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Eine Insel voll geheimnisvoller Traditionen, eine junge Frau auf der Suche nach Hoffnung und ein Mädchen mit einer magischen Verbindung zu den goldenen Bienen Sardiniens.
Vom Dach der Opéra Garnier kann Alice über ganz Paris schauen. Hier oben hält sie ihre Bienen. Hier oben ist ihr Zufluchtsort. Doch von heute auf morgen ist der Stock verlassen. Eine Warnung für nahendes Unheil. Kurz darauf erhält Alice einen schrecklichen Anruf: Ihre Schwester, mit der sie wegen eines Streits seit zwei Jahren nicht gesprochen hat, ist gestorben. Sie hinterlässt Alice die Fürsorge für deren kleine Nichte. Doch Alice fühlt sich überfordert von der Verantwortung. Und so reist sie nach Sardinien, wo die Schwester lebte, um nach dem Vater des Kindes zu suchen. Was sie findet, bringt Alices Welt ins Wanken: uralte Wurzeln, ungeahnte Liebe und das heilende Lied der Bienen …
Mehr Sommer-Wohlfühl-Flair vor der traumhaften Kulisse Italiens finden Sie in Cristina Cabonis »Die Gartenvilla«, »Das Versprechen der Rosenfrauen« und »Die Glücksmalerin«. Alle Romane sind einzeln lesbar.
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Seitenzahl: 411
Buch
Vom Dach der Opéra Garnier kann Alice über ganz Paris schauen. Hier oben hält sie ihre Bienen. Hier oben ist ihr Zufluchtsort. Doch von heute auf morgen ist der Stock verlassen. Eine Warnung für nahendes Unheil. Kurz darauf erhält Alice einen schrecklichen Anruf: Ihre Schwester, mit der sie wegen eines Streits seit zwei Jahren nicht gesprochen hat, ist gestorben. Sie hinterlässt Alice die Fürsorge für deren kleine Nichte. Doch Alice fühlt sich überfordert von der Verantwortung. Und so reist sie nach Sardinien, wo die Schwester lebte, um nach dem Vater des Kindes zu suchen. Was sie findet, bringt Alices Welt ins Wanken: uralte Wurzeln, ungeahnte Liebe und das heilende Lied der Bienen …
Die Autorin
Cristina Caboni lebt mit ihrer Familie auf Sardinien, wo sie Bienen und Rosen züchtet. Ihr Debütroman »Die Rosenfrauen« verzauberte die Leser weltweit und stand in Deutschland wochenlang auf der Bestsellerliste. Auch ihre weiteren Romane bewegen und begeistern mit atmosphärischen Details und jeder Menge Italienflair. Mit »Die Insel der Honigtöchter«, Cristina Cabonis neuntem Buch, kehrt die Autorin schreiberisch auf ihre Heimatinsel zurück.
Von Cristina Caboni bereits erschienen
Die Rosenfrauen · Die Honigtöchter · Die Oleanderschwestern · Der Zauber zwischen den Seiten · Die Seidentöchter · Die Gartenvilla· Das Versprechen der Rosenfrauen· Die GlücksmalerinBesuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.
Cristina Caboni
Deutsch von Ingrid Ickler
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »La via del miele« bei Garzanti, S.r.l., Gruppo editoriale Mauri Spagnol, Milano.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright der Originalausgabe © 2022 by Cristina Caboni
License agreement made through Laura Ceccacci Agency S.R.L
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.de
KW · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-29137-2V001
www.blanvalet.de
Für alle, die mit der Erde verbunden sind, Blumen pflanzen, zu den Sternen singen.
Für die Träumer, die das Meer betrachten und die Geschichten hören, die der Wind erzählt.
Für alle, die nicht aufgeben. Dieses Buch ist für euch.
La vie est une fleur. L’amour en est le miel.
Einer Blume gleicht das Leben. Liebe ist ihr Honig.
(Victor Hugo)
In der Mitte der Wiese stehen Frauen im Kreis um ein Feuer, halten sich an den Händen und singen. Der Wind lässt ihre Röcke flattern, spielt mit ihren Haaren, bringt Düfte und Worte mit, die gleichen Lieder, die ihre tanzenden Finger zu einem imaginären Stoff verweben.
Maddalena Azara steht am Rand der Wiese und schaut den Frauen fasziniert zu. Die lodernden Flammen tauchen die Nacht in rötlich goldenes Licht. Es wirkt, als würden kleine Feen tanzen. Maddalena lächelt, denn im Grunde ihres Herzens weiß sie, dass sie eine von ihnen ist.
Sie nennen sich die Wächterinnen.
Singende Frauen, Schöpferinnen und Beschützerinnen, die nach den alten Traditionen leben.
»Schwestern«, murmelt sie mit klopfendem Herzen.
Jetzt erhebt sich ihr Gesang aus der Dunkelheit. Wie ein zärtlicher Begleiter der an den Strand brandenden Wellen in ihrem ewigen Kommen und Gehen.
»Schwestern«, wiederholt Maddalena, und das Wort klingt behütend und tröstlich. Sie öffnet die Lippen ein wenig und atmet den Wind ein, der sie nährt und stärkt. Sie lächelt und stimmt in den Gesang mit ein. Ein warmes Gefühl steigt in ihr auf und durchflutet sie.
Wie gerne würde sie sich in den Kreis einreihen, mit den Frauen tanzen, aber es geht nicht. Das ist nicht mehr ihr Platz. Sie weicht ein paar Schritte zurück, die Hände auf den gewölbten Bauch gelegt. Während sie den Hügel hinaufsteigt, denkt sie an die Zukunft. Es ist alles vorbereitet. Im Morgengrauen wird sie ihre Heimat verlassen, die Insel der goldenen Bienen, und alles, was war, wird Erinnerung sein. Aber diese Frauen, die ihr Freundschaft geschenkt haben, die die Türen ihrer Häuser und ihre Herzen geöffnet haben, werden für immer in ihr weiterleben. Wie aus dem Nichts taucht die Villa vor ihr auf. Vom Mondlicht beschienen, strahlt sie etwas Magisches, oder besser: eine starke Energie aus, die Energie der Liebe, der Güte.
Das Haus umfängt sie und nimmt sie liebevoll in den Arm. In diesen Mauern hat Maddalena Verständnis und Frieden gefunden. Aber jetzt muss sie gehen.
Und bezahlen.
»Die Freiheit, meine Liebe, hat immer einen Preis. Du musst wählen. Vergiss nie, Maddalena, was auch immer du tust, wir werden bei dir sein. Du kannst immer auf uns zählen.«
Das waren Margheritas Worte, damals, als sie gedacht hatte, alles sei verloren. In ihr hatte Maddalena eine treue Freundin gefunden. Eine Frau, die den Namen einer Blume trägt, die aber eigentlich Hoffnung heißen müsste. Denn mit ihrer Freundlichkeit hatte sie ihr genau das gegeben: Hoffnung. Und Zeit. Zeit zu verstehen und über ihre Zukunft zu entscheiden.
Als sie in ihrem Bett zwischen den frischen und nach Zitrone und Rosmarin duftenden Laken liegt, stellt sich Maddalena ihr Leben vor, das Gesicht ihrer Tochter, die sie nicht hier zur Welt bringen wird, die eine andere Sprache sprechen und eines Tages über ihre Entscheidung urteilen wird. Und es wird ein hartes Urteil sein, das weiß sie, denn Kinder sehen immer nur die eine Seite der Medaille, ihre eigene.
Bei Tagesanbruch geht Maddalena zum Strand, die Wächterinnen sind an ihrer Seite. Als sie die Mole betritt und das stahlgraue Meer betrachtet, beginnt sie zu zittern und weicht zurück. Doch sie spürt die Hände, die sie fassen und ihr Kraft geben.
»Wo auch immer du bist, wir werden bei dir sein.«
Maddalena hebt den Kopf und schaut zu dem Mann auf dem Schiff. Er wird sie fortbringen, weit weg von allem, was einmal ihr Leben war. Das Schwappen der Wellen wird stärker, sie reicht ihm eine Tasche, Geld, Papiere, Bewerbungsschreiben. Sie haben lange darüber gesprochen, bevor sie sich endgültig entschieden hat. Es war ein Abschied.
»Das Schiff wartet, wir haben es eilig«, sagt der Mann mit drängender Stimme. Sie umarmt jede einzelne Wächterin, sie hört Segenswünsche, bekommt kleine Geschenke, verabschiedet sich unter Tränen und doch voller Hoffnung.
Und dann empfängt sie das Meer, in dem sie als Kind schwimmen gelernt hat, das sie befragt hat, was hinter dem Horizont liegt. Das Schiff bringt sie zu ihrem neuen Leben, übergibt sie ihrem Schicksal.
Cuevas de la Avaña ist ein Höhlensystem in der spanischen Provinz Valencia, in dem sich zahlreiche Höhlenmalereien befinden, darunter die stilisierte Darstellung einer Frau, die Honig sammelt. Womöglich hat vor mehr als 7000 Jahren ein einladender Gesang die Bienen angelockt und einen Künstler zu diesem Werk inspiriert.
Als Alice Pascal Azara die Biene sah, die sich auf ihren Handrücken gesetzt hatte, zuckte sie zusammen. Nicht weil sie Angst hatte. Sie wusste, dass sie nicht stechen würde.
Aber sie wusste nicht, was der Besuch der Biene ihr sagen wollte, nur dass es etwas Wichtiges war. Daran gab es keinen Zweifel. Sie hätte besser aufpassen müssen, für ihre Unachtsamkeit hatte sie schon einmal teuer bezahlt.
So war es immer.
Sie beschirmte die Biene mit der Hand, damit niemand im Konferenzsaal sie bemerkte, stand vorsichtig auf und ging auf die Glastür zu und weiter nach draußen. Hinter sich hörte sie, wie Guy Leroy, der Geschäftsführer der Firma für Datenanalyse, für die sie seit acht Jahren arbeitete, den Jahresbericht präsentierte. Sie musste sich beeilen. An diesem Tag ging es auch um ihren persönlichen Erfolg, sie durfte jetzt nicht fehlen.
Die Biene schien keine Angst zu kennen und krabbelte auf ihrem Handrücken herum.
Alice fragte sich, woher sie wohl kam. Sie zog Bienen magisch an, egal, ob im Haus ihrer Eltern in der Provence oder mitten in Paris, stets fanden sie sie.
»Was möchtest du mir dieses Mal sagen?«
Eine Erinnerung wallte in ihr auf, und sie schauderte. Dann konzentrierte sich Alice wieder auf die Biene und erlaubte sich noch einen Moment der Entspannung, um sie zu beobachten, dann hob sie den Arm in Richtung des kobaltblauen Himmels und flüsterte: »Die Sonne geht bald unter, flieg nach Hause.«
Sie kam gerade rechtzeitig in den Konferenzraum zurück.
»Das Ziel wurde weit übertroffen, und jeder von euch hat dazu beigetragen, vielen Dank.«
Beifall brandete auf.
Alice setzte sich in die Nähe des offenen Fensters, falls die Biene sich dazu entscheiden sollte zurückzukehren. Sie lächelte Noêlle Fabre, der Personalchefin, auf dem Stuhl neben ihr zu.
»Sehr gute Arbeit, meine Liebe, Glückwunsch zu deiner Beförderung, sie ist hochverdient.«
»Danke.«
Noëlle stand auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter, dann winkte sie Leroy zu sich.
Alice warf noch einen letzten Blick nach draußen, die Biene war sicher auf dem Rückflug in ihren Stock. Dann richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Kollegen und lächelte. Die gelöste Stimmung tat ihr gut.
Das ganze Team hatte für dieses Ergebnis hart gearbeitet. Alice selbst war im Hintergrund geblieben, hatte Probleme analysiert und Lösungen erarbeitet. Diese Rolle wollte sie auch nach ihrer Beförderung weiter beibehalten.
Noëlle stand jetzt neben dem Geschäftsführer und strahlte ihn an, aus ihrem Blick sprach tiefe Zufriedenheit. Einen Moment lang wünschte Alice, sie wäre wie sie.
Aber nur kurz.
Lieber nicht, das war nicht ihre Welt. Sie las lieber den ganzen Tag Berichte. Zahlen hatten keine Meinung, stritten oder beschwerten sich nicht. Zahlen stellten keine Fragen, auf die man nicht antworten wollte. Kein Chaos, keine Überraschungen. Alles war unter Kontrolle.
Sie hob das Glas, das ihr ein livrierter junger Kellner gereicht hatte, und stieß in Gedanken mit sich selbst auf ihre Beförderung an. Sie hatte einen wichtigen Schritt auf der Karriereleiter nach oben gemacht.
»Solltest du nicht an seiner Seite sein?«
Sie hatte ihn nicht kommen hören, ihn nicht mal gesehen, abgelenkt durch den Besuch der kleinen Biene.
»Ich spreche nicht gerne in der Öffentlichkeit«, antwortete sie für ihre Verhältnisse ungewöhnlich direkt.
Gérard Clavel nahm nur selten an Konferenzen teil. Er war zurückhaltend, genau wie sie, aber bei diesem wichtigen Ereignis durfte er als Leiter der Rechtsabteilung nicht fehlen.
»Das ist mir schon aufgefallen. Ich frage mich, wie lange du noch im Hintergrund bleiben willst.«
Was meinte er damit? Alice hob den Kopf, überrascht von der Intensität seines Blicks. Ihr Herz schlug schneller. »Was willst du damit sagen?«
»Ich versuche es zu erklären.«
Seine sonore Stimme klang sinnlich, ein Hauch seines Aftershaves lag in der Luft, dezent und elegant. Sie spürte wieder dieses schwärmerische Gefühl, das sie früher für ihn empfunden hatte und das scheinbar immer noch nicht ganz erloschen war.
»Wenn du schüchtern oder unsicher wärst, könnte ich es noch verstehen, aber so ist es nicht. Deshalb bleibt die Frage, warum eine so starke und kompetente Frau wie du auf einen Moment des Triumphs wie diesen verzichtet.«
Überrascht trank sie einen Schluck. Der Wein war sehr herb, fast sauer. Er schmeckte ihr nicht, und sie stellte das Glas auf einem kleinen Tisch ab, neben einen Blumenstrauß, der allmählich zu welken begann. Bei ihrer Ankunft hatte sie daran gerochen, aber er duftete nicht. Er war schön, mehr nicht. Weiß – wie die gesamte Inneneinrichtung – passte er perfekt. Selbst die Kellner waren weiß gekleidet.
»Triumph ist ein weites Feld und vor allem ein subjektives Empfinden. Ich würde es eher Zufriedenheit nennen.«
Sie waren einen Schritt beiseitegetreten. Durch die großen Scheiben konnte Alice die Lichter der Stadt sehen. Sie hätte das rote Kleid nicht anziehen sollen. Zu auffällig. Aber schließlich war das ihr Abend. Der perfekte Anlass, um mal etwas anderes zu tragen als ein graues Kostüm. Oder ein schwarzes. Einmal hatte sie über ihren Schatten springen wollen.
»Du bist eine ungewöhnliche Frau.«
Sie nahm ihm das nicht übel, man hatte sie schon schlimmer tituliert. »Warst du deshalb gegen meine Kandidatur?« Mit den Jahren hatte sie gelernt, dass Männer wie Gérard sich den ganzen verfügbaren Raum nahmen. Besonders er. Ihre Gefühle ihm gegenüber waren widersprüchlicher Natur. Er war attraktiv, selbstsicher, er hatte etwas Besonderes an sich. Das gefiel ihr … von Anfang an.
»Sagen wir, das war einer der Gründe.«
»Ich war eure beste Option, und das weißt du auch.« Das war kein Selbstlob, sondern eine Tatsache. Sie hatte sich bestimmt doppelt so viel Mühe gegeben wie die anderen, ihre ganze Zeit in die Firma investiert. Sie kannte die Strukturen, das System, alle kritischen Punkte. Der Erfolg der Firma war ihr Lebenszweck. Der Einzige, den sie hatte.
»Ich habe nie das Gegenteil behauptet.«
Sie schloss die Augen. »Liegt es daran, dass ich eine Frau bin?« Sie wusste, dass sie ihn mit der Frage provozierte. Das war eigentlich nicht ihre Art, sie scheute Konflikte. Aber jetzt ließ sie nicht locker. War er wütend? Oder wollte er sich entschuldigen? Was wollte er überhaupt?
»Komm schon, du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass es das nicht ist.«
Das war keine Antwort, jedenfalls nicht die, nach der sie suchte. »Warum dann?«
Gérard lächelte.
»Nun, Alice, wenn ich dir in die Augen schaue – und das tue ich immer, wenn ich die Chance dazu habe –, habe ich den Eindruck, in einen tiefen, ruhigen See zu blicken. Nicht mal nach Stunden kann man den Grund erkennen.« Er hielt inne. »Ich frage mich, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Und dass ich es nicht weiß, ist mir unangenehm.«
Seine Worte machten sie nachdenklich. Hatte er sie wirklich ständig im Auge? Er lächelte, und Alice fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Dann gewann die Logik wieder die Oberhand. Der Grund für sein Interesse war offensichtlich: Sie hatte Zugang zu allen wichtigen Informationen die Firma betreffend, natürlich war sie wichtig für ihn. Mit einem Schlag hatte sie ihre Selbstsicherheit eingebüßt. »Was genau willst du von mir, Gérard?«
»Ein Abendessen wäre ein guter Anfang.«
Erneut überrascht, dachte sie über das Angebot nach. Warum eigentlich nicht? Gerard strahlte Autorität, Sicherheit, Kontrolle aus, Qualitäten, die sie sehr schätzte. Der Gedanke beunruhigte sie. An diesem Abend schienen sich sogar ihre verborgensten Wünsche zu erfüllen. Sie nickte einer Kollegin zu und wandte sich wieder an ihn. »Ich denke darüber nach.«
Gérard schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich habe noch eine Frage.«
Sie seufzte und lächelte wider Willen. »Ja?«
»Warum hast du deine Meinung geändert?«
Alice sah ihn erstaunt an. »Bitte?«
»Dieses Kleid, diese Farbe. Gewagt, auffällig. Alle schauen dich an. Du bist … unvergesslich.«
»Es ist nur ein Kleid.«
Er wusste, dass mehr dahintersteckte. »Ich dachte, du wolltest deinen Erfolg feiern, endlich mal aus dem Schatten treten. Aber auch dieses Mal bist du im Hintergrund geblieben.«
»Und warum sollte dich das etwas angehen?«
»Ich schaue dich an, Alice. Und ich sehe dich.«
Sie wich zurück. »Danke für das Gespräch, ich muss jetzt gehen. Einen schönen Abend noch, Gérard.«
Er wollte etwas erwidern, schüttelte dann aber den Kopf und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Bis bald, Alice.«
Er ging und wusste, dass sie ihm nachsah. Allein der Ton, in dem er ihren Namen ausgesprochen hatte, hatte sie aufgewühlt.
Damit nicht genug. Das alles war zu viel für sie, zu viele Gefühle, zu viel zu bewältigen. Ein Gewicht drückte auf ihre Schultern, ihr Atem beschleunigte sich. Sie zog rasch ihren Mantel über, wollte nur noch hier weg. Sie musste unbedingt ihre Gedanken ordnen. Erst wollte sie ein Taxi nehmen, überlegte es sich dann aber anders. Ein bisschen Bewegung an der frischen Luft würde ihr helfen, ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen.
Im Aufzug traf sie gut gelaunte Kollegen. Sie mochte es, glückliche Menschen zu sehen, ihr Lächeln, ihr entspannter Gesichtsausdruck. Einige wollten mit dem Bonus, den sie erhalten hatten, in den Urlaub fahren, andere mussten noch Kredite abbezahlen, doch die meisten wollten ihren Kindern etwas schenken. Sie arbeiteten schon Jahre zusammen, aber privat wusste Alice nichts über sie.
Draußen spürte sie erst, wie kalt es war, und ärgerte sich, dass sie den Wollschal nicht mitgenommen hatte. Obwohl sie schon länger in Paris lebte, hatte sie sich noch immer nicht an die Temperaturen gewöhnt. Irgendwann würde sie an einem Ort leben, an dem es immer warm und der Himmel blau war. Gérard hatte wissen wollen, was sie unter der Oberfläche bewegte. Aber sie behielt ihre Träume lieber für sich, nur den Bienen erzählte sie davon. Das war zwar nicht das Gleiche, aber für sie passte es so.
Seit sie sich erinnern konnte, waren Bienen ein Teil ihres Lebens. Ihre Großmutter Maddalena oder Mallena, wie sie in der Familie genannt wurde, hatte ihr den Gesang beigebracht, mit dem man nach ihnen rief.
»Von wem hast du das gelernt, nonna?«, hatte sie eines Tages gefragt.
»Eine Frau hat es mir beigebracht.«
Alice hatten mit den Füßen in dem kleinen Bach gestanden, der durch das Gelände des Gutes führte, auf dem sie mit ihrer Familie und ihrer kleinen Schwester gelebt hatte. Um sie herum hatten die Lavendelfelder geleuchtet. Alice und Mallena hatten die Bienenstöcke betrachtet, die an der Hecke standen, gut geschützt vor dem Mistral. Der kleine See weiter unten im Tal sorgte für die nötige Bewässerung der Felder, auf denen Thymian, Bohnenkraut, Kletten, Salbei und Rosmarin wuchsen. Der Duft der Kräuter wehte bis ins Haus. Aus ihnen hatte Mallena Tees, Seifen und Kerzen hergestellt, die sie auf dem Markt verkaufte.
»Und wie hieß die Frau?«
»Margherita, wie die Blume. Sie war der gütigste Mensch, den ich jemals getroffen habe.«
»Und sie hat für ihre Bienen gesungen?«
»Ja, sie und die anderen Frauen. Sie hat es allen beigebracht.«
Alice sah die Szene vor sich. Eine blühende Wiese, Frauen, hochgewachsen und gut aussehend wie ihre Großmutter, die Arme nach vorne gestreckt, die Handflächen in Richtung Himmel gedreht. In hellen Kleidern, denn die Bienen mochten sonnige Farben. Der sanfte Gesang, der sich mit ihrem Summen, dem säuselnden Wind und dem Wasserrauschen vermischte.
»Eines Tages mache ich das auch, Großmutter. Dann werde ich wie du.«
Mallena hatte sie angelächelt und mit dem warmen Wasser bespritzt, das über die Kiesel plätscherte. Sie war eine lebenslustige und zuweilen etwas seltsame Frau gewesen, was Alices Mutter nicht immer gefallen hatte. Sie hatte sich immer darüber Sorgen gemacht, was die Leute sagen könnten. Aber dann hatte Mallena ihre Enkelin an sich gezogen, und irgendwann hatte auch Céline gelacht.
»Das weiß ich, mein Kind, ich weiß.«
Die Erinnerung schwand und hinterließ ein bittersüßes Gefühl in Alices Herzen. »Eines Tages« war ein wirkmächtiger, hoffnungsvoller Ausdruck. Eines Tages würde sie einen Hund oder eine Katze haben. Ein Haus mit einem Torbogen, durch den man das Meer sehen und seinen salzigen Duft einatmen konnte. Wo sie endlich sie selbst sein konnte. Dazu einen Garten voller Blumen und Bienen.
Das Heulen einer Sirene durchbrach den Zauber, Motorengeräusche und lautes Hupen folgten. Die Stadt war von pulsierendem Leben, Lachen und Stimmen erfüllt.
Sie kehrte in die Realität zurück.
Zu sich.
»Das sind nur Träume, Hirngespinste, das Leben sieht anders aus.«
Sie reihte sich in den Strom der Passanten ein, löste den Knoten, zu dem sie ihre Haare gebunden hatte, und ließ sie über die Schultern fallen. Sie seufzte erleichtert. Während sie die restlichen sechs Querstraßen passierte, die sie noch von ihrer Wohnung trennten, dachte sie wieder an Gérard. Er war zwar nicht ihr Chef, aber die Hierarchie in der Firma war klar. Deshalb hatte sie beschlossen, sich von ihm fernzuhalten, für flüchtige Beziehungen hatte sie sowieso nichts übrig. Warum war er jetzt auf sie zugekommen? Was wollte er von ihr? Was wollte er wirklich? Ihr wurde warm, das Wort »unvergesslich« kam ihr wieder in den Sinn. So hatte er sie genannt. Das war sicher kein Zufall. Eine Schmeichelei, eines der Komplimente, das Männer benutzten, um Frauen zu beeindrucken. Sie wusste das alles, und doch konnte sie es nicht abschütteln. Ihre Angst und ein unbestimmtes Verlangen machten sie unruhig, die Situation entglitt ihrer Kontrolle.
War es etwa Zeit für eine Veränderung?
Sie fühlte sich einsam. Aber anders als sonst. Es war nicht die Stille, die sie bedrückte, auch nicht das Fehlen von Gesprächspartnern oder Gesellschaft, die fand sie immer, sondern etwas Intimeres. Ihr fehlte die vollkommene Verbindung mit einem anderen Menschen.
Sie dachte weiter darüber nach, wägte ab. Wenn sie die Einladung zum Abendessen annehmen würde, müssten ihre Regeln gelten. Keine Romantik.
Sie scheute das Risiko. Sie beobachtete, analysierte, steckte Ziele und entwickelte Strategien, sie arbeitete hart. Außerdem war sie geduldig und ausdauernd, potenziell instabile Situationen vermied sie. In ihrem Leben gab es keine Zufälle. Chaos führte zu Fehlern, und dann war das Scheitern nicht mehr weit. Das wusste sie.
Sie schaute sich um, und ihr Blick blieb an einem Pärchen hängen, das sich an den Händen hielt und sich küsste.
Wie es sich wohl anfühlte, sich einfach fallen zu lassen, sich den Gefühlen hinzugeben, sodass kein Raum mehr für etwas anderes war?
An diesem Freitagabend war es auf der Rue de Buci noch voller als sonst. Ein Straßenkünstler spielte Geige, umringt von einer dichten Menschentraube. Die Musik zog Alice magisch an, sie blieb stehen und schaute dem Geiger in die Augen, suchte nach etwas Kleingeld und legte es in die aufgestellte Kiste. Er schenkte ihr ein Lächeln. Es fiel ihr schwer, sich von ihm zu lösen, aber sie musste weiter, es würde noch eine Weile dauern, bis sie zu Hause war.
In der Rue de Furstemberg betrachtete sie die kahlen Zweige der mächtigen Blauglockenbäume. Im Frühling würden sie voller Blüten sein, sie konnte es kaum erwarten.
Noch um eine Ecke, dann war sie endlich zu Hause. Sie betrat ihre minimalistisch und funktional eingerichtete Wohnung. Ein kleines Wohnzimmer mit Kochnische, Schlafzimmer, Bad und Balkon. Schlichte Möbel, Meeresbilder an den Wänden. Und Bücher. Kein Schnickschnack. Kein Geräusch war zu hören. Das erste Mal fand sie die Stille bedrückend.
Sie zog die Vorhänge auf und betrachtete die Stadt. Überall Lichter, auf den Straßen, hinter den Fenstern, überall Leben. Und bei ihr? Sie hatte das Gefühl, dass das Leben an ihr vorüberglitt. Sie lehnte die Stirn an die kalte Scheibe. Gérards Worte führten sie zurück in die Vergangenheit, als ihr jemand genau das Gleiche gesagt hatte: Emma, ihre Schwester. Sie hatte es gesagt, bevor sie die Tür hinter ihr zugeschlagen und sie aus ihrem Leben verbannt hatte. Oder war es umgekehrt gewesen?
Vor langer Zeit.
Gérard kam ihr wieder in den Sinn, sein Blick, die sinnlichen Worte. Sie dachte an die Leere, die sie um sich herum geschaffen hatte. Sie war zu ihrem Lebensstil geworden. Und dann spürte sie es, dieses nagende Bedürfnis, es war nicht mehr wegzuschieben.
Sie griff nach der Tasche und suchte nach ihrem Telefon. Sie hatte seine Nummer eingespeichert, musste nur die Taste drücken. Und das tat sie, mit wild klopfendem Herzen.
»Alice.«
»Nächste Woche, Samstagabend. Um sieben. Du suchst das Lokal aus.«
Sie hörte ihn lachen, aber es war ihr egal. Sie wollte ausgehen, Gérard danach fragen, was er noch über sie wusste. Sie wollte ihm von ihrer Schwester erzählen. Wenn sie nur wüsste, wo Emma jetzt war. Aber es stand zu viel zwischen ihnen.
»Ich hole dich ab.«
»Ich schicke dir eine Nachricht mit meiner Adresse.«
»Nicht nötig, ich weiß, wo du wohnst.«
Sie legte auf und lächelte. Ja, vielleicht war es Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen und ihrem Leben eine andere Richtung zu geben.
Von den Bergen bis ins Tal, von den Flüssen bis zum Meer, mit den Bienen sieht man die Landschaft von oben. Sie sammeln den Nektar Abertausender Blüten und verwandeln ihn in ein außergewöhnliches Nahrungsmittel. Seit Jahrtausenden begleitet der Honig wichtige Momente des Lebens, und in manchen Ländern ist er auch heute noch das Symbol für die Liebe.
Von der Galerie der Opera Garnier ließ Alice den Blick über die Stadt schweifen. Über der Horizontlinie, hinter den großen Palais, durchschnitt die Seine die Stadt. In der Abenddämmerung spiegelten sich die Lichter auf der Oberfläche des langsam dahinströmenden Flusses. Sie musste an die Worte denken, die sie vor vielen Jahren gelesen hatte.
Wer in die Tiefen von Paris blickt, dem schwindelt es. Nichts ist bizarrer, tragischer, großartiger.
Viktor Hugos Worte beschrieben sehr gut, was sie gerade empfand. Sie stand hoch oben und blickte auf die Straße, während der Wind ihr über das Gesicht strich und ihre innere Leere füllte.
Ihr war klar, dass das Gefühl nicht anhalten würde, mit diesem Frieden wäre es bald vorbei. Als Kind hatte sie ihrer Angst ohnmächtig gegenübergestanden, aber mit der Zeit hatte sie gelernt, sich von dem zu lösen, was sie leiden ließ.
Ihr Handy vibrierte. Alice las die Nachricht.
Bonjour, bist du schon da?
Ja, Éloise, ich brauche aber noch ein bisschen.
Wir haben die Sitzung vorverlegt. Kommst du, wenn du fertig bist?
Selbstverständlich.
Eine Windböe ließ sie spüren, wie nah sie tatsächlich am Abgrund stand, und sie trat ein paar Schritte zurück. Dann warf sie einen Blick in den Himmel. Auch wenn die Sonne noch schien, senkte sich die Dunkelheit um diese Zeit des Jahres rasch herab. Sie hatte noch etwas Zeit, bevor sie die anderen treffen würde. Éloise, die Vizepräsidentin des Verbands der Stadtimker, hatte sie zur Mitgliederversammlung eingeladen. Alice hatte die sympathische Frau auf Anhieb gemocht, als sie sich das erste Mal in deren sonnendurchflutetem Büro getroffen hatten. Sie erinnerte sich noch an Éloises ermutigendes Lächeln, an die vielen Pflanzen, die das Zimmer in einen Garten zu verwandeln schienen, an die Fotos an den Wänden, auf denen die Balkone, Terrassen und Dächer zu sehen waren, auf denen die Stadtimker ihre Stöcke aufgestellt hatten. Alice war so fasziniert gewesen, dass sie alle Vorbehalte über Bord geworfen hatte. Und Éloise schien ihre Gedanken gelesen zu haben und hatte sie gebeten, Platz zu nehmen.
»Würden Sie gerne Mitglied unseres Verbands werden?«
Alice war sich plötzlich sicher gewesen. »Ja, gerne, aber ich habe kein Bienenvolk.«
»Sind Sie Imkerin?«
»Ich liebe Bienen«, hatte sie ausweichend geantwortet. Sie hatte nicht gelogen, aber auch keine weitere Erklärung gegeben. Bienen waren seit jeher ihre Freundinnen gewesen, ihre Vertrauten. In ihrer Nähe hatte Alice sich immer wohl gefühlt. Sie war bei ihrer Großmutter aufgewachsen, die für die Bienen gesungen hatte. Aber das war ein Geheimnis, sicher würde das nicht jeder verstehen, also behielt sie diese Gabe besser für sich. Das hatte sie schon schmerzhaft lernen müssen.
»Dann sind Sie hier richtig.«
Alice war einer Gruppe von Imkern zugeordnet worden. Mit der Zeit hatte man ihr die schwierigen Bienenvölker anvertraut, mit denen sie stets bestens zurechtkam. Im Kreise der anderen Imker fühlte sie sich zwar wohl, aber bei Gesprächen hielt sie sich meist zurück und beobachtete lieber.
Obwohl seit ihrem Beitritt bereits einige Jahre vergangen waren, war sie jedes Mal aufgeregt, wenn sie zu den Bienenstöcken ging. Der jahreszeitliche Rhythmus im Bienenstock war wie ein Wunder der Natur.
Alice zog die Jacke aus, schlüpfte in den Arbeitsoverall, fasste ihre Haare zusammen und streifte die Handschuhe über.
Wenn sie bei ihren Bienen war, hatte sie das Gefühl, eine von ihnen zu sein: leicht, schnell, nützlich. Der Gesang drang aus ihrer Seele ans Freie, ließ sie ihre Lippen öffnen. Sie stellte sich vor, über die Dächer von Paris zu fliegen, zusammen mit ihren Gefährtinnen. Nur von oben verstand sie das Wesen der Stadt, entdeckte verborgene Gärten, landete auf weit geöffneten Blüten, hatte Einblicke in das Leben anderer. Sie sog den Duft des Lebens ein, die Herbstrosen auf den Terrassen, die Astern und Dahlien auf den Balkonen. Die Stiefmütterchen auf den Beeten. Sie fühlte sich frei, war Teil eines großen Ganzen, hatte ihren Platz.
Sie überließ sich ihren Gedanken, bis sie fast zu schweben schien wie die kleinen weißen Wolken am Himmel.
Sie stieg die Leiter hoch zu einer kleinen Plattform. Dort, geschützt vor dem Wind, stand ihr Bienenstock. Als sie direkt vor ihm stand, befiel sie ein gewisses Unbehagen, und sie hielt inne.
Alles war still. »Merkwürdig.«
Alice blickte sich um, dann konzentrierte sie sich wieder auf den Bienenstock. »Was ist mit der Einflugschneise los?« Sie schloss die Augen, ging einige Schritte nach vorne, das Räuchergerät ließ sie auf einem Vorsprung stehen. Sie hatte es natürlich dabei, wie es die Vorschriften vorsahen, aber es war nicht angezündet. Die Bienen taten ihr nichts, Rauch hatte sie noch nie gebraucht.
Alice ging an die Arbeit: Sie schob den Haken unter die Abdeckung des Kastens, hob den Deckel behutsam ab und legte ihn auf die Seite. Ihr Herz raste, da stimmte etwas nicht.
»Wie ist das möglich?«
Der Stock war verwaist, die Bienen waren verschwunden. Das Wachs war erkaltet. »Was ist hier los?« Alice schnupperte, prüfte die Temperatur. Bildeten sie etwa schon ihre Wintertraube? »Nein, dafür ist es noch nicht kalt genug.«
In den kalten Wintermonaten rücken die Bienen ganz eng zusammen und wärmen sich gegenseitig, mittendrin die Königin.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, das bedrückende Gefühl, das sie schon die ganze Zeit gehabt hatte, wurde stärker.
Sie hob den ersten Wabenrahmen heraus, dann den zweiten.
Die Waben waren voller Honig, aber die Brut in den Wabenzellen war vertrocknet und von bräunlicher Farbe. Der beißende Geruch ließ keinen Zweifel: Der Stock war verlassen. Traurig kratzte sie über die Wachsschicht und hoffte auf ein Wunder, aber die Puppen bewegten sich nicht. Ohne die für die Brutpflege zuständigen Arbeiterinnen hatten sie keine Chance. Hatte das Bienenvolk beschlossen, von hier wegzugehen? »Aber warum?«
Als sie vor einigen Wochen hier gewesen war, war alles in bester Ordnung gewesen. Auch wenn die Großstadt ein eher insektenfeindliches Habitat war, hatten die Bienen sich an die Bedingungen angepasst. Blühpflanzen auf Balkonen, in Gärten und Parks lieferten die überlebenswichtige Nahrung. Sie bestäubten auf ihren Ausflügen die Blüten und saugten den Nektar auf, ein ständiges Geben und Nehmen, Grundvoraussetzung allen Lebens. Denn auch die Pflanzen profitierten, aus den bestäubten Blüten entwickelten sich Früchte. Bienen waren die Wächterinnen der Natur, die Hüterinnen des Lebens.
Das Stadtimkern galt zwar als neumodische Laune, doch Bienenvölker gab es in Paris schon seit langer Zeit. Der Pariser Imkerverband, bei dem sie Mitglied war, die Société Centrale d’Apiculture, hatte vor einigen Jahren seinen 150. Geburtstag gefeiert.
Alice zog die Maske ab und ließ sie zu Boden fallen. »Die Bienen kümmern sich um uns alle und bleiben immer freundlich, mein Kind.«
Die Erinnerung tauchte aus dem Nichts auf. Ihre Großmutter hatte recht. Bienen kümmerten sich um ihre Umgebung. Aber ihre Zahl nahm immer mehr ab, und das machte Alice Sorgen. Es sollte allen zu denken geben, aber die meisten Menschen sahen nur das, was sie sehen wollten.
Sie hob den Blick suchend zum Himmel, aber sosehr sie sich auch konzentrierte, sie konnte den Schwarm nicht entdecken. Sie hörte ihre Bienen auch nicht mehr, denn sie waren ganz einfach nicht mehr da. Sie hatten sie verlassen. Alice fühlte sich ohnmächtig, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden, den Rücken an den Bienenkasten gelehnt, und starrte ins Nichts. Gefühle wallten in ihr auf und drohten, sie zu übermannen. »Tief einatmen, dann geht es vorbei. Es geht vorbei.« Sie klammerte sich an diese Überzeugung: Alles ging vorbei, auch der Schmerz. Nicht weil er sich auflöste, er veränderte sich und wurde erträglicher.
Langsam beruhigte sie sich, ordnete ihre Gedanken und analysierte einen nach dem anderen. Das logische Denken hatte wieder die Oberhand gewonnen. Alles deutete darauf hin, dass der Besuch der Biene vor einigen Tagen nichts mit dem verlassenen Stock zu tun hatte. Aber ganz sicher war sie sich nicht. Sie hatte das Gefühl, dass da noch mehr war. Etwas, das ihrer Aufmerksamkeit bedurfte, das sie aber noch nicht greifen konnte.
Schließlich musste sie aufgeben, sie konnte nicht ewig hier sitzen. Auf dem Dach würde sie die Antwort sicher nicht finden, vorausgesetzt es gab eine.
Sie griff nach ihrer Ausrüstung und ging zum Aufzug, dann verließ sie das Gebäude Richtung Place Vendôme. Als sie im Tuilerien-Garten war, schaute sie zum Himmel, streckte den Arm aus und wartete, bis sich ein Blatt darauf legte. Sie liebte es, wenn im Herbst die Blätter fielen, wenn die Äste kahl wurden und die Bäume sich schlafen legten, um im Frühling wieder zu erwachen. Sie liebte die warmen Farben, die Bernstein- und Karamelltöne und das Versprechen, das die Natur ihr zuflüsterte: »Ich komme wieder, du wirst sehen.«
Und der Frühling kam. Immer.
Das Gewicht des Rucksacks auf den Schultern gab ihr Sicherheit. Ebenso wie der Weg, dem sie folgte und der sie an ihr Ziel führte. Bestimmte Schritte, festgelegte Rituale – das war es, was ihr Leben ausmachte. Und sie wollte, dass es so weiterging.
Aber die Ereignisse der letzten Zeit deuteten auf Veränderung hin. Gérard war dafür der lebende Beweis. Sie war verwirrt, und das mochte sie gar nicht. Eine gefährliche Situation, überall konnte sich ihr etwas Unvorhersehbares in den Weg stellen. Sie musste aufpassen. Die Biene auf ihrer Hand, der leere Stock. Alles um sie herum veränderte sich. Das war ein Zeichen.
»Nichts geschieht einfach so, mein Kind, es gibt immer Zeichen um uns herum. Du musst achtsam sein, die Augen können nie alles sehen. Du musst mit dem Herzen sehen, denn es ist weise und wird dir den richtigen Weg zeigen.«
Damals hatte sie die Worte ihrer Großmutter nicht verstanden, und später hatte sie sie bewusst ignoriert. Zeichen waren nichts Konkretes und schon gar keine Beweise, nichts, was man beherrschen konnte. Emma hatten sie immer fasziniert, im Gegensatz zu ihr selbst. Warum kamen ihr gerade jetzt Mallenas Warnungen wieder in den Sinn? Alice war verwirrt wie jedes Mal, wenn sie an die Vergangenheit dachte.
Als sie den Saal betrat, war sie noch immer durcheinander, zwang sich aber zu ein paar Worten, trank einen Orangensaft und suchte sich einen Platz. Die Versammlung begann, die meisten Teilnehmer waren ehrenamtliche Imker und Imkerinnen wie sie, die sich um die Stadtbienen kümmerten. Es gab mehr als 1000 Bienenstöcke auf den Dächern von Paris: auf dem Mandarin-Oriental-Hotel am Place Vendôme, der Opéra Garnier und dem Musée d’Orsay, sogar auf der Kathedrale von Notre-Dame. Sie hörte den Berichten ihrer Kolleginnen und Kollegen zu: Ihren Stöcken ging es durchweg gut, es gab ausreichend Futter, Wabenrahmen für die Brut, der Winter konnte kommen.
Die einzige Ausnahme bildete ihr leerer Stock. Die Bienen hatten sie verlassen. Dass diese Feststellung selbst in ihren Ohren lächerlich klang, kümmerte sie nicht. Sie wusste es, und das reichte ihr. Was sie quälte, war die Frage nach dem Warum.
»Ich habe vor drei Wochen die letzte Kontrolle durchgeführt«, sagte sie, als sie an der Reihe war. »Alles war normal.« Dann erzählte sie weiter, hin und wieder stellte jemand eine Frage. Sie antwortete ruhig und präzise. »Sie habe den Honig und die Brut zurückgelassen, alles. Als ob sie niemals dort gewesen wären.«
Danach herrschte Schweigen, bis einige zu flüstern begannen, die bereits ihre eigene Theorie hatten.
»Ist euch das schon mal passiert?«, fragte Alice mit einer Spur von Angst in der Stimme.
Éloise nickte. »Ja. Aber wir wissen nicht, warum. Es gibt eine Vielzahl von Erklärungsmöglichkeiten, aber keine endgültigen Erkenntnisse. Wir lassen die Waben analysieren, dann werden wir dir einen neuen Schwarm geben.«
»Nein, besser nicht.« Der Satz war spontan aus ihr herausgesprudelt. Es war besser so, auch wenn es wehtat. Wenn sie mit ihren Bienen zusammen war, öffnete sie ihre Seele, vertraute sich ihnen an. Ihr Bienenstock war ein Zufluchtsort, der Sicherheit und Geborgenheit bedeutete, aber offensichtlich hatte sie sich getäuscht. Auch die Bienen hatten sie allein gelassen. Wieder einmal war sie abgelehnt worden.
Sie hatte das Gefühl, eine Zeitreise in die Vergangenheit zu machen. Sosehr sie sich auch anstrengte und das Richtige tun wollte, es war nie genug.
Das war damals auch mit ihrer Mutter und später mit Emma passiert.
»Es ist ganz normal, dass du enttäuscht bist.« Éloise warf ihr ein warmes Lächeln zu. »Nimm es dir nicht so zu Herzen. Früher oder später passiert das jedem einmal.«
Éloise verstand es nicht. Niemand konnte es verstehen. Sie war nicht enttäuscht, sie trauerte. Sie war traurig, fast verletzt. Es war ungerecht. Womit hatte sie das verdient? Sie schüttelte den Kopf, kam sich lächerlich vor. Es war verrückt, wütend auf die Bienen zu sein, weil sie sie verlassen hatten. Aber sie blieb bei ihrer Entscheidung: Sie würde kein neues Bienenvolk übernehmen. »Ich habe meine Entscheidung getroffen. Wenn jemand Hilfe braucht, könnt ihr mich gerne anrufen. Aber es ist besser so. Ich überlasse euch den Stock, ihr könnt ihn nutzen, wenn ihr wollt.«
Es war nicht das erste Mal, dass sie sich von der Last befreite, unter der sie litt. Sie hatte es auch damals getan, als sie Saint-Rémy-de-Provence den Rücken gekehrt und ihre Familie und ihre Schwester verlassen hatte. Es hatte sein müssen. Sie hatte einen anderen Weg eingeschlagen, war das Zentrum ihrer eigenen Welt geworden. Sie hatte einmal gelesen, dass man einen Kreis ziehen musste, wenn man an einer Grenze angekommen war. Im Inneren dieses Kreises war nur Raum für eine einzige Person. Wenn man nicht zerbrechen wollte, musste man in den Kreis gehen und alle anderen draußen lassen. Und das hatte sie getan. Sie würde sich auch jetzt verändern, wieder einmal. Immer dann, wenn es nötig war. Sie würde nach vorne schauen, sich auf ihre Zukunft konzentrieren und gradlinig in die neue Richtung gehen, die ihr Leben genommen hatte.
Wenn Honig kristallisiert, ist das ein natürlicher Prozess, der unter anderem für seine Qualität spricht. Diese physikalische Reaktion hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, darunter die Temperatur, die Art des Nektars oder das Verhältnis zwischen Fructose und Glucose.
»Mademoiselle, ein Anruf für Sie.«
Alice hob den Blick von dem Dokument, das sie gerade prüfte.
»Der Anrufer hat seinen Namen nicht genannt«, fügte die junge Frau entschuldigend hinzu. Gérard saß neben ihr, hob den Hörer ab und reichte ihn ihr.
»Danke.«
»Gerne.« Er lächelte und schaute wieder auf die Papiere, über die sie in der letzten halben Stunde gesprochen hatten.
Er war wie immer. Doch manchmal überraschte sie ihn dabei, dass er sie anders ansah als sonst. In der Vorwoche waren sie zusammen essen gewesen, dann hatten sie getanzt. Es war schön gewesen, wie der Kuss, den sie sich gegeben hatten. Vielversprechend. Sie war positiv überrascht, wer weiß, was die Zukunft bringen würde. Sie lächelte zurück und hielt den Hörer ans Ohr.
»Ja?«
»Alice, bist du’s?«
»Mama?«, fragte sie erstaunt. Ihre Mutter hatte noch nie im Büro angerufen. »Geht es dir gut? Was ist mit Papa?« Wie lange hatten sie nicht miteinander gesprochen? Zu lange. Am Ende gab es immer Streit, deshalb hatte sie schon ewig nicht mehr angerufen. Und auch ihre Mutter hatte sich nicht gemeldet.
»Du musst nach Hause kommen. Sofort.«
Alice seufzte und schloss die Augen. Warum fragte sie nicht? Warum verlangte sie es einfach? »Ich rufe dich an, wenn ich hier Schluss habe, und dann sprechen wir in Ruhe darüber, ja?«
»Wag es ja nicht aufzulegen! Ich …« Ihre Mutter stockte, dann atmete sie tief durch. »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«
Alice legte den Stift beiseite und fragte beunruhigt: »Was ist los?«
Erst Schweigen, dann ein Schluchzer.
»Mama, rede mit mir!« Sie wühlte in der Tasche nach ihrem Handy, das sie stumm geschaltet hatte. Sie riss entsetzt die Augen auf. Zehn Anrufe, einige von ihrem Vater. Was war nur passiert?
»Deine Schwester, sie … Die Therapie schien anzuschlagen, aber dann ist etwas schiefgegangen.«
Therapie? Ihr Herz begann wie wild zu klopfen. Was für eine Therapie? »Emma? Ich verstehe das nicht.«
»Weil du nicht zuhörst. Du hörst nie zu!«
Der Vorwurf traf sie unvermittelt. Sie fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt und schaute aus dem Fenster. »Das stimmt nicht, ich höre sehr wohl zu. Was ist mit Emma?«
Gérard warf ihr einen erstaunten Blick zu.
»Sie war sicher, dass alles wieder gut werden würde. Ich habe sie gedrängt, dich endlich anzurufen, aber sie wollte persönlich mit dir sprechen, dich sehen. Auch wenn du sie immer so schlecht behandelt hast, sie hat trotzdem an dich gedacht.«
Alice umklammerte den Hörer, ihr Mund war wie ausgetrocknet, sie konnte sich nur mühsam beherrschen. »Mama, bitte … erklär mir endlich, was los ist.«
Erneutes Schweigen, dann wieder Schluchzen. »Sie ist tot, verstehst du? Deine Schwester ist tot.«
»Was?«, stammelte Alice.
»Bitte, komm nach Hause.«
Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was sie da gerade gehört hatte. Sie begann zu zittern, wollte sagen, dass sie den ersten Flug nehmen würde. Sie dachte an ihren Vater Simon. Er war sicher auch am Boden zerstört, genau wie ihre Mutter. Aber sie war wie gelähmt, bekam kein Wort heraus. Der Hörer rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Sie starrte ihn an. Emma … Das konnte nicht sein. Sie ging zur Tür, schwankte und musste sich am Rahmen abstützen.
Gérard sprang auf. »Was ist los, ma chérie?«
Sie versuchte, tief zu atmen, wieder die Kontrolle über sich zu erlangen. »Meine Schwester ist …« Das konnte nicht sein, unmöglich. Sie schloss die Augen und legte ihre Wange an Gérards Brust. Sie lauschte seinem Herzschlag, während er ihr über die Schultern strich.
»Sie kann nicht tot sein, sie ist erst 26, verstehst du?«
Er drückte sie auf einen Stuhl und goss ihr ein Glas Wasser ein. Alice trank es in einem Zug. Sie dachte an die letzten Worte, die sie miteinander gewechselt hatten. So bitter, so abweisend. Emma war zu ihr gekommen, hatte ihre Hilfe gewollt, aber Alice hatte gar nicht richtig zugehört, sondern ihr bittere Vorwürfe gemacht. Obwohl sie wusste, dass sie ungerecht gewesen war, hatte sie sich nie entschuldigt. Jetzt war es zu spät.
Sie suchte in ihrem Kopf nach einem Bild, nach etwas, woran sie sich festhalten konnte. Da musste es etwas geben. Doch sie fand nichts und brach in Tränen aus.
Die folgenden Tage waren die schlimmsten in Alices Leben. Ein nicht enden wollender Albtraum, Erinnerungen an ihre Kindheit, in der sie oft von quälenden Träumen geplagt schreiend aus dem Schlaf geschreckt war. Sie hatte den ersten Flug nach Marseille genommen.
In ihrem Gedankenkarussell kam Emma wieder wie früher zu ihr ans Bett, schlüpfte hinein und klammerte sich an sie. Erst dann bekam sie wieder Luft. Bevor ihre Mutter etwas gemerkt hatte, hatte sie ihre kleine Schwester längst in ihr eigenes Bett zurückgebracht. Wie lange war das her? Wie hatten sie sich nur so fremd werden können? Und jetzt war es zu spät … sie konnte nichts mehr ändern.
Alice hatte das Gefühl, die Welt würde zusammenbrechen, als sei das alles ein schrecklicher Irrtum. Sie müsste nur die Augen schließen, und schon könnte sie wieder das Lachen ihrer kleinen Schwester hören. Ihre Emma, das ewige Kind, das alles mit großen Augen betrachtete. Sie war bildhübsch, brillant und voller Enthusiasmus. Sie schien innerlich zu leuchten und stand überall im Mittelpunkt. Und das wusste sie auch. Zwei Schwestern und doch grundverschieden.
Emma ähnelte ihrer Mutter Céline: blond, anmutig, zart. Alice dagegen hatte vieles von ihrer nonna Mallena, sie war hochgewachsen und hatte seidige braune Haare.
»Zwei Schwestern. Die eine ist der Tag, die andere die Nacht.«
Das hatte Mallena eines Abends gesagt, als sie sich bei Céline für sie eingesetzt hatte. Was ihre Mutter damals so sehr gegen sie aufgebracht hatte, wusste Alice nicht mehr, aber ihre Großmutter hatte sie immer verteidigt, egal, was passiert war.
»Alice ist nicht wie Emma, das muss dir doch klar sein, Céline, du bist schließlich ihre Mutter. Du musst den Charakter deiner Töchter besser verstehen und spüren, wer dich mehr braucht!«
»Alice sicher nicht, sie braucht niemanden!«
Diesen Satz hatte sie nie vergessen. Was danach geschah, hatte die Kluft zwischen ihnen nur noch mehr vertieft.
Als Alice in Marseille gelandet war, hatte ein Wagen auf sie gewartet. Gérard hatte an alles gedacht. Ohne ihn hätte sie es in der Kürze der Zeit nicht geschafft.
Die Reise ins Hinterland von Saint-Rèmy-de-Provence war lang. Der Fahrer hatte versucht, ihr die Schönheit der Landschaft zu vermitteln, aber sie war hier aufgewachsen und kannte jeden Winkel. Trotzdem hatte sie geschwiegen und ihn reden lassen. Sie hatte versucht, sich auf das Meer zu konzentrieren, das hin und wieder zu sehen war, auf die Pinien und Zypressen links und rechts der Autobahn, aber ihre Gedanken waren immer wieder zu Emma zurückgekehrt. Der heiteren, lebenslustigen Emma. Alice hatte vergeblich versucht, wenigstens ein bisschen Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.
Schließlich hatte sie sich ihren Erinnerungen hingegeben, in ihnen herumgewühlt, bis sie endlich auf die letzte Begegnung mit ihrer Schwester gestoßen war.
»Trink ihn, solange er heiß ist. Noch ein bisschen Sahne?«
Alice wusste nicht, was sie von dem Überraschungsbesuch ihrer Schwester halten sollte. Emma starrte auf die dampfende Kaffeetasse. Das würzige Aroma stieg auf und verbreitete sich im Raum.
»Ich habe keinen Hunger.«
»Komm schon, du bist nur noch Haut und Knochen.«
Emma fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich dachte, du hättest aufgehört.«
»Mit was?«
»Dich wie Mama zu benehmen. Du bist nicht meine Mutter, Alice, du musst keine Verantwortung übernehmen.«
Verantwortung. Es stimmte, sie hatte sich immer für ihre kleine Schwester verantwortlich gefühlt. Und das war ein Teil des Problems zwischen ihnen gewesen.
Alice schaute durch die Windschutzscheibe auf die düster wirkenden Hügel, die sich im Frühling rosa und violett färben würden. Sie erkannte den Weg zum Gut sofort wieder. Hier war sie immer mit ihrer Schwester auf ihren mit Lavendelgirlanden geschmückten Ponys nach Hause geritten. Mallena hatte sie stets begleitet.
»Nehmen Sie die erste Straße rechts, dann fahren Sie bis zum Ende.«
Als sie angekommen waren, stieg sie aus und bedankte sich.
»Wenn Sie mich wieder brauchen, rufen Sie einfach an.«
Sie nickte und drückte die Handtasche an ihre Brust.
Alles war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Das zweigeschossige Haus aus weißem Naturstein mit den Holzläden. Die Kletterrose, die nonna Mallena aus Dankbarkeit über die Geburt ihrer Tochter Céline gepflanzt hatte, wuchs inzwischen bis unters Dach. Céline Azara, ihre Mutter, stand reglos auf der Schwelle des Hauses.
Am liebsten wäre Alice auf sie zugerannt, aber sie zwang sich, langsam zu gehen, und blieb vor ihr stehen. Von den verweinten Augen abgesehen, sah ihre Mutter aus wie immer, das schwarze Kleid ließ sie noch zarter wirken und unterstrich ihre Schönheit.
»Ciao, Mama.«
»Endlich bist du da.«
Alice hatte die Lippen zusammengepresst und die Finger ineinander verkrallt. Sie hatte das Gefühl zu zerbrechen, wenn sie jetzt losließ, aber sie sehnte sich so sehr nach einer tröstenden Umarmung. Mehr als alles andere wollte sie jetzt gehalten werden. »Es tut mir unendlich leid«, sagte sie und versuchte weiter, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, aber es gelang ihr nicht. Verzweifelt hob sie den Blick. »Es tut mir leid«, wiederholte sie.
»Ich weiß.«
Plötzlich brachen alle Dämme, alles andere war nicht mehr wichtig. Der Schmerz war so tief, dass er die Jahre voller Missverständnisse, des Schweigens und der Zurückweisungen einfach wegwischte. Sie umarmten sich, nur sie beide zählten in diesem Moment. Eine Mutter und die einzige Tochter, die ihr geblieben war. Die Falsche, die immer Probleme machte, während die andere, der Sonnenschein, tot war.
Das wussten sie beide.
»Komm rein, dein Vater hat den Kamin angezündet.«
»Ist er nicht da?«, fragte Alice enttäuscht. Sie hatte gehofft, ihn zu treffen. Er fehlte ihr so sehr. Simon Pascal hatte einen besonderen Platz in ihrem Herzen, er war in den Herzen »aller seiner Frauen«, wie er sie immer scherzhaft genannt hatte. Jetzt waren nur noch zwei übrig: Céline und sie.
»Er kommt später, es ist noch einiges zu erledigen. Vielleicht hast du es vergessen, seitdem du in der Stadt lebst, aber auf dem Land gibt es immer etwas zu tun.«
Sie ging nicht auf die Provokation ein. Sie konnte nicht mehr und spürte, dass es ihrer Mutter ebenso ging. Schweigen machte sich breit, Alice streckte die Hände in Richtung des wärmenden Kaminfeuers aus. Die Holzscheite knackten und knisterten und brachten schöne Erinnerungen zurück. Darauf musste sie sich konzentrieren, wenn sie diesen Tag überstehen wollte.
»Warum erzählst du mir nicht alles von Anfang an, Mama?«
Célines Augen waren voller Tränen. »Seit eurem Streit?«
Ein Satz wie eine Ohrfeige. »Ist das jetzt so wichtig?«
Céline senkte den Blick und schüttelte den Kopf. Mitleid wallte in Alice auf. Für sich selbst, aber auch für ihre Mutter. Und für Emma. Ein tiefer Schmerz pulsierte in ihrem Herzen. Sie wollte ihre Mutter trösten, sie an sich ziehen, weil sie so verzweifelt und einsam war. Weil die Kluft zwischen ihnen mit der Zeit immer größer geworden war und jetzt unüberwindbar schien.
»Ich … nein. Was vorbei ist, ist vorbei. Aber ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, verstehst du?«
Ja, das verstand sie. Alice verstand sie nur allzu gut. Und das war neu.
»Ich bin so wütend, so unglaublich wütend.« Célines Stimme war rau, man spürte, wie sie sich quälte. »Warum sie? Von allen Menschen auf der Welt, warum ausgerechnet mein Kind?«
Alice wurde eiskalt. Sie verstand sofort, was sie sagen wollte: Warum Emma und nicht sie?
Aber Alice wollte sich nicht noch mehr quälen und verdrängte diesen Gedanken sofort wieder, teilte ihn in ihrem Kopf in so kleine Fetzen, bis er verschwunden war, und schluckte die Tränen hinunter. Sie konnte jederzeit aufstehen und gehen. Sie hatte ihre Familie schon einmal aus ihrem Leben verbannt, sie konnte es ein zweites Mal tun. Aber diesmal würde das schlechte Gewissen sie erdrücken, das wusste sie genau. Und es würde definitiv kein Zurück mehr geben. Sie suchte nach den richtigen Worten. Sie war kein Kind mehr, ihre Mutter brauchte sie jetzt. Alles andere konnte warten. Sie konnte warten.
»Warum quälst du dich mit der Frage nach dem Warum? Du weißt, dass es darauf keine Antwort gibt. Erzähl mir von Emma, was ist passiert?« Sie wusste nur, dass ihre Schwester plötzlich schwer erkrankt und innerhalb weniger Monate gestorben war. Seit dem Anruf ihrer Mutter hatte sie an nichts anderes mehr denken können.