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Nach jahrelanger Gefangenschaft in Ungarn hofft Graf Udalrich von Buchhorn auf ein friedlicheres Leben mit seiner Frau Wendelgard am Bodensee. Doch als sie im September 919 dem Ruf des neu gekrönten Königs, Heinrich dem Vogeler, nach Konstanz folgen, um dort die Strapazen der Vergangenheit zu vergessen, ereilt sie neues Ungemach: Während einer Jagdpartie ersticht ein Meuchelmörder einen Beamten des königlichen Hofs. Kurz darauf wird auch ihr eigener Burgverwalter in Buchhorn ermordet. Weder Eckhard, Sekretär des Bischofs von Konstanz, noch Gerald, treuer Schmied der Grafenfamilie, glauben an einen Zufall. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach den Mördern. Die Spur führt sie zu einer Gruppe Fremder, die im Wald um Buchhorn lagern. Unter ihnen befindet sich die ebenso attraktive wie geheimnisvolle Gauklerin Kunigunde …
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Seitenzahl: 431
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Birgit Erwin / Ulrich Buchhorn
Die Gauklerin von Buchhorn
Historischer Roman
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes: Albrecht Dürer:
Wunderbare Errettung eines ertrunkenen Knaben aus Bregenz
http://commons.wikimedia.org
ISBN 978-3-8392-3450-1
In dankbarer Erinnerung an den Menschen, der mir die Welt der Bücher eröffnet hat.
Der Falke zog über den Baumwipfeln enge Kreise. Ab und zu sorgte er mit leichtem Flügelschlag für Auftrieb, um den Wind zu nutzen, der ihn der Sonne entgegentrug. Einen wunderbaren Augenblick lang kam es der einsamen Beobachterin so vor, als sei dieser Falke das einzige Lebewesen vor dem reinen Blau des Spätsommerhimmels. Erst als der Raubvogel seine Flügel anlegte und im Sturzflug niederschoss, entdeckte Wendelgard den silbergrauen Reiher, der im Schatten der Baumkronen dem Verfolger zu entkommen versuchte.
»Er wird es nicht schaffen«, schoss es ihr durch den Kopf.
Im nächsten Moment mischte sich der Schrei der Beute mit dem Kreischen des Falken, und beide Vögel verschwanden zwischen den Bäumen.
Wendelgard ließ den Atem entweichen. Sie drehte sich um und erstarrte in der Bewegung. Ein Mann stand in der Tür und beobachtete sie mit verschränkten Armen. Sein Haar, silbergrau wie das Gefieder des Reihers, war vom Wind zerzaust. Bei seinem Blick wurde ihr warm. Sie streckte die Hand aus und lächelte. »Solltest du nicht schon längst bei der Jagdgesellschaft sein?«
»Schickst du mich fort?«
Statt einer Antwort warf sie die Arme um seinen Hals und presste sich an ihn. Sein Körper war hart und knochig und erinnerte sie an die langen Jahre der Einsamkeit. Am liebsten wäre sie unter seine Haut gekrochen, nur um sicher zu sein, dass er sie nie wieder verließ. Sie spürte seine Hände in ihrem Haar und hob das Gesicht. Ihre Lippen berührten sich.
Sein Mund wanderte weiter zu ihrem Ohr. »Ich bin ein glücklicher Mann«, raunte er. »Ich …«
»Ähm … Herr …«
Udalrich und Wendelgard fuhren auseinander. Der Graf von Buchhorn bedachte den jungen Mann, der verlegen zu ihnen hinübersah, mit einem finsteren Blick. »Was?«
»Mein Herr hat nach Euch gefragt …«
»Ich komme ja schon!« Udalrich wandte sich wieder seiner Frau zu, und sein Gesicht wurde weich. »Ich bin bald zurück, mein Liebes. Wünsch mir Glück für die Jagd.«
Wendelgard nickte halbherzig. »Ich wünschte, du müsstest nicht fort«, sagte sie und berührte sein ergrautes Haar. »Versprich mir wenigstens, dass du vorsichtig bist. Überlass alles meinem Oheim, was größer ist als …«
»Ein Kaninchen?« Udalrich lachte. »Keine Angst, ich werde einem begeisterten Waidmann nicht in die Quere kommen, vor allem dann nicht, wenn dieser Waidmann der König ist. Ich weiß, wem der größte Bock gebührt. Ruh du dich in der Zwischenzeit aus. Du weißt, dass du dich schonen sollst.« Er umschloss ihr Gesicht mit beiden Händen und betrachtete es liebevoll.
»Herr, verzeiht, aber …«
»Geh, ehe der König ärgerlich wird«, flüsterte Wendelgard und wich seinem Kuss aus.
Udalrich ließ mit einem Stirnrunzeln die Hände sinken. »Bring mir mein Pferd«, befahl er dem Diener und nickte zu dem Hengst hinüber, der in einiger Entfernung an einen Baum gebunden war. »Beeilung, Junge!«
Der Diener rannte davon; wenig später reichte er Udalrich die Zügel des hochbeinigen Braunen. Während der Graf sich in den Sattel schwang, starrte der Junge ihn mit schlecht verhohlener Neugier an. Udalrich seufzte. Er konnte nur vermuten, welche abenteuerlichen Geschichten über ihn und seine Zeit in der Gefangenschaft erzählt wurden. Einen Augenblick lang war er versucht, den Jungen mit der ganzen schmutzigen Erbärmlichkeit der Wahrheit zu konfrontieren. Er öffnete den Mund, aber als er in die großen blauen Augen sah, die staunend auf ihn gerichtet waren, überlegte er es sich anders. Er nickte dem Jungen nur zu und überließ es ihm, den Weg durch den dichter werdenden Wald zu finden.
Udalrich war froh, als das Auftauchen der Jagdgesellschaft seine Gedanken in eine andere Richtung lenkte. Er suchte den König und entdeckte ihn inmitten einer Schar Edelleute. Sogar auf die Entfernung stach seine hochgewachsene Gestalt deutlich aus der Menge heraus. Die Ungeduld seiner Bewegungen erinnerte Udalrich an die Bluthunde, die am Rand des Lagers an ihren Leinen zerrten. Er stieg vom Pferd und versuchte, den dumpfen Schmerz zu ignorieren, der ihm jäh in die Knochen fuhr.
Gleichzeitig hob Heinrich den Kopf und sah in seine Richtung. »Gott zum Gruß, Graf Udalrich. Wir haben Euch schon erwartet! Meine Jäger haben eine Hirschfährte gefunden. Ich hoffe, das Wild ist nicht so schwer aufzustöbern wie Ihr. Man munkelt, Ihr habt andere Jagdgründe gefunden?«
Einige der jüngeren Edelleute, die den König umringten, grinsten anzüglich.
Udalrich verbeugte sich steif. »Gott zum Gruß, Herr. Ich entschuldige mich für meine Verspätung, aber meine Frau, Eure Nichte, war heute Morgen unpässlich.«
»Oh? Ich hoffe doch, ihr geht es wieder gut?«
»Ja. Das tut es.«
Heinrich nickte, aber seine Aufmerksamkeit galt wieder dem dichten Unterholz. »Das freut mich. Aber nun ans Werk! Das Wild kümmert sich nicht um Weiberlaunen!«
»Natürlich, mein König.« Udalrich nahm Bogen und Pfeilköcher vom Sattel, überließ dem Diener die Zügel und gesellte sich zu den Edelleuten. Heinrich hob die Hand, und sofort senkte sich Stille über die Gruppe, während einer der Jagdgehilfen neben der Spur niederkniete. Der König winkte Udalrich an seine Seite. Seine Augen blitzten. »Gebt zu, das ist ein anderes Leben als daheim bei den Frauen zu sitzen.«
»Man lernt auch das zu schätzen. Ich bin ein alter Mann.«
»Ach was! Euch stecken sicher noch die Jahre der Gefangenschaft in den Knochen, das ist alles.« Die hellen Augen des Königs veränderten ihren Ausdruck beinahe unmerklich. »Man sagt, Ihr sprecht nicht gern über diese Zeit in Ungarn?«
Udalrichs Blick schweifte über das verästelte Geflecht der Baumkronen, die leise scherzenden Edelleute, die Diener, die die Hundemeute kaum zu bändigen vermochten. »Wer das sagt, spricht die Wahrheit«, antwortete er kurz. Er wich den Augen des Königs aus.
Ehe Heinrich etwas erwidern konnte, sprang der Jagdgehilfe auf die Füße und zeigte ins Unterholz. »Dort entlang, Herr!«
Heinrich bedeutete dem Mann mit einem Nicken, dass er verstanden hatte, ehe er sich noch einmal kühl an Udalrich wandte. »Nun, vielleicht ändert Ihr Eure Meinung ja mir zuliebe.«
Udalrich verbeugte sich. Mit einem Gefühl von Erleichterung hörte er, wie der König den Befehl zum Aufbruch gab. Ein Falke kreischte über ihren Köpfen. Der Graf fragte sich flüchtig, ob es derselbe war, der zuvor Wendelgard in seinen Bann gezogen hatte. Für die Dauer eines Herzschlags roch der Wald nach ihrem warmen, süßen Duft. Er bemerkte, dass Heinrich ihm einen ungeduldigen Blick zuwarf. Die Züge des Königs waren hart und konzentriert, das grelle Morgenlicht, das durch die Baumkronen fiel, sprenkelte sein dunkelblondes Haar und ließ die Spuren von Silber im Licht zerfließen. Mit dem Singen der Vögel, dem Rauschen der Wipfel und dem Knacken im Unterholz rings herum schien der König eins mit der Natur, jeder Zoll ein Jäger. Udalrich hätte viel darum gegeben, seine eigenen Dämonen hinter sich zu lassen und sich derart dem Augenblick hingeben zu können. Er wischte sich heimlich den Schweiß von der Stirn und murmelte: »Ich bin daheim. Ich bin in Sicherheit. Ungarn ist weit.«
Noch einmal holte er tief Luft und folgte den frischen Trittsiegeln, die jetzt eine sanfte Steigung hinaufführten. Ihr Führer signalisierte ihnen, dass es nicht mehr lange dauern konnte, ehe sie das Wild sahen. Heinrich streckte stumm die Hand aus und ließ sich eine Lanze reichen. Zum ersten Mal spürte Udalrich, wie die Anspannung der anderen auch auf ihn übergriff. Er wollte eben nach einem Pfeil langen, als ein tiefes langgezogenes Röhren ihn innehalten ließ. Kurz darauf trat der Hirsch in ihr Blickfeld.
»Was für ein majestätisches Tier! Der gehört mir!«, hauchte Heinrich. Sein warmer Atem streifte die Wange des Grafen. Udalrich nickte nur, er vermochte die Augen nicht von dem prächtigen Sechzehnender zu lösen, der in einiger Entfernung auf einem Felsvorsprung stehen geblieben war und mit spielenden Lauschern den Kopf hin- und herdrehte.
»Er ist zu weit weg«, flüsterte ein junger Edelmann und kauerte sich neben ihnen ins Gras.
Der Hirsch legte den Kopf zurück und ließ ein zweites Röhren folgen.
Udalrich legte den Finger an die Lippen.
»Er wird uns wittern, er …«
Heinrich fuhr herum. Er sagte nichts, aber sein Blick trieb dem jungen Mann das Blut aus den Wangen. Die Faust des Königs war fest um den hölzernen Schaft der Lanze geschlossen. Udalrich befeuchtete seinen Zeigefinger mit Speichel und hielt den Finger in den Wind. »Ich treibe ihn Euch zu, Herr.«
Während Heinrich sich zur Flanke des Felsens schlich, umrundete Udalrich das freie Gelände, um sich mit dem Wind an den Hirsch anzupirschen. Die Ohren des Tieres zuckten stärker. Es hatte die Witterung des Menschen aufgenommen.
Heinrich trat aus dem Schatten des Felsens. »Mit Gott!«, stieß er hervor und hob die Lanze.
Im gleichen Augenblick spannte der Hirsch die Muskeln und wirbelte herum. Mit angewinkelten Beinen sprang er den Felsen hinunter, federte ab, fand Tritt und stob davon. Der König schleuderte die Lanze. Mit unglaublicher Wucht durchschnitt sie die Luft und traf den Hirsch am Hinterlauf. Das Tier schrie auf und jagte in irrwitziger Flucht weiter. Der Schaft der Lanze schleifte hinter ihm her.
Während der König dem Wild mit einem wütenden Fluch nachsah, riss Udalrich den Bogen hoch. Bilder stiegen in ihm auf, aber sie hatten nichts mit der Jagd zu tun, nichts mit einem Hirsch. Mit einem heiseren Schrei ließ er den Pfeil von der Sehne schnellen. In den Hals getroffen, brach der Hirsch zusammen.
»Das war ein Meisterschuss!«, rief Heinrich und schlug dem Grafen im Vorbeigehen auf die Schulter. »Aber wenn ich ihn nicht verwundet hätte, wäre er Euch entkommen, Graf.«
Udalrich lächelte matt. »Ja, es ist Euer Verdienst, mein König. Das Geweih ist eine stolze Trophäe. Aber warum habt Ihr nicht gewartet?«
»Weil ich zeigen wollte, dass ich ihn treffe. Ich habe einen Ruf als Jäger zu verlieren. Das versteht Ihr sicher.«
Udalrich zuckte die Achseln.
Heinrich hob mahnend die Hand. »Ein guter Schuss gibt Euch nicht das Recht, überheblich zu werden. Ich habe Euch beobachtet. Als Ihr den Hirsch getötet habt, habt Ihr nicht an Wildbret gedacht, oder?«
»Ich habe mich auf den Schuss konzentriert, Herr.«
»Wie Ihr meint.« Der König wandte sich zu den Edelleuten um. »Ihr tragt meine Beute zu den Pferden. Und dass ihr mir ja auf das Geweih aufpasst!«
»Ja, Herr.«
Während die Männer den Hirsch forttrugen, winkte der König Udalrich zu sich. »Ihr seid ein hervorragender Schütze. Habt Ihr diese Kunst wirklich in unseren heimischen Wäldern gelernt?«
»Wie meint Ihr das, Herr?«
Heinrich kniff die Augen zusammen. »Euer Bogen gefällt mir.«
»Ein Erbstück.«
»Ein Erbstück?«, wiederholte der König kalt. »Haltet Ihr mich für einen Narren?«
»Man kann auf mehr als eine Art erben, Herr.«
»Habt Ihr von demselben Mann auch Euer Schwert geerbt?«
Udalrichs Gesicht verschloss sich. »Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr die Vergangenheit ruhen lassen könntet. Es ist meine Vergangenheit.«
»Nur dass Eure Vergangenheit leicht unser aller Zukunft werden könnte. Gebt mir Euren Bogen und folgt mir!«
Udalrich schloss sekundenlang die Augen. »Wie Ihr befehlt.«
Während sie zu Fuß zur Lichtung zurückkehrten, drehte Heinrich die Waffe in den Händen. Zwischen seinen Brauen entstand eine steile Falte. »Ein Bogen aus Knochen, interessant.« Er machte eine Pause, aber Udalrich schwieg. Endlich fuhr der König mit einem ungeduldigen Seufzer fort: »Ich kenne die Ungarn, und ich kenne auch ihre Waffen, und das ist eine ungarische Waffe, ebenso wie Euer Schwert. Ich will Euch nichts unterstellen, aber ich weiß, dass Herzog Arnulf von Bayern, Euer Anführer, nach dem Sieg am Inn vor sechs Jahren mit den Ungarn einen Pakt geschlossen hat. Nach seiner Vertreibung suchte er Zuflucht bei ihnen und kam mit ihrer Hilfe letztes Jahr zurück. Bayern mag jetzt vor den Ungarn Ruhe haben, aber der Rest des Reiches nicht, und das wisst Ihr!«
Um Udalrichs Mund zuckte es. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und ballte die Fäuste. »Haltet Ihr mich für einen Verräter, Herr?«
»Warum haben sie Euch nach sechs Jahren Gefangenschaft ziehen lassen?«
Udalrich starrte ihn an. »Mich ziehen lassen?« Er stieß ein abgerissenes Lachen aus. »Macht Ihr mir zum Vorwurf, dass die Ungarn mich gefoltert und geschlagen haben? Dass ich geflohen bin?« Heinrich legte ihm seine Hand auf die Schulter, aber Udalrich machte einen Schritt rückwärts. »Bin ich in Euren Augen ein Verräter, Herr?«
Heinrich musterte ihn lange. »Nein«, sagte er schließlich, »Ihr könnt sicher sein, dass ich andernfalls nicht zugelassen hätte, dass Ihr erneut meine Nichte ehelicht. Was meintet Ihr übrigens damit, dass sie unpässlich war?«
Udalrich lächelte bitter. »Vier Jahre als Inkluse, das würde auch eine robustere Frau schwächen. Unsere zweite Ehe hat zwei Versehrte zusammengeführt.« Er sah den Gesichtsausdruck des Königs und fügte hinzu: »Aber ich bin glücklich.«
Heinrichs Züge entspannten sich. »Das höre ich gern. Ihr habt schwere Zeiten durchlitten. Aber Gott war mit Euch.«
»Und Fürstbischof Salomo.«
Heinrichs Schritt verlangsamte sich, bis er schließlich ganz stehen blieb. »Ja, der weise alte Fürstbischof. Ihr haltet viel von ihm, nicht wahr?«
»Sehr viel«, erwiderte Udalrich ernst. »Ich verdanke ihm mein Leben, mein Glück, mein Weib. Und ich denke, auch das Reich verdankt ihm viel. Er wird Euch helfen, am Bodensee die nötige Unterstützung zu finden. Meine habt Ihr gewiss.«
»Das glaube ich Euch. Gerade darum kann ich nicht begreifen, warum Ihr mir nicht über Eure Zeit bei den Ungarn berichten wollt. Ihr wisst selbst, dass wir nie Ruhe haben werden, wenn wir nicht in Verhandlungen mit ihnen treten.«
Udalrich schwieg.
»Ich kann Euch befehlen zu sprechen, Graf!«
»Das könnt Ihr in der Tat, Herr.«
»Ihr wart fast sechs Jahre lang ihr Gefangener. Ihr müsst etwas gesehen oder gehört haben, was mir hilft.«
Udalrich schwieg.
»Mein Gott, Mann! Neffe! Seid Ihr all die Jahre im Verlies gehockt? Redet endlich!«
Udalrichs Augen flammten auf. »Nein, das Verlies durfte ich irgendwann verlassen. Als Sklave! Ich habe für meine neuen Herren geschuftet, und sie haben mich ausgepeitscht. Wenn es mich verdächtig macht, dass ich noch am Leben bin, dann lasst mich Euch sagen, Herr, dass ich mehr als einmal Gott angefleht habe, ein Ende zu machen!«
Heinrich strich gedankenverloren über die perfekte Rundung des Bogens. »Könnt Ihr ungarisch?«
»Nein!«
»Sie sind keine Christen, habe ich gehört.«
»Nein! Nein, es sind gottverdammte Heiden!« Udalrich fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Heiden und Tiere!«
»Dann helft mir, sie zu besiegen! Oder wollt Ihr, dass diese … Tiere über die Grenze kommen. Ich habe sie gesehen, als sie bis nach Sachsen gelangt sind. Ich weiß, was sie anrichten können. Denkt an unsere Frauen und Kinder! Denkt an Wendelgard!«
Udalrichs Gesicht wurde eisig. »Das ist wohl das Letzte, was Ihr mir befehlen müsst, Herr!«
»Dann sagt, was Ihr wisst!«
»Ich weiß nichts.«
»Lügt mich nicht schon wieder an!«
Udalrich drückte den Rücken so steif durch, dass der Schmerz in den alten Wunden aufflammte. »Mein König, mit Verlaub, ich will nicht darüber reden.«
»Und genau darüber reden wir noch!«, brummte Heinrich. Er drückte Udalrich den Bogen in die Hand. »Glaubt nicht, dass Ihr mir so billig davonkommt!« Er beschleunigte seinen Schritt. Jeder Zoll seines hochgewachsenen Körpers drückte Wut aus. »Los Männer, zur Rehjagd!«, rief er. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. »Und was bei allen Heiligen will sie hier?« Er starrte die Frau an, die in einiger Entfernung von den Dienern bei den Pferden stand. »Nichte, welcher Teufel hat Euch geritten, nicht in Konstanz bei Euren Kindern zu bleiben?«
Wendelgard verneigte sich mit höfischer Eleganz. »Kein Teufel, mein Herr und König, nur die Sehnsucht nach meinem Mann und meinem Oheim. Seid unbesorgt, eine Dienerin hat mich begleitet.« Sie lächelte, aber ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf Udalrich, der langsam näher gekommen war. Ein Anflug von Unsicherheit huschte über ihr Gesicht. »Ist alles …?« Sie verstummte mit einem fragenden Blick.
»Alles in bester Ordnung. Bisher war die Jagd erfolgreich.« Heinrich hatte die Zeit genutzt, seinen Ärger hinter einer verbindlichen Maske zu verbergen. »Aber jetzt werdet Ihr auf Euren Gemahl noch ein wenig warten müssen, bis nach der Rehhatz. Kommt, Graf!«
Wendelgard neigte den Kopf. Erst als die Männer den getöteten Hirsch auf die Lichtung trugen, bedeckte sie Mund und Nase mit der Hand. Die Hunde hechelten und zerrten an ihren Riemen. Der Gestank von Blut und Schweiß hing schwer in der Luft. »Wahrhaftig, eine erfolgreiche Jagd«, sagte sie und drängte sich dichter an Udalrich.
Heinrich lächelte geschmeichelt und bedeutete den Trägern, den Hirsch ins Gras zu legen, damit alle seine Beute bewundern konnten.
Wendelgard nutzte die Pause, um Udalrichs Hand zu ergreifen. »Du bist doch nicht böse, dass ich gekommen bin? Ich habe es einfach nicht ausgehalten. Ist zwischen dir und dem König etwas vorgefallen?«
Udalrich ließ seinen Blick über die Menschen wandern. »Später«, sagte er leise.
»Aber es gab Streit zwischen euch«, beharrte Wendelgard. »Bitte, sei vorsichtig, er mag mein Oheim sein, aber er ist in erster Linie der König!«
»Das ist mir klar!«, sagte Udalrich trocken. »Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde aufpassen. Lächele ein bisschen, mein Liebes, er schaut zu uns herüber.«
Wendelgard verzog automatisch die Lippen. Gleichzeitig ließ sie den Kopf an den Oberarm ihres Mannes sinken. »Wie lange dauert die Jagd noch? Ich bin so müde.«
»Aber es geht dir doch gut?« Udalrich legte die Hand unter Wendelgards Kinn und hob es an. »Du bist blass! Du hättest nicht herkommen sollen.«
»Wir scheinen zum ersten Mal an diesem Tag einer Meinung zu sein, Graf.« Heinrichs langer Schatten fiel verzerrt auf den Waldboden. Das morgendliche Gold war strahlender Helligkeit gewichen, die über den Baumkronen gleißte. »Dein Mann sagte mir, dass du dich heute früh nicht wohlgefühlt hast?«
Wendelgard und Udalrich wechselten einen Blick. »Es ist nichts Ernstes. Kein Grund zur Sorge, mein König, ich bin wohl noch immer geschwächt von meiner Klausnerzeit.«
Der König verzog den Mund mit einem Anflug von Spott.
Wendelgard errötete hitzig. »Ich weiß, dass Ihr meinen Entschluss nie gebilligt habt«, sagte sie leise. »Aber ich bereue die Zeit an Wiboradas Seite nicht. Sie hat mich viel gelehrt, auch über mich selbst. Sie ist eine wahre Heilige!«
»Eben!«, unterbrach Heinrich sie ironisch. »Sie ist eine Heilige, und du bist ein verwöhntes Kind. Das ist der entscheidende Unterschied. Ich frage mich nur, ob es wert war, deinen Körper derart zu schwächen, nur damit du diesen Unterschied selbst begreifst.«
Wendelgard wurde abwechselnd rot und blass. Ihre Hände krampften sich in Udalrichs Ärmel. »Ich bin nicht krank!«
Heinrich hob die Augenbrauen.
»Ich bin … ich bin guter Hoffnung.« Sie drückte die Hand ihres Mannes, ohne ihn anzusehen, während sie dem König fest ins Gesicht schaute. »Im Frühjahr wird mein … wird unser Sohn geboren werden. Und ich werde ihn der Kirche weihen! Das habe ich Gott gelobt, und Bischof Salomo hat meinen Schwur gehört.«
»Ach, der verehrte Fürstbischof kennt die frohe Kunde demnach schon«, bemerkte Heinrich beißend.
Wendelgard senkte den Kopf.
»Dann gratuliere ich dir. Auch Euch, Graf, Ihr habt die Zeit wirklich gut genutzt, das muss ich zugeben!«
Udalrich zwang sich zu einem Lächeln, während er seine Frau um die Mitte fasste und sie sacht an sich zog. Sie hatte die Rechte auf den Bauch gelegt und blickte in eine Ferne, in die die beiden Männer ihr nicht folgen konnten. »Ich wünsche nur, mein Sohn wird Frieden erleben«, flüsterte sie. »Mehr will ich gar nicht.«
Der König schien etwas darauf erwidern zu wollen, doch dann begnügte er sich damit, Wendelgard sanft eine Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. »Ich habe es ernst gemeint, als ich dir Glück gewünscht habe. Und deinem Wunsch schließe ich mich an. Was ich dazu beitragen kann, werde ich tun. Aber jetzt sollten wir aufbrechen. Die Rehhatz verschieben wir auf einen anderen Tag, im Augenblick scheint es mir wichtiger, die werdende Mutter sicher nach Konstanz zu bringen. Außerdem steht die Sonne für eine erfolgreiche Jagd bereits zu hoch!«
Er nickte Udalrich und Wendelgard zu und trat zu den Übrigen, die auf weitere Befehle warteten. In diesem Moment hätte der König ein beliebiger Jäger sein können, der eifersüchtig überwachte, dass sein Sechzehnender mit Sorgfalt behandelt wurde. Die Hunde waren von dem Geruch nach Blut wie toll und rissen kläffend an ihren Leinen. Im allgemeinen Gedränge half Udalrich Wendelgard aufs Pferd und schwang sich selbst in den Sattel.
»Woran denkst du?«
Udalrich fühlte Wendelgards Besorgnis und strich ihr über die Wange. »An Buchhorn. Ich wäre gern wieder daheim.«
»Oh, ich auch. Ob sie diesen grässlichen Wulfhard schon hingerichtet haben?« Wendelgard schob die Unterlippe vor. »Er verdient den Tod mehr als jeder andere Mensch, den ich kenne, aber ich bin froh, dass ich nicht zusehen musste.«
»Reinmar wird sich darum kümmern. Keine Sorge, bis wir wieder in Buchhorn sind, ist dieser feige Mörder nur noch eine Erinnerung. Eine von vielen.«
Wendelgards Herz zog sich zusammen. Während sich die Gesellschaft um sie herum in Bewegung setzte, beugte sie sich zu ihrem Mann hinüber und legte ihre Hand auf seine. »Irgendwann wirst du mir alles erzählen, ja?«, bat sie.
»Vielleicht.«
»Graf!« Die Stimme des Königs durchdrang den Augenblick der Zweisamkeit laut und fordernd.
Udalrichs Gesicht verfinsterte sich. »Aber sicher nicht heute!« Er drückte seinem Pferd leicht die Fersen in die Flanken, löste sich von Wendelgards Seite und ritt hinter dem König her, der den Zug in nördlicher Richtung anführte. Die Bäume standen hier so dicht, dass das Sonnenlicht kaum den Boden erreichte. Grünlich-golden flirrte es durch die Baumkronen und berührte das Laubwerk mit warmen Glanzfingern. Bald würden die Herbstfarben das Grün ablösen, und dann würde es Winter werden. Udalrich drehte sich um und betrachtete Wendelgard, die jetzt wieder an der Seite ihrer Dienerin ritt.
»Graf!«
Udalrich fuhr hoch und bemerkte, dass er verstohlene Blicke auf sich zog. Niemand ließ den König zweimal rufen.
Heinrich hatte angehalten und sich im Sattel umgedreht, sodass er nicht nur die Gesellschaft, sondern auch den Weg überblickte. Sein dunkelblondes Haar leuchtete. Die Blätter an den niedrig hängenden Zweigen raschelten immer lauter. Mit aller Kraft wehrte Udalrich sich gegen die Erinnerungen. Tage wie dieser hatten ihn als einsamen Flüchtling im Wald gesehen. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er, das dunkle Unterholz zu durchdringen. Überall konnten Gefahren lauern, überall …
»Graf!« Die Stimme des Königs klang gereizt. »Träumt Ihr?«
»Kein Traum.« Udalrich holte mühsam Atem. »Nur eine Erinnerung.«
»Bei Gott, der Mann hat Ahnungen!«, rief Heinrich spöttisch. »Reden mag er nicht über die Vergangenheit, aber durch einen Wald zu reiten, fällt ihm ganz offensichtlich schwer. Ich glaube fast, der Graf von Buchhorn ist nicht mehr der Mann, der er einmal war.«
Um sie herum wurde unterdrückt gelacht.
Wendelgard schoss das Blut in die Wangen. Sie öffnete den Mund. Udalrich hörte, dass ihre Worte hitzig und ein wenig schrill klangen, aber was sie sagte, verstand er nicht. Er drehte den Kopf hin und her auf der Suche nach dem Ursprung der Gefahr. Sein Verstand brüllte ihm zu, dass er sie sich nur einbildete, doch sein Körper hörte nicht. Über seinem Kopf raschelte es. Ein großer Vogel, größer als der Falke, zu groß … etwas blitzte im Sonnenlicht.
Ohne nachzudenken warf Udalrich sich herum und fiel Heinrichs Pferd in die Zügel. Das Tier stieg mit einem schrillen Wiehern auf die Hinterbeine. Der König verlor das Gleichgewicht und wurde mit rudernden Armen aus dem Sattel geschleudert. Sekundenlang herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Diener packten Udalrichs Arme, doch er riss sich los. In der nächsten Sekunde teilten sich die Zweige. Ein Mann sprang in geduckter Haltung von einem der niedrig hängenden Äste. Der Aufschrei der Umstehenden wiederholte sich. Hastig vergewisserte sich Udalrich, dass Heinrich immer noch auf dem Boden lag. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt, während er versuchte, auf die Füße zu kommen.
»Helft dem König!«, brüllte Udalrich, während er sich vom Pferd warf. Schmerz schoss aus seinen Hüften in den Rücken und nahm ihm den Atem. Als er wieder klar sehen konnte, bemerkte er gerade noch, wie der Mann sein Messer aus dem Hals eines der Diener zog, der blutend in die Arme seiner Gefährten taumelte. Mit einem wütenden Schmerz in der Brust erkannte Udalrich, dass es der Junge war, der ihn vor wenigen Stunden zur Jagd gerufen hatte. Er stieß einen Schrei aus, als der Meuchelmörder erneut das Messer hob. Der Mann schien zu zögern. Mit hassverzerrtem Gesicht wandte er sich seinem neuen Gegner zu. Doch Udalrich hob seine eigene Waffe nur noch halbherzig. Es war nicht mehr nötig. Die Gefolgsleute des Königs fielen über den Mörder her und hackten ihn in Stücke.
Udalrich senkte die Lider. Als er sich wieder gefangen hatte, war das Blutgericht vorbei. Mit einem Anflug von Ekel betrachtete er den zerstückelten Leichnam. Als er den Kopf hob, begegnete er dem starren Blick seines Königs.
»Ich scheine Euch mein Leben zu verdanken. Gottes Wege sind wahrhaftig unergründlich.«
»Aber heute war er uns allen gnädig. Es geht Euch gut, Herr?«
»Mein Bein …« Heinrich stöhnte auf, als er das Gewicht verlagerte. Erst jetzt sah Udalrich, dass er von zweien seiner Gefolgsleute gestützt wurde. »Wie habt Ihr den Mörder sehen können?«
»Ich habe ihn nicht gesehen. Es muss … so etwas wie eine Ahnung gewesen sein.«
Heinrich hob die Augenbraue, sagte aber nichts. Sein Gesicht war blass und hart. Er beugte sich über den Toten. »Kennt Ihr ihn?«
»Nein.«
»Ihr habt ihn gar nicht angesehen!«
»Weil ich meine Frau suche! Im Übrigen haben Eure Leute kaum genug übrig gelassen, was ich mir anschauen könnte. Wo ist Wendelgard?«
Heinrich machte eine vage Geste. »Zum Glück war sie ein Stück hinter uns, das hat ihr vielleicht das Schlimmste erspart. Welche Idee, eine schwangere Frau mitzunehmen!« Er warf Udalrich noch einen wütenden Blick zu, ehe er seinen Begleitern befahl, ihm aufs Pferd zu helfen.
»Und die Leiche?«
»Lasst sie liegen!«, knurrte Heinrich. »Sollen sich die Tiere daran gütlich tun!«
Noch einmal beugte sich Udalrich über den Toten. Unter dem Blut glaubte er das Gesicht eines jungen Mannes auszumachen.
»Udalrich!«
Er fuhr herum und hatte gerade noch Zeit, Wendelgard aufzufangen, die sich ihm in die Arme warf. In ihrem Gesicht las er Sorge, Liebe und fassungslose Angst. Er sah die Tränenspuren und vergrub das Gesicht in ihrem Haar, als ob sein Duft ihn retten könnte.
»Der König bittet Euch zu einer Unterredung, Herr.«
»Er bittet mich, soso.« Bischof Salomos spröde Lippen kräuselten sich. »Ich nehme an, es ist nicht ratsam, ihm diese Bitte abzuschlagen. – Schon gut, ich werde selbstverständlich kommen!«, unterbrach er den Diener, der den Mund zu einer hastigen Erklärung öffnete. Er erhob sich mühsam; das Alter machte sich inzwischen unbarmherzig bemerkbar. Umso wichtiger war es ihm, den Schein zu wahren, während er dem Mann zu den Gemächern folgte, die Heinrich bezogen hatte. Er spürte die Anspannung, die über dem Bischofssitz lag, in jeder Faser seines Körpers. Verstohlene Blicke, zusammengesteckte Köpfe und immer wieder das Wort ›Mord‹. Die Jagdgesellschaft war noch keine Stunde zurück, und schon gab es niemanden mehr, der nicht jede Einzelheit über das Attentat zu kennen glaubte. Salomo brannte darauf zu erfahren, was Eckhard herausgefunden hatte. Doch der Diener ließ ihm keine Zeit zu weiteren Grübeleien. Salomo registrierte mit einem Hauch von Ärger über seine eigene Schwäche, wie sein Puls sich beschleunigte, als die Tür geöffnet und sein Name genannt wurde. Dann gab der Diener den Blick frei. Bischof Salomo verneigte sich, nicht zu tief, aber wer konnte es einem alten Mann übel nehmen, wenn sein Rücken sich nicht mehr so leicht beugen ließ? Seine grauen Augen wanderten forschend über Heinrichs verschlossenes Gesicht.
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