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Eine junge Frau auf den Spuren einer außergewöhnlichen Geschichte. Und eine Reise in die Vergangenheit, die sie zu neuem Glück führt ...
Als Stella aus heiterem Himmel ihren Job verliert, beschließt sie, an den Gardasee zu ihrer Großtante Letizia zu fahren, die nach dem Tod ihres Mannes Gesellschaft brauchen kann. Kurz nach ihrer Ankunft entdeckt sie einen Stapel Kinderzeichnungen, von dem eine seltsame Energie auszugehen scheint. Stella, die selbst über ein außergewöhnliches Gespür für Farben verfügt, möchte wissen, was es mit dem mysteriösen Fund auf sich hat. Ihre Nachforschungen führen sie in die Vergangenheit, zurück ins Jahr 1942, in den kleinen Ort Nonantola, wo jüdische Kinder aus ganz Europa in einer Villa Zuflucht fanden. Was Stella nicht ahnt: Ihre Spurensuche bringt nicht nur ihr selbst, sondern auch Letizia das Glück zurück …
Außerdem von Cristina Caboni lieferbar:
Die Rosenfrauen
Die Honigtöchter
Die Oleanderschwestern
Der Zauber zwischen den Seiten
Die Seidentöchter
Die Gartenvilla
Das Versprechen der Rosenfrauen
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Seitenzahl: 392
Buch
Als Stella aus heiterem Himmel ihren Job verliert, beschließt sie, an den Gardasee zu ihrer Großtante Letizia zu fahren, die nach dem Tod ihres Mannes Gesellschaft brauchen kann. Kurz nach ihrer Ankunft entdeckt sie einen Stapel Kinderzeichnungen, von dem eine seltsame Energie auszugehen scheint. Stella, die selbst über ein außergewöhnliches Gespür für Farben verfügt, möchte wissen, was es mit dem mysteriösen Fund auf sich hat. Ihre Nachforschungen führen sie in die Vergangenheit, zurück ins Jahr 1942, in den kleinen Ort Nonantola, wo jüdische Kinder aus ganz Europa in einer Villa Zuflucht fanden. Was Stella nicht ahnt: Ihre Spurensuche bringt nicht nur ihr selbst, sondern auch Letizia das Glück zurück …
Die Autorin
Cristina Caboni lebt mit ihrer Familie auf Sardinien. Ihr Debütroman »Die Rosenfrauen« verzauberte die Leser weltweit und stand in Deutschland wochenlang auf der Bestsellerliste. Mit ihren Romanen, die mit großen Gefühlen – oft auf mehreren Zeitebenen – und jeder Menge Italienflair begeistern, konnte sie an ihren phänomenalen Erfolg anknüpfen. Ihr neuer Roman »Die Glücksmalerin« basiert auf den wahren Begebenheiten rund um die Villa Emma, die im Jahr 1942/43 für 73 jüdische Kinder zum Zufluchtsort vor den Nationalsozialisten wurde.
Von Cristina Caboni bereits erschienen
Die Rosenfrauen · Die Honigtöchter · Die Oleanderschwestern Der Zauber zwischen den Seiten· Die Seidentöchter Die Gartenvilla· Das Versprechen der Rosenfrauen
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Cristina Caboni
Roman
Deutsch von Ingrid Ickler
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »La Ragazza dei Colori« bei Garzanti S.r.l., Gruppo editoriale Mauri Spagnol, Milano.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright der Originalausgabe © 2021 by Cristina Caboni
License agreement made through Laura Ceccacci Agency S.R.L
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Covergestaltung: © www.buerosued.de
Covermotive: © mauritius images/Daniel Kieslinger Photo; Die auf dem Cover abgebildete Villa zeigt Villa Emma di Nonantola (Modena) IT – www.villaemma.com; www.buerosued.de
JA · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-29136-5V003
www.blanvalet.de
Für die Mutigen,
für diejenigen, die keine Ungerechtigkeiten akzeptieren,
für all die, die mit einem Lächeln und einer Blume in der Hand die Zukunft verändern und Hoffnung geben.
Dieses Buch ist für euch.
Was wird mit der Farbe der Welt verglichen? Die Farbe der Welt ist größer als das menschliche Gefühl.
Juan Ramón Jiménez
Den Sonnenuntergang hat Orlando Morosini schon immer gemocht. Und auch jetzt, in seinen letzten Stunden, findet er ihn herrlich.
Aber was ihn wirklich fasziniert, ist die Energie, die er spürt, das Versprechen, das in ihm liegt. Es könnte auch gar nicht anders sein, das Ende des Tages muss großartig sein.
Sein Herz stolpert, er hält den Atem an, presst die Hand auf diesen Schmerz, als wolle er ihn besänftigen.
Er weiß, dass es keinen Sinn hat.
Er hasst das Zittern seiner Hände, die früher so kraftvoll und entschlossen waren, er verachtet seine Schwäche.
Aber Wunsch und Realität liegen oft weit auseinander. Er schließt für einen Moment die Augen.
Was wird er auf der anderen Seite vorfinden? Wird es eine Auferstehung für ihn geben? Wird ihm vergeben werden? Seine Hände sind blutbefleckt. Er war Soldat, kämpfte im Krieg. Er war Richter und Henker.
Wird es für ihn einen Platz im Paradies geben?
Er lächelt, wenn er an dieses Wort denkt.
Er hat das Paradies auf Erden kennengelernt. Seine Frau, seine große Liebe.
Ein Schauder bringt ihn in die Realität zurück, in das Leben, das unabänderlich zu Ende geht. Er hat keine Angst, eher ist er neugierig. Wenn sie nicht wäre, wäre er längst gegangen, so erschöpft ist er. Aber er hat ihr etwas versprochen, und dieses Versprechen hat er gehalten. Doch die Zeit ist abgelaufen, und er weiß, dass er einen Fehler gemacht hat. Er hätte stärker sein müssen, hätte widerstehen müssen, aber er hat ihr nie etwas abschlagen können.
Sie ist seine große Liebe, seine Seelenverwandte. Alles andere ist unwichtig.
Er hat nie vergessen, wie sie sich kennengelernt haben.
Er hat nie ihren Duft nach Veilchen und Regen vergessen. Dieser Duft liegt süß auf seinen Lippen, wie ihr erster Kuss, voller Lachen und Tränen.
Der Schmerz reißt ihn aus den Erinnerungen, wieder presst er die Hand auf sein Herz, das Pochen überrascht ihn. Wie ein Countdown, denkt er. Wie viele Schläge bleiben ihm noch?
Unwichtig, er hat getan, was er tun musste. Wenn sie erfahren wird, dass er ihren Wunsch ignoriert hat, wird er schon nicht mehr da sein.
»Was machst du hier draußen?«
Er dreht sich langsam um. Trotz ihrer weißen Haare und des vom Alter gezeichneten Gesichts ist sie für ihn auch jetzt noch die schönste Frau der Welt.
»Komm zu mir.«
Er geht schweigend auf sie zu. Er lächelt sie an, möchte ihr die Sorge nehmen. Aber das würde nichts nutzen. Er spürt, dass sie Bescheid weiß. Er spürt es an ihren zitternden Fingern, die sich um die seinen schließen. An ihren Armen, die ihn umschlingen, als wolle sie ihn festhalten.
»Du solltest dich ausruhen.«
Er lacht, der Schmerz ist kaum noch zu ertragen. »Dazu werde ich bald alle Zeit der Welt haben.«
»Hör auf mit dem Blödsinn, das ist nur ein kleiner Schwächeanfall, morgen wird es dir besser gehen.«
Morgen. Das Wort, das Hoffnung schenkt.
Er streichelt ihr Gesicht, fährt zärtlich durch ihr Haar.
»Danke.«
Sie reißt die Augen auf, und während sie sich mit Tränen füllen, wird ihm erneut bewusst, was das Leben ihm geschenkt hat. »Ich habe Stella geschrieben.« Als er die Überraschung in ihrem Blick erkennt, fährt er fort: »Wenn sie kommt, musst du ihr zuhören.«
Sie schüttelt alarmiert den Kopf. »Was hast du getan, du dummer Mann?«
Er lächelt. Das, was ich schon längst hätte tun sollen. Aber das behält er für sich und sagt: »Ich liebe dich, Letizia.«
»Für immer, Orlando. Für immer, mein Liebster.«
Orange. Die Farbe des Sonnenaufgangs und des Sonnenuntergangs. Symbol für Heiterkeit, Wärme, Lebensfreude und Tatkraft. Die Farbe der Weisheit und des Bewusstseins.
Der kleine Junge hatte schwarze Locken und große Augen, er trug kurze rote Hosen, und seine grüne Jacke hatte schon bessere Tage gesehen.
Suchend blickte er sich im Bahnhof um. Die Nase in die Luft gestreckt, die Arme auf Schulterhöhe ausgebreitet, als wäre er ein Flugzeug.
Stella Marcovaldi erinnerte er an einen Kolibri. Sie hatte schon welche gesehen, damals in Brasilien, als sie ihren Vater besucht hatte. Irisierendes Gefieder in schimmerndem Grün, leuchtend blauviolette Flügel, ein langer schmaler Schnabel.
Die Kolibris hatten ihr gefallen, wie alles, was sie dort gesehen hatte.
Danach hatte sie nach Italien zurückkehren müssen. So war es besser gewesen. Sie schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf den Jungen.
War er tatsächlich allein? Sie wartete eine Weile und sah zu dem verwaisten Eingang. Da war niemand. Sie legte den Zeichenblock auf den Schoß und schaute dem Jungen hinterher. Er bemerkte ihren Blick, lächelte und winkte ihr zu, bis er hinter dem Springbrunnen verschwand.
Plötzlich hörte sie einen Schrei.
Stella lief rasch zu der Stelle, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Als sie ein Lachen hörte, blieb sie stehen. Der schwarze Lockenkopf tauchte hinter der Begrenzungsmauer zu den Schienen auf.
»Du Spitzbub«, murmelte sie, lächelte erleichtert und ging zur Bank zurück.
Als sie den Zeichenblock wieder aufklappte, ließ sie den Blick umherschweifen. Noch immer raste ihr Herz, der Schreck steckte ihr in allen Gliedern. Um sich zu beruhigen, konzentrierte sie sich einen Moment auf das glänzende rote Leder ihrer heiß geliebten hochhackigen Schuhe, bevor sie den Blick wieder nach oben richtete.
Ein flacher Sonnenstrahl brach sich in den Scheiben des Oberlichts, es sah aus wie ein Prisma, was ihre Aufmerksamkeit weckte.
Während sie das in allen Regenbogenfarben schillernde Licht wie ein Wasserfall umhüllte, seufzte sie zufrieden. Sie streckte den Arm aus, als wolle sie das irisierende Licht berühren.
Wie gerne hätte sie die Essenz dieser Schönheit eingefangen! Wie gerne hätte sie ihr Geheimnis gelüftet und es nachgebildet. Aber stattdessen blieb ihr nur die Bewunderung. Die Finger reglos, die Hand leer.
Ihr Leben war wie das weiße Blatt des Zeichenblocks auf ihrem Schoß.
Ein Windstoß, der ihr durch den weiten Rock fuhr, brachte sie in die Realität zurück. Sie hatte noch Zeit, ihr Anschlusszug würde erst in einer halben Stunde kommen.
Wieder hielt sie Ausschau nach dem Jungen. Er war zu klein, um allein zu bleiben, wo wohl seine Eltern waren? Sie hoffte, sie waren nicht ohne ihn abgefahren. Sie hatte schon von solchen Fällen gelesen: Gestresste Eltern steigen ohne ihr Kind in den Zug. Aber so etwas geschah an großen und stark frequentierten Bahnhöfen; hier gab es gerade mal zwei Bahnsteige, und die Fahrgäste ließen sich an einer Hand abzählen.
Schließlich steckte sie den Block in die Tasche und ging auf den Jungen zu.
»Ciao, ich bin Stella, wie heißt du?«
Er hatte große schwarze Augen und eine Zahnlücke. Er lächelte schüchtern.
»Karim.«
Der Name war das Einzige, was sie aus seinem französischen Wortschwall heraushörte. Sie konnte gerade mal bonjour und merci sagen, bei ihm verstand sie kein Wort.
»Wo sind deine Eltern?«, versuchte sie es noch einmal.
Er deutete auf den Eingang der Bahnhofshalle.
Jenseits der Scheibe sah Stella eine Gruppe Menschen stehen. Vielleicht war Karim ungeduldig geworden und hatte nicht länger warten wollen, vielleicht beobachteten ihn seine Eltern und fragten sich gerade, was die unbekannte Frau von ihm wollte.
»Pass auf die Gleise auf, das ist gefährlich.«
Karim schien zu verstehen und nickte.
Sie setzte sich wieder und schlug den Block auf, doch obwohl sie sich auf das weiße Blatt konzentrierte, hatte sie den Jungen im Blick.
»Er könnte sich verletzen, das ist Ihnen klar?«
Die Stimme war tief und voll. Stella hob den Blick, ein hochgewachsener Mann stand vor ihr.
Der Unbekannte war elegant gekleidet. Er war ganz auf den Jungen konzentriert, als könne er jeden Moment eingreifen, falls es nötig wäre.
»Ich glaube, wichtig ist, gut auf ihn aufzupassen.«
»Das sehe ich anders.«
Sie meinte, in seinem Ton ein gewisses Missfallen zu erkennen. Oder bildete sie sich das nur ein?
Natürlich machte auch sie sich Sorgen, dass er der herannahenden Lokomotive zu nahe kommen könnte.
»Sie sollten etwas tun«, insistierte der Unbekannte.
Stella musterte ihn aufmerksamer. Er hatte kein Gepäck und war an diesem Mittwoch im Oktober wahrscheinlich der einzige Passagier, der außer ihr nach Bardolino fahren würde. Zu ihrem Ziel.
»Was schlagen Sie vor?«
»Es würde schon reichen, wenn er in Ihrer Nähe bliebe.«
Karim hatte aufgehört herumzuflattern und malte jetzt Figuren in die Luft. Stella lächelte in sich hinein. Wenn sie sich doch auch von der Fantasie leiten lassen könnte! Es war so einfach. Man musste nur einen Finger heben, ihn auf das Papier setzen und die Vorstellung lebendig werden lassen. So einfach … jedenfalls auf den ersten Blick. Und nicht für sie, eine Erkenntnis, die sie traurig machte.
»Das geht nicht«, antwortete sie, obwohl sie am liebsten die Hand des Jungen gegriffen und ihn an sich gezogen hätte.
Nein, das durfte sie nicht.
Sie hatte in der Vergangenheit oft genug die Grenzen der gesellschaftlichen Normen überschritten, und die Konsequenzen hatten sie geradewegs in diesen Wartesaal des kleinen Regionalbahnhofs gebracht. Sie hatte alles verloren, ihre Wohnung, ihre Arbeit und die Chance, eine andere zu finden, zumindest in der näheren Umgebung. Aber was ihr am meisten leidtat, war die Tatsache, dass die Enkel von Flaminia Valenti, ihrer alten Arbeitgeberin, ihre Absichten so gründlich missverstanden hatten.
Noch bevor der Mann etwas entgegnen konnte, warf sie einen Blick auf die Uhr und suchte nach ihrem Zug, der soeben eingefahren war. Gerade mal ein Waggon hinter der Lokomotive. Welch ein Unterschied zu den Schnellzügen, mit denen sie früher unterwegs gewesen war. Aber an diesem beschaulichen Ort war ohnehin alles anders.
Das in die Jahre gekommene Bahnhofsgebäude machte trotz allem einen gepflegten Eindruck. Auf den massiven hohen Mauern ruhte eine rot und gelb gestrichene Gewölbedecke. Dazu schmiedeeiserne Leuchten und Tontöpfe mit Geranien, um die sich offensichtlich jemand kümmerte, denn die Blätter waren leuchtend grün, die Blütenknospen kurz vor dem Aufbrechen. Die Fenster mit den dekorativen Holzrahmen zeigten zur Straße. Und es roch gut. Nach Most, wenn sie sich nicht irrte. Stella erinnerte sich an die mit Weinstöcken bewachsenen Hügel, die sie auf der Fahrt hierher gesehen hatte.
»Wissen Sie zufällig, ob es noch andere Züge nach Bardolino gibt?«, fragte sie.
»Das ist der letzte. Der nächste Zug geht erst morgen früh.«
Viel Zeit hatte sie nicht mehr.
»Ist es hier immer so leer?«
»Nein, normalerweise ist hier mehr los, aber wir befinden uns in der Nebensaison.«
Es waren noch ein paar Passagiere gekommen, die auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig warteten, den man durch eine Unterführung erreichen konnte.
Der Unbekannte stand nach wie vor immer neben ihr, die Augen auf Karim gerichtet.
Stella blickte sich um, sie spürte, wie erschöpft sie war. Aber es war nicht allein die beschwerliche Reise, die auf ihr lastete.
Es war etwas tief in ihr drin.
Die Gleise verließen den Bahnhof und verloren sich in der Ferne, reichten bis zum Horizont. Sie wirkten endlos lang, seit Stunden schien hier niemand mehr unterwegs gewesen zu sein. Auf den umliegenden Feldern lag sanfter Nebel. Eine Grenze oder ein Übergang, je nachdem, was man suchte. Einsam stehende Bäume ähnelten schattenhaften Scherenschnitten. Eine monotone Szenerie, als hätte das milchige Grau alle Farben verschluckt. Eine melancholische Landschaft und im scharfen Kontrast dazu der wie aus einem Märchenbuch entsprungene, zauberhafte kleine Bahnhof.
Sein und Schein, dachte sie, eines spiegelte sich im anderen, sie waren sich ähnlich und doch verschieden. Dieser Gedanke bereitete ihr Sorgen, und sie konzentrierte sich auf die Umgebung, um ihn zu verscheuchen.
Sie war das erste Mal hier.
Sonst fuhr sie mit dem Auto zu ihrer Großtante Letizia, aber dieses Mal hatte ihr Besuch einen anderen Hintergrund. Vor einigen Monaten hatte sie den Zeichenblock und eine Fahrkarte geschickt bekommen. Ein merkwürdiges Geschenk ihres Onkels Orlando, Letizias Ehemann, der vor Kurzem gestorben war. Ein Erbe, das sie noch vor seinem Tod erhalten hatte.
Sie hatte sich spontan entschieden und vor ein paar Wochen ihren Citroën verkauft. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Sie strich die Falten des Rockes glatt, atmete tief durch und richtete sich auf. Dann warf sie dem Mann neben sich einen Blick zu.
Ein merkwürdiger Typ, dachte Stella. Einer von denen, die man in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht erwartet.
Das war der letzte Zug. Sie lotete ihre Optionen aus, viele waren es nicht. Sie durfte ihn nicht verpassen, aber gleichzeitig machte sie sich Sorgen, den Jungen allein zu lassen.
Das geht dich nichts an.
Wie oft hatte sie sich diesen Satz schon gesagt? Unzählige Male.
Aber er ging sie doch etwas an.
So war sie eben. Ständig interagierte sie mit der Welt, die sie umgab. Dagegen konnte sie nichts tun, und wenn sie ehrlich mit sich war, wollte sie das auch nicht.
In diesem Moment blieb ihr Blick am Stoff ihres Rockes hängen. Schmale gelbe Streifen wechselten sich mit breiteren in Rosa und Blau ab. Gelb für die Heiterkeit, Rosa für den Trost, Blau für die Seelenruhe.
Die Farben waren ihre Wegweiser, sie spürte ihre Essenz, erkannte sie in anderen Menschen. Farben waren ihre Welt.
So war es jedenfalls früher gewesen. Aber jetzt? Sie wusste es nicht genau, deshalb versuchte sie, nicht darüber nachzudenken.
Mit der Fingerspitze fuhr sie nachdenklich über das Streifenmuster.
Der Mann war immer noch da, nur wenige Schritte entfernt.
Allein.
Genau wie sie.
»Die Touristen wissen nicht, was sie versäumen«, flüsterte sie und hob den Blick, als wolle sie das Gespräch wieder aufnehmen. »Im Herbst verändert sich der See, er zeigt sich ganz anders als zu den übrigen Jahreszeiten. Man kann so viel Überraschendes finden, dort, wo niemand hinschaut. Die Farben wirken wärmer, die Sonne zeigt ein liebenswürdiges Gesicht.«
Der Unbekannte sah sie überrascht an. »Liebenswürdig … ein seltsames Adjektiv in diesem Zusammenhang.«
In seiner tiefen Stimme lag etwas, das sie nicht recht einordnen konnte. Sie betrachtete ihn genauer. Von diesem Mann ging etwas Besonderes aus, sein ernster Blick wirkte irgendwie abwesend. In der Hand hielt er eine abgewetzte Ledertasche, den Griff hatte er fest umklammert. Sie musste ihm sehr wichtig sein.
Sie stand auf und rieb sich die steif gewordenen Arme, andere Kinder rannten auf Karim zu. »Endlich«, jubelte er und lachte, »ich dachte schon, ihr kämt nicht mehr!«
Kurze Zeit später verließ Karim den Bahnhof, an der Hand eines Paares, wohl seine Eltern, die Ähnlichkeit war unverkennbar.
Der Unbekannte drehte sich zu ihr um. »Das war gar nicht Ihr Kind?«
»Offensichtlich nicht.«
»Warum haben Sie das nicht gesagt?«
»Weil Sie mich nicht gefragt haben. Und warum sollte ich mit Ihnen über ein fremdes Kind sprechen?«
Er blickte sie an, als habe sie den Verstand verloren.
Ihr war klar, dass ihre Worte irgendwie merkwürdig klangen, aber sie wollte ihn aus der Reserve locken und zum Lachen bringen. Das schien er schon länger nicht mehr getan zu haben.
Ein scharfer Pfiff riss sie auf ihren Gedanken. Sie sah sich um und bemerkte auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig einige Nachzügler, die im letzten Moment in den Wagen stiegen.
»Du meine Güte, der Zug fährt ab!«
»Wir müssen uns beeilen, geben Sie mir Ihren Koffer!«
Stella rannte durch die Unterführung, sie wollte sich nicht mal vorstellen, die Nacht hier zu verbringen.
Sie hatte es fast geschafft, nur noch ein paar Meter, hoffentlich hatte sie Glück. Sie rannte weiter, dann blieb sie keuchend stehen.
Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Sie sah ihm nach, während er immer schneller wurde.
»Nicht zu glauben!«, rief sie.
Sie hatte ihn um einen Wimpernschlag verpasst.
Verzweifelt ließ sie die Arme sinken, eine Geste zwischen Resignation und Galgenhumor. Die Tasche rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden.
»Alles in Ordnung?«
»Wie bitte?«, sie hob den Blick.
»Versuchen Sie, tief zu atmen, Sie sehen aus, als würden Sie gleich in Ohnmacht fallen.«
Stella war in der Tat schwindlig. Sie wollte gerade nach der Tasche greifen, doch der Fremde kam ihr zuvor.
»Lassen Sie, ich mache das.« Er beugte sich nach unten. »Sie hätten sich wehtun können, bei dem Tempo, mit dem Sie die Treppe hinuntergerast sind«, sagte er, während er ihre Sachen auflas.
»Das gilt auch für Sie.«
»Ich musste Ihnen folgen, ich hatte keine Wahl, Sie hätten sich umbringen können.«
»Sie sind ein Held.«
Der Mann zögerte. »Na ja, eher der übliche Durchschnitt, würde ich sagen.«
»Das glaube ich nicht. Sonst säßen Sie jetzt im Zug und würden gemütlich Ihrem Ziel entgegenfahren.«
»Ich halte es für meine Pflicht, Sie nicht im Stich zu lassen.«
»Das ging mir mit dem Jungen genauso.«
Er schüttelte den Kopf. »Bei mir ist das etwas anderes. Ich bin darauf geeicht, das hat mit meiner Arbeit zu tun.«
»Aber haben wir dieses Gefühl nicht alle, wenn wir ein Kind sehen, das offensichtlich ohne Eltern unterwegs ist?«
»Sie hätten sich an jemanden wenden können.«
»Ich habe Karim gefragt, so heißt er übrigens, wo seine Eltern sind, aber er wirkte ganz entspannt und schien nur den Bahnhof erkunden zu wollen.«
Der Mann war mit der Antwort offensichtlich unzufrieden.
»Das hättest du mir wirklich sagen können.«
Unvermittelt war er ins Du gewechselt, seine Anspannung war gewichen und hatte einer gewissen Verlegenheit Platz gemacht. Stella lächelte ihn an.
»Du wirktest so besorgt … es hat mir Spaß gemacht, mir deine Gedanken auszumalen.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Ich habe mich wie ein Idiot benommen.«
»Da irrst du dich. Ich finde es gut, wenn sich jemand kümmert. Die meisten Leute hätten weggeschaut und sich nicht um Karim geschert.«
Er schwieg eine Weile, dann stand er auf und hielt ihr die Tasche hin. »Bitte.«
»Danke.«
»Wir sollten etwas essen und dabei überlegen, wie es weitergeht, oder?«
Etwas anderes blieb ihnen ohnehin nicht übrig, dachte Stella und sah sich um.
Er deutete auf den Ausgang. »Gehen wir?«
»Ja. Aber warum hast du dich so aufgeregt? In meiner Welt lacht man höchstens darüber, wenn man als Held bezeichnet wird.«
»Ich lebe aber nicht in deiner Welt, ich bin kein Held und hasse dieses Wort.«
Eine so schroffe Reaktion hatte Stella nicht erwartet, sie ging langsamer. »Es tut mir leid.«
»Das ist kompliziert«, erwiderte er nach einer Weile. »Auf den ersten Blick wirktest du so sorglos, als wäre die Situation für dich ganz normal.«
War das eine Entschuldigung? Daran war sie nicht gewöhnt.
»Es hat mit dem Rock zu tun … diesen Effekt hat er auf alle.« Sie sagte das ganz spontan, denn es stimmte. Die Kleidung war ihre Rüstung, der Panzer, hinter dem sie sich versteckte. Bunt, heiter, fast ein wenig frivol.
»Der Rock?«, fragte er verwundert.
Stella senkte den Blick. »Menschen haben für alles feste Maßstäbe, Kleidung eingeschlossen. Entweder gehörst du dazu oder bist draußen. Ich bin im Allgemeinen draußen.« Sie winkte ab. »Aber das fällt mir schon gar nicht mehr auf.«
Einen Augenblick lang schien er nach einem Ausweg zu suchen, aber statt zu gehen, wie es in dieser Situation andere getan hätten, blieb er.
Stella war erleichtert. Äußerlichkeiten schienen ihm nicht so wichtig zu sein, stattdessen wirkte er entschlossen. Jetzt war es gar nicht mehr so schlimm, den Zug verpasst zu haben.
»Ich verstehe nicht.«
Nein, sicher nicht. Wie könnte er auch …
»Ich … ich habe oft Schwierigkeiten, die Grenzen zu erkennen.«
»Ich nehme an, das geht vielen so. Aber ist die Meinung der anderen wirklich so wichtig?«
Stella nickte schweigend. Es kam nicht so sehr darauf an, was die Leute sagten, sondern wie sie es sagten. Wie vertrauenerweckend seine Stimme klang!
Sie hatte das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen. Ihn zu verstehen, eine Erkenntnis, die ihr Angst machte. Denn im Grunde war er ein Fremder. Sie kannte nicht mal seinen Namen.
Sie standen jetzt auf dem Bahnhofsvorplatz. Stella fröstelte.
Die Laternen warfen mattes Licht auf das Kopfsteinpflaster, keine Menschenseele weit und breit.
»Es ist bestimmt zu spät, ein Auto zu leihen«, murmelte sie.
»Ganz sicher.«
»Ein Taxi?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Er schüttelte den Kopf. »Um diese Uhrzeit kommt niemand mehr, auch nicht aus Verona. Die Hotels sind in der Nebensaison geschlossen.«
»So ein Mist.«
Was sollte sie jetzt tun?, fragte sie sich besorgt. Welche Optionen blieben ihr? Es gab niemanden, den sie anrufen, niemanden, der ihr helfen konnte. Nach einer Weile straffte sie die Schultern. Sie würde es schon schaffen, wie immer. Außerdem war sie nicht allein. Sie sah ihren Begleiter an, und ihre Blicke trafen sich.
Sie schwiegen, zwischen ihnen standen viele unausgesprochene Worte. Und noch mehr Fragen. Stella hasste solche Situationen. Aber heute nicht.
»Warum magst du keine Helden?«
Er hob den Blick und seufzte. »Wenn du mir versprichst, das Thema zu wechseln, lade ich dich zum Abendessen ein. Dann schauen wir mal, wo wir die Nacht verbringen können. Was meinst du?«
Es hätte schlimmer kommen können, dachte sie.
»In Ordnung. Aber ich mag Helden, die Welt hat nicht genug davon.«
Elfenbein. Eine Beimischung zu Weiß, ein Hauch Gelb, das es strahlen lässt. Elegant, einladend, beruhigend. Die Farbe der Gastfreundschaft.
»Ich bin Arzt.«
Ah, das erklärte einiges. Stella begann sein Verhalten besser zu verstehen und entspannte sich.
»Ich heiße Alexander, und du?«
»Stella.«
»Und was machst du, Stella?«
Sie lächelte erleichtert, zum Glück hatte er sich eine Bemerkung über ihren Namen verkniffen und ihr auch nichts über Sterne erzählt.
»Was mache ich … was habe ich gemacht, oder besser, was werde ich machen …«
Sie dachte nach. Die Frage war auf den ersten Blick einfach. Aber sie zu beantworten? Das warf weitere schmerzhafte Fragen auf.
»Ich … Das ist kompliziert.«
»Du musst mir nicht antworten.«
»Nein, das ist es nicht, versteh mich nicht falsch, ich bin gerade in einer Krise, mit der ich nicht gerechnet hatte.« Sie vergrub das Gesicht in den Händen und blickte ihn durch die Finger hindurch an. Alexander nickte verständnisvoll und hörte konzentriert zu.
»Ich habe noch nie mit jemandem über diese schwierige Zeit gesprochen.«
Auch nicht mit ihrer Mutter, schon gar nicht mit ihrem Vater. Sie hatte alles für sich behalten, die Vorwürfe, sogar die Beleidigungen stillschweigend hinuntergeschluckt. Dabei hatte sie auf eine Versöhnung mit den Enkeln von Flaminia gehofft, darauf, dass sich alles klären würde. Doch vergebens, jegliche Versuche waren gescheitert.
Er lächelte aufmunternd.
Stella entspannte sich: »Ich war die persönliche Assistentin der Besitzerin eines Kunstgewerbegeschäfts … Sie hieß Flaminia, ein schöner Name, nicht wahr?« Sie hielt inne. »Ich habe auch die Finanzen geregelt, sie hat mir blind vertraut.« Ihr wurde bewusst, wie verworren das für ihn klingen musste. Aber alles war unvermittelt auf sie eingestürzt, sie hatte es immer noch nicht verarbeiten können, so sehr hatte sie ihre Arbeit geschätzt und Flaminia verehrt. Sie machte sich Sorgen um sie. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll …«, sie hob den Blick und versank in seinen aufmerksamen, ernsten Augen.
»Du erzählst in der Vergangenheitsform.«
»Sie haben mich entlassen.«
Die beiden waren so lange herumgelaufen, bis der Hunger, die Kälte und ein plötzlicher Regenschauer sie dazu gedrängt hatten, sich ein Dach über dem Kopf zu suchen. In einem bescheidenen Lokal hatten sie gegrilltes Gemüse und Pommes gegessen, außer ihnen war fast niemand mehr da. Hin und wieder schaute der Kellner vorbei, es war offensichtlich, dass er gerne schließen würde. Lange würden sie nicht mehr bleiben können.
»Am Anfang war ich Verkäuferin, habe Gemälde und Kunstpostkarten verkauft sowie Events geplant. Später habe ich auch Anregungen zu Techniken und Farben gegeben.«
»Und was ist dann passiert?«
Stella blickte traurig, ihre Finger umklammerten die Papierserviette. »Ich bin zu weit gegangen, habe mich in Dinge eingemischt, die mich nichts angingen.«
Ich habe mich für jemanden gehalten, der ich nicht war.
Ich habe etwas missverstanden.
Aber das sagte sie nicht. Der Schmerz saß tief in ihrem Hals, sie schluckte ihn mit ihrer Limonade herunter. Sie schmeckte vorzüglich, der Kellner hatte sie frisch zubereitet.
»Das verstehe ich nicht.«
Sie auch nicht. Sie verstand nicht, warum alles kaputtgegangen war.
»Meine ehemalige Arbeitgeberin ist eine Künstlerin. Sie ist um die Welt gereist und hat alle möglichen Menschen kennengelernt, vor allem Frauen.« Die Erinnerungen und mit ihnen die Gefühle überfluteten sie. »Für sie war Kreativität ein Lebenselixier, das hat mich von Anfang an fasziniert. Ich habe selbst gemalt und sogar Unterricht gegeben, nichts allzu Schwieriges, da konnte jeder mitmachen.«
»Du bist Malerin?«
Sie riss überrascht die Augen auf. »Wie bitte? Nein! Wie kommst du darauf! Ich … nein. Ich bin keine Malerin.« Sie bemerkte, dass sie laut geworden war, senkte den Blick, ihre Hände zitterten. Sie musste sich beherrschen.
Peinliche Stille machte sich zwischen ihnen breit. Stella rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum, den Blick in die Ferne gerichtet, sie war angespannt.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Alexander leise.
»Wie? Nein, sicher nicht.«
Er sah sie verwirrt an. »Wir können gerne das Thema wechseln, wenn du möchtest.«
Stella brauchte noch einen Moment, bis sie weitersprach. »Von einem Tag auf den anderen war alles vorbei. Flaminias Enkel haben … meine Kompetenzen für nicht ausreichend gehalten, das Geschäft geschlossen und mich entlassen. Dann haben sie alles selbst in die Hand genommen und sind bei ihr eingezogen. Ich wohnte neben ihr und musste rasch die Wohnung räumen. Sie haben nur darauf gewartet, bis ich endlich weg war.«
»Und die Signora selbst hatte dazu nichts zu sagen?«
Stella spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und zwang sich zu einem Lächeln. »Sie ist eine alte Frau. Ihre Familie trifft jetzt die Entscheidungen. Vielleicht ist das auch gut so.«
»Aber dir geht es schlecht damit.«
Wenn es nur das wäre, dachte Stella.
»Und deshalb bist du auf Reisen?«
War das der wirkliche Grund?, fragte sich Stella. »Nicht nur. Ich suche nach etwas anderem, nach einer neuen Herausforderung. »Ich bin auf dem Weg.«
»Und wohin?«
Sie schwieg einen Moment und erwiderte dann: »Der Zug, den ich verpasst habe, hätte mich zum Ziel der ersten Etappe meiner Reise gebracht. Danach möchte ich ins Ausland, wohin genau, weiß ich noch nicht. Ich war schon immer gerne unterwegs.«
Alexander strich ihr über die Hand, das half ihr, die Fassung wiederzugewinnen.
Sie war überrascht, wie warm und rau seine Finger waren.
»Alle Probleme hinter sich zu lassen wirkt auf den ersten Blick wie eine gute Lösung«, sagte er leise.
Die Worte waren nicht einfach so dahingesagt. Das bewiesen die Färbung seiner Stimme, sein Blick, seine Anspannung. Sie fragte sich, wovor ein Mann wie er weglaufen sollte.
»Aber nicht immer, oder?«
Alexander zuckte mit den Schultern, auch das wirkte kontrolliert, wie alles an ihm.
Sie wusste nicht, woher sie diese Erkenntnis nahm, immerhin hatten sie sich heute das erste Mal gesehen. Und doch wurde sie das Gefühl nicht los, ihn gut einschätzen zu können, zu wissen, was er fühlte.
»Es hängt davon ab, ob man sich selbst belügen kann. Einige können das besser als andere.«
Wie zynisch. »Warum bist du so hart?«
»Weil ich die Dinge sehe, wie sie sind. In meinem Fall funktioniert das mit dem Regenbogen nicht. Tut mir leid, ich will dir nicht zu nahe treten.«
Stella errötete. »Manchmal kann ein Regenbogen dir Kraft geben, damit du weitermachen kannst. Er ist für jeden erreichbar. Eine neue Farbe, eine andere Farbe, die dir Licht schenkt, und der Tag wandelt sich.«
Sie schwieg, von sich selbst überrascht.
Was redete sie denn da?
Das war vielleicht einmal so gewesen, aber es war vorbei. Schon lange.
Alexander lächelte gequält, ein kaum wahrnehmbares Verziehen der Lippen. Sein Gesichtsausdruck hatte nichts Heiteres.
»Nicht für alle. Nicht für mich.«
Er wirkte traurig, fast verzweifelt. Sie streckte den Arm aus, und jetzt war sie es, die ihre Hand auf seine legte. Als er den Blick hob, zog sie sie zurück.
Die Spannung zwischen ihnen war mit Händen zu greifen.
»Möchtest du darüber sprechen?«
Sie spürte, wie er erstarrte, sich von ihr entfernte. Auch den Blick, der bis zu diesem Moment auf ihr geruht hatte, wandte er ab und schaute verloren auf einen Punkt hinter ihr.
Vielleicht war sie zu weit gegangen, überlegte Stella. Vielleicht hätte sie weiter über Belanglosigkeiten sprechen sollen. Aber sie verschwendete nicht gerne ihre Worte. Banalitäten waren ihr ein Graus.
Alexander wirkte noch immer abwesend. Plötzlich gab er sich einen Ruck und fuhr sich mit den Händen über die Augen, als ob er sich von etwas befreien wollte.
»In meinem Beruf musst du oft Entscheidungen fällen, die das Leben eines anderen Menschen betreffen. Da gibt es keinen Raum für Fantasie.«
Seine Stimme klang unbeteiligt, die Augen waren jetzt kalt und hart.
Stella hielt den Atem an. Ihre Finger verschränkten sich, als ob sie Trost suchten.
In seinen Worten lag etwas von fundamentaler Bedeutung.
Ein großer Schmerz.
Das Gefühl, er könnte aufstehen und weggehen, lähmte sie. Sie wartete und hoffte, er würde bleiben.
Er drückte den Rücken gegen die Stuhllehne, sein Blick verlor sich in der Dunkelheit der Nacht. »Ein einziger Fehler kann fatal sein. Plötzlich bekommt das Wort ›endgültig‹ eine existenzielle Bedeutung, der du dich nicht entziehen kannst.«
Es gab nichts, was sie sagen konnte, um die Schwere dieser Aussage zu entkräften, deshalb schwieg sie.
»Das ist kein gutes Gesprächsthema. Tut mir leid, ich weiß auch nicht, warum ich dir das erzähle.« Er fühlte sich offensichtlich unbehaglich.
»Wir kennen uns kaum, haben gerade mal unsere Namen ausgetauscht, wahrscheinlich werden wir uns nie wiedersehen. Vor diesem Hintergrund ist es einfacher, sich zu öffnen, findest du nicht? Es ist sogar befreiend. Wir haben keine Urteile und auch keine Vorwürfe zu erwarten. Zwischen uns muss nichts geklärt werden.«
Sie fragte sich, ob sie das zu ihm oder vielmehr zu sich selbst sagte. Das Schweigen zwischen ihnen vibrierte wie eine gespannte Saite.
»Das fände ich schade«, sagte er nach einer Weile.
»Was?«, fragte sie verwirrt.
»Dich nicht wiederzusehen.«
Stella wollte gerade etwas erwidern, als er ihr eine Locke hinters Ohr strich. Dann erstarrte er, als ob ihm gerade klar geworden wäre, was er da getan hatte. »Ich bin unmöglich, entschuldige.«
Sie antwortete nicht, noch immer spürte sie seine Wärme, das Gefühl seiner Finger in ihren Haaren. Sie wollte keine Entschuldigung. Sie wollte … etwas anderes.
»Glaubst du an Schicksal?«, fragte sie.
Alexander schüttelte den Kopf. »Nein, wir bestimmen unsere Zukunft selbst.«
»Das ist traurig, findest du nicht? Ich meine, es ist traurig zu denken, dass alles Schlimme, was passiert, allein unsere Schuld ist, dass wir dafür verantwortlich sind. Das ist ungerecht.«
»Gerechtigkeit ist eine Utopie.«
»Das klingt sehr hart.«
Er verzog das Gesicht. »Nicht hart genug, das kannst du mir glauben.« Er blickte wieder nach draußen in die Nacht, durch das Fenster fiel ein wenig Licht auf die Straße. »Ein schöner Abend«, sagte er.
»Wir haben den Zug verpasst, der Oktober glaubt, er wäre der Januar, und wir haben kein Zimmer für die Nacht. Schön scheint mir da nicht das richtige Wort zu sein.«
»Es hat aufgehört zu regnen, der Wind ist abgeflaut, wir könnten unser Gespräch draußen fortsetzen, was meinst du?« Alexander legte den Kopf schief und lächelte.
Stella wäre lieber noch eine Weile im Warmen geblieben, doch ihr war klar, dass der Kellner bald die Geduld verlieren und sie vor die Tür setzen würde. Die Küche hatte schon vor geraumer Zeit geschlossen.
»Wenn es sein muss …«
Er sah sie amüsiert an, wirkte jetzt ruhiger.
Draußen war es gar nicht so kalt. Stella atmete tief durch und sah sich um. Der Regen schien die Kälte vertrieben zu haben, das Straßenpflaster, die Sterne und sogar die Luft wirkten wie blank geputzt. Alexander hatten den Knoten der Krawatte gelöst und wirkte gelöster.
Stella sinnierte über das, was er ihr anvertraut hatte. Was bedeutete es, die Verantwortung für das Leben eines anderen Menschen zu tragen?
Allein die Vorstellung machte ihr Angst.
Etwas veränderte sich in ihr, schuf neue Verbindungen. Sie betrachtete Alexander, der neben ihr ging, die Hände in den Taschen vergraben. Er war Arzt, hatte er gesagt. Aber sie erkannte auch den fürsorglichen und liebenswerten Menschen, der sich hinter einer Fassade versteckte.
Ein Mann, der sich um andere kümmerte und bereit war, Verantwortung zu übernehmen.
»Dein Name klingt außergewöhnlich«, sagte sie plötzlich.
Alexander hob den Blick und lächelte sie an. »Meine Großeltern leben hier in der Nähe, aber ich bin in England geboren und aufgewachsen.«
Obwohl sie sich schon lange unterhalten hatten, wusste sie kaum etwas über ihn.
»Machst du Ferien?«
»Wie bitte? Nein. Ich arbeite hier in der Nähe im Krankenhaus. Ich vertrete einen Kollegen, der sich für eine gewisse Zeit hat beurlauben lassen. Wenn es spät wird, nehme ich den Zug.« Er hielt inne. »Da trifft man interessante Leute.«
Stella lachte, und er stimmte mit ein.
»Ich probiere … etwas aus«, sagte er wieder ernst, »ich liebe den See, er lässt mich zur Ruhe kommen, das ist schön.«
Wenngleich sie gerne mehr gewusst hätte, stellte Stella keine Fragen. Beim Gehen dachte sie darüber nach, wie schön die hell erleuchteten Straßen waren, wie traurig seine Stimme geklungen hatte.
Er bemerkte ihren Blick.
»Komm, gehen wir da lang«, sagte er.
Auf dem Platz vor ihnen stand ein Kinderkarussell, das mit einer Plane abgedeckt war. Ein Relikt aus der Vergangenheit mit Pferden, Einhörnern und einem Glockenspiel – wie die Spieluhr aus ihrer Kinderzeit.
»Hier lang«, sagte er.
Eine Kirchenglocke läutete, Stella zählte.
»Drück uns die Daumen«, sagte er und lächelte.
»Kennst du ein Lokal, das jetzt noch offen hat?«, fragte sie perplex.
»Ich bin Arzt im Schichtdienst, da ist ein heißer Kaffee lebenswichtig. Dafür ist kein Weg zu weit.«
Das Licht einer Leuchtreklame durchbrach die Dunkelheit: Caffetteria Pasticceria Rinaldi. Als sie eintraten, wunderte sich Stella über die vielen Gäste. Einige nickten Alexander zu, ein Mann stand auf und drückte ihm die Hand. Auch der Besitzer wirkte vertraut mit ihm und schien ihn sehr zu schätzen. Ihr ging es genauso. Ob man ihr das wohl ansah?
»Möchtest du etwas Süßes?«
Gesund war das nicht, aber das Abendessen lag eine gefühlte Ewigkeit zurück. Sie waren lange spazieren gegangen und hatten geredet, was sie selbst überraschte, denn sonst sprach sie nicht viel über sich, schon gar nicht mit einem Fremden, den sie gerade erst kennengelernt hatte. Aber bei Alexander war es ihr leichtgefallen, vielleicht sogar zu leicht.
Die Stunden waren verflogen, eine ganze Nacht war vergangen, ohne dass sie es gemerkt hatte.
»Ja, danke. Ein Croissant mit Marmelade.«
»Nehme ich auch.«
Ein müde wirkender junger Mann servierte ihnen lächelnd den Kaffee, dazu einige Kekse, die, wenn sie nur halb so lecker schmeckten, wie sie aussahen, den Erfolg des Lokals erklärten.
Stella sog den köstlichen Duft ein, ein beruhigendes Gefühl.
Sie saßen in der Nähe des Fensters, und während die Morgendämmerung den Himmel rosa färbte, füllte sich der Gastraum.
»Für ein kleines Dorf ist hier einiges los.«
»Das Krankenhaus ist nicht weit, und hier kann man gut frühstücken.«
»Was genau ist dein Fachgebiet?«, fragte sie nach kurzem Zögern.
Alexander spielte mit seinem Löffel. »Ich bin Chirurg.«
Sie hätte nicht so direkt fragen sollen, er sprach offensichtlich nicht gerne über seine Arbeit.
»Hast du schon eine Idee, was du zukünftig machen möchtest?«, wechselte er das Thema.
Ein wenig überrascht schüttelte sie den Kopf. »Nein, viele Kompetenzen habe ich ohnehin nicht.« Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass sie gar nichts Konkretes vorzuweisen hatte. Und Ehrgeiz hatte sie auch keinen. Sie fühlte sich leer und verloren.
»In gewissem Sinne ist das sogar besser. Dann kannst du dich umsehen und frei entscheiden. Ich wusste immer schon, dass ich Arzt werden würde: mein Großvater, meine Eltern, alles Ärzte.«
»Beide Eltern?«
»Ja, meine Schwester auch. Unsere Familie fühlt sich irgendwie dazu berufen.«
»Irgendwie?«
»Eine Tradition, ein Bedürfnis … sagen wir es lieber so.«
Ein Bedürfnis. Dieses Gefühl war ihr nicht fremd. Ihr Bedürfnis drängte sie dazu, alles zu tun, damit die Dinge an ihrem Platz waren. Aber da musste doch noch mehr sein. Und vielleicht würde sie es finden. Vielleicht. »Das Leben erfordert Kompromisse, unsere Bedürfnisse müssen wir beiseitestellen.« Ihre Stimme klang dünn, selbst in ihren Ohren war sie nicht überzeugend. Aber das war die Realität, sie konnte nichts dagegen tun.
»Merkwürdig, dass gerade du das sagst«, meinte Alexander nach kurzem Schweigen.
»Das verstehe ich nicht.«
»So bist du gar nicht.«
»Und wie bin ich?«
»Stark, großzügig, lebensfroh. Das andere klingt so resignierend und passiv.«
Betroffen schlug sie die Augen nieder.
Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, dachte Stella. In den wenigen Stunden, die sie miteinander verbracht hatten, hatte er mehr von ihr begriffen als jeder zuvor. Aber jetzt war alles anders, sie war nicht länger die alte Stella, voller Vertrauen in die Welt, die immer das Positive im Leben sah. Die Realität hatte sie eingeholt. Auf die bitterste Art und Weise.
»Du hast mir gar nicht gesagt, dass du Gedanken lesen kannst«, gab sie härter als beabsichtigt zurück.
Alexander zog die Augenbrauen hoch, schwieg aber.
»Zeit zu gehen, der erste Zug fährt um sieben«, sagte er nach einer Weile und stand auf.
Stella nickte. »Du hast recht.«
Schweigend und jeder in seine eigenen Gedanken versunken, gingen sie zum Bahnhof.
Als sie in die Eingangshalle kamen, wurden sie von Begrüßungen, Lachen und Ankündigungen aus dem Lautsprecher empfangen. Die Realität schien wieder eine Grenze zwischen ihnen zu ziehen.
Es war laut und hektisch, ganz anders als am Vorabend. Stella versuchte, sich auf die anderen Fahrgäste zu konzentrieren, aber trotzdem spürte sie Alexander an ihrer Seite, seine Wärme, seinen Duft, sein Bedauern.
Sie blieben auf dem Bahnsteig stehen, die Motoren der Lokomotive fuhren hoch.
Sie hob den Blick und sah ihm in die Augen.
»Wir könnten uns wiedersehen, wenn du magst. Ich wohne in Sirmione, das ist nicht weit«, sagte er.
Stella war verblüfft über diesen Vorschlag, sie antwortete ausweichend: »Du bist sehr freundlich.«
»Freundlich? Meinst du, das ist der Grund? Nein, das bin ich nicht, Stella. Ich mache nichts, was ich nicht wirklich will, ich sage immer, was ich denke.«
Dann lächelte er sie an. Sein Interesse war klar und deutlich, genau wie sein Blick. Er war von Anfang an offen gewesen; natürlich war er auch jetzt aufrichtig.
»Ich habe mich sehr gerne mit dir unterhalten.«
»Auch als du mich für eine Rabenmutter gehalten hast?«
Er lachte, und Stella stimmte ein. Es war alles ganz einfach.
»Danke, ich habe es auch genossen.« Mehr sagte sie nicht. Wie lange hatte sie sich nicht so verstanden gefühlt? Vielleicht noch nie. Aber war der Gedanke nicht lächerlich? Gestern Morgen hatte sie ihn noch nicht mal gekannt.
Konnte man in so kurzer Zeit wirklich eine Verbindung zu jemandem herstellen? Oder war dieses Gefühl kaum mehr als ein Funke, irrational und völlig unlogisch?
»Das meine ich ernst, Alexander.«
Er wartete, dass sie weitersprechen würde, und seufzte dann. »Aber …«
Er wollte ihr aus dieser peinlichen Situation heraushelfen, begriff Stella. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Unser Gespräch war wichtig für mich, ein guter Anfang für meine Reise.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich werde Italien verlassen, hier habe ich keine Perspektive.«
Er blickte sich um, die Hände in den Taschen vergraben. »Verstehe.«
Stella deutete auf den Zug. »Steigen wir ein?« Diesen wollte sie auf keinen Fall verpassen. Sie war müde und brauchte eine ausgiebige heiße Dusche, bei Letizia würde sie sich erholen können.
Alexander nickte. »Entschuldige meine Offenheit, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.« Er hob ihren Trolley in den Zug.
»Das hast du nicht, das wollte ich damit nicht sagen. Es ist ziemlich kompliziert.«
»Ich würde gerne mehr darüber erfahren, das interessiert mich sehr. Aber es geht nicht.« Er stieg wieder aus dem Zug. Zwar lächelte er, aber in seinem Blick lag ein Schatten, den Stella zuvor nicht bemerkt hatte. Sie fragte überrascht: »Ich dachte, wir hätten den gleichen Weg?«
»Gestern ja. Heute habe ich etwas anderes vor. Das ist dein Zug, ich muss einen anderen nehmen.«
Stella war wie vor den Kopf geschlagen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass dies ein Abschied war.
Alexander lächelte sie an. Sie lächelte zurück.
Dann reichte er ihr die Hand, sie ergriff sie, und er zog sie an sich.
Seine Haut war warm, sein Kuss sanft, seine Lippen berührten kaum ihre Wange.
Sie hätte ihre Pläne ändern, den Kuss erwidern können, andere taten das ständig. Aber sie schaffte es nicht. Stella zitterte. Da war sie wieder, diese alte, starke Angst.
Die schreckliche Erinnerung. Eine Warnung.
Plötzlich packte sie Panik, sie wich einen Schritt zurück, dann einen zweiten.
Das, was passiert war, war schön gewesen. Was gerade erst begonnen hatte, wäre zu Ende, ohne wirklich zu enden. Eine ganz besondere Begegnung. Einfach perfekt. Wie Alexanders Blick, sein Lächeln, seine Finger, die sich mit ihren verschränkt hatten, während sie nebeneinanderher spaziert waren oder er ihr etwas erzählt hatte. Der Ausdruck seiner Augen, bevor er sie geküsst hatte.
»Ich beeile mich besser«, sagte sie und stieg ein, er rief ihr nach.
»Meine Nummer, wenn du gerne plaudern möchtest …«
Überrascht griff sie nach dem Stück Papier, das er ihr hinhielt. Er hatte seine Handynummer auf die Croissanttüte gekritzelt, Stella konnte die Ziffern kaum lesen.
Sie antwortete nicht, blieb aber am Fenster stehen und blickte ihm nach, als der Zug anfuhr. Und auch später noch, als er gar nicht mehr zu sehen war.
Sie suchte sich einen Platz, und ihre Gedanken gingen nur in eine Richtung. Sie wusste, wie das enden würde. Wie immer … Sie schloss die Augen und umklammerte den Papierfetzen. Dann öffnete sie die Hand, strich ihn glatt und steckte ihn in die Tasche.
Weiß. Die Farbe der strahlenden Helligkeit. Sie entsteht aus dem Gemisch der drei Grundfarben. Weiß symbolisiert Reinheit, Kraft und Beständigkeit. Es ist die ideale Farbe, sie tröstet, schenkt Entspannung, lädt zur Reflexion und zur Suche nach der inneren Balance ein.
Die Oberfläche des Sees lag wie ein türkisfarbenes Bettlaken vor ihr, spiegelglatt und friedlich. Stella stand am Ufer und bewunderte die Sonnenstrahlen, die wie goldfarbene Kondensstreifen auf dem Wasser zu tanzen schienen.
Als sie klein gewesen war, hatte sie immer gedacht, dass unter der Oberfläche ein Drache lebte, das war eine der Geschichten, die ihr Vater immer erzählt hatte.
Auch ihr Onkel Orlando hatte davon gesprochen.
Orlando hatte ihre kindlichen Fantasien nie belächelt, im Gegenteil, er hatte sie bestärkt. Der Legende nach wohnte im Gardasee eine uralte Kreatur, die die Menschen am Ufer beschützte und die tosenden Sturmwellen bändigte.
Ein Wächter.
Stella war fasziniert von dieser Geschichte, wenngleich sie mit der Zeit bemerkt hatte, dass ihr Onkel sie immer wieder abgewandelt hatte. Aber gerade das war es, was ihn so liebenswert gemacht hatte.
Er hatte sie verstanden. Er hatte sie schon immer geliebt wie eine eigene Tochter und nicht wie eine angeheiratete Großnichte. Auch als es mit ihm zu Ende gegangen und er immer tiefer in seine Fantasiewelt abgetaucht war, hatte er sie noch erkannt.
Er hatte ihr häufig Geschenke gemacht, meist Kleinigkeiten ohne großen Wert. Wie der Zeichenblock, den sie immer bei sich trug, oder der Gutschein für die Fahrkarte, mit der sie gerade nach Bardolino gereist war. Eines Tages würde er ihr nützlich sein, hatte er mit schleppender Stimme gesagt. Sie hatte das Gefühl, als sei es erst gestern gewesen, obwohl Orlando schon seit fast einem Jahr tot war.
Stella hatte nicht ahnen können, dass dieser Gutschein einmal so wichtig für sie werden würde. Mit der Fahrkarte hatte Orlando ihr einen Traum geschenkt. Eine unvergessliche Nacht, einen sanften Kuss, der sie mit starken Gefühlen erfüllt hatte.
Sie fragte sich, ob Alexander schon wieder im Krankenhaus war. Sie fragte sich … wie es hätte sein können. Dann hob sie die Hand, spreizte die Finger und ließ den Wind hindurchwehen.
Sie ging weiter, bis zum Haus ihrer Tante war es noch ein gutes Stück, daran war sie nicht unschuldig, weil sie den Umweg genommen hatte. Aber das war gut so, sie musste nachdenken.
Sie beschleunigte die Schritte, Alexanders letzter Satz ging ihr nicht aus dem Kopf.
An einer flüchtigen Beziehung war sie nicht interessiert. Im Grunde war es immer eine Frage der Entscheidung. Sie dachte an ihre Eltern und an ihre turbulente Beziehung. Beide hatten nach der Trennung ein neues Leben begonnen, an entgegengesetzten Orten der Welt, und alle Verbindungen abgebrochen.
Nur zu ihr nicht.
Bald würde ihr Bruder zur Welt kommen. Immer wenn sie daran dachte, spürte Stella eine tiefe Freude, Wärme breitete sich in ihr aus wie eine sanfte Hand, die sich auf ihr Herz legte.
Als sie das letzte Mal telefoniert hatten, war ihr Vater außer sich vor Freude gewesen.
So war Alberto Marcovaldi eben. In ihm loderten die Gefühle. Er war ein berühmter Maler, ein Mann, der von sich und seinem Genie überzeugt war. Seit sie sich erinnern konnte, war er immer verliebt gewesen.
In etwas.
In jemanden.
Sie hoffte, dass er sich mit dem Alter ändern würde, sie hoffte es zum Wohl ihres Bruders. Ohne Vater aufzuwachsen war nicht einfach gewesen. Sie und erst recht ihre Mutter hatten im Leben ihres Vaters schon lange keine Rolle mehr gespielt. Früh hatte sie gelernt, dies zu akzeptieren, bereits als Kind hatte sie gespürt, dass sie der einzige Grund dafür war, dass zwei Menschen zusammenlebten, die sich im Grunde hassten.