Die geheime Drachenschule - Das Erwachen der Blattfinger - Emily Skye - E-Book
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Die geheime Drachenschule - Das Erwachen der Blattfinger E-Book

Emily Skye

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Beschreibung

In den Zeitungen des Königreichs taucht das verwackelte Bild eines Ungeheuers auf. Die Presse tippt auf einen Nachfahren des legendären Monsters von Loch Ness. Aber das Bündnis der Sieben Feuer weiß es besser: Für die Drachenreiter ist klar, dass es sich um einen der versteinerten Blattfingerdrachen handeln muss, der nach Jahrhunderten erwacht ist. Henry und seine Freunde dürfen keine Zeit verlieren. Sie müssen den verschwundenen Blattfinger wiederfinden, bevor die fiese Lady Blackstone es tut ...

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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Titel

Impressum

Widmung

Karte

Prolog

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Epilog

Alle Clans auf einen Blick

Das Bestiarium

Weitere Titel der Autorin

Die geheime Drachenschule

Die geheime Drachenschule –

Der Drache mit den silbernen Hörnern

Die geheime Drachenschule –

Die Rückkehr des siebten Clans

Titel auch als Hörbuch erhältlich

Über dieses Buch

»HAPPY IST TOTAL AUSGEFLIPPT.ES BEGINNT VON NEUEM,HAT ER IMMER WIEDER GESAGT.ES BEGINNT VON NEUEM.«

Im Internet taucht das verwackelte Bild eines Ungeheuers auf – aufgenommen am Arundelsee. Ein schlechter Scherz? Oder eine Fälschung wie das Monster von Loch Ness? Henry, Lucy und die anderen Drachenreiter von Sieben Feuer wissen es besser! Für sie ist sofort klar, dass es sich um einen der versteinerten Blattfingerdrachen handeln muss, der nach Jahrhunderten erwacht ist. Die Freunde dürfen keine Zeit verlieren. Sie müssen den verschwundenen Blattfinger wiederfinden, bevor Lady Blackstone es tut …

Emily Skye

Die geheimeDrachenschule

Das Erwachen der Blattfinger

Band 4

Mit Illustrationen von Pascal Nöldner

BAUMHAUS

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

BAUMHAUS Verlag in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Pascal Nöldner

Gestaltung Vorsatz und Bestiarium: Bastei Lübbe AG

Motive Bestiarium: © shutterstock.com

eBook production: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0148-8

www.luebbe.de/baumhaus

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für Marlene und Bela,

Prolog

„Es war ungefähr vier Uhr morgens“, würde er später sagen. Bei einem der wenigen Male, bei denen er seine Geschichte zum Besten gab. Er war kein besonders guter Geschichtenerzähler. Er war ein guter Grubenarbeiter gewesen. Und nach seiner Pensionierung hatte er sich eine Angel gekauft. Er mochte zwar weder das Angeln besonders, noch aß er gerne Fisch. Aber das Drumherum gefiel ihm. Er war in der Natur. Allein. Er genoss die Stille und die Einsamkeit, und niemand beschwerte sich, wenn er ab und an seine Pfeife stopfte.

Abends, nachdem er die beiden Butterbrote gegessen hatte, die seine Frau ihm für den Angelausflug geschmiert hatte, starrte er meist noch eine Zeitlang auf den See. Noch bevor die Sonne unterging, klappte er seinen Hocker zusammen und legte sich in dem kleinen Zelt schlafen, das er am Seeufer aufgeschlagen hatte. In weiter Ferne hörte er das Brodeln des Wasserfalls, der auf der anderen Uferseite in den See stürzte. Ein beruhigendes Geräusch, das ihn sehr viel schneller einschlafen ließ als das Schnarchen seiner Frau.

In besagter Nacht, als sich das unglaublichste Ereignis im Leben des Mannes zutrug, erwachte er gegen vier Uhr morgens. Eine ihm unerklärliche Unruhe hatte ihn geweckt. Seufzend schälte er sich aus seinem Schlafsack, streifte sich seinen dicken Schafwollpulli über und kletterte aus dem Zelt. Wenn er schon mal wach war, konnte er sich auch auf seinen Hocker setzen und den See betrachten. Das schwache Mondlicht glitzerte geheimnisvoll auf dem nächtlich kohlschwarzen Wasser.

Als er leise lächelnd das Spiel aus Dunkelheit und Funkeln betrachtete, geschah es. Eine Zacke durchbrach die spiegelglatte Oberfläche des Sees. Grau und schartig wie die Spitze eines Berges. Eine Zacke, die größer und größer wurde.

Ein Hai!, schoss es dem Mann durch den Kopf. Doch Haie lebten nicht in Seen. Haie lebten im Meer.

Der Mann saß wie erstarrt da und beobachtete, wie die Zacke wieder kleiner wurde und im See verschwand.

Einen Moment lang war er wie vom Donner gerührt. Dann sprang er auf, hastete in sein Zelt und suchte das Handy, das seine Frau und seine Kinder ihm aufgedrängt hatten. Sie hatten darauf bestanden, dass er das Ding mitnahm, wenn er allein über Nacht an den See fuhr, um erreichbar zu sein. Und sein Enkel hatte ihm gezeigt, wie man Fotos damit machte. Wer zur Hölle sich das wohl ausgedacht hatte? Fotos machen mit einem Telefon! Man erfand ja auch keinen Tennisschläger, auf dem man Eier braten konnte. Er konnte gar nicht zählen, wie viele Bilder er von seinem Ohr gemacht hatte, als er versucht hatte, seine Frau anzurufen.

Jetzt umklammerte er den kleinen Apparat, bereit, das, was da eben aus dem See aufgetaucht war, zu fotografieren, sollte es sich noch einmal blicken lassen. Lange geschah nichts. Doch wenn der Mann eines besaß, war es Geduld.

Nach einer gefühlten Ewigkeit durchbrach erneut eine Zacke die Oberfläche. Und dann noch eine und noch eine und noch eine. Elf Zacken zählte er. Es sah so aus, als ob elf Haie in einer perfekten Linie hintereinanderher schwimmen würden.

Dressierte Zirkushaie, ging es ihm durch den Kopf. Was noch unwahrscheinlicher war als ein einzelner Hai, der sich wie auch immer in den Süßwassersee verirrt hatte.

Mit zittriger Hand schoss der Mann einige Bilder, bevor die Zacken wieder unter der Wasseroberfläche verschwanden.

Einige Wochen, nachdem der Angler seine Entdeckung gemacht hatte, stapfte das Ungeheuer mit dem gezackten Rückenkamm durch den morastigen Boden des Arundelsees und schleppte sich ans Ufer.

Kleine Sturzbäche rannen zwischen seinen algenbewachsenen Schuppen hindurch, als es bewegungslos auf dem schmalen Streifen zwischen See und Wald stehen blieb. Es war tiefe Nacht. Das Ungeheuer konnte ein Käuzchen rufen hören, und es ertastete die Bänder einiger Tiere, die lautlos durch das Unterholz schlichen. Es waren Jäger auf der Suche nach Beute.

Es tastete weiter. Nach einer Weile stellte es beruhigt fest, dass der gefährlichste Jäger heute Nacht nicht unterwegs war. Kein Mensch war weit und breit zu erspüren.

Die Drachendame streckte ihre Läufe, einen nach dem anderen, spreizte die Flügel, fächerte einige Male in der Luft, bevor sie ihre Schwingen wieder auf dem Rücken zusammenfaltete. Dann machte sie einige Schritte Richtung Wald. Ihre mit tellergroßen Saugnäpfen bewehrten Tatzen versanken im schlammigen Ufer. Mit einem schmatzenden Geräusch zog sie sie wieder heraus und hinterließ Fußabdrücke, die aussahen wie von einem riesengroßen Frosch.

Als sie die ersten Bäume erreichte, die wie stumme schwarze Wächter den Wald beschützten, begann sie, ihr Geweih an den Stämmen zu wetzen. Ihre Hörner waren so sehr mit Algen bewachsen, dass es aussah, als ob jemand zerfetzte grüne Laken darüber geworfen hätte. Nachdem sie den gröbsten Bewuchs entfernt hatte, schritt sie steifbeinig zwischen den Bäumen hindurch, hinein in den Wald. Ihr Körper fühlte sich an wie aus Stein. Und wenn sie es recht bedachte, war er das bis vor Kurzem wohl auch gewesen. Langsam kamen die Erinnerungen zurück. Sie tauchten auf wie Wrackteile, die durch trübes Wasser nach oben stiegen, um dann wieder zu versinken.

Da war die leise, giftige Stimme der Flüsterin, die nicht ihre Reiterin gewesen war. Da war der Kampf Seite an Seite mit ihren Artgenossen, den anderen Blattfingern. Da war der Tod des Blattfingers, der von der Flüsterin geritten wurde, gestorben durch das Horn eines Teufelsgrinds. Und da war der Abschied ihres Reiters und schließlich ihre Verwandlung zu Stein.

Nur ihr Herz war nicht versteinert. Es hatte weitergeschlagen. Jahre, Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte hindurch? Sie vermochte es nicht zu sagen.

Die Blattfingerdame verschwand immer tiefer im Wald. Dem Hunger nach zu urteilen, der in ihrem Magen rumorte, mussten es wirklich Jahrhunderte gewesen sein, die sie erstarrt verbracht hatte.

Gras und Gold, ging es ihr durch den Kopf. Ich will Gras und Gold.

Gras war nicht das Problem, es wuchs zwischen den Bäumen, und sie begann, es erstaunlich geschickt mit ihrem riesigen Maul aus der Erde zu rupfen. Gold war weit seltener als Gras. Kauend hielt sie ihre Nüstern in die Nachtluft und versuchte, es zu wittern. Ganz weit in der Ferne konnte sie eine dünne glitzernde Spur wahrnehmen. Sie stellte sich auf die Hinterläufe, sodass ihr riesiges Haupt die Baumkronen überragte, und sog den Duft ein. Sie drehte den Kopf und starrte über den nächtlichen See und den westlichen Teil des Waldes hinweg. Und dort, auf einem Hügel hinter dem Wald, thronte eine Burg. Die Höhle eines Menschenrudels. Von dort kam der feine Geruch des Goldes.

Sie ließ sich auf die Vorderläufe fallen, und die Bäume um sie herum erzitterten von der Erschütterung. Es war zu gefährlich, zu der Burg zu fliegen, entschied sie. Sie wusste nicht, ob die Menschen dort Drachen gegenüber freundlich gesinnt waren. Wahrscheinlich eher nicht. Sie wusste ja nicht mal, ob es außer ihr überhaupt noch Drachen gab. Sie würde sich eine Zeitlang im Wald verstecken, um zu Kräften zu kommen.

Ihr Goldhunger würde warten müssen.

Es brummte in der Dunkelheit. Einmal, zweimal. Dann kurze Zeit später ein drittes Mal.

Henry gab einen Laut von sich, der an ein sterbendes Wildschwein erinnerte. Halb Stöhnen, halb Grunzen. Er tastete nach dem leuchtenden Handy auf seinem Nachttisch und starrte müde auf das Display.

Arthur an Kometen: Bitte kommen. Over.

Das Handy brummte erneut, und eine Nachricht von Timothy erschien: Tickst du noch ganz sauber? Es ist 5:45 Uhr!!!

Arthur an Kometen: Roger. 100% richtig. 5:45 Uhr. Over.

Timothy: Was zur Hölle willst du??? Und hör endlich mit diesem Roger und Over Mist auf.

Arthur: Roger!

Timothy: Ich bringe dich um! Sobald wir wieder auf Sieben Feuer sind, sag ich Königsblut, dass er dich grillen soll. Und zwar ganz langsam. Ich sag ihm, dass er mit deinen Fingern anfangen soll. Einen nach dem anderen. Damit du nie wieder Nachrichten schreiben kannst!!!

Obwohl er noch todmüde war, musste Henry grinsen. Edward hatte ihnen allen zu Beginn der Ferien ein Smartphone geschenkt.

„Keine große Sache“, hatte er gesagt. „So können wir über den Sommer in Kontakt bleiben. Für Notfälle. Falls irgendwas passiert.“

In den darauffolgenden Wochen, die sie bei ihren Familien und nicht auf Sieben Feuer verbracht hatten, war allerdings nichts Weltbewegendes passiert. Trotzdem hatte Arthur es geschafft, ihnen täglich, wenn nicht sogar stündlich zu schreiben.

Insgeheim freute sich Henry über das Mitteilungsbedürfnis seines Freundes. Denn obwohl es schön gewesen war, Zeit zu Hause mit seiner Mum zu verbringen, hatte er seine neuen Freunde, die Drachen und sogar ein paar der Lehrer von Sieben Feuer vermisst.

Das Handy brummte erneut. Wie es schien, ließ sich Arthur von Timothys Drohungen nicht beeindrucken.

Arthur an Kometen: PAN!!! Es gibt ein Problem.

Edward: Guten Morgen, Männer. In unserer Gruppe ist ja schon wieder ganz schön was los.

Timothy: Ach, der Herr ist auch schon wach? @Arthur: Und was faselst du da von Violets Drachen? Ist der gerade in dein Bett geklettert? Würde dir nur recht geschehen.

Arthur: 100% negativ. PAN ist ein Begriff aus der Funkersprache und bedeutet, dass es ein Problem gibt … Over.

Das Grinsen verschwand aus Henrys Gesicht, als er auf das kleine Display starrte. Arthur hatte ein Bild in ihre Gruppe geschickt. Das WLAN bei ihm zu Hause war extrem schwach, und so dauerte es, bis aus dem verschwommenen Farbfleck ein Foto wurde. Das Foto selbst war auch nicht unbedingt scharf. Außerdem ziemlich unterbelichtet und ein wenig verwackelt. Und trotzdem wusste Henry sofort, wo es aufgenommen worden war und was es zeigte.

Timothy: Ach du Sch…

Edward: Ist es das, was ich denke, was es ist?

Arthur: Schätze, schon. Over.

Henry: Woher hast du das Bild?

Es dauerte einen Moment, bis Arthurs nächste Nachricht in der Gruppe erschien.

Arthur: Bin im Netz auf diese Seite gestoßen, auf der sie über Verschwörungstheorien, Aliens, die Mondlandung und Monster diskutieren. 99% von dem, was dort gepostet wird, ist negativ, aber über diese Nachricht bin ich gestolpert. Ein Junge aus Sussex hat das Bild gepostet. Dazu hat er geschrieben, dass sein Opa es bei einem seiner Angelausflüge zum Arundelsee gemacht hat. Over.

Timothy: Das ist übel.

Edward: Wir müssen die Master informieren.

Henry: Mein Cousin Charles kommt nachher zum Frühstück bei uns vorbei. Dann zeige ich es ihm. Er wird wissen, was zu tun ist.

Sie diskutierten noch eine Weile über das Foto. Ob es echt war oder ob sich jemand einen schlechten Scherz erlaubt hatte. Wie bei den Bildern vom Monster von Loch Ness, die irgendwann als Fälschung enttarnt worden waren.

Doch sie waren sich einig, dass das kein Zufall sein konnte. Das Bild zeigte mit ziemlicher Sicherheit einen Drachen. Einen Blattfinger.

Henry erinnerte sich, wie er auf den Grund des Arundelsees gesunken und fast ertrunken wäre. Kurz bevor er das Bewusstsein verloren hatte, war er gegen etwas gestoßen, das sich wie ein versteinerter Ast angefühlt hatte. Doch es war wahrscheinlich weit mehr als ein Ast gewesen, nämlich das gegabelte Horn eines Blattfingers. Das Letzte, was Henry gesehen hatte, war ein Spalt, der sich geöffnet hatte. Und dahinter ein golden schimmernder Kreis, den eine schmale Sichel in zwei Hälften teilte: das sich öffnende Auge eines erwachenden Blattfingers!

Henry versprach den anderen, sich zu melden, sobald er mit seinem Cousin gesprochen hatte. Er verabschiedete sich aus der Gruppe und ließ sich in sein Kissen sinken. Seine Gedanken fuhren Karussell und kehrten immer wieder zu dem Tag am Arundelsee zurück. Über den Sommer hatte er die Erinnerung daran im hintersten Winkel seines Gedächtnisses versteckt. Jetzt kehrte sie mit voller Wucht zurück.

Morgen, Mum“, nuschelte Henry, als er später am Morgen barfuß und noch in Pyjamahose und Schlafshirt in ihre kleine Küche geschlichen kam.

Seine Mutter, die am Herd stand und Teewasser aufsetzte, drehte sich zu ihm um und blickte ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Stolz an. „Wie erwachsen du auf Sieben Feuer geworden bist“, murmelte sie. „Du siehst deinem Vater immer ähnlicher.“

Henry fläzte sich auf die Eckbank und griff nach einem der Scones, die in einem Körbchen auf dem Tisch standen.

„Henry!“, tadelte ihn seine Mutter. „Charles kommt doch gleich zum Frühstück.“

„Nur den einen“, bettelte Henry, und seine Mutter seufzte. Schnell brach sich Henry ein Stück des süßen Brötchens ab und löffelte sich etwas Orangenmarmelade auf das noch dampfende Stück. „Lecker“, kommentierte er mit vollem Mund.

Seine Mutter setzte sich kopfschüttelnd zu ihm und reichte ihm eine Tasse Tee. „Der Sommer ist viel zu schnell verflogen“, seufzte sie. „Keine Woche mehr, und ich muss dich schon wieder gehen lassen.“

Henry wich ihrem Blick aus. Ihm war der Sommer sehr lang vorgekommen. Die Zeit mit seiner Mum hatte er zwar sehr genossen, aber gleichzeitig konnte er es kaum erwarten, seine Freunde auf Sieben Feuer endlich wiederzusehen. Immerhin war es ihm gelungen, ab und zu ein Band zu Phönix zu knüpfen, seinem Drachen. Auf die Entfernung hatte es sich ein bisschen so angefühlt wie ein Radiosender, den man nur mit ganz schwachem Signal empfing. Sehr viel Rauschen, hin und wieder ein paar klare Fetzen und dann wieder Funkstille. Aber es hatte gereicht, um sich gegenseitig zu vergewissern, dass es dem anderen gut ging.

„Henry!“ Seine Mutter hatte nach seiner Hand gegriffen, und er zuckte zusammen.

„’tschuldige, ich war in Gedanken.“

Sie drückte seine Hand. „Auch wenn du dich auf Sieben Feuer prächtig entwickelst, deine Ohren scheinen schlechter geworden zu sein.“

Henry strich sich verlegen durch seine abstehenden Haare. Manchmal kam seine Mutter der Wahrheit gefährlich nahe. Er fragte sich, wie sie reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass er in der Tat im letzten Jahr auf einem Ohr taub geworden war, weil er einen dreißig Meter hohen Wasserfall hinabgestürzt war. Er war sich ziemlich sicher, dass sie ihm verbieten würde, auf die Wolkenburg zurückzukehren.

Und was würde sie wohl erst dazu sagen, wenn er ihr von den Drachen erzählte? Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er Geheimnisse vor seiner Mutter hatte. Und etwas so Großes wie Drachen zu verheimlichen war gar nicht so leicht.

Seine Mum drückte seine Hand ein weiteres Mal. „Trödel nicht rum!“, ermahnte sie ihn. „Charles ist sicher gleich da, und du willst ihn doch nicht im Schlafanzug empfangen.“

Wenig später saßen sie zu dritt um den Frühstückstisch und ließen es sich schmecken. Charles trank Kamillentee. Genau wie vor einem Jahr. Damals war das Henry noch komisch vorgekommen. Jetzt dachte er an die mit Kamille gefüllten Säcke in Mistress Leonellas Laboratorium.

Wahrscheinlich erinnerte Charles der Geschmack an seine Zeit auf Sieben Feuer, dachte Henry. Seine Haare waren noch feucht vom Duschen, und seine Mutter bemerkte tadelnd die Wasserflecken auf seinem T-Shirt, da er sich mal wieder nicht richtig abgetrocknet hatte.

„Die trocknen doch schnell“, sprang ihm Charles zur Seite und deutete aus dem Fenster in den Himmel. „Bei dem Wetter.“

„Männer!“, sagte Henrys Mum nur und rollte mit den Augen.

Henry und Charles grinsten sich verschwörerisch an. Noch vor einem Jahr war Charles ein geheimnisvoller Fremder gewesen, der Henrys Leben und das seiner Mutter von einem Tag auf den anderen völlig auf den Kopf gestellt hatte. Mittlerweile war er zu einem Teil ihrer kleinen Familie geworden. Während Henrys Abwesenheit hatte Charles regelmäßig nach seiner Mum gesehen. Und wenn seine Mutter bei jemandem gut aufgehoben war, dann doch wohl bei einem ehemaligen Drachenreiter!

„Das kann man ja nicht mit ansehen!“, sagte Henrys Mum gerade lachend an Charles gewandt und reichte ihm die Schüssel mit den Würstchen und den Bohnen, nachdem sie seinen hungrigen Blick gesehen hatte. „Jetzt nimm schon den Rest!“

Ertappt und mit einer leichten Röte im Gesicht nahm Charles die Schüssel entgegen und leerte sie auf seinen Teller.

„Ach, du meine Güte!“ Henrys Mum hatte auf die Küchenuhr gesehen, die über dem Backofen hing, und sich die Hand vor den Mund geschlagen. „In zwanzig Minuten fängt meine Schicht im Krankenhaus an.“ Sie sprang auf. „Ich muss los! Aber ihr zwei habt sicherlich genug zu besprechen. Sieben-Feuer-Zeugs und so. Mit mir redet ja keiner darüber.“

Charles errötete noch ein bisschen mehr, und Henry räusperte sich. Und fast zeitgleich sagten sie: „Sieben Feuer bewahrt seine Geheimnisse. So war es von Anbeginn, so muss es für immer sein.“

Henrys Mum stutzte kurz und fing dann an zu lachen. „Ihr zwei seid euch sehr ähnlich. Fast schon unheimlich.“ Sie schnappte sich den langen bunten Schal, der auf der Eckbank lag, und schlang ihn sich um den Hals. „Bis später, ihr beiden. Henry, das Abendessen steht im Kühlschrank, und wenn du dich nützlich machen willst, dann kümmere dich um die Wäsche.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, und ohne lange zu überlegen, tat sie bei Charles dasselbe. Den bunten Schal hinter sich her wehend, war sie im nächsten Augenblick verschwunden.

Henry hätte es nicht für möglich gehalten, aber Charles war nach dem Abschiedskuss noch eine Nuance röter geworden. Es sah fast so aus, als ob er einen Sonnenbrand hätte. Henry biss sich heimlich auf die Wange, um nicht laut loszulachen. Doch dann fiel ihm wieder Arthurs Nachricht ein, und das Grinsen verschwand von alleine.

„Es gibt Neuigkeiten aus Arundel“, sagte er ernst.

Charles zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. „Neuigkeiten?“, fragte er ungläubig. „Ich habe gestern noch mit einem ehemaligen Schüler von Sieben Feuer gesprochen, der nun im Rat der Alumni ist.“ Er senkte die Stimme. „Sie sind zum x-ten Mal zum Grund des Sees getaucht und haben wieder nichts gefunden. Sie sind sich jetzt absolut sicher, dass keine versteinerten Blattfinger auf dem Grund des Sees stehen, und wollen die Suche einstellen.“ Er legte Gabel und Messer neben seinem Teller ab und drückte Henrys Schulter. „Tut mir leid.“ Er räusperte sich. „Vielleicht hat dir dein Gedächtnis doch einen Streich gespielt. Immerhin bist du aus … wie viel Metern einen Wasserfall hinabgestürzt? Fünfzig?“

Henry konnte nicht fassen, was sein Cousin da andeutete.

Doch Charles war noch nicht fertig. „Dann die Sache mit deinem Ohr und vorher die Begegnung mit Graham Green. Vielleicht hast du dir den Drachen am Grund des Sees nur eingebildet.“

Henry wurde wütend. Er wusste genau, was er gesehen hatte. Wortlos kramte er sein Handy hervor und schob es zu Charles hinüber. Sein Cousin las sich die Nachrichten durch, die sie sich am Morgen geschickt hatten, und starrte dann lange auf das verwackelte Foto. Henry blickte ihn erwartungsvoll an.

Schließlich hob Charles den Blick. „Das ist nicht gut, Henry.“

„Ich weiß“, sagte Henry knapp. „Aber es beweist, dass ich mir den versteinerten Blattfinger nicht eingebildet habe.“

Charles unterbrach ihn. „Das meine ich nicht, Henry.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Wie seid ihr nur auf die Idee gekommen, eine Chatgruppe ins Leben zu rufen, in der ihr über Sieben Feuer redet?“ Er griff nach dem Smartphone. „Wer hat die Gruppe gestartet?“

„Arthur“, sagte Henry perplex und hatte im nächsten Augenblick ein schlechtes Gewissen, dass er seinen Freund verraten hatte.

Charles begann, eine Nachricht zu tippen: Arthur, hier Charles. Gruppe sofort auflösen. An den Rest: Chatverlauf löschen. Und bringt eure Smartphones nächste Woche zum Treffpunkt mit.

Als Nächstes löschte Charles den Chatverlauf auf Henrys Smartphone und gab ihm das Gerät zurück. Er sah ihn ernst an. „Henry, das Internet ist die größte Gefahr für Sieben Feuer. Nirgendwo sonst werden Geheimnisse so schnell verraten wie dort. Kein Wort über Sieben Feuer im Internet. Ist das klar?“

„Klar“, stotterte Henry kleinlaut. „Aber … aber, was ist mit dem Bild, das Arthur gefunden hat?“

Charles erhob sich. So aufgebracht hatte Henry ihn noch nie erlebt. „Wie konntet ihr nur? Ich kümmere mich darum, dass es sowohl von dieser dubiosen Website als auch vom Handy des Anglers verschwindet.“

Henry fragte sich zwar, wie Charles das anstellen wollte, aber viel wichtiger war etwas ganz anderes. „Was ist denn mit dem Bild? Es beweist doch, dass ich recht hatte.“

Charles schüttelte den Kopf. „Noch mal, Henry. Der Rat der Alumni ist den Seegrund Zentimeter für Zentimeter abgetaucht. Da war kein Drache. Und solche Bilder wie die auf deinem Handy tauchen täglich auf. Aliens, Fabelwesen, Einhörner und leider auch Drachen. Und immer sind es Fälschungen.“

Henry konnte es nicht fassen. „Aber wir wissen doch, dass es Drachen gibt. Und es kann doch kein Zufall sein, dass gerade jetzt jemand am Arundelsee einen gesehen haben will“, protestierte er.

Charles war bereits in den schmalen Flur verschwunden, der hinter der Küche lag, und hatte sich seinen Mantel von der Garderobe genommen. „Oberste Priorität ist, dass das Geheimnis von Sieben Feuer bewahrt wird. Darum müssen wir uns als Erstes kümmern“, sagte er, während er den Mantel zuknöpfte.

Henry war ihm in den Flur gefolgt. „Aber …“

„Ist ja gut, Henry. Ich werde den Rat der Alumni bitten, ein weiteres Mal den Seegrund abtauchen zu lassen“, schnitt Charles ihm das Wort ab. Er hatte die Haustür bereits geöffnet, als er sich nochmals umdrehte. „Vergiss nicht, dein Smartphone an Master Duncan zu übergeben, wenn er euch nächste Woche abholt.“

Dann krachte die Haustür hinter ihm ins Schloss, und Henry blieb mit offenem Mund im Flur zurück.

Eine Woche, nachdem ihm Charles den Kopf gewaschen hatte, machte sich Henry auf den Weg zum Hafen. Möwengekreische und der Geruch von Seetang empfingen ihn, als er die Kaimauer entlang zu dem verlassenen Pier ging, an dem Master Duncan sie abholen würde. Der Himmel war von einer löchrig grauen Wolkendecke verhangen, durch die sich nur ab und zu ein Sonnenstrahl verirrte.

Passt ja prima zu meiner Stimmung, dachte Henry und zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch, als ihm ein frischer Seewind ins Gesicht blies. Der Abschied von seiner Mum war ihm nicht leichtgefallen. Sie hatte geschluchzt wie ein Schlosshund, und so war das kleine Tränchen, das er verdrückt hatte, unbemerkt von ihren Sturzbächen weggespült worden.

Das Smartphone in seiner Hosentasche wog bleischwer und trübte die Wiedersehensfreude mit Master Duncan. Das neue Jahr auf Sieben Feuer würde mit einer ordentlichen Standpauke beginnen.

Immerhin würde er auch seine Freunde wiedersehen: Timothy, Arthur, Edward, Chloé und Lucy.

Henry zog die Riemen seines Rucksacks straff und bog um den Knick, den die Kaimauer machte. Er kam in den alten Teil des Hafens. Hinter der stillgelegten Werft und den beiden rostigen Uferkränen lag der alte Pier, ihr Treffpunkt. Und dort warteten sie bereits. Timothy und Arthur hatten es sich auf zwei Pollern bequem gemacht und wurden von Edward, Chloé und Lucy umringt.

Lucy entdeckte ihn als Erste, und als sie ihm zuwinkte, machte Henrys Herz einen kleinen Hüpfer. Er beschleunigte seine Schritte und erinnerte sich an ihr allererstes Aufeinandertreffen. Edward und Chloé hatte er damals für eingebildete feine Pinkel gehalten, Timothy für einen arroganten Unruhestifter, Arthur für einen kleinen Streber und Lucy für eine ziemlich übergeschnappte Spinnerin. Letztlich war sein erster Eindruck ziemlich treffend gewesen, mit dem Unterschied, dass er sich damals nie hätte träumen lassen, dass die fünf einmal seine allerbesten Freunde werden würden.

„Du alte Petze!“, begrüßte ihn Timothy. „Wieso musstest du Charles von unseren Handys erzählen?“

„100% negativ. Das wird mächtig Ärger geben“, orakelte Arthur.

„Ich hätte es wissen müssen. Wie konnte ich uns nur diese blöden Dinger besorgen?“, machte sich Edward Vorwürfe.

„Master Duncan wird so sauer auf uns sein“, pflichtete Chloé ihm ängstlich bei.

Nur Lucy blieb still. Sie hatte den Kopf leicht schräg gelegt und die Hände in die Hüften gestemmt. Sie musterte Henry eine Weile. „Hätte nicht gedacht, dass ich dich so vermissen würde, Henry McGregor“, sagte sie schließlich.

Henry wurde rot, und sein Hals war plötzlich ganz trocken. Er räusperte sich. „Immer noch keine Schuhe?“, krächzte er lahm und deutete auf ihre nackten, schmutzigen Füße.

Lucy schüttelte den Kopf, und ihre wilde Lockenmähne mit den bunten, hineingeflochtenen Bändern wippte hin und her.

Henry konnte nicht genau sagen, was es war, aber irgendwie hatte sich Lucy über den Sommer verändert. Waren es ihre Haare? Oder war sie einfach nur größer geworden?

Während er noch darüber nachdachte, trug der Wind ein bekanntes Motorengeräusch zu ihnen herüber.

„Master Duncan kommt“, sagte Edward und deutete aufs Meer hinaus.

Das alte Wasserflugzeug ihres Lehrers näherte sich gefährlich trudelnd dem Pier und landete mit einem lauten Platscher im Hafenbecken. Wenig später stapfte Master Duncan den Anlegesteg entlang. Das dumpfe Pochen seiner Stiefel auf den alten Holzbohlen klang unheilvoll zu ihnen herüber. Den Mantelkragen hatte er hochgeschlagen, die langen grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, und wie immer prangte die schwarze Augenklappe über seinem rechten Auge.

„Oha“, raunte Timothy ihnen zu. „Er hat mal wieder seinen Lieblingsgesichtsausdruck aufgesetzt: grimmig und schlecht gelaunt.“

Als Master Duncan sie erreichte hatte, zeigte er ihnen wortlos mit einer Geste an, dass sie die Handys rausrücken sollten.

„Nicht schon wieder“, stöhnte Timothy. Doch genau wie die anderen gab auch er sein Handy ab.

Henry stellte erstaunt fest, dass alle sechs Telefone bequem in die Pranke ihres Masters passten. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er sie nun einfach zerquetscht hätte. Doch Master Duncan drehte sich zum Hafenbecken um und warf die Geräte in hohem Bogen ins Wasser.

„Ich frag mich, wie viele Handys hier schon auf dem Grund liegen“, murmelte Timothy.

„Frag dich mal, wie viele Drachenreiter mit so einem Spatzenhirn wie deinem gesegnet sind, dann kannst du es dir ungefähr ausrechnen“, brummte Master Duncan wütend. „Was habt ihr euch nur bei dieser Aktion gedacht? Schickt euch lustig Nachrichten über diese Teufelsdinger! Warum habt ihr nicht gleich eine Anzeige in die Zeitung gesetzt?“

Henry blickte betreten zu Boden, und Arthur nestelte verlegen an seiner Drachenballkappe herum, die er mittlerweile nur noch zum Schlafen und zum Duschen ablegte.

Nur Timothy schien unbeeindruckt. „Ich freu mich auch, Sie wiederzusehen, Big Bain“, entgegnete er fröhlich und setzte zu einer Umarmung an.

„Untersteh dich!“, rief Master Duncan und wich einen Schritt zurück. „Und nenn mich noch einmal Big Bain und du landest dort, wo dein Handy jetzt liegt.“

Henry und die anderen konnten sich ein erleichtertes Kichern nicht verkneifen.

„Los jetzt! Nicht trödeln! Steigt alle ein!“ Master Duncan wies mit dem Finger auf das Wasserflugzeug, das hinter ihm auf den Wellen schaukelte. „Wenn ich euch abgeliefert habe, muss ich die Tour noch mal fliegen und den neuen ersten Jahrgang einsammeln. Also wird’s bald?“

Sie brauchten keine Extraeinladung, denn sie alle konnten es kaum erwarten, ihre Drachen endlich wiederzusehen.

„Kann ich mich kurz zu Ihnen setzen?“, fragte Henry und deutete auf den Co-Pilotensitz neben Master Duncan.

„Meinetwegen“, grummelte der Lehrer, der dabei war, die Instrumente zu checken. Mit dem Knöchel klopfte er gegen das Sicherheitsglas vor dem Höhenmesser, und eine der Nadeln, die sich scheinbar verhakt hatte, fiel zurück auf null. „Kann ja nur null sein, also Meeresspiegelniveau. Sind ja schließlich gerade auf dem Meer gelandet“, murmelte Master Duncan zufrieden.

Vor einem Jahr hätte Henry es sich nicht träumen lassen, dass er sich auf dem Rücken eines Drachen sicherer fühlen würde als in einem Flugzeug … Aber er schob den Gedanken schnell beiseite.

„Gibt es Neuigkeiten vom Arundelsee?“, fragte er vorsichtig.

Den Blick auf die Bucht vor sich gewandt, schüttelte Master Duncan den Kopf und gab Schub. Die Motoren heulten auf, und die Kufen des Wasserflugzeugs schnitten durch die Wellen.

„Nichts“, sagte er. „Nachdem ihr dieses Foto vom Arundelsee wie ein Virus verbreitet habt, haben wir die Taucher noch mal dort runtergeschickt. Sie haben aber wieder nichts gefunden.“

Er strich sich über seinen mächtigen Schnurrbart und griff dann schnell wieder an den Steuerknüppel, um ihn mit beiden Händen an sich ranzuziehen. Nach einigen schwerfälligen Hopsern erhob sich das Flugzeug in die Luft.

„Immerhin haben wir das Bild von der Website und dem Handy des alten Anglers löschen können.“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Diese Dinger sind echt die Pest.“ Er warf Henry einen wütenden Blick zu, und der rutschte tiefer in den Co-Pilotensitz und begann verlegen am Schaumstoff zu zupfen, der aus einer aufgeplatzten Naht des porösen Leders quoll.

„Ein wenig Elixier des Vergessens für den Angler und seinen Enkel, und damit war die Sache erledigt.“

„Und das Bild?“, fragte Henry. „Haben Sie herausfinden können, ob es echt ist?“

Master Duncan hob seine Schultern. „Könnte sein, könnte aber auch nicht sein.“

Frustriert pulte Henry ein großes Stück Schaumstoff aus dem Sitz.

„Hey!“, fuhr Master Duncan ihn an. „Kein Grund, meine Queen Mary zu demolieren.“

„Sorry“, sagte Henry kleinlaut und stopfte den Schaumstoff zurück in den Sitz.

„Wir haben im Rat entschieden, dass wir den See weiter von zwei Ehemaligen observieren lassen“, fuhr Master Duncan in versöhnlicherem Ton fort. „Für alle Fälle.“

„Was ist eigentlich genau dieser Rat der Alumni?“, wollte Henry wissen.

Master Duncan riss den Steuerknüppel unsanft nach hinten, und die Queen Mary machte einen Luftsprung.

„Hey! Geht das auch ein bisschen weniger ruppig?“, kam es vorwurfsvoll aus dem Passagierraum von Timothy. „Hab mir ziemlich heftig den Kopf gestoßen.“

„Genau aus diesem Grund trage ich immer meine Drachenballkappe. Man weiß nie, was einen erwartet“, sagte Arthur.

„Recht hat er“, knurrte Master Duncan.

„Der Rat?“, hakte Henry nach.

Master Duncan seufzte. „Der Rat der Alumni besteht aus sechs ehemaligen Reitern. Einer aus jedem Clan. Die Ratsmitglieder werden alle sieben Jahre neu gewählt. Alle Ehemaligen eines Clans wählen ihren Vertreter.“

„Und Sie sind der Vertreter des McBain-Clans?“, fragte Henry.

„So sieht’s aus“, bestätigte Master Duncan.

„Besonders glücklich scheinen Sie darüber aber nicht zu sein“, bohrte Henry weiter nach.

Master Duncan riss erneut am Steuerknüppel. Dieses Mal sackte die Queen Mary einige Meter ab.

„Autsch!“, kam es aus dem Passagierraum.

„Politik ist nichts für mich“, brummte Master Duncan. „Sich in endlosen Sitzungen den Hintern platt sitzen. Und am Ende bekommen nicht die mit den besten Ideen recht, sondern die, die am besten und längsten reden können.“

Henry seufzte.

„Hast du noch mehr Schlechte-Laune-Themen? Falls nicht, kannst du dich jetzt verziehen. Ich bin nämlich wegen der Handy-Geschichte immer noch mächtig sauer auf euch.“

„Okay, okay“, sagte Henry und beeilte sich, in den hinteren Teil des Flugzeugs zu klettern.

Einige Stunden später, nachdem sie die dicke Nebelwand, die die goldene Grenze markierte, durchflogen hatten, tauchte unter ihnen eine kleine Insel auf: Sieben Feuer. Lucy, die neben Henry am Gang saß, beugte sich über ihn und spähte durch das kleine ovale Fenster nach draußen.

„Schau mal da!“, rief sie aufgeregt über den Motorenlärm hinweg. „Die Wolkenburg. Und dahinten, der Drachenacker. Und das Haupt des Riesen. Und der gähnende Abgrund.“

Sie ließ sich zurück in ihren Sitz fallen und strahlte Henry an, während sie nach seiner Hand griff. „Hast du Sieben Feuer auch so vermisst?“

Henry nickte. Und er war ganz froh darum, dass sein Mund mit einem Mal wieder so trocken geworden war, dass seine Zunge am Gaumen klebte. Sonst wäre ihm rausgerutscht, dass er sie, Lucy, am allermeisten vermisst hatte.

Nach einer wenig sanften Landung erreichten sie den Steg. Im ersten Jahr noch hatte Master Duncan sie in seinem Pferdekarren zur Wolkenburg kutschiert. Doch heute drängten sich sechs aufgeregte Drachen in der Bucht. Henry spürte ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, und Lucy klebte am Bullauge des Flugzeugs und hielt nach Wellentänzerin Ausschau. Wie sehr hatten sie alle ihre Drachen vermisst!

Die waren nicht minder aufgeregt. Mit ihren mächtigen Schultern stießen sie sich zur Seite und spannten ihre riesigen Flügel auf. Hier und da schoss ein Feuerball durch die Luft. Auf keinen Fall wollte auch nur einer von ihnen die Ankunft seines Schützlings verpassen.

Phönix war in den vergangenen sechs Wochen noch ein gutes Stück gewachsen und mittlerweile genauso groß wie die beiden kaukasischen Vierhörner. Als er Henry aus dem Flugzeug steigen sah, peitschte sein Schwanz vor Aufregung so stark hin und her, dass er Pyrothargas, Arthurs Drachen, glatt von den Beinen fegte. Ein zorniges Brüllen übertönte das Rauschen der Brandung, als sich Pyrothargas wieder aufrappelte.

Jetzt gab es kein Halten mehr. Wellentänzerin glitt elegant ins Wasser, sodass Lucy einfach vom Steg auf ihren Rücken springen konnte. Die kaukasischen Vierhörner und Tausendschön, Chloés Maskara-Drachendame, warteten dagegen einigermaßen würdevoll am Rand der Bucht.

Nur Phönix sprang wie ein zu groß geratener Hundewelpe wenig elegant durch die Wellen und erreichte den Steg als Zweiter.

Sofort knüpfte er das Band zu seinem Reiter. Endlich sind diese schlimmen Ferien vorbei! Ich dachte schon, die gehen nie zu Ende. Es war so langweilig ohne dich.

Henry lachte. „Ich freue mich auch, dich wiederzusehen!“, sagte er und kletterte auf seinen Stammplatz hinter der dreizehnten Schuppe des jungen Teufelsgrinds.

Bereit?, fragte Phönix.