erst in diesem Moment die ganze Tragweite der Situation begriffen, und hielt sich eine Hand vor den Mund.

»Keine Angst, Signorina«, beruhigte sie einer der Männer, »der ist tot. Wer weiß, wie lange der inzwischen da unten liegt, vielleicht zweihundert Jahre oder länger? Der tut uns nichts mehr. Höchstens sein Geist könnte hier rumspuken«, fügte er lachend hinzu.

Milena beachtete den Spaßvogel nicht. Ihre Aufmerksamkeit gehörte allein ihrem Großvater, dessen Gesicht leichenblass geworden war. Besorgt ging sie auf ihn zu und nahm seine Hand. Er drückte sie fest, wobei sein Blick weiter auf den Brunnen gerichtet war.

»Wer kann das sein? Das ist ja schrecklich«, wandte sie sich an ihn.

Michele antwortete nicht, schüttelte bloß den Kopf und bekam lange kein Wort über die Lippen.

»Ich weiß es nicht«, stammelte er schließlich, »und verstehe nicht, was da passiert sein könnte. Wir müssen unbedingt die Polizei rufen«, fügte er zögernd hinzu.

Unentschlossen trat das Gros der Arbeiter von einem Fuß auf den anderen, dann schüttelte einer den Kopf und räusperte sich.

»Oder sollen wir das Loch einfach wieder mit Erde füllen. Tote machen immer jede Menge Scherereien, vor allem solche, die keinen Namen haben.«

Milena protestierte, allein die Vorstellung, diese Entdeckung zu ignorieren, schockierte sie.

»Er hatte sicher Familie, sodass jemand ihn vermisst haben muss.«

Gebieterisch hob Michele die Hand, um die Diskussion zu beenden. »Schluss, wir rufen die Polizei. Milena, kannst du das bitte übernehmen?«

»Selbstverständlich, Großvater.«

Sie griff in ihre Hosentasche, stellte fest, dass sie das Handy in ihrem Zimmer vergessen hatte, und eilte nervös zum Haus zurück, nahm immer zwei Stufen auf einmal. Lediglich ganz nebenbei fragte sie sich, warum die Männer vorgeschlagen hatten, den Brunnen wieder zuzuschütten und die Geschichte auf sich beruhen zu lassen.

Wer mochte diese arme Seele wohl sein, von der nichts geblieben war außer Knochen mit leeren Augenhöhlen und einem zu einem Schrei, den keiner mehr hören konnte, geöffneten Mund.

Ein Gefühl tiefer Verzweiflung überkam sie. Instinktiv griff sie sich an den Hals und umklammerte ihren Talisman, den sie an einer Kette trug.

2

Kein Unbefugter durfte sich dem Skelett noch einmal nähern, selbst Michele nicht, seit es am nächsten Tag im Garten von Polizisten, Pathologen und Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft wimmelte. Sie alle hatten lauter Fragen gestellt, die auf den ersten Blick keinen Sinn machten. Das Ganze war Milena wie eine Tortur vorgekommen, und mehr und mehr verstand sie mittlerweile den Vorschlag, den Brunnen stillschweigend wieder zuzuschütten und die Sache nicht weiter zu verfolgen.

Aber so einfach war das eben nicht.

Ein Problem ließ sich nicht bedenkenlos ignorieren, wenn die Realität nicht verschwand, sondern sich zunehmend Geltung verschaffte und immer bedrohlicher wurde. Man musste sich ihr stellen, ob man wollte oder nicht. Das wusste sie aus eigener Erfahrung. Folglich erschien ihr alles schrecklich kompliziert und unglaublich schwierig.

Allein deshalb, weil sie unentwegt daran denken musste, dass dieses Skelett ein Mensch gewesen war, der ein Leben gehabt hatte, vermutlich auch Familie und Freunde, die voller Hoffnung auf ihn gewartet und sich irgendwann gefragt hatten, warum er verschwunden und was mit ihm geschehen war. Es musste entsetzlich sein, nicht zu wissen, was mit einem geliebten Menschen passiert war, von dem es keine Spur mehr gab. Fragen über Fragen, die immer drängender wurden und weitere nach sich zogen. Ein Teufelskreis. Milena zitterte am ganzen Körper, gequält von der Ungewissheit, wer dieser Mensch gewesen sein mochte.

Jedes Mal, wenn sie die Ermittlungsbeamten nach dem Stand der Dinge fragte, erhielt sie ausweichende Antworten. Zudem forderte man sie freundlich, jedoch bestimmt auf, ins Haus zu gehen und sich nicht einzumischen.

Widerwillig gehorchte sie und versuchte vom Fenster aus zu verfolgen, was im Garten geschah. Nachdem man das Skelett geborgen und weggebracht hatte, wurde die Umgebung des Fundorts untersucht. Neugierig schlich sie nach draußen bis zu dem gelben Absperrband. Da es in der Nacht geregnet hatte, sah alles anders aus als am Vortag, und die Männer in ihren weißen Overalls wirkten wie Gespenster. Bis auf einen, der Jeans und ein blaues Polohemd trug.

Es handelte sich um Maresciallo Federico Marra, den leitenden Inspektor der regionalen Carabinieri, der sie und Michele gestern zum ersten Mal befragt hatte. Ihr selbst war der Mann mit dem ernsten Blick nicht bekannt gewesen, dem Großvater hingegen schon. Dass er trotzdem ausgesprochen verlegen auf seine Fragen geantwortet hatte, gab Milena ebenso zu denken wie die Tatsache, dass er seit dem Verhör demonstrativ schwieg, was so gar nicht zu ihm passte.

Hatte er inzwischen einen Verdacht, wer der Tote sein könnte? Oder wer ihn umgebracht hatte?

Sobald er sie entdeckte, trat Marra auf sie zu und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Er war ein hochgewachsener, gut aussehender Mann mit braunen Augen und gelocktem dunklem Haar, der völlig ungerührt zu sein schien. Wie konnte man sich im Angesicht des Todes so abgeklärt verhalten, fragte sich Milena, die selbst noch immer zutiefst schockiert war und ständig das Skelett im Brunnen vor Augen hatte.

»Es tut mir leid, dass wir Ihnen so viele Umstände machen«, eröffnete er das Gespräch. »Die Untersuchungen werden noch ein paar Tage dauern, so lange dürfen Sie leider den abgesperrten Bereich nicht betreten.«

»Darum geht es mir nicht«, antwortete sie und wandte den Blick ab.

Der Gesichtsausdruck des Maresciallo wurde freundlicher. »Lassen Sie sich von einem Arzt etwas geben, damit Sie schlafen können.«

»Woher wissen Sie …« Milena hielt inne und fuhr dann fort: »Geht es Ihnen auch so, dass die Geschichte Ihnen nicht aus dem Kopf geht?«

»Nun, das ist ein Fall, den ich aufklären muss. An den Tod kann man sich zwar nicht gewöhnen, aber man macht das, was notwendig ist.«

Offenbar, erkannte sie, verstand der Mann ihre Ohnmacht, ihre Angst, obwohl er keine Betroffenheit erkennen ließ und die Sache routiniert in Angriff nahm. Dennoch war er nicht abgebrüht, wie sie vermutet hatte.

»Geht es Ihrem Großvater besser?«, wechselte er freundlich das Thema.

»Nicht wirklich. Er ist nach wie vor sehr aufgewühlt«, erklärte sie und erinnerte damit an Micheles unkontrollierte Reaktion auf die gestrige Befragung, die zu einer deutlichen Spannung geführt hatte. Sie selbst hatte das Ganze durch eine lautstarke Verteidigung des Großvaters verstärkt. Ein Fehler, wie sie jetzt einsah.

Marra nickte. »Ich weiß, dass das alles ziemlich schwierig und unangenehm ist, doch wir müssen alle Möglichkeiten berücksichtigen und sorgfältig prüfen. Das verlangen die Vorschriften. Beispielsweise müssen wir uns einen Eindruck verschaffen, ob es ein Unfall oder ein Verbrechen war, erst dann beschäftigt man sich mit der Frage, wer in die Geschichte verwickelt sein könnte.«

Da ihr jetziges Gespräch ruhig verlief, nahm Milena die Gelegenheit wahr, ihm zu erklären, warum sie sich gestern dermaßen aufgeregt hatte.

»Mein Großvater leidet unter Demenz, wahrscheinlich hat er Alzheimer«, sagte sie mit zitternder Stimme und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Ja, ich weiß, alle im Ort wissen davon und sind tief betroffen. Ihr Großvater wird sehr geschätzt.« Als sie nicht antwortete und schweigend aufs Meer starrte, fügte er hinzu: »Allerdings dürfen wir darüber nicht vergessen, dass es da einen Toten gibt, dem wir unsere ganze Aufmerksamkeit widmen müssen. Immerhin sind wir es ihm schuldig, seinen Tod aufzuklären, und manchmal müssen wir deshalb Prioritäten setzen.«

»Ist es ein Mann?«

»Das habe ich nicht direkt gesagt …«, wich er aus.

»Haben Sie zumindest eine Idee, wer das sein könnte?«, hakte sie nach und vergrub die Hände in den Jackentaschen.

»Dazu ist es noch zu früh. Ermittlungen dauern halt ihre Zeit.«