Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In dem normannischen Örtchen Blanchelande entfaltet sich ein Drama von archaischer Wucht: Jeanne, die adelige Frau eines Großbauern, verfällt einem dämonischen Mönch, der sich als Soldat und versuchter Selbstmörder gleich zweifach an seinem Priesteramt vergangen hat. Haben die heidnischen Wanderhirten, die in der nahen Heide von Lessay ihr Unwesen treiben, sie verhext? Wird sie von dem Mönch benutzt oder ist dieser selbst nur Mittel zum Zweck in einem unheilvollen Spiel? Nachdem sie tot aufgefunden wird, rächt sich ihr Mann grausam an dem Mönch, der seither sein Unwesen in der Gegend treibt. ›Die Gebannte‹, einer der wichtigsten Romane von Jules Barbey d'Aurevilly, ist ein stilistisch herausragender Versuch über unerfüllbares Begehren und die Kraft des Glaubens und Aberglaubens. Fast 30 Jahre vergriffen, erscheint dieser Roman nun in der Reihe ›Französische Bibliothek‹ in der neu durchgesehenen klassischen Übersetzung von Alastair mit Beiträgen von Maximilian Woloschin, Mario Praz und Jacques Petit sowie Illustrationen von Félix Buhot.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 424
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Jules Barbey d’Aurevilly
Die Gebannte
Aus dem Französischen von Alastair
Mit Texten von Maximilian Woloschin, Mario Praz und Jacques Petit sowie
Illustrationen von Félix Buhot
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gernot Krämer
Inhalt
Jules Barbey d’Aurevilly: Einleitung
Vorwort zur zweiten Auflage
Die Gebannte
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
Anmerkungen
Maximilian Woloschin: Barbey d’Aurevilly
Mario Praz: Die Geburt der Femme fatale
Jacques Petit: Der Traum eines Romanciers: Barbey d’Aurevillys »Gebannte«
Gernot Krämer: Nachwort
Literaturverzeichnis (Auswahl)
Bildteil
Impressum
Der weithin unbekannte Krieg der Chouans, den man treffend und lebendig nur in Erzählungen mancher Männer beschrieben findet, die als Handelnde in ihn verwickelt waren und nun, da sie an ihr Lebensende gelangt sind, aus Stolz oder Ernüchterung nicht daran denken, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, dieser nächtliche Guerillakrieg – nicht zu verwechseln mit dem großen Krieg in der Vendée – ist eine jener Episoden der neueren Geschichte, welche die Imagination der Erzähler am stärksten anziehen müssen. Die Schatten und jenes gewisse historische Mysterium, die ihn umgeben, erhöhen noch den Reiz. Man fragt sich, was der berühmte Autor der »Chronik von Canongate« aus der Chronik der Chouannerie gemacht hätte, wäre er kein Schotte, sondern Bretone oder Normanne gewesen.
Womöglich wird man sich das auch noch fragen, wenn man dieses Buch gelesen hat. Indessen haben besondere Umstände den Autor in die Lage versetzt, Einzelheiten über den Krieg der Chouans mitzuteilen, die festgehalten zu werden verdienen. Der Volksschlag, unter dem die Chouannerie ausgebrochen ist, um alsbald wieder zu verlöschen, gehört zu den eigentümlichsten in Frankreich. Obwohl er seinem Wesen nach tatkräftig ist und sich durch Fähigkeiten auszeichnet, die dem Meistern der Realitäten des Lebens dienlich sind, fehlt es diesen Stämmen nicht an Poesie, und die abergläubischen Vorstellungen, die man bei ihnen findet und von denen die »Gebannte« bloß ein Beispiel oder eher deren Nachahmung ist, zeigen, dass die Imagination bei ihnen ebenso hochentwickelt ist wie Körperkraft und Wirklichkeitssinn. Verfügen sie auch nicht, wie die Bevölkerung des Südens, über jene Poesie, die vom Glanz der Bilder und von der Beweglichkeit der Gedanken lebt, so doch über jene andere, vielleicht noch mächtigere, die von der Tiefe der Eindrücke herrührt …
Diese Tiefe der Eindrücke ist es, die sie den seit fünfzig Jahren andauernden Bemühungen, ihre Seelen dem Glauben abspenstig zu machen, bis heute widerstehen lässt. Weder konnten die falschen Aufklärungen unserer Zeit den überkommenen Glauben schwächen, noch konnte es der unbestreitbare Hang der Normannen zum Materiellen, auf dem sie als wahrhaftige Piratensöhne beharren und um das sie, wie es im uralten Sprichwort heisst, prozessieren, seit sie nicht mehr darum kämpfen. Noch immer ist die Basse-Normandie, neben der Bretagne, eine der Gegenden, wo der Katholizismus am stärksten verwurzelt ist. Diese Bemerkung war vielleicht nicht unnütz im Fall eines Romans, in dem der Autor zeigen wollte, welch schreckliche Unruhe die Leidenschaften in einer von Natur aus hohen und reinen, durch Erziehung unauslöschlich christlich geprägten Seele entfachen können, denn die gläubige Bevölkerung, die das Schauspiel verfolgte, war genötigt, auf übersinnliche Vorstellungen zurückzugreifen, um sich diese moralische Katastrophe zu erklären.
Um die Auswirkungen der Leidenschaft darzustellen, wobei er gelegentlich auch deren Sprache benutzt, hat der Verfasser der »Gebannten« sich den weiten Horizont des Katholizismus angeeignet, der keine Scheu hat, an menschliche Leidenschaften zu rühren, um Schauder über deren Folgen auszulösen. Er ist Romancier und hat die Aufgabe des Romanciers erfüllt, welche darin besteht, das Ringen des menschlichen Herzens mit der Sünde zu beschreiben, und hat es unbefangen und ohne falsche Scham getan. Den Ungläubigen wäre es nur recht, wenn die Angelegenheiten der Imagination und des Herzens, also Roman und Drama – die Hälfte des Seelenlebens, wenn nicht mehr – den Katholiken versagt wären unter dem Vorwand, der Katholizismus sei zu streng, um sich mit dergleichen zu befassen … Wäre es so, dann könnte es keinen katholischen Shakespeare geben, und selbst bei Dante müsste man ganze Passagen ausmerzen … Wir würden uns glücklich schätzen, wenn das heute dem Publikum dargebotene Buch bewiese, dass man interessant sein kann, ohne unmoralisch zu sein, und ergreifend, ohne preiszugeben, was die Religion von einem Schriftsteller verlangt.
Der Roman »Die Gebannte« ist der erste einer Reihe von Romanen, die noch folgen werden und deren Schauplatz, wenn nicht Thema, die Kriege der Chouans sind.
Wie der Verfasser in der Einleitung zu seinem 1854 zuerst veröffentlichten Werk schrieb, haben Familien- und Verwandtschaftsumstände ihn in die Lage versetzt, besser als irgend jemand sonst (doch das will nicht viel heissen) über diese Zeit und den fast vergessenen Krieg Bescheid zu wissen, denn um das Schicksal zu vollenden und Fortunas Grausamkeit noch zu vergrößern, ähneln Heroismus und Unglück manchmal dem Glück, von dem es heisst, es habe keine Geschichte.
Den Chouans fehlt letztlich die Geschichte. Sie fehlt ihnen wie der Ruhm und sogar wie die Gerechtigkeit. Während die Vendéer, diese Krieger großer Feldschlachten, unter Napoleons Grabspruch unsterblich und in Frieden schlafen und auf ihren noch nicht erschienenen Geschichtsschreiber warten können, haben die Chouans, diese Buschsoldaten, nichts, was sie vor dem Vergessen bewahren und vor übler Nachrede schützen würde. Kein Geschichtsschreiber von Rang hat sich daran gemacht, unparteiisch von ihren Taten zu berichten. Vielleicht inspiriert das ziemlich schlecht geschriebene, aber lebendige Buch, das Duchemin des Scépeaux der Chouannerie des Maine gewidmet hat, eines Tages einen großen Dichter; doch ihre Schwester, die Chouannerie des Cotentin, hat als einzigen Xenophon einen Schuster, dessen 1815 veröffentlichte Memoiren bei Liebhabern und Antiquaren gefragt und inzwischen längst vergriffen sind. Vielleicht um uns unsere Nichtigkeit deutlicher vor Augen zu führen, greift Gott manchmal zur Ironie und hängt kleine Sachen an die große Glocke, während große unbekannt bleiben, und die Chouannerie ist eine dieser unbekannten großen Sachen, auf welche in Ermangelung der starken und durchdringenden Helligkeit der Geschichtsschreibung die Dichtung, Tochter des Traums, ihren Lichtstrahl richtet.
Im schwankenden Schein dieses Lichtstrahls hat der Verfasser der »Gebannten« versucht, eine vergangene Zeit heraufzubeschwören und zu schildern. Er wird das begonnene Werk fortsetzen. Nach der »Gebannten« hat er den »Chevalier des Touches« herausgebracht; er wird auch noch »Ein Edelmann von der Landstraße«, »Eine Tragödie in Vaubadon« usw. usf. veröffentlichen und den Roman, diese Geschichte des Möglichen, erzählend mit der realen Geschichte verquicken. Was liegt denn auch daran? Was liegt an der exakten, gewissenhaft ausgepinselten Wahrheit der Fakten, wenn die Horizonte übereinstimmen, die Charaktere und Sitten wiederzuerkennen sind und die Imagination der verstummten Erinnerung sagt: »Genauso ist es gewesen!« In der »Gebannten« ist die Figur des Abbé de la Croix-Jugan genauso erfunden, wie es die anderen Figuren drumherum sind; das gilt aber keineswegs für die Farben jener Zeit, die mit peinlicher Sorgfalt wiedergegeben wurden und vor deren Hintergrund sich von ihrem Geist beseelte Gestalten abzeichnen. Die Klippe des historischen Romans besteht darin, geschichtlich klar definierte Männer von Format, wie Cromwell, Richelieu, Napoleon, mit dem Klang ihrer Stimmen und ihrer Seelen sprechen zu lassen; doch das historische Unglück der Chouans gerät dem Romancier, der über sie schreibt, zum Vorteil. Die Imagination des Verfassers trifft beim Leser nicht auf eine schon vorgewarnte und unterrichtete Imagination, die den Gefühlen, die er erzeugen möchte, weniger zugänglich und daher weniger leicht in den Bann zu schlagen ist.
September 1858
Für Monsieur le Marquis de Custine
Monsieur, Sie haben mir gestattet, Ihren Namen diesem Buch voranzustellen, und nie trug ein Bündel, das in jenes schöne Meer des Vergessens, in dem Bücher so leicht untergehen, geworfen wurde, ein glanzvolleres Etikett, mit dem es leichter wieder aufzufinden wäre.
Wer an dieser Stelle auf den Namen eines Mannes stößt, den ganz Europa als einen der tiefgründigsten Beobachter und zugleich poetischsten Geister des 19. Jahrhunderts kennt, wird, da dieser die Hommage entgegennahm, glauben, dass dem Buch zumindest das Verdienst innewohnt, Ihnen gefallen zu haben, und es im Vertrauen darauf lesen, was seinen Erfolg besiegeln kann.
Ich danke Ihnen also dafür, Monsieur, dass Sie meine »Gebannte« akzeptiert haben. Durch Sie wird ihr zweifellos ein glückliches Los beschieden sein. In jedem Fall ist es mir wichtig, Ihnen an dieser Stelle zu sagen, dass ich Ihnen durch die beiden bedeutsamsten Seelenregungen verbunden bin – Bewunderung und Respekt.
Jules Barbey d’Aurevilly Paris, 24. Juni 1854
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
I
Die Heide von Lessay ist eine der ausgedehntesten jenes Teiles der Normandie, der die Halbinsel des Cotentin genannt wird. Ackerland, fruchtbare Täler, grüne Heidegründe, fischreiche Wässer finden sich dort; doch ist das Cotentin, diese fette und ertragreiche Scholle, wie die Bretagne, der Pauvresse-aux-Gênets benachbart, einem jener brachen und kahlen Gebiete, die der Wanderer meidet und wo nichts gedeiht außer spärlichem Gras und kargem, bald verdorrtem Heidekraut. Solch unbebaute Landstriche, des Wachstums bare Strecken, kahlköpfige Hügel stechen gemeiniglich von den sie umgebenden Ländereien auffallend ab. Sie sind inmitten der Fülle Oasen der Unfruchtbarkeit, so wie im Wüstensand sich grünende Oasen finden. Sie unterbrechen die lachenden, frischen und fruchtbaren Landschaften mit herben Bildern der Traurigkeit und Sorge. Sie lassen ihre Schatten dunkler werden … Zumeist ist der Horizont der Heidegründe wenig weit. Betritt der Wanderer sie, überfliegt sein Blick sie bis an ihre Grenzen. Allseits frieden die Hecken bebauter Felder sie ein. Findet man hier ausnahmsweise Heidegebiete, die sich weitflächig breiten, so ist schwer zu schildern, welchen Eindruck sie in dem Beschauer hervorrufen. Ihr tiefer und seltsamer Zauber fesselt Blick und Herz. Wer kennte nicht den Zauber der Heide? Nur Seelandschaften, Meer und Dünen sind vielleicht von gleich ausdrucksvoller Eigenart und vermögen noch stärker zu bewegen. Sie sind wie letzte Fetzen ursprünglicher und wilder Poesie auf der von des Menschen Hand und Werkzeug verwandelten und verwundeten Erde. Heilige Überreste, die schon morgen vom Atem modernen Industrialismus verweht sein können; denn unsere grob materialistische und nutzgierige Epoche müht sich, jegliche Unberührtheiten und Unbezähmtheiten auf dem Erdkreis wie in der Menschenseele zu tilgen. Immer gewinnlüstern, ist die Gesellschaft, greise Haushälterin, die von der Jugend einzig die Gelüste bewahrt und sich mit ihren Einsichten brüstet, ebenso unfähig, das Göttlich-Unbewusste des Geistes, die Poesie der Seele zu begreifen, stets gewillt, sie gegen unselige immer unvollständige Kenntnisse einzutauschen, wie sie unfähig ist, die unter scheinbarer Nutzlosigkeit der Dinge verborgene und sichtbare Poesie der Schau anzuerkennen. Wenn diese furchtbare Regsamkeit des modernen Denkens anhält, so wird es in wenigen Jahren kein armes Stücklein Heide mehr geben, auf dem die Phantasie träumend ruhen könnte, wie der Reiher gedankenvoll auf einem Bein steht an abendlicher Tränke. Unter der Herrschaft des schwergewichtigen Genius leiblichen Behagens, die man für Zivilisation und Fortschritt ausgibt, werden weder Ruinen noch Bettler, weder Einöden noch Aberglauben bestehen, wie sie Gegenstand dieser Geschichte sind, wenn unsere weise Zeit uns überhaupt den Mund nicht verbietet.
Eben diese zweifältige Poesie unberührter Scholle und Unaufgeklärtheit ihrer Bewohner war es, die man vor kurzen Jahren noch in der wilden und unberührten Heide von Lessay finden konnte. Jene, die sie damals kannten, können es bezeugen. Zwischen La Haye-du-Puits und Coutances gelegen, eignete dieser normannischen Wüste eine großartige Verlassenheit und trostlose Traurigkeit, die sich unvergesslich einprägten, wo nicht Baum noch Haus, Hecke und irgend Zeichen menschlichen Lebens zu finden waren, außer Spuren des Wanderers oder der Herden vom gleichen Morgen im Staub bei trockenem Wetter, oder im aufgeweichten Lehm der Straße bei Regen. Die Heide erstreckte sich, wie es hieß, sieben Meilen weit. Um geradenwegs hindurchzukommen, brauchte ein gutberittener Mann gewiss mehr als zwei Stunden. Nach Meinung der ganzen Gegend war es ein gefahrvoller Weg. Wenn man von Saint-Sauveur-le-Vicomte, diesem Flecken, so hübsch wie ein schottisches Dorf, wo Du Guesclin seine Burg gegen die Engländer verteidigte, oder von der Küste der Halbinsel aus in Coutances zu tun hatte und der Zeitersparnis wegen den Heideweg einschlagen wollte – denn Landstraßen und öffentliche Postkutschen gab es auf jener Seite nicht – so tat man sich zu mehreren zusammen, um die bedenkliche Einöde gemeinsam zu durchqueren; dies war so üblich, dass man lange in den Gemeinden die wenigen Männer, die bei Tag oder Nacht alleine den Weg nach Lessay wagten, tollkühn nannte.
Es wurde unbestimmt von Morden gesprochen, die zu anderen Zeiten dort begangen worden waren. Und nicht verwunderlich war, dass solche Überlieferungen dieser Gegend anhafteten. Denn es ließ sich wohl kaum eine geeignetere Örtlichkeit finden, um Reisende zu überfallen oder Feinde zu beseitigen. Das Land ringsum erstreckte sich so weit und kahl, dass man aus größter Entfernung schon Leute wahrnahm, die den Überfallenen hätten Beistand leisten wollen, und ihnen ausweichen und entfliehen konnte. Bei Nacht wurden Hilferufe auf der Heide von der schweigenden Weite verschlungen. Dies aber war nicht alles.
Wollte man den Erzählungen von Fuhrleuten Glauben schenken, die sich dorten verspätet hatten, so war die Heide von Lessay der Schauplatz noch seltsameren Geschehens. Rings im Lande raunte man, es ginge dort um. Für diese muskelstarke, mutige und vorsichtige Bevölkerung, die gegen greifbare und gewisse Gefahr unerschrocken ihre Vorkehrungen trifft, war dies die wahrhaft bedrohliche und unheimliche Seite der Heide, denn lange noch wird die Phantasie im Leben der Menschen die machtvollste Wirklichkeit sein. Nur dies, nicht der Gedanke an nächtlichen Überfall, ließ den Knotenstock in der Faust auch des kräftigsten Burschen beben, der bei sinkendem Tag sich nach Lessay wagte. Zumal, wenn er sich’s bei einem Schoppen oder Maß im »Roten Ochsen« hatte wohl sein lassen, einem Wirtshaus von recht üblem Ansehen, das einsam nach Coutances zu vor kahlen Horizonten sich erhob, sah der Gevatter unzweifelhaft in der Umwölkung seines Hirnes aus den ungewissen Linien der von taubleichen Abendnebeln durchschwelten Einsamkeit Dinge, die, erzählte er sie am nächsten Tag, den Ruf der Unheimlichkeit des verlassenen Ödlandes mehrten. Eine der unerschöpflichen Quellen der schlimmen, über Lessay und die Umgegend verbreiteten Mären war eine alte, in der Revolution von 1789 zerstörte Abtei, die, berühmt und reich, dreißig Meilen in der Runde unter dem Namen der »Abtei von Blanchelande« bekannt war. Im zwölften Jahrhundert von dem Günstling Heinrichs II., Königs von England, dem Normannen Richard von la Haye und seiner Gattin Mathilde von Vernon gegründet, lag diese Abtei, Lessay benachbart, vormals in einem geräumigen flachen Tal, von Wäldern umgeben zwischen den Gemeinden von Varenguebec, Lithaire und Neufmesnil. Vor wenigen Jahren waren ihre Trümmer noch zu sehen. Die Mönche, die sie immer bewohnt hatten, gehörten zu jenen mächtigen Kapitelherren des Ordens vom heiligen Norbert, die allgemein Prämonstratenser genannt wurden. Was den so malerischen und poetischen Namen der Abtei von Blanchelande angeht – Name, letzter Hauch, der von den Dingen bleibt –, so wissen die Forscher ihm nur höchst ungewisse Deutungen zu geben. Leitete er sich davon her, dass die Färbung des Erdreiches um die Abtei fahlbleiche Töne aufwies, oder kam er von den weißen Kutten der Kapitelherren oder von zum Gebrauch des Ordens bestimmtem Linnen, das rings um das Kloster ausgebreitet ward, um es vom Nachttau bleichen zu lassen? Wie dem auch sei: der unehrerbietigen Chronik der Gegend nach hatte das Kloster von Blanchelande von Jungfräulichem stets nur den Namen besessen. Man erzählte leise, es hätten sich dort in den Jahren vor Ausbruch der Revolution arge Dinge begeben. Wie weit war solchen Mären Wert beizumessen? Warum sollten die Feinde der Kirche, die Gründe benötigten, um die religiösen Denkmale eines anderen Zeitalters zu vernichten, nicht den Abbruch beginnen mit der Verleumdung dessen, was sie mit Axt und Hammer gänzlich fällen sollen? Oder hatte tatsächlich in jener Zeit, da der Glaube im welkenden Herzen der Völker zu wanken begann, der Zweifel die Verderbnis in den frömmster Tugendlichkeit geweihten Stätten keimen lassen? Wer konnte das sagen? Niemand! Ob nun wahr oder erfunden, diese angeblichen Gräuel vor Altären, dieser böse Überschwang hinter Klostermauern, diese Schändung des Heiligen, die Gott endlich durch soziale Stürme, zerstörerischer als die Wetter seiner Wolken, strafte, ob nun zu Recht oder zu Unrecht, erfüllten das Gedächtnis des Volkes mit einer Flut von Geschichten. Die Menge ist stets durch eingeborene menschliche Veranlagung allem Verbrecherischen, Verruchten, Unseligen, ebenso wie allem Wunderbaren zugewandt.
Schon eine Reihe von Jahren ist’s her, da bereiste ich jene Gegend, deren eindrucksvolle Eigenart ich dem Leser gerne vermitteln möchte. Ich kam zurück von Coutances, einer trübdüsteren, wenngleich bischöflichen Stadt, mit engen, feuchten Gassen, in der ich mich mehrere Tage hatte aufhalten müssen und die mich vielleicht für das Besondere der Landschaft, durch die ich kam, empfänglich stimmte. Meine Seele fand sich damals in vollkommenem Einklang mit aller Einsamkeit und Traurigkeit. Es war Oktober. Jahreszeit der Reife, die gleich einer durch ihr Fallen versehrten Goldtraube in den Erntekorb der Ewigkeit sinkt, und bin ich auch nicht sehr träumerischen Gemütes, so genoss ich die rauschhafte Melancholie dieser letzten, rührend schönen Tage des Jahres doch in vollen Zügen. Ich schenkte allem, was mir auf meinem Wege begegnete, rege Aufmerksamkeit. Ich reiste zu Pferde, nach der Weise jener, die nicht nur auf großen Straßen einherziehen. Da ich Mondschein und Abenteuern nicht abgeneigt war als rechter Nachfahre meiner Ahnen, der Chouans, hatte ich mich bewaffnet wie Surcouf, der Korsar, aus dessen Stadt ich gerade kam [1], und war mir’s einerlei, ob die Nacht mir über den Mantel träufte! Ein weniges vor Dämmerung, die im Herbst, wie allbekannt, rasch hereinbricht, fand ich mich dem Wirtshaus zum »Roten Ochsen« gegenüber, an dem es nichts Rötliches gab als die ockerfarbenen Läden. Am Rande der Heide von Lessay gelegen, schien es diesseits den Zugang zu bewachen. Fremd, wenn auch gebürtig aus der seit langem verlassenen Gegend, aber zum ersten Mal in der wie ein Meer aus Erde gebreiteten Heide, in der zuweilen auch Ortskundige sich bei Nacht verirren oder zum mindesten nur mühevoll ihren Weg finden, hielt ich es vor Betreten der gefährlichen Weite für geraten, noch Genaueres über den einzuschlagenden Pfad in Erfahrung zu bringen. So lenkte ich denn mein Pferd dem dürftigen Gebäu zu, durch dessen Tür, über der ein großer Bund welken Dorngeranks baumelte, das Gelärme rauer Stimmen drang, wohl von Leuten, die im Inneren tranken und sich unterhielten. Der Schrägschein der untergehenden Sonne, viel trüber als gewöhnlich, auf zweifachen Abschied deutend, Abschied des Tages und des Jahres, tauchte die sepiabraune Hütte in vergrämtes Gelb. Ihr halbverfallener Schornstein ließ träumerisch den blaukärglichen Rauch seines Torffeuers, das die Armen mit Kohlblättern decken, um zu schnelles Verflammen zu verhindern, in ruhige Himmel steigen. Von weitem hatte ich ein kleines, zerlumptes Mädchen gesehen, das einer Kuh Schneckenklee streute, die mit einem geflochtenen Strohstrick am Fensterladen der Wirtsstube angebunden war; so ging ich also auf sie zu und fragte, was ich wissen wollte. Das liebenswürdige Kind hielt es jedoch für untunlich, mir zu antworten, verstand mich vielleicht auch nicht, denn nachdem mich die Kleine mit zwei großen Grauaugen, reglos und stumm wie Stahlscheiben, betrachtet hatte, zeigte sie mir die Sohlen ihrer bloßen Füße und lief ins Haus zurück, wobei sie ihre flächsernen Flechten, die sich gelöst hatten, während ich mit ihr sprach, wieder flocht. Von dem scheuen kleinen Geschöpf vermutlich gerufen, trat eine alte Frau, rüstig und runzlig wie ein im Feuer erhärteter Stechpalmenzweig (die Glut der Not hatte sie wohl erhärtet), auf die Schwelle und erkundigte sich mit schleppend mürrischer Stimme nach meinem Begehr.
Und ich, da ich mich in der Normandie wusste, dem Land der Erde, wo man sich am besten auf die Dinge des praktischen Lebens versteht und die Politik der Interessen alles in allen Schichten beherrscht, bedeutete ihr, sie solle meinem Pferd ein gutes Maß Hafer geben und es mit einem Schoppen Apfelmost begießen, nachher würde ich ihr dann genauer erklären, was ich von ihr wissen wollte. Die Alte gehorchte mit der Beeiltheit reger Gewinnsucht. Ihr missmutig finsteres Gesicht begann zu glänzen wie eines der Geldstücke, die sie zu verdienen hoffte. Sie brachte den Hafer in einer Art Holztrog auf drei wackligen Beinen, aber sie begriff nicht, dass der Most, doch für Christenmenschen bestimmt, von einem Tier gesoffen werden sollte. Daher war ich genötigt, sie nochmals aufzufordern, mir den gewünschten Schoppen zu bringen, und schüttete ihn dann über den Hafer in der Krippe. Zu ihrem großen Ärger offenbar, denn sie schlug ihre beiden großen Hände, dunkel wie Waschschlegel, die lange im Tümpel gelegen haben, zusammen und murmelte Unverständliches in einem Dialekt, dessen Seltsamkeit vielleicht Unverschämtheiten verbarg.
»Nun, Mutter«, sagte ich zu ihr, während ich meinem Pferd beim Fressen zusah, »könnt Ihr mir angeben, welchen Weg ich zu gehen habe, um in der Nacht nach der Haye-du-Puits zu kommen, ohne mich zu verirren?«
Da hob sie ihren dürren Arm, zeigte nach der Richtung, die ich einschlagen sollte, und gab eine umständliche, unverständliche Erklärung ab in einem Gemisch von schadenfroher Bauernschlauheit und einem Mangel an Klarheit, wie er sich bei gröberen und dumpferen Naturen findet.
Ich hatte nichts von dem, was sie vorbrachte, verstanden. Daher ersuchte ich sie, während ich mein Pferd wieder aufzäumte, die missglückte Wegweisung zu wiederholen und genauer zu erläutern, als ihr plötzlich ein guter Einfall zu kommen schien, so dass ihr Gesicht wie bei einem guten Fund aufleuchtete. Sie drehte sich auf den Absätzen ihrer eisenbeschlagenen Holzschuhe um und rief mit greller Stimme, während sie halbwegs auf das Haus zulief:
»He, Gevatter Tainnebouy, s’ist ein Herr da, der nicht weiß, wie er nach La Haye-du-Puits kommt, und wenn Ihr wollt, mit Euch selbander trotten kann!«
Auf mein Wort, es lag mir nicht allzu viel an dem Gefährten, mit dem sie mich nach eigenem Ermessen zusammenbringen wollte. Der »Rote Ochse« war übel beleumundet, und die Alte sah durchaus nicht vertrauenerweckend aus. Wenn, wie erzählt wurde, Gesindel aller Art und alle arbeitsscheuen Liederlinge in diesem einsamen Wirtshaus Unterschlupf fanden, das wie vom Teufel zur Verwirklichung irgendeines abscheulichen Planes gebaut schien, so wird man natürlich finden, dass ich nicht ohne weiteres geneigt war, mir durch die Vermittlung der Herrscherin dieser Höhle einen Führer oder Gefährten für den Weg durch die gefährliche, bald schon nächtlich dunkle Heide, die es zu durchqueren galt, aufdrängen zu lassen.
Doch diese Erwägungen, die mir in kürzerer Zeit, als ich zur Niederschrift benötige, durch den Sinn zogen, hielten trotz der hereinbrechenden Dunkelheit, des schlechten Rufes des Gasthauses und des wenig beruhigenden Äußeren der Wirtin nicht stand angesichts der Erscheinung des herbeigerufenen Mannes, der aus dem Inneren des Hauses auf mich zukam. Meinem angenehm enttäuschten Blick zeigte sich einer jener Wohlbestallten, die keines Bestätigungsscheines für gute Lebensführung und Sitten vom Geistlichen oder Bürgermeister bedürfen, denn Gott hat ihnen in ihrer ganzen Gestalt ein herrliches und leserliches Zeugnis ausgestellt. Sobald ich ihn gesehen hatte, verflog mein Misstrauen wie vom Dach eines alten Schlosses ein von frohem, fern in der Ebene abgefeuerten Büchsenschuss verscheuchter Krähenschwarm. Ich erkannte sofort, mit was für einem Menschen ich’s zu tun hatte. Er schien alle für einen Begleiter durch die Heide wünschenswerten Eigenschaften zu besitzen, kurz gesagt, er hatte das für Ehrenmänner vertrauenerweckendste Gesicht und die für Spitzbuben beängstigendsten Schultern.
Er war ein Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren, eine Säule der Kraft, wie es die energische Redeweise der Gegend nennt – eines jener männlichen Geschöpfe mit kühnem Antlitz, freiem und festem Blick, die den Gedanken in uns erwecken, auch Männer könnten auf ihre eigene Weise schön sein. Er maß annähernd fünf Fuß vier Zoll, und nie hatte der Kehrreim des alten normannischen Liedes:
Am Ärmelkanal
Sind die Muskeln von Stahl
erfreulichere und überzeugendere Bestätigung gefunden. Beim ersten Blick hielt ich ihn – und in der Folge erwies es sich als richtig – für einen wohlhabenden Pächter der Halbinsel, der von irgendeinem Jahrmarkt der Gegend kam. Außer dem breitrandigen Hut, den er mit einem minder umfangreichen, beim Reiten gegen den Wind angemesseneren vertauscht hatte, trug er die Tracht, wie sie bei den Bauern des Cotentin in meiner Jugend gebräuchlich war: kurzes Wams aus blauem Wollstoff, im Schnitt der Jacken spanischer Majos, doch weniger gefällig und bequemer, kurze Hosen im Ton der Schafwolle, anliegend wie eine Hirschlederhose und am Knie mit drei blanken Knöpfen geschlossen. Ihm gänzlich unbewusst, stand dieser Anzug ihm wirklich ausgezeichnet und brachte einen Wuchs zur Geltung, der auch einen auf seine Vorzüge durchaus nicht bedachten Mann zu Stolz berechtigt hätte. Über die blaugerippten, herzhafte Waden umspannenden Wollstrümpfe hatte er jene altväterischen, fußlosen, vom Knie bis Knöchel reichenden Stiefelschäfte gezogen, die über die Schuhe gestreift wurden. Diese Gamaschen, nun mit einem Sporn versehen, die man bei der Ankunft im Stall bei dem Pferde ließ, waren an den Beinen unseres Cotentiners mit getrocknetem Schlamm überkrustet, mit noch frischem aber bespritzt, so dass sich die Länge des Rittes am heutigen Tage auf schlechten Wegen daraus ersehen ließ. Der keulenartige Reitstock aus Eschenholz in seiner Hand, dessen schmale, lederne Peitschenriemen sich mehrmals um sein Handgelenk schlangen, war über und über mit Straßenkot besudelt.
»Ich habe noch nie«, sagte er mit schlichter und liebenswürdiger Höflichkeit im heimatlichen Dialekt zu mir, »einen freundlichen Gefährten abgelehnt, wenn Gott ihn mir schickte.« Er lüftete leicht den Hut und setzte ihn dann wieder auf sein kraftvoll dunkles Haupt. Dichtes, straffes Haar rahmte das Gesicht, der Barbier hatte es mit ungelenker Hand geschnitten, es hing bis auf die Schultern nieder und um den herkulischen Nacken, den eine nach Matrosenart nur einmal geschlungene Halsbinde lose umgab. »Die alte Mutter Giguet sagt, Herr, Ihr wolltet nach der Haye-du-Puits, wo auch ich hin muss zu dem morgigen Jahrmarkt. Da ich kein Vieh zu treiben habe – Euer Pferd ist zu feurig, als dass Ihr gemächlich einer Ochsenherde folgen könntet –, so wollen wir, wenn’s Euch genehm ist, gemeinsam unseres Weges reiten und in Ehren miteinander reden, Bügel an Bügel und wie zwei Freunde, mit Verlaub. Die Falbe ist nicht so abgerackert, das arme Tier, dass sie es nicht noch mit Eurem Pferd aufnehmen könnte. Ich kenne sie. Sie hat Ehrgeiz wie ein Christenmensch. Neben Eurem Gaul wird sie sich tüchtig ins Zeug legen. Die Heide ist hinterhältig, und wenn es wieder wird wie gestern Abend im Heideland von Muneville und Montsurvent, dann geraten wir in den Nebel, lange ehe wir am Ziel sind. Meiner Meinung nach ist ein Landfremder, wie Ihr mir’s zu sein scheint, nicht fähig, ganz alleine in solcher Lage zu Rande zu kommen, und könnte wohl morgen früh bei Sonnenaufgang noch immer umherirren, spät am Morgen also, denn die Sonne ist ja säumig in dieser vorgerückten Jahreszeit.«
Ich dankte ihm für seine Zuvorkommenheit und nahm seinen Vorschlag mit Freuden an. Verhalten, Stimme und Blick dieses Mannes hatten etwas sehr Anziehendes, das sich Vertrauen erzwang. War er auch ein Normanne, so sprach zwar Klugheit aus seinem Antlitz, doch keine Verschlagenheit. Er war fast ebenso dunkel verbrannt wie Buchweizenbrot; so sehr ihn auch Sonne und Mühsal gerbten, eigneten ihm doch die Farben der Kraft und Gesundheit. Er besaß die kühne Sicherheit der Männer, die durch Beruf und Handwerk stets im Freien sind und gleich Rittern der Vorzeit nur auf die eigene Kraft, die persönliche Tapferkeit bauen können, um manche Fährlichkeit und vieles Schwere zu bestehen.
Der heimatliche Dialekt, den er, wie ich schon sagte, sprach, war nicht so ungeschlacht und fast barbarisch wie die Redeweise der alten Wirtin des »Roten Ochsen«. Er war einem Manne gleich ihm, der viel umherkam und sich in den Städten aufhielt, angemessen. Nur gab der besondere Tonfall all seinen Äußerungen etwas würzig Bodenständiges und war so gut der Gesamtheit seines Lebens und seiner Person angepasst, dass etwas gefehlt hätte, wäre er anders gewesen. Ich sagte ihm unumwunden, wie glücklich ich mich schätzte, ihn zum Weggenossen zu haben.
»Und«, setzte ich hinzu, »da Ihr vom Nebel sprecht: dies ist die Stunde, da er sich meist erhebt«; ich wies ihm mit dem Finger bläulich kreisendes Gewölk, das am Horizont auftauchte, seit die Sonne gesunken war und den letzten Scharlachschein am Himmel nach sich gezogen hatte. »Vielleicht wäre es ratsam, an den Aufbruch zu denken und keine Zeit mehr zu verlieren.«
»’s ist wahr«, bestätigte er. »Zeit ist es, dass wir unseren Knoten schürzen, wie die Seeleute sagen. Die Falbe hat ihren Hafer gefressen, und ich stehe in kurzer Minute zu Eurer Verfügung. – Mutter Giguet«, rief er dann mit gebietend kraftvoller Stimme, »was schulden wir Euch, die Falbe und ich?«
Er fuhr mit der Hand in einen mit Taschen versehenen Ledergurt, wie ihn die Viehzüchter des Auge-Tales tragen, und beglich seine Zeche der Wirtin, die auf der Schwelle stand und uns begaffte. Dann holte er die Falbe, wie er sein Pferd nannte, das sich als seines Namens würdig erwies, denn eine schöne Stute von der Färbung fetten Rahmes mit rosigen Nüstern war es, die, schlammbespritzt bis zum Bauchriemen, um so besser zu ihrem schlammüberkrusteten Reiter passte. Sie verzehrte, wie er gesagt hatte, ihre Haferration, einem Eisenring angehalftert, der am Giebel der Schenke befestigt war. Da ein Mauervorsprung sie verdeckte, hatte ich sie nicht bemerkt. Kaum vernahm sie die Stimme ihres Herrn, als sie zu wiehern und mit den Hufen den Boden zu stampfen begann in einer Freude, die wie Wildheit wirkte.
Gevatter Tainnebouy [2] – denn so hieß mein Reisegefährte ja – schnallte einen umfangreichen blauen Mantel wie einen Mantelsack auf seinen Sattel, zäumte seine Stute und schwang sich mit der Gewandtheit der Gewöhnung und einem Geschick, das einem kundigen Kunstreiter Ehre gemacht hätte, leicht auf ihren Rücken. Ich habe viele tollkühne Burschen in meinem Leben gesehen, einem dieser Sorte bin ich nie wieder begegnet! Einmal im Sattel, nahm er das Tier so fest zwischen die Schenkel, dass es aufschrie.
»Das mag Euch der Beweis sein«, sagte er mit dem etwas wilden Stolz eines von Rollons [3] Normannensöhnen, »dass, werden wir auf dem Wege angegriffen, ich Manns genug bin, Euch kräftig beizustehen, wenn auch nur mit meinem Knüttel!«
Ich hatte, gleich ihm, die Wirtin des »Roten Ochsen« bezahlt und mein Ross bestiegen. So trotteten wir denn, Bügel an Bügel, wie er gesagt hatte, und sprengten auf die übel beleumundete Heide von Lessay, die gleich von Anbeginn, zumal wir unsere Reise in herbstlicher Dämmerung antraten, noch düsterer erschien als ihr Ruf.
II
Hatte man dem »Roten Ochsen« den Rücken gewandt und gelangte über die Hochebene hinaus, wo die Straße endete und die Heide von Lessay begann, gewahrte man mehrere parallel laufende Pfade auf der Heide, die immer mehr auseinanderstrebten, je weiter man kam. Sie führten insgesamt zu sehr weit auseinanderliegenden Zielen. Vorerst deutlich am Boden der beginnenden Heide erkennbar, wurden sie, je mehr man in sie eindrang, unsichtbar. Schon nach kurzer Wanderung war, selbst am Tage, nichts mehr von ihnen zu erblicken. Nur Heide ringsum. Kein Pfad mehr kenntlich. Dies war für den Wanderer die stete Gefahr. Wenige Schritte schon brachten ihn unmerklich aus seiner Bahn. In jener weiten Einöde ist unwillentliches Abirren von der gebotenen Richtung fast unvermeidlich, so dass man wie ein steuerloses Schiff nach langem Irregehen, vor und zurück und im Kreis, auf der anderen Seite der Heide an einen vom erwünschten Ziel weit entfernten Punkt gelangt. Für dieses Missgeschick, einem sehr häufigen beim Überschreiten einer Ebene, in deren Kahlheit kein wegweisender Baum, Strauch noch Hügel zu finden ist, haben die Bauern des Cotentin eine malerisch-abergläubische Bezeichnung. Sie sagen von dem verirrten Wanderer, er sei auf böses Kraut getreten, womit sie verborgen-schlimmen Zauber meinen. Diese Vorstellung ist ihnen gerade durch ihre geheimnisvolle Unbestimmtheit genehm.
»Dort ist der Weg, den wir einschlagen müssen«, sagte mein Gefährte zu mir und deutete mit dem Knauf des Eschenknüppels auf eines der hellen, sich in der Heide verlierenden Bänder. »Haltet Euer Pferd mehr nach rechts und fürchtet nicht, mich abzudrängen! Der Weg wird bald nicht mehr zu sehen sein, und hier macht er eine kaum merkbare Biegung voller Tücke. In wenigen Minuten wird es Nacht sein, und dann besteht keine Möglichkeit mehr für uns, aus der Lage des ›Roten Ochsen‹ die Richtung zu erkennen. Glücklicherweise kennt die Falbe den schon begangenen Weg wie ein Jagdhund seine Fährte. Oft, wenn ich von Messen und Jahrmärkten heimkehrte, hat mich der Schlaf im Sattel übermannt, und ich bin deswegen doch ebenso heil angekommen, als hätte ich mir die ganze Zeit wachen Geistes und mit offenen Augen ein Liedchen zum Zeitvertreib gepfiffen.«
»War das nicht doch ein wenig unvorsichtig?«, bemerkte ich; »setztet Ihr Euch beim nächtlichen Ritt in so verlorener Gegend nicht einem unerwarteten Überfall von irgendwelchen üblen Taugenichtsen aus, wie sie sich oftmals nachts in einsamem Gelände herumtreiben; zumal, wenn Ihr die Gepflogenheit habt, einen Ledergurt mit so prallen Taschen um die Hüften zu schnallen wie heute?«
»Ich bestreite es nicht, Herr«, entgegnete er. »Aber Gott befohlen, letzten Endes! Es kann vorkommen, dass man müde wird und einschläft, wenn man auch viel vertragen kann, hat man in zehn verschiedenen Buden auf dem Jahrmarkt getrunken und sich die Kehle klamm geredet beim Verschachern von Stücker zehn Ochsen. Man schliefe auf der Kirchturmspitze von Colomby in einem Wirbelsturm; um so eher also auf dem Rücken der Falben, die einen weichen Gang wie das Schaukeln einer Wiege und einen sicheren Tritt hat. Die bösen Schlingel aber, von denen Ihr sprecht, hätten mir gewiss übel mitspielen können, wenn sie mich auf meinem Sattel schnarchend, wie in der Predigt unseres Herrn Pfarrers, überrascht hätten. Glücklicherweise kann die Falbe, im Mondschein oder im Dunkeln, nie etwas Verdächtiges sehen, ohne zu wiehern, dass es den Wasserschwall der Mühle übertönt! Geht mir! Ich war immer zeitig bereit, mich zu verteidigen und mit den Schlauen, die auf Schabernack aus waren, Abrechnung zu halten!«
»Und hattet Ihr Gelegenheit dazu?«, fragte ich ihn. »Denn ich hörte, die Straßen seien in dieser Gegend durchaus nicht sicher.«
»Vielleicht so zwei, drei kleine Mal, Herr«, erwiderte er; »Unbeträchtlichkeiten, die nicht nennenswert sind; ein paar Hiebe hie und da, die meine Spitzbuben schön zum Heulen brachten wie Hunde am Kreuzweg. Nie aber ein wirkliches Handgemenge! Dazu ließen sie es gar nicht kommen; entweder gaben sie Fersengeld oder fielen hin wie Ballen schmutziger Wäsche, und das war noch das Klügste, was sie tun konnten, denn ich habe nie einen Menschen, der am Boden liegt, schlagen mögen … und die Falbe nahm das Hindernis! Aber das ist schon Jahre her; ’s war zur Zeit des berüchtigten Lemaire, der in Caen geköpft wurde, und jener falschen Zinnlöffelhändler, die so manches Gehöft in Brand steckten … Heutigentags sind alle Straßen friedlich; und vielleicht gibt es in der ganzen Gegend nur diese, der Heide wegen, wo man zu Zeiten, wie ich’s beim Durchreiten erlebt habe, sich in den Steigbügeln aufrecken muss, um hinter die Hecken zu spähen, und den Knüttel fest mit dem Peitschenriemen ums Handgelenk knotet.«
»Und seid Ihr oft unterwegs in diesem Gebiet?«, fragte ich ihn weiter und mühte mich, die Gangart meines Pferdes dem Trott der Stute anzupassen.
»Fünf, sechs Mal im Jahr, Herr«, sagte er. »Ich mache meine Runde. Ich besuche regelmäßig den Sankt-Michaels-Jahrmarkt von Coutances, auch La Crottée und die großen Märkte von Créances; es werden deren zwei im Winter und zwei im Sommer abgehalten. Das ist wohl, wenn ich mich nicht irre, ungefähr alles. Wie Ihr seht, bin ich kein allzu großer Kenner dieser Wege hier. Ich habe meist auf der anderen Seite zu tun, in der Gegend von Caen, wo ich den Augerensern dieses Hochlandes Ochsen verkaufe, die sie nach Poissy bringen. Wie alles Vieh, das sie dorthin verfrachten, stammen sie aus unseren Züchtereien des Unter-Cotentin und nicht aus ihrem Auge-Tal, auf das sie so stolz sind.«
»Ihr seid, wie ich sehe«, sagte ich, über seinen Züchter-Patriotismus lächelnd, »ein Wackerer von der Spitze unserer Halbinsel; denn obgleich Ihr mich für einen Fremden anseht und ich mir den Tonfall des Dialekts abgewöhnt habe, der dem Ohr des anderen den Landsmann verrät, so bin ich dennoch von hier. Wenn mein Gehör sich nicht ebenso wie meine Zunge der heimatlichen Laute der Jugendzeit entwöhnt hat, müsst Ihr, Eurer Sprechweise nach, aus der Gegend von Saint-Sauveur-le-Vicomte oder Briquebec sein.«
»Genau wie gerechtes Gewicht!«, rief er in einem Freudenausbruch, der von der Entdeckung, ich sei ein Landsmann, hervorgerufen wurde. »Ihr habt den Rosenstock zu Recht gepackt, bester Herr! Wahrhaftig! Ich bin wirklich aus der Gegend von Saint-Sauveur-le-Vicomte, denn ich habe den großen Hof des Mont-de-Rauville gepachtet [4], der zwischen Saint-Sauveur und Valognes liegt, wie Ihr wissen werdet, da Ihr ja aus der Gegend seid. Ich bin Viehzüchter und Landbauer, wie meine Vorfahren es immer waren, ehrliche Rotjacken von alters her, und wie’s meine sieben Buben auch sein sollen. Gott schütze sie! Die Sippe der Tainnebouy verdankt alles der Erde und wird immer nur die Erde bebauen, wenigstens zu Lebzeiten Gevatter Ludwigs, denn Kinder haben so ihre närrischen Ideen. Wer kann je dafür einstehen, was geschehen wird, wenn wir erst einmal unter der Erde liegen …?«
Die letzten Worte sprach er fast traurig. Ich lobte den klugen und beherzten Entschluss des biederen Cotentiners, der leider eine Seltenheit darstellt unter den Bauern unserer durch Landwirtschaft reich gewordenen Provinzen. Bin ich doch der Meinung, dass die kraftvollsten Gemeinschaften, wenn nicht die glänzendsten, ihr Leben der Nachahmung verdanken und der Überlieferung, jenem Tun, das an gleicher Stelle wieder aufnimmt, was von der Zeit unterbrochen ward; bin ich doch dem Kasten-System geneigter, trotz seiner Härten, als dem System der überhitzten Entwicklung aller menschlichen Fähigkeiten. Auch bewunderte ich die Ungezwungenheit, Offenheit, die schöne Gehaltenheit des Körpers und der Seele, die Sicherheit, Einfachheit, edel-ruhevolle Männlichkeit dieses Menschen. So fand ich seinen Wunsch doppelt berechtigt, seine Kinder sollten sein, was er selber war, und mehr nicht.
Ich sah wohl, dass dies mächtige Haupt auf kraftvollen Schultern, widerstandsfähig wie die Zinnenbekrönung eines Turmes, sich nicht von falschen Folgerungen, wie sie der Welt geläufig sind, hatte beirren lassen. Was mochte er alles vernommen haben auf den von ihm besuchten Messen und Märkten. Er war ein Mann der alten Zeit. Als er den Namen Gottes aussprach, hatte er ohne jede Ziererei nach dem Hut gegriffen und ihn gelüftet. Es war nicht so finster, dass ich diese stumme Geste nicht sehr deutlich wahrgenommen hätte. Wir drangen tiefer in die Heide ein, wehende Nebel stiegen, die uns allmählich unterm kühlen und verschleierten Mond einzuweben begannen. Ich nahm das durch mein Nachdenken über die gerade Sinnesart meines Gefährten ein Weilchen unterbrochene Gespräch wieder auf.
»Meiner Treu!«, sagte ich zu ihm und sah mich um, denn der Nebel war noch nicht dicht genug, dass wir nicht noch weite Strecken vor uns und zur Seite hätten übersehen können, »ich bin sehr geneigt, Euch zu glauben, Gevatter Tainnebouy, wenn Ihr die Heide nicht zu den sicheren Gebieten Eures Bezirkes zählt. Ich bin, wie Ihr, gerne bei Nacht unterwegs; ich bin auch schon viel herumgekommen und in vielen verschiedenen Ländern, kann mich aber nicht erinnern, jemals eine für nächtliche Überfälle geeignetere Örtlichkeit gesehen zu haben als diese; ’s ist wahr, Bäume, hinter denen man sich verstecken könnte, um Reisenden aufzulauern oder aus dem Hinterhalt auf sie zu schießen, gibt es hier nicht, aber Erdunebenheiten sind vorhanden, kleine Erdwellen, hinter denen ein Tunichtgut sich bäuchlings niederlegen kann, um von dem Vorüberkommenden nicht gesehen zu werden und bequem auf ihn schießen zu können.«
»Beim Vogel des heiligen Lucas, des Schützers der Ochsentreiber«, sagte der wackere Pächter, »Ihr seid ein Spürer, wie man bei uns sagt, Herr! Vorhin errietet Ihr, als Ihr meine Sprache hörtet, dass ich aus Saint-Sauveur-le-Vicomte bin, und jetzt erratet Ihr, wie sich die verfluchten Banditen immer verhielten, wenn sie in dieser Gegend ihr Unwesen trieben. Wahrhaftig, Herr, wie Ihr sagt, sie versteckten sich hinter den Erdwellen, wie Hasen in der Höhle, denn es gibt in der Heide manche Stelle wie diese, die gebuckelt ist wie die alte Kupferpfanne eines fahrenden Althändlers. Wenn sie zu zweit waren, versteckten sie sich zumeist, der eine hüben, der andere drüben, beiderseits des Weges. Im Augenblick, wo Ihr vorüberkamt, sprang dann der eine geradenwegs hinter seiner Erdwelle hervor und hängte sich Eurem Gaul in die Zügel. Der andere kroch dann auch aus seinem Versteck hervor, packte Euren Schenkel, und zu zweit hatten sie Euch schnell aus dem Sattel. Zuweilen machten sie nicht so viele Umstände, sie begnügten sich damit, Euch eine Ladung Blei als Begrüßung in den Leib zu jagen. Wer hörte denn den Schuss in all der Weite? Höchstens diesseits der Heide die Mutter Giguet vom ›Roten Ochsen‹, die sich wohl hütete, auch nur eine Silbe verlauten zu lassen, aus Angst, ihr Haus in Verruf zu bringen.«
»Und ein Haus, das in keinem guten Ruf steht, Freund!«, fuhr ich fort. »In Coutances warnte man mich, ich sollte mich dort nicht allzu lange aufhalten.«
»Das sind törichte Redereien und Klatschgeschichten«, entgegnete Gevatter Ludwig Tainnebouy, »der schlechte Ruf kommt von der Nähe der Heide und dem Aussehen des Wirtshauses. Sonst ist er unbegründet. Ich kenne die Mutter Giguet seit mehr als zwanzig Jahren, Herr. Ihr Mann war Metzger in Sainte-Mère-Église. Ich habe ihm mehr als ein Gespann Ochsen verkauft, die er mir stets gut und bar in die Hand bezahlt hat, aber das Unglück ist mit dem Tod seiner Tochter in sein Haus eingekehrt, einer schönen Blonden mit Wangen, rot wie ihre Sonntagsschürze. Im Hochzeitsalter musste sie sterben. Sie war noch nicht achtzehn, als Gott sie rief. Arme Kleine! Von dieser Stunde an hatten die Giguets kein Glück mehr. Der Vater war nicht mehr mit dem Herzen bei der Arbeit. Er war immer so verdüstert, dass überall gesagt wurde, er sei dem Trübsinn verfallen. Um seinen Gram zu ertränken, sprach er dem Branntwein zu, und das wurde ihm schnell zur Gewohnheit. Die Mutter aber verdorrte lebendigen Leibes, wie ein Baum, dessen Wurzeln verletzt sind. Sie hatte keinen Sohn; und Ochsen abstechen und ihr Blut aufwaschen ist kein Handwerk für eine Frau. Daher gab sie ihre Metzgerei auf und begann, Most im ›Roten Ochsen‹ auszuschenken. So dass«, setzte er mit lautem Auflachen hinzu, »sie die eine Hälfte ihres Lebens damit verbrachte, Menschen zu nähren, und die andere, sie zu tränken. Was nun die Leute, die in der Schenke verkehren, angeht, Herr, so sind sie wie alle, die sich in Wirtshäusern und Trinkstuben herumtreiben. Sie sind nicht besser und nicht schlimmer; wie überall ist’s: Fünf böse Gesichter kommen auf ein gutes! Wenn man einen Flaschenpfropfen als Aushängeschild über der Türe hängen hat, ist’s nicht, um sie verschlossen zu halten. Und wenn er ehrlich verdient ist, setzt der Pfennig des Spitzbuben nicht mehr Grünspan an als der Heller des braven Mannes; ist’s nicht so, Herr?«
Derart redeten wir miteinander unterwegs. Seit einer Stunde annähernd ritten wir durch die Heide, und die Nebelschleier hüllten uns allmählich ganz und gar ein. Der Mond tauchte das lichte Gewölk in bleiches, ungewisses Licht. Im Traben hatte Gevatter Ludwig Tainnebouy die Lederriemen aufgenestelt, die seinen Mantel an den Sattel festschnallten, und dessen ganze Weite so über sich wie über sein Pferd gebreitet, dass es sich im Nebel ausnahm, als bildeten Ross und Reiter nur ein einziges seltsames Fabelwesen. Ich selbst hatte meine Hülle fester um mich gezogen zum Schutz gegen die durchdringend kühle Feuchtigkeit. Hätten wir geschwiegen, wären wir wie zwei Schatten aus Dantes düsterem Fegefeuer gewesen. Der Hufschlag unserer Pferde war auf dem Heideboden, der den Laut schluckte, kaum vernehmbar. Je länger wir ritten, desto gesprächiger wurden wir; so ergab sich reichlich Gelegenheit zur Feststellung, wie maßvoll richtig das Urteil meines Begleiters war und wie viel Kenntnisse er besaß … Der Verstand dieses schlichten Mannes war ebenso gesund wie sein Körper. Sein Wissen war begrenzt, aber lebendig und zuverlässig. Was seine einsichtsvolle Klugheit sich zu eigen gemacht hatte, das war nicht durch Schulung, sondern durch Auge, Hand und Erfahrung geworden. Fand sich bei ihm zuweilen eine Anschauungsweise, die fälschlich in diesem armseligen Jahrhundert ewiger Unrast und gehirnlicher Betriebsamkeit veraltet gescholten wird, so waren seine Einsichten nicht, wie man hätte denken können, die Folge irgend bäuerlicher Beschränktheit. Auf allen Gebieten des realen Lebens hätte er auch die Kundigsten ganz anderer Schichten geschlagen. Aus Normannischem und Keltischem gemischt – denn durch die Nachbarschaft der Bretagne und der Normandie sind oftmals Geschlechter von der einen Provinz in die andere abgewandert –, war er der ausdrucksvollste Typus seiner Doppelrasse, der mir je begegnete. Seine etwas ungestümen, fast möchte ich sagen sonnengebräunten Redewendungen bargen spürsamsten Scharfsinn und strotzten von gesundem Menschenverstand. Und zumal gut stand ihm, dass er immer dort blieb und verblieben war, wohin er gehörte, dass er eins war mit seinem Leben; wie sich ein Handschuh der Hand anschmiegt, so fügte er sich in sein Schicksal. Jedes Ding muss vom Hauch seiner Früchtigkeit umgeben sein, sagte Heinrich IV. Seinen früchtigen Duft sog man mit vollen Nüstern ein; ahnungslos richtete er sich nach der Lehre des Freundes Michauds [5]. Nur eine Schnitte Weizenbrot war sein Schicksal, aber er fand es köstlich.
Plötzlich strauchelte die Stute Gevatter Ludwig Tainnebouys bei einer der Erdunebenheiten, auf die wir uns immer aufmerksam machten, und vielleicht wäre sie zu Fall gekommen, wenn er sie nicht mit kraftvoller Hand und bereitem Zaum gehalten hätte. Doch als sie sich wieder aufrichtete, lahmte sie.
»Potz…!«, sagte er und stieß einen Fluch, den ich nicht niederzuschreiben wage, so klangvoll dröhnend aus, dass er wie ein Paukenschlag wirkte, »jetzt hinkt die Falbe auch noch! Soll der Teufel doch die vermaledeite Heide holen! Wie hat sie sich nur verletzen können auf diesem flachen Boden ohne Kiesel? Das muss ich untersuchen, und sofort! Ich bitte vielmals um Verzeihung, Herr!«, setzte er hinzu und rutschte mehr von seinem Pferd, als dass er abstieg. »Der Mann, der für sein Tier nicht Sorge trägt, ist mir verächtlich. Was würde denn ohne die Falbe aus mir? Die beste Stute der ganzen Halbinsel ist sie, schon seit sieben Jahren lasse ich alles Gebräu des Cotentin von ihr durchrütteln …!«
Als er anhielt, hatte ich mein Pferd auch gezügelt. Doch wie ich ihn so flink aus den Bügeln klimmen sah, glaubte ich, seine Zuneigung zur Falben verdrehe ihm den Kopf ganz und gar. Wenn auch die Nacht nicht allzu dunkel war und der Mond die Nebelschwaden mit fahlem Schimmer tränkte, hätte man dennoch nachtsichtiger sein müssen als alle Katzen, die je vor der Tür eines Bauernhauses um Mitternacht gemaunzt haben, um zu solcher Stunde erkennen zu können, was unterm Huf eines Pferdes nicht in Ordnung ist. Doch hatte er meine Verwunderung erregt, so verscheuchte er sie ebenso schnell. Er ließ kurz sein Feuerzeug aufflammen, zog eine kleine Stalllaterne aus der Tasche seines Mantels und entzündete sie. Beim Schein dieser Laterne hob er nacheinander die Füße seines Pferdes hoch und rief, das Hufeisen an einem Vorderhuf sei lose.
»Vielleicht schon lange«, setzte er hinzu und wiederholte, was er vorher gesagt hatte; denn auf diesem staubigen Boden könnte ein Pferd seine vier Hufeisen verlieren, ohne dass man’s gewahr würde! Vermutlich hatte das Tier sich an diesem Fuß gestoßen. »Nur«, murmelte er besorgt, »finden kann ich nichts.«
Und er rückte seine Laterne näher und betrachtete den Huf des Pferdes mit Bedachtsamkeit.
»Ich sehe nichts, weder Blut noch Geschwulst, und trotzdem kann der Gaul offenbar nicht auftreten und scheint arge Schmerzen auszustehen.«
Er nahm den Zaum des Pferdes und zwang die Stute durch leises Ziehen, zu ihm zu kommen. Aber die vor kurzen Minuten noch so muntere Stute lahmte erbärmlich, und es war wirklich Grund zu der Befürchtung, dass sie ihren Weg nicht würde fortsetzen können.
»Da haben wir’s!«, sagte er dann, doch in ärgerlichem Ton, und ich selbst begann die Lage auch keineswegs erbaulich zu finden. »Da haben wir’s; mitten in der Heide mit einem lahmen Klepper, niemand weit und breit, kein Haus noch sonst etwas zwei Meilen in der Runde, und noch ein langer Weg vor uns! Die erste Schmiede, die wir auftreiben können, liegt eine Viertel-Meile von La Haye-du-Puits entfernt. Wirklich heiter! Was sollen wir tun? Der Teufel soll mich holen, wenn ich’s weiß! Es gelüstet mich durchaus nicht, die Falbe vierzehn Tage auf die Streu zu betten, denn am Ersten des kommenden Monats, Allerheiligen, ist zu Bayeux ein berühmter Jahrmarkt, der drei Tage dauert und der seinesgleichen nicht hat von jetzt bis Lichtmess!«
Und, immer bewehrt mit seiner Laterne, zog er die Stute, den Anlass seiner Klagen, auf sich zu; aber das lahme Pferd konnte sich kaum schleppen.
»Nun also, Herr«, sagte er schließlich zu mir, wie einer, der zu einem Entschluss gekommen ist, »ich bin der Meinung, dass es nun, wo es mit unserer Karawane aus ist, klug von Euch wäre, mich meinem Schicksal zu überlassen und alleine weiter zu reiten, denn das Wetter ist wenig erfreulich und die Nacht unwirtlich, es ist, als ob die Luft voll Nadeln wäre. Vielleicht habt Ihr es eilig … Jeder hat das Seine zu erledigen. Ihr sollt nicht geschädigt werden durch die Verzögerung, die meine eigenen Angelegenheiten erfahren. Ich habe es mir nun in den Kopf gesetzt, zu Fuß bis nach La Haye-du-Puits zu gehen. Ankommen werde ich allerdings erst morgen früh, wann, weiß nur Gott im Himmel! Aber ich bin Anstrengung gewohnt. Ich habe manches wenig Rosige durchgestanden. Ich habe oft bei Garnetot oder Aureville [6] die Nacht verbracht, bis zum Gürtel im Schlamm des Sumpfes steckend, um des Spaßes willen, Wildenten oder Schmielenten zu erlegen. Zwei, drei Meilen im Nebelsud erschrecken mich also nicht allzu sehr … umso weniger, da Jeannine als kluge Hausfrau ihres Mannes Überrock mit guten Dingen gefüttert hat. Lieber röstet sie ihm ein tüchtiges Stück Schinken und füllt den Weinkrug, als dass sie ihm Heiltränke braute, wenn er von seiner Fahrt nach Hause kommt.«
Aber ich versicherte ihm, dass ich ihn jetzt nicht alleine in der Klemme lassen wollte, nach so kameradschaftlichem Miteinander; dass meine Angelegenheiten letzten Endes nicht dringender seien als die seinen, vielleicht minder dringend sogar … und ich ein wenig Nebelfeuchte auch niemals gescheut hätte.
»Gevatter Ludwig Tainnebouy«, sagte ich zu ihm, »wollen wir nicht eine kleine Weile rasten. Wir pfeifen auf unsere Gäule und rauchen ein wenig, um den beißend kalten Nachtschwaden ein Schnippchen zu schlagen. Vielleicht könnt Ihr nach einer Pause Euer Tier wieder besteigen, da Ihr ja, wie Ihr sagt, weder Wunde noch Schwellung an seinem Fuße finden könnt.«
»Ich fürchte sehr«, meinte er nachdenklich und schüttelte den Kopf, »dass ich die Falbe heute Nacht nicht wieder besteigen kann, wenn sich’s mit ihr verhält, wie ich fast glauben muss.«
»Und was glaubt Ihr denn, Gevatter Ludwig?«, fragte ich, als ich beim Schein der Laterne wahrnahm, wie sich seine so kühnen und offenen, sonst so strahlend heiteren Züge verdüsterten.
»Was soll ich da sagen!«, entgegnete er und kratzte sich hinterm Ohr wie ein Mann, der in einige Verlegenheit geraten ist; »ich habe keine sehr große Lust, zu Euch davon zu reden, Herr, denn Ihr werdet Euch vielleicht über mich lustig machen. Wenn’s aber die Wahrheit ist, warum soll ich’s dann verschweigen? Mehr als auslachen könnt Ihr mich nicht, und was liegt schließlich daran! Unser Pfarrer versichert immer wieder, wie heilsam die Beichte sei, und ich für mein Teil habe erfahren, dass, wenn ich irgendetwas Schweres auf dem Herzen hatte und zu Jeannine davon sprach, abends, wenn der Kopf auf den Kissen lag, mir das Gemüt am nächsten Tage sehr entlastet war. Außerdem seid Ihr aus der Gegend und habt sicher von manchen Dingen reden gehört, die uns Bauern und Pächtern ganz geläufig sind … wie zum Beispiel von der geheimen Macht mancher Leute, zu verzaubern oder zu bannen, wie wir’s nennen.«
»Gewiss! Ich hörte wohl davon reden«, entgegnete ich ihm, »sehr viel sogar in meiner Kinderzeit. Ich bin mit solchen Geschichten aufgewachsen … Doch hielt ich dafür, dass dies geheime Wissen ganz in Vergessenheit geraten sei.«