Die geheime Drachenschule - Der Kampf um Sieben Feuer - Emily Skye - E-Book
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Die geheime Drachenschule - Der Kampf um Sieben Feuer E-Book

Emily Skye

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Beschreibung

Das große Finale der Dein SPIEGEL-Bestsellerreihe "Die geheime Drachenschule"!

Endlich konnten Henry, Lucy und die anderen Drachenreiter das Rätsel lösen, wie sie ihre Freunde aus der Versteinerung befreien können. Zurück auf Nimmerland sind sie voller Hoffnung, dass auch die Master erfolgreich waren, die für Friedensverhandlungen nach Sieben Feuer gereist sind. Doch von den Mastern fehlt jede Spur. Schon bald ist sich Henry sicher: Lady Blackstone hat sie in ihrer Gewalt. Die Drachenreiter sind nun auf sich allein gestellt. Und die Zeit rennt: Denn sie müssen nicht nur ihre Freunde retten, sondern auch den letzten versteinerten Blattfingerdrachen finden, bevor Lady Blackstone es tut. Ansonsten ist Sieben Feuer für immer verloren ...

Mit drachenstarken Bildern von Pascal Nöldner

Dieser Titel ist auch bei Antolin gelistet.

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Seitenzahl: 424

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

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Personenverzeichnis

Das Band der Freundschaft

Über den Illustrator

Weitere Titel der Autorin

Die geheime Drachenschule

Die geheime Drachenschule – Der Drache mit den silbernen Hörnern

Die geheime Drachenschule – Die Rückkehr des siebten Clans

Die geheime Drachenschule – Das Erwachen der Blattfinger

Die geheime Drachenschule – Das Tribunal der Sieben Flammen

Die geheime Drachenschule – Die Rebellion der Drachenreiter

Titel auch als Hörbuch erhältlich

Über dieses Buch

»NIEMAND HAT BEHAUPTET,DASS ES EINFACH WIRD.ALSO WIE LAUTET DAS MOTTODEINES CLANS, ZWERG?«»WIR GEBEN NIEMALS AUF!«

Der finale Kampf um Sieben Feuer steht bevor!

Doch wieder einmal ist Lady Blackstone Henry, Lucy und den anderen Drachenreitern einen Schritt voraus. Denn als sie zurück nach Nimmerland kommen, fehlt von den Mastern jede Spur. Schon bald ist sich Henry sicher: Lady Blackstone hat sie in ihrer Gewalt. Die Drachenreiter sind nun auf sich allein gestellt. Und die Zeit rennt: Denn sie müssen nicht nur ihre Freunde retten, sondern auch den letzten versteinerten Blattfingerdrachen finden, bevor Lady Blackstone es tut. Ansonsten ist Sieben Feuer für immer verloren …

Das drachenstarke Finale der Bestseller-Reihe!

Emily Skye

Die geheimeDrachenschule

Der Kampf um Sieben Feuer

Band 7

Mit Illustrationen von Pascal Nöldner

BAUMHAUS

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

BAUMHAUS Verlag in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Pascal Nöldner

Motive (Kapitel 3, Kapitel 30): © Shutterstock.com

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2785-3

luebbe.de/baumhaus

be-ebooks.de

lesejury.de

 

Für Sophie,die von der ersten bis zur letztenSeite mitgefiebert hat.E. S.

Für alle,die sich gerne insAbenteuer stürzen.P. N.

Prolog

Nachdem der einhörnige Teufelsgrind gemeinsam mit seinem Reiter den Arundelwald verlassen hatte, regte sich Stunde um Stunde nichts. Silbrig still beschien der Mond die Lichtung, auf der die sechs versteinerten Drachen standen. Die düsteren Schatten der sechs verloren sich in der Schwärze des Waldes. Und kein Reh, kein Fuchs, nicht mal eine Krähe wagte sich in die Nähe der seltsamen Statuen. Zu groß waren sie, zu fremd rochen sie, zu Furcht einflößend sahen sie aus.

In der dunkelsten Stunde der Nacht geschah es schließlich. Erst war da nur ein Knistern, so leise, dass es nicht einmal die Ohren des Uhus vernahmen. Gefolgt von einem Knacken, so sachte, als ob eine Maus auf einen reisigdünnen Zweig getreten wäre. Und dann flammte auf Höhe der Baumkronen ein Paar Lichter auf, als ob jemand zwei Lampions entzündet hätte. Es waren die erschrockenen Augen eines Drachen, der aus seiner Versteinerung erwachte. Quälend langsam, Schuppe für Schuppe verwandelte sich das stumpfe Grau des Steins in ein funkelndes Grün. Die letzte Schuppe, die den Stein abschüttelte, war die, die sich direkt über dem Herzen des Drachen befand. Ihr Grün war mit goldenen Sprenkeln durchwirkt. Trotz der Verwandlung wagte die Drachendame es nicht, sich zu rühren. Nur ihre Augen huschten suchend über das Dickicht des Waldes. Erst als eine dunkle Stimme durch ihren Geist halte, zuckte sie unmerklich zusammen.

Höre, Callisto, sprach die Stimme des Ur-Drachen Onyx. Du hast nicht weniger Schuld auf dich geladen als deine steinernen Gefährten. Und auch du kannst nicht ungeschehen machen, was war. Doch unter deinem Herzen trägst du einen Hoffnungsschimmer. Ich gewähre dir diese eine Nacht, um den Samen zu pflanzen. Blattfinger neben Teufelsgrind. Und wenn die Zeit gekommen ist, werden eure Nachfahren und ihre Reiter zeigen, ob sie es besser machen.

Die Stimme verhallte, und dankbar erhob sich Callisto in die Nacht. So lautlos, dass kein Bewohner des Waldes es bemerkte. Ihre Schwingen trugen sie gen Norden. Zu einer Insel namens Croqc. Nicht weit entfernt von ihrem ehemaligen Zuhause. Dem Ort, den sie und die anderen Blattfinger verraten hatten: Sieben Feuer.

Croqc war eine kleine verlassene Vulkaninsel, geformt wie ein Kessel. Schartige Klippen ragten zu allen Seiten bedrohlich in die Nacht. Auf den ersten Blick erschien Croqc wie der unwirtlichste Ort der Welt. Doch hinter den Klippen, geschützt vor der wilden Brandung und dem eisigen Wind des Nordens, lag ein kleines grün bewachsenes Tal. Und genau in dessen Mitte ragten sechs Findlinge in den Nachthimmel.

In diesem Tal gebar Callisto ein Ei und schob es vorsichtig mit ihrem mächtigen Haupt in den Steinkreis, in dem bereits ein weiteres Drachenei, das eines Teufelsgrinds, versteckt worden war. Menschenaugen konnten die beiden Eier nicht von gewöhnlichen Steinen unterscheiden. Die Schalen der Eier waren genauso grau und genauso hart wie der Stein der anderen Findlinge. Und so würden die beiden Eier für lange Zeit unentdeckt bleiben. Callisto beugte ihr Haupt und presste ein letztes Mal ihre Stirn an das Ei, bevor sie sich abwandte.

Onyx!, rief sie im Geiste. Gewährt mir die Bitte, meine Strafe hier, auf Croqc, in der Nähe meiner Brut anzutreten.

Fast glaubte sie nicht mehr daran, eine Antwort zu erhalten. Doch schließlich ertönte zum zweiten Mal in dieser Nacht die Stimme des Ur-Drachen.

So sei es. Lass dich am Rande des Kessels auf den Klippen nieder und wende deinem Ei den Blick zu.

Und sobald Callisto ihren Platz eingenommen hatte, verschmolz sie mit dem Stein. Onyx sorgte dafür, dass niemand Callisto als steinernen Drachen erkennen würde. Die Zacken ihres Rückenkamms wurden zu Spitzen des Felsriffs. Und ihre verzweigten Hörner zu verknöcherten Korallen. Und so war ihr Ei das Letzte, was Callisto für lange, lange Zeit sehen würde.

Triumphierend waren Henry und seine Freunde nach Nimmerland zurückgekehrt. In Nowhere, dem verlassenen Bergdorf, in dem es angeblich spukte, hatten sie das Grab von Eric Crawford, der ersten Goldzunge, gefunden. Und Henrys Hoffnung hatte sich erfüllt. Denn um den Hals des vor langer Zeit verstorbenen Drachenreiters fanden sie die Träne der Erinnerung. Als Henry sie schließlich an die Lippen gepresst hatte, verriet sie ihm, wie er Tippy, Violet und Casper aus ihrer Versteinerung erlösen konnte. Sie mussten die Halme des Goldschleiers, der auch als Bandschneider bekannt war, in einem Mörser zerstoßen und die Essenz auffangen. Mit dieser Essenz auf den Lippen vermochte es eine Goldzunge, die Versteinerten wieder wachzuküssen.

„Du musst Casper küssen, damit er wieder aufwacht? So wie der Prinz in Dornröschen, der die schlafende Prinzessin wachküsst?“ Trotz seines Hungers schlich sich ein Grinsen auf Timothys Gesicht. „Ganz ehrlich, wenn ich Casper wäre, würde ich lieber versteinert bleiben, als mich von dir küssen zu lassen.“

Fast hätte Henrys eigenes Magenknurren Timothys Gefrotzel übertönt, aber eben nur fast. Seit sie vor einigen Tagen nach Nimmerland zurückgekehrt waren, drehten sich Timothys Gedanken nur noch ums Wachküssen.

„Du bist so ein Idiot, Timothy!“ Lucy funkelte ihn wütend an und holte dann zu einem ihrer gefürchteten Schwinger aus.

„Wenn du Hunger hast, wirst du echt zur Furie. Geh in den Wald und such dir ein paar Beeren.“ Noch während sich Timothy mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter rieb, holte Lucy erneut aus und boxte dieses Mal Henry auf die Schulter.

„Verdammt. Wofür war der denn jetzt? Ich habe doch gar nichts …“

Lucy unterbrach ihn. „So wie es aussieht, wirst du ja wohl auch Violet wachküssen!“, rief sie aufgebracht und pustete sich eine ihrer Locken aus dem Gesicht.

„Sie ist aus Stein. Sie wird gar nichts von dem Kuss mitbekommen“, verteidigte sich Henry.

„Violet vielleicht nicht. Ich aber schon“, zischte Lucy und kletterte leichtfüßig den Stamm der alten Eiche zum Baumhaus hinauf, welches sich in der Krone des Baums befand.

„Mädchen“, murmelte Henry.

„Hunger“, stöhnte Arthur und rieb sich den Bauch. Dann pflichtete er Henry aber bei. „100% unmöglich, ihr Verhalten vorherzusagen.“

„Weil wir nicht so einfältig sind wie ihr.“ Chloé warf ihnen einen vernichtenden Blick zu und kletterte ihrer Freundin hinterher.

„Sieht wohl nach einer Männerrunde aus“, stellte Timothy erfreut fest. „Sollen wir runter zum Strand und ne Partie Drachenball spielen, Edward und ich gegen euch zwei Mädchenvergrauler?“ Er deutete auf Henry und Arthur.

Doch Edward schüttelte den Kopf und machte sich daran, Lucy und Chloé hinterherzuklettern. „Kein Bedarf. Solange wir nichts zu essen finden, sollten wir unsere Kräfte schonen. Da verbringe ich lieber Zeit mit Lucy und Chloé statt mit euch Holzköpfen.“

„Verräter!“, rief Timothy ihm hinterher.

„Lass gut sein, Timothy.“ Henry packte den Ärmel seines Freundes und zog ihn weg. „Wollen wir trotzdem runter zum Strand und Ausschau nach den Mastern halten? Ich wundere mich, dass sie nicht längst aus Sieben Feuer zurückgekehrt sind.“

Arthur schüttelte den Kopf. „Negativ. Zu anstrengend. Außerdem wollte ich mir den Aufsatz Die Physiognomie der Aquamarine und ihr Einfluss auf den frühzeitlichen Wikinger-Schiffsbau der Drachenboote durchlesen. Wusstet ihr übrigens, dass Legenden zufolge der norwegische König Olaf Tryggvason bereits im Jahr 995 ein Boot mit über 30 Rudersitzen auf jeder Seite bauen ließ? Er nannte es den langen Wurm und …“

„Langweilig“, unterbrach ihn Timothy und gähnte. „Plötzlich fühle ich mich ganz schwach. Ich lege mich lieber in eine der Hängematten und tue gar nichts.“

„Dann bis später“, sagte Henry achselzuckend und machte sich allein auf zum Strand.

Henry knüpfte das Band zu seinem Drachen. Phönix lag friedlich an Happy gelehnt auf der Drachenlichtung und ließ sich die Drachenschuppen von den wärmenden Strahlen der Sonne aufheizen. Drachen liebten Sonnenbäder. Und da auf Sieben Feuer, ihrer Heimatinsel, der Himmel so gut wie immer grau verhangen war, nutzten sie auf Nimmerland jede Gelegenheit für ein ausgiebiges Sonnenbad.

„Hast du Lust, zum Strand zu kommen?“, fragte Henry in Gedanken seinen Drachen.

Phönix schnurrte etwas Unverständliches als Erwiderung und bettete sein Haupt auf Happys linke Flanke, ohne die Augen zu öffnen.

Wer stört? Der alte Teufelsgrind hatte das Band zu Henry geknüpft und seufzte. Bei ihm hörte es sich jedoch nicht wie das Schnurren einer Katze an, sondern eher wie das Knurren eines Säbelzahntigers.

Was frage ich überhaupt? Unter der Sonne, die gerade meine alten Knochen wärmt, gibt es nur eine Nervensäge, der ich diese Unverfrorenheit zutraue.

Henry lächelte kurz, wurde dann aber wieder ernst. „Ich wollte hinunter zum Strand, um nach den Mastern Ausschau zu halten. Findest du es nicht komisch, dass sie noch nicht zurückgekehrt sind?“

Sie sind doch erst vor drei Tagen aufgebrochen, ließ Happy ihn wissen. Und es gibt viel zu besprechen. Außerdem dauert es wahrscheinlich ewig, diesen Holzkopf Stewart Todd senior davon zu überzeugen, gemeinsam gegen Lady Blackstone vorzugehen.

Henry trat aus dem Wald der tanzenden Eichen und stapfte weiter Richtung Strand.

„Ich weiß“, murmelte er und vergrub die Fäuste in den Taschen seines Kilts. „Trotzdem habe ich irgendwie ein blödes Gefühl.“

Nichts für ungut, Zwerg, schnaufte Happy genervt. Aber die Instinkte von euch Menschen sind so verkümmert wie das Augenlicht eines Maulwurfs oder die Beine einer Schlange. Solange die Sonne scheint, will ich nicht mehr von dir gestört werden. Und erst wenn die Woche rum ist, werde ich anfangen, mir Sorgen um eure Master zu machen. Vorher nicht. Er kappte das Band zu Henry, nur um es im nächsten Moment erneut zu knüpfen. Wer weiß, vielleicht habe ich Glück, und ihr Zwerge seid bis dahin verhungert, fügte er gehässig hinzu.

„Sehr witzig“, sagte Henry verstimmt. „Dann gehe ich halt allein Ausschau halten.“

Henry hoffte, dass sein ungutes Gefühl ihn täuschte.

Am Strand angekommen, zog er seine Stiefel und Strümpfe aus und vergrub die Zehen im warmen Sand. Dann begann er, den etwa eine Meile breiten Strand auf und ab zu laufen. Eine leichte Brise pfiff ihm um die Nase, zu schwach, um die Wärme zu vertreiben oder das heute träge Meer in Wallung zu versetzen. Die Sonnenstrahlen brachen sich auf der Wasseroberfläche, und es sah aus, als ob das Meer aus abertausenden kleinen Scherben bestehen würde. Irgendwann setzte sich Henry in den Sand, den Blick weiter starr auf das Wasser gerichtet, und lauschte, ob er in der Ferne das Motorengeräusch der Queen Mary hören würde. Eigentlich wäre heute ein großartiger Tag, wenn da nicht dieses seltsame Gefühl in seiner Magengegend wäre. Stunde um Stunde starrte Henry auf das Meer hinaus, bis die Sonne darin versank. Doch auch an diesem Tag kehrten die Master nicht zurück. Und neben seinem Hunger war auch das ungute Gefühl stärker geworden. Keine gute Mischung.

Als Henry auf die Lichtung zurückkehrte, auf der das Podest mit der hölzernen Tafel stand, staunte er nicht schlecht. In das Segel der tausend fliegenden Fische, das zum Schutz vor Regen zwischen den Eichen über die Tafel gespannt war, hatte jemand Lichtschalen gehängt. Kleine Tontöpfe, in denen kaltes Feuer flackerte. Es waren so viele, dass es aussah, als ob die Sterne aus dem Himmel gefallen wären und nun knapp über den Köpfen seiner Freunde schwebten. Der kleine Streit zwischen ihnen schien begraben zu sein. Einträchtig saßen sie um die Tafel und schwatzten unbeschwert miteinander.

Das Bild, das sich Henry bot, war so magisch, dass er seine Sorgen vergaß. Die nächste Überraschung erwartete ihn, als er zu seinen Freunden auf das Podest kletterte und die Tabletts, Brettchen, Schalen und Schüsseln entdeckte, die mit Suppen, Eintöpfen, gebratenen Moorschneehühnern, Haggis, Shortbread, Bohnen, Blutwurst und weiteren Köstlichkeiten gefüllt waren. Henry war sprachlos. All die Tage seit ihrer Rückkehr aus Nowhere hatte er sich mit seinen Freunden eine Packung Porridge, etwas Milch und einen großen Kanten Brot geteilt. Es war das Einzige, was sie in der Anrichte gefunden hatten, die ebenfalls auf dem Podest stand.

Henry lief das Wasser im Mund zusammen.

„Wo kommt das denn alles her?“, krächzte er.

Timothy deutete mit dem Hühnerbein, an dem er gerade knabberte, auf Arthur. „Hat unser Genie gefunden.“

„Positiv“, schmatzte Arthur stolz, um dessen Mund herum es verdächtig fettig glänzte. „Nachdem ich den Aufsatz über die Physiognomie der Aquamarine und ihren Einfluss auf den frühzeitlichen Wikinger-Schiffsbau der Drachenboote fertig gelesen hatte …“ Er hielt kurz inne. „Übrigens wahnsinnig spannend. Wusstet ihr, dass …“

Timothy wedelte ungeduldig mit dem Hähnchenschenkel vor Arthurs Gesicht herum. „Spar dir das für später. Erzähl ihm erst mal von der unterirdischen Speisekammer.“

„Richtig“, nickte Arthur.

Henry ließ sich zwischen Lucy und Edward auf einen der Baumstümpfe fallen, und Chloé reichte ihm lächelnd eine Schüssel mit dampfendem Stovies – einem Eintopf aus Rind, Hammel, Kartoffeln und Möhren. Gleichzeitig schob Lucy ihm schmatzend eine Platte zu, auf der ein mit Mandeln besetzter Dundee-Obstkuchen stand. Eine Stimme in Henrys Hinterkopf versuchte ihn zu warnen, dass ihm am Ende des Abends sicher fürchterlich schlecht sein würde. Doch das Knurren in seinem Magen übertönte sie.

„Also“, fuhr Arthur fort. „Nach der Lektüre bin ich über die Insel spaziert, um nachzudenken. Und da habe ich mich daran erinnert, das Tippy uns mal von den unterirdischen Höhlen Nimmerlands erzählt hatte, aber nie dazu gekommen ist, sie uns zu zeigen.“

Mit schlechtem Gewissen dachte Henry an seine versteinerte Freundin. Zum hundertsten Mal ermahnte er sich, sie so schnell wie möglich wachzuküssen und aus den Fängen von Lady Blackstone zu befreien. So wie sie es auch für ihn getan hatte.

„Auf der nordöstlichen Seite, am Fuß des hohen Bergs, habe ich schließlich den Eingang gefunden. Ist übrigens gar nicht weit weg von hier.“ Arthur deutete vage in den dunkler werdenden Wald hinein. „Ungefähr da entlang.“

„Und du hast dich ganz allein in die Höhlen hineingewagt?“, fragte Henry erstaunt.

Arthur zog beleidigt die Augenbrauen zusammen, sodass sie unter den Rand seiner Brille wanderten, und schob brüsk seinen Teller von sich weg. „Ich bin ein einhundertprozentiger Drachenreiter, genau wie du.“

Henry hob beschwichtigend die Hände. „Klar, bist du das“, schmatzte er. „Allerdings kann ich mich auch noch daran erinnern, wie du mir vor gar nicht langer Zeit vorgeworfen hast, dass ich allein in die Stollen unter dem Arundelwald gegangen bin.“

Arthur wiegte den Kopf hin und her. „Das war was anderes. Außerdem sind die Höhlen hier ganz anders. Alles ist wunderbar mit Feuerschalen beleuchtet. Und es gibt nur einen langen Gang, der in den Berg hinabführt und an dessen Ende zwei Räume liegen.“

„Erzähl Henry von dem kleinen Raum“, forderte Chloé Arthur auf und zog dabei angeekelt die Nase kraus.

„Gemach, gemach“, antwortete Arthur. Er hatte mal wieder in seinen Professor-Erklärmodus geschaltet. Henry und den anderen war es am heutigen Abend nur recht. Während Arthur erzählte, hatten sie ausreichend Zeit, sich so richtig satt zu essen.

„… ihr müsst wissen, dass bereits etwa einen Meter unter der Erdoberfläche eine recht konstante Temperatur von rund zehn Grad herrscht. Diese natürliche Kälte zusammen mit der Feuchtigkeit, die der Meereswind von Nordost mit sich trägt, sorgen dafür, dass Lebensmittel in der Höhle ohne Strom kühl und frisch gelagert werden können. Und genau das muss Tippy auch gewusst haben“, schloss Arthur.

„Und jetzt erzähl von der anderen Kammer“, mischte Timothy sich ein, der nun doch ungeduldig wurde.

„Anderer Vorschlag“, unterbrach Edward ihn. „Willst du uns die Kammer nicht zeigen, Arthur? Schätze, dass uns allen ein kleiner Verdauungsspaziergang ganz guttun würde, oder?“

Henry stopfte sich das letzte Stuck Dundee-Kuchen in den Mund und zeigte einen Daumen hoch in Edwards Richtung.

Die anderen waren ebenfalls einverstanden, und so machten sie sich gemeinsam, angeführt von Arthur, auf den Weg zu den geheimen Speisekammern.

Im Gänsemarsch folgten sie dem schmalen Pfad durch den Hain der tanzenden Eichen. Im Mondschein sahen die knorrigen in sich gewundenen Bäume wirklich so aus, als ob sie in einer Art wildem Tanz erstarrt wären. Ihre krummen Äste wirkten wie schlackernde Arme. Spitze Zweige, die in den schwarzen Himmel ragten, erinnerten an lange knochige Finger und dicke Wurzeln an Füße, die auf den Waldboden stampften. Mit seinen Freunden in der Nähe, empfand Henry den Anblick als lustig. Doch er konnte sich gut vorstellen, dass sie Furcht einflößend wirken konnten, wäre er hier nachts allein unterwegs.

Die lauter werdende Brandung des Meeres und der Salzgeruch verkündeten ihnen, dass sie den Wald bald hinter sich lassen würden. Der Boden unter ihren Füßen wurde sandiger, und schließlich traten sie zwischen den letzten Bäumen hervor in eine kleine Sandbucht direkt am Meer.

„Da entlang“, wies ihnen Arthur den Weg und deutete auf eine zerklüftete Steilklippe im Norden, die dunkel vor ihnen aufragte. Henry wappnete sich schon für eine nächtliche Kletterpartie. Doch er ahnte, dass sein Freund Arthur die Höhle hätte Höhle sein lassen, wäre der Eingang nicht leicht zu erreichen gewesen.

So führte sie ein sanft ansteigender Trampelpfad zwischen den Felsen hindurch, und schon nach wenigen Minuten erreichten sie bequem den Eingang zu Tippys gar nicht so geheimer Speisekammer. Denn über dem schweren hölzernen Tor, das den Eingang zur Höhle versperrte, hatte sie gut lesbar in bunten Buchstaben Tippy Parrots Schatz- und Speisekammer geschrieben.

Allerdings war das hölzerne Tor mit einem dicken Buchstabenschloss gesichert.

Arthur deutete auf die Botschaft, die über dem Schloss in die Tür geritzt worden war: Wer meine Höhle räubern will, hat vierzig Versuche, das Schloss zu knacken.

„Und, habt ihr eine Idee?“, wandte sich Arthur an seine Freunde. Er hatte seine Brille abgesetzt und drehte sie an einem Bügel vor ihren Nasen. „Kommt schon, so schwierig ist das Rätsel nun wirklich nicht.“

Henry hasste es, wenn Arthur sie so herausforderte, und noch viel mehr hasste er es, wenn er die Antwort nicht wusste.

Timothy räusperte sich, und Henry warf ihm einen überraschten Blick zu. „Ich weiß die Lösung“

Auch Arthur zog die Augenbrauen überrascht in die Höhe.

„Ich bitte Lucy, dir mindestens vierzig Mal auf den Oberarm zu boxen. Und wenn du die Antwort dann immer noch nicht ausgespuckt hast, boxt sie dich vierzig Mal auf den anderen Arm“, knurrte Timothy.

Lucy ließ ihre Fingerknöchel knacken, und Chloé begann ihrer Freundin den Nacken zu massieren. „Damit du schön locker bist und ordentlich zuhauen kannst“, sagte sie.

Henry musste grinsen. Seine Freunde ließen sich von Arthur wohl genauso ungern vorführen wie er selbst.

„Negativ! Ich verrate es euch auch so!“, rief Arthur und setzte sich hastig seine Brille wieder auf. „Ist ganz leicht.“

Er begann an dem Buchstabenschloss rumzufummeln, bis es hörbar einrastete und sich öffnen ließ.

„Das Codewort lautet Sesam öffne dich. Wie in der Geschichte von Alibaba und den 40 Räubern. Versteht ihr? Wer meine Höhle RÄUBERN will, hat VIERZIG Versuche.“

Arthur sah seine Freunde triumphierend an. Doch sie schoben ihn einfach beiseite, öffneten das Tor und betraten die Höhle.

„Undank ist der Welten Lohn“, murmelte Arthur, während Chloé die Schalen mit dem kalten Feuer, die an den Wänden des Stollens hingen, entzündete.

Gemeinsam stiegen sie den schmalen Gang hinab in den Berg. Obwohl Henry glaubte, dass es nicht allzu steil hinabging, spürte er, wie es kälter wurde. Fröstelnd rieb er sich über die Arme und betrachtete kopfschüttelnd seine Freundin Lucy, die wie immer barfuß vor ihm her hüpfte. Es dauerte nicht lange, und es tat sich ein großes Gewölbe vor ihnen auf.

„Wow!“, entfuhr es Henry, und seine Stimme echote von den grob in den Stein gehauenen Wänden zurück. Dort standen mannshohe Regale, in denen fein säuberlich alle möglichen Lebensmittel lagerten. Säckeweise Kartoffeln, Zwiebeln, Möhren, Rüben und Getreide.

Arthur, der beim Abendessen wohl zu viel erzählt und zu wenig gegessen hatte, war zielstrebig auf ein Regal zugesteuert, in dem schüsselweise kandierte Früchte standen. Gerade war er dabei, gezuckerte Orangen aus einem der Behältnisse zu fischen.

Von der Decke hingen geräucherte Schinken, Würste und Fische, und in einer Ecke entdeckte Henry große und kleine Fässer, die mit krakeliger Handschrift beschriftet worden waren. Er begann zu lesen: Sauerkraut, Rotkraut, Soleier, Schafskäse … bis er von Timothy unterbrochen wurde.

„Krass! Henry! Das musst du dir anschauen.“ Seine Stimme überschlug sich vor Begeisterung.

„Wie eklig ist das denn?!“, quiekte Chloé.

„Bevor wir das essen, verhungern wir lieber“, stimmte Edward zu.

Henry drehte sich suchend im Dämmerlicht der Speisekammer um. „Wo seid ihr?“

„Hier hinten!“, hörte er Timothy rufen und entdeckte eine schmale Tür zwischen zwei Regalen, die mit dicken Käselaiben und Whiskyflaschen gefüllt waren.

Er duckte sich unter dem niedrigen Türrahmen durch und ging in einen wesentlich kleineren Raum zu seinen Freunden. Hier war es noch dunkler als in dem größeren Gewölbe, und zuerst konnte Henry nichts erkennen. Bis Chloé an seine Seite trat und eine Schale mit kaltem Feuer vor den Regalbrettern hin und her schwenkte. Auf den groben Brettern standen verstaubte und mit Spinnweben überzogene Einmachgläser in den unterschiedlichsten Größen. Doch Henry konnte bei bestem Willen nicht erkennen, was sich darin befand.

„Du musst lesen, was auf den Etiketten steht!“, rief Timothy begeistert und griff sich ein Glas. Darin war ein farblich undefinierbarer Brei mit roten Stückchen zu erkennen, von denen Henry gar nicht so genau wissen wollte, was es war.

„Hiervon scheint Arthur wohl schon öfters genascht zu haben“, sagte Timothy und begann vorzulesen: „Genie-Streich. Bammel vorm nächsten Test? Kein Problem, ein Toast mit streichzartem Genie-Streich reicht. Püriertes Gehirn von verstorbenen Genies, gemischt mit eingekochten Erdbeeren und ein wenig Zucker, steigert deine Intelligenz um 100%!“

„100% negativ. Das habe ich gar nicht nötig“, beschwerte sich Arthur, während Chloé und Henry gequält aufstöhnten.

Timothy hatte sich bereits das nächste Glas geschnappt und pustete den Staub vom Etikett. Er schüttelte es, und der Inhalt schlug leise klingend gegen das Glas.

„Trollfußnägel“, las Timothy kichernd vor. Er hob den Zeigefinger. „Vorsicht: Machen süchtig! Seltsam, bedenkt man, dass die gelblich verdickten Zehennägel, die stark nach ungewaschenem Trollfuß riechen, eher unappetitlich anmuten. Hat man aber erst mal einen geknuspert, kann man nicht mehr aufhören.“

„Negativ“, entgegnete Arthur matt. „Es gibt keine Trolle, und deshalb gibt es auch keine Trollfußnägel.“

Er nahm Timothy das Glas aus der Hand und betrachtete den Inhalt. „Sieht für mich eindeutig nach gebrannten Mandeln aus.“

„Dann sei mutig und koste einen von den Nägeln“, zog Timothy ihn auf.

„Nein, danke“, sagte Arthur und stellte das Glas zurück ins Regal.

„Ganz schön eklig, aber irgendwie auch lustig“, befand Lucy und griff an Timothy vorbei nach einem großen bauchigen Gefäß. Der Inhalt sah aus wie altes zusammengerolltes Pergamentpapier.

„Frittierte Meerjungfrauenhaut“, las Lucy vor. „Die wenigsten wissen, dass Meerjungfrauen sich genauso häuten wie Schlangen, Krebse und Spinnen. In heißem Fett gebraten ist die Haut ein absoluter Leckerbissen.“

Sie stellte das Glas zurück und griff sich das nächste. Darauf stand Angstschweißstangen. Das Salz dieser Salzstangen wurde angeblich mit einer Spezial-Pipette aus den Achselhöhlen von Rittern gewonnen, die erstmalig einem Drachen gegenüberstanden. Der Schweiß wurde getrocknet und die zurückgebliebenen Salzkristalle genutzt, um die Gebäckstangen zu bestäuben.

„Wieder einer von Tippys Scherzen“, seufzte Chloé. Doch nachdem Lucy sich getraut hatte, angelte sich nun auch Chloé einen kleinen Flakon aus dem Regal.

„Feenfürze“, informierte sie die anderen. „Eine Nase Feenfurz, und direkt steigt die Stimmung. Also, wenn du traurig oder niedergeschlagen bist, öffne vorsichtig den Deckel, nimm eine tiefe Nase und schraub den Flakon schnell wieder zu.“ Chloé wechselte einen erwartungsvollen Blick mit Lucy, die ihr zunickte.

„Negativ!“, rief Arthur. „Vielleicht ist eine giftige Substanz dadr…“, doch da hatte Chloé den Flakon bereits geöffnet.

Für einen kurzen Moment breitete sich ein parfümierter Pupsgeruch aus, der sich im nächsten Augenblick auflöste und wieder Platz machte für den dumpfen kalten Geruch des Felsens.

Chloé und Lucy kicherten als Erstes. Dann fielen die anderen mit ein. Selbst Arthur konnte sich ein Glucksen nicht verkneifen.

„Funktioniert“, stellte Timothy erfreut fest.

„Vielleicht will uns Tippy mit diesen sonderlichen Sachen doch nicht auf den Arm nehmen.“

Henry war nun ebenfalls an das Regal getreten. Ein unscheinbarer kleiner Tiegel hatte sein Interesse geweckt. Anders als die anderen Gefäße war er weder mit Staub noch mit Spinnweben bedeckt. Es sah so aus, als ob er erst vor Kurzem benutzt worden war. Henry entzifferte Tippys ameisenkleine Handschrift auf dem briefmarkengroßen Etikett.

Bandschneider. Ein dunkles Kraut, das, wie der Name schon sagt, für kurze Zeit das Band zwischen Drache und Reiter zerschneiden kann. Ganz unten am Rand war noch ein Vermerk ergänzt worden. Soll angeblich auch gegen Versteinerung helfen!

Tippy musste das Gefäß nachträglich beschriftet haben, bevor sie sich nach Dark Donan Castle aufgemacht hatte, um Master Duncan und ihn zu retten. Henry schraubte den Tiegel auf und sah zu seiner Freude, dass er noch gut gefüllt war.

„Was hast du da?“, fragte Lucy.

„Das Mittel, um Tippy, Violet und Casper aus ihrer Versteinerung zu befreien.“

Henry und Lucy lagen gemeinsam in der riesigen Hängematte, die vor ihrem Baumhaus zwischen die Äste gespannt war, und sahen in den Sternenhimmel. Henry drehte gedankenverloren den Tiegel zwischen den Fingern, bis Lucy ihn mit ihrem Zeh anstupste.

„Lass ihn bloß nicht fallen“, ermahnte sie ihn.

„Wenn die Master morgen nicht zurückkehren, fliege ich mit Happy und Phönix nach Sieben Feuer“, entgegnete Henry.

Lucy pustete sich eines der Bänder, die in ihre Locken geflochten waren, aus der Stirn. „Das lässt du schön bleiben. Wir warten mindestens noch bis Ende der Woche. So wie Happy es dir gesagt hat. Sollten bis dahin weder die Master noch Mortimer aufgetaucht sein, fliegen – wenn überhaupt – wir alle gemeinsam nach Sieben Feuer.“

Lucy drehte sich auf den Bauch. „Ist dir auch so übel?“, fragte sie.

Henry rieb sich den Magen und lächelte in den Nachthimmel.

„Hammeleintopf mit Obstkuchen, Moorhuhn und Käse zu kombinieren war nicht die beste Idee, die ich je hatte.“

„Und wir beide wissen, dass selbst deine guten Ideen meistens nur mittelmäßig sind“, neckte Lucy ihn.

Henry wickelte sich eine von Lucys Locken um den Finger und zog kräftig daran.

Sie boxte ihm auf den Arm. „Du kämpfst wie ein Mädchen“, beschwerte sie sich, legte dann aber ihren Kopf auf seine Schulter.

„Wollen wir morgen früh mit unseren Drachen zum goldenen See?“, murmelte Lucy nach einer Weile schläfrig. „Danach komme ich auch mit zum Strand, um mit dir nach der Queen Mary Ausschau zu halten.“

„Deal“, sagte Henry dankbar, und es dauerte nicht lange, bis Lucy eingeschlafen war. Henry starrte in den Sternenhimmel und grübelte weiter darüber nach, warum die Master nicht längst zurückgekehrt waren. Doch schließlich schlief auch er ein, die Hand fest um den Tiegel mit der Essenz des Bandschneiderkrauts geschlossen.

Am nächsten Morgen nutzten sie die Liane, die oberhalb ihres Baumhauses in die Krone des höchsten Baums geknotet worden war, um sich hinab zum See zu schwingen. Mittlerweile war auch Henry so geübt darin, dass er sich keine Sorgen mehr machte, ins Moor zu fallen. Er sprang in die Tiefe, sauste zwischen den Baumstämmen hindurch, wartete geduldig, bis er den höchsten Punkt erreicht hatte, flog durch die Luft und schnappte sich die nächste Liane. Als er erneut den höchsten Schwungpunkt erreicht hatte, ließ er los.

Henry schoss kopfüber einige Meter tief in den See hinab. Am weit entfernten Grund war ein Funkeln zu erkennen. Er machte einige kräftige Züge hinab in die Tiefe, bis ihm die Luft ausging. Dann schwamm er nach oben und durchbrach prustend die Wasseroberfläche.

„Ich dachte schon, du tauchst gar nicht mehr auf“, begrüßte Lucy ihn.

„Ich würde gern wissen, ob es wirklich Gold ist, was da unten funkelt. Vielleicht irgendein vergessener Wikingerschatz.“

„Ist doch egal“, entgegnete Lucy leichthin. Sie machte sich weder was aus Geld noch aus Gold. „Selbst wenn, müsste es wegen dieser Sache mit der goldenen Grenze hier auf der Insel bleiben. Und da unten liegt es doch ganz gut.“

Henry machte im Wasser eine Rückwärtsrolle und nutzte die Gelegenheit, um ein weiteres Mal in die Tiefe zu schauen. Irgendwie schafften es die Morgenstrahlen der Sonne bis hinab auf den Grund des Sees, brachen sich dort und reflektierten in feineren Strahlen wieder nach oben. Der Anblick hatte etwas Magisches. Aber Lucy hatte recht. Warum sollten sie irgendwelche Schätze bergen? Sie mussten ihre Freunde retten. Und die waren nicht in Gold aufzuwiegen.

Henry tauchte wieder auf, und gemeinsam schwammen sie zum Seeufer. Lucy rief Wellentänzerin, die die beiden bereitwillig trocken blies.

Ich könnte das auch mal versuchen, bot Phönix an, der das Band zu Henry geknüpft hatte und gerade am Ufer landete. Vielleicht klappt es, wenn ich ganz vorsichtig puste.

„Lieber nicht. Ich glaube, das ist ein Talent, das den Aquamarinen vorbehalten ist“, grinste Henry.

Doch Phönix ließ sich nicht davon abbringen. Immerhin visierte er einen Strauch an und nicht Henry. Ganz leise begann er zu fauchen, doch im nächsten Moment schoss eine Stichflamme aus seinem Maul und versengte die Blätter des Strauchs.

Nein, nein, nein!, tosten Phönix’ Gedanken durch Henrys Geist. Hektisch versuchte er, mit seinem Schwanz Wasser auf den unglückseligen Strauch zu peitschen.

Der Strauch war zwar gerettet, doch Henry und Lucy waren wieder genauso nass wie vorher. Wellentänzerin warf Phönix einen empörten Blick zu und blies ihre Reiterin und Henry erneut trocken.

„Halb so wild, mein Freund“, versuchte Henry, seinen Drachen zu trösten. Doch Phönix war ziemlich geknickt.

Ihre Drachen setzten Henry und Lucy am Strand ab. Und während die beiden das Ufer einmal auf und ab schritten, pflügte Wellentänzerin ausgelassen durch die Fluten. Als sie genug hatte, verabschiedete sie sich und flog zurück zu der Lichtung, auf der die anderen Drachen schliefen.

Ich bleibe hier und halte gemeinsam mit euch Ausschau nach Master Duncans Eisenvogel, ließ Phönix Henry wissen.

„Das ist lieb von dir“, antwortete Henry, und sein Drache setzte sich würdevoll neben sie in den Sand, den Blick starr auf das Wasser gerichtet. Es dauerte allerdings nicht lange, bis sein Schwanz unruhig zu zucken begann. Er drehte sein Haupt Henry zu und blickte ihn flehentlich an.

„Hast du Hummeln im Hintern?“, fragte Henry.

Phönix sprang erschrocken auf. Was? Wieso? Wie kommen die dahin? Er drehte sich im Kreis und begutachtete dabei sein Hinterteil.

„Nein“, beschwichtigte Henry ihn. „Das ist nur wieder eine Redensart von uns Menschen. Das sagt man, wenn jemand unruhig ist oder auf heißen Kohlen sitzt.“

Ihr setzt euch auf heiße Kohlen? Aua! Und was für ein fürchterliches Bild mit diesen Hummeln im Hintern. Wer denkt sich denn so was aus? Das ist so was von …“

Henry unterbrach seinen Drachen. „Du könntest einmal um die Insel fliegen und die andere Seite überprüfen. Wer weiß, vielleicht steuert Master Duncan die Insel von Westen aus an.“

Wird gemacht, sagte Phönix dankbar und schwang sich in die Lüfte.

Stumm starrte Henry Richtung Horizont. Nach einer Weile legte Lucy ihm eine Hand auf sein Bein. „Sie kommen sicher heute oder morgen zurück. Mach dir keine Sorgen.“

Henry nickte. Er wollte es ja glauben. Aber dieses fiese Gefühl nagte weiter in seiner Magengrube. Und wenn jemand Antennen für anstehenden Ärger hatte, dann war er das.

In diesem Moment knüpfte Phönix das Band zu ihm.

Der Eisenvogel. Ich habe ihn gefunden! Er schippert im Süden der Insel ungefähr drei Meilen vor der Küste umher, ließ Phönix ihn wissen und übermittelte ihm das Bild der Queen Mary, die friedlich auf den Wellen hin und her schaukelte.

Im ersten Moment fiel Henry ein Stein vom Herzen. Dann hatte er sich also doch geirrt! Doch plötzlich biss das ungute Gefühl wieder zu.

Warum war die Queen Mary Meilen vor der Küste Nimmerlands gewassert? Das ergab keinen Sinn.

Wenig später umrundeten Lucy und Henry auf den Rücken ihrer Drachen die Insel. Phönix flog voran und führte sie zu der Stelle, wo die Queen Mary im Wasser trieb.

Henry und Lucy warfen sich besorgte Blicke zu.

„Da stimmt wirklich was nicht!“, rief Lucy ihm über den Wind hinweg zu und setzte mit Wellentänzerin zur Wasserlandung an.

„Sei bloß vorsichtig!“, rief Henry zurück, während Wellentänzerin elegant wie ein Schwan auf einem Wellenkamm neben der Queen Mary landete.

Phönix war weit weniger geschickt, was Wasserlandungen anging, und so krachte er mit einem riesigen Platscher etwas weiter entfernt ins Meer. Als Henry sich die nassen Haare aus der Stirn und das Salzwasser aus den Augen gewischt hatte, sah er, wie Lucy sich bereits auf eine Kufe des Wasserflugzeugs gehangelt hatte und hinüber zur Bordtür balancierte.

„Warte auf mich!“, rief er alarmiert. Er sprang von Phönix’ Rücken ins Meer und kraulte hinüber zum Flugzeug.

Wo zum Teufel waren ihre Master? Wenn alles in Ordnung gewesen wäre, wäre Duncan McBain doch längst aus dem Flugzeug auf eine der Kufen geklettert, um sie zu begrüßen. Phönix’ Bruchlandung hatte so einen Lärm verursacht, das konnte ihren Mastern doch nicht verborgen geblieben sein.

Ein quietschendes Geräusch riss Henry aus seinen Gedanken. Lucy rüttelte an der Bordtür.

„Die Bordtür klemmt! Scheint noch verbeulter zu sein, als sie ohnehin schon war!“, rief sie Henry über die Schulter hinweg zu.

Als ob die Tür sie verstanden hätte, schwang sie so unvermittelt auf, dass Lucy beinahe von der Kufe des Flugzeugs ins Wasser gefegt worden wäre.

Henry war nun ebenfalls beim Flugzeug angelangt und versuchte, sich aus dem Wasser hochzustemmen.

„Lucy, nicht!“, keuchte er. „Vielleicht ist es eine Falle.“

Doch in dem Moment war seine Freundin bereits im Inneren der Queen Mary verschwunden.

„Lucy?“

Keine Antwort.

„Verdammt, Lucy! Rede mit mir.“ Henry war auf die Kufe gekrabbelt und nun dabei, sich aufzurappeln. Er hangelte sich Richtung Bordtür, die hinter Lucy zugefallen war. Als er die Tür erreichte, rüttelte er an ihr. „Lucy?“

Henry riss die Tür auf und stolperte ins Innere der Queen Mary, bereit, sich auf wen auch immer zu stürzen, um seine Freundin zu beschützen.

Er blinzelte. Seine Augen mussten sich erst an das dämmrige Licht im Innern des Flugzeugs gewöhnen. Doch da war niemand. Der Passagierraum der Queen Mary lag still und verlassen vor ihm.

„Lucy?“, rief Henry erneut und entdeckte im nächsten Moment seine Freundin, die wie erstarrt im Cockpit des Flugzeugs stand.

Und dann sah auch Henry die Spuren des Kampfes, der im Innern der Queen Mary stattgefunden haben musste. Das Flugzeug war schon vorher alt und verbeult gewesen, und es hatte kaum eine Stelle im Lack gegeben, die nicht zerkratzt gewesen war. Doch das hier war anders. Das Glas zweier Bullaugenfenster, durch die sie einst zum ersten Mal auf Sieben Feuer hinabgeblickt hatten, war gesprungen. Die Polster einer Sitzreihe waren aufgeschlitzt worden, sodass nun der Schaumstoff aus dem Innern hervorquoll. Auf dem Boden der Queen Mary entdeckte Henry einige rote Flecken und schob schnell den Gedanken beiseite, woher die wohl kommen mochten.

Nach einer kurzen Schockstarre rannte Henry die schmale Gangway der Queen Mary zu Lucy ins Cockpit und blieb unvermittelt stehen. Das Instrumentenbrett war gewaltsam herausgerissen worden. Kompass, Höhenmesser und Tankanzeige saßen schief in ihren Vertiefungen oder baumelten lose an Drähten herab. Zwischen Kurskreisel und Wendezeiger war ein hässliches Loch, das den Blick ins Innenleben der Queen Mary freigab.

Henry ließ sich auf den Co-Pilotensitz fallen. „Wo sind unsere Master? Was ist hier passiert?“

Lucy setzte sich auf den Pilotensitz. „Du hattest recht mit deiner Sorge. Wie es aussieht, sind sie überfallen worden.“

„Glaubst du, sie sind …“ Henry unterbrach sich.

Tippy Parrot hatte ihnen mal gesagt, dass Dinge, die unausgesprochen blieben, auch noch nicht passiert waren.

„Lady Blackstone …“, sagte Henry.

„Wer sonst“, stimmte Lucy bitter zu. „Sie muss ihnen aufgelauert haben. Ich frag mich nur, ob schon beim Hinflug nach Sieben Feuer oder erst nachdem unsere Master auf Sieben Feuer waren. Und ich frag mich, was das soll.“ Sie deutete auf das hässliche Loch in der Instrumententafel.

„Du hast doch häufiger hier vorne bei Master Duncan gesessen. Kannst du dich noch erinnern, was für ein Instrument da gewesen ist?“

Henry schüttelte den Kopf. „Hab ich nie drauf geachtet. Die sehen für mich alle gleich aus.“

Unbewusst begann Henry den Schaumstoff aus dem Riss zu zupfen, der sich im porösen Leder des Co-Pilotensitzes befand. Master Duncan hatte ihn früher immer wieder ermahnt, wenn er das getan hatte. Doch Master Duncan war nicht da.

Lucy rieb sich über ihr Gesicht. „Wir müssen unseren Drachen und den anderen Bescheid geben.“ Sie stand auf.

Henry pulte teilnahmslos weiter Schaumstoff aus dem Riss.

Lucy legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Komm schon.“

Als Henry sich erheben wollte, berührte er mit den Fingern etwas, das sich anders anfühlte als alter Schaumstoff.

„Warte kurz.“

Im nächsten Moment zog er einen nachlässig gefalteten Zettel aus dem Sitz. „Was …“

Er versuchte den Zettel aufzufalten, doch das Papier war verklebt. Schließlich gelang es ihm doch. In rostroter krakeliger Schrift hatte jemand eine Botschaft hinterlassen.

Henry und Lucy schauten sich an.

„Eine Botschaft von Master Duncan?“, fragte Lucy aufgeregt.

Henry nickte. „Ich glaube schon. Sieht so aus, als hätte er sie mit seinem eigenen Blut geschrieben.“

„Quatsch“, sagte Lucy und deutete auf eine gerissene Leitung unter dem Armaturenbrett aus der rötlich-braunes Schmieröl tropfte. „Aber hast du eine Ahnung, was sie bedeuten soll?“

Henry schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen blassen Schimmer.“

„Arthur?“, fragte Lucy, und Henry nickte. „Wenn das einer entschlüsseln kann, dann unser Superbrain.“ Henry faltete den Zettel wieder zusammen und steckte ihn ein. Phönix hatte das Band zu ihm geknüpft und wollte wissen, was los war.

„Wir müssen die Queen Mary irgendwie nach Nimmerland schaffen“, sagte Henry.

Im Frachtraum der Queen Mary fanden sie ein dickes Seil. Und während sie ihre Drachen darüber informierten, was passiert sein musste, knotete Henry das eine Ende des Seils um den Propeller an der Nase der Queen Mary, während Lucy das andere Ende Wellentänzerin um den Hals schlang.

„Schafft sie das?“, fragte Henry.

„Natürlich. Was denkst denn du?!“, rief Lucy.

Im nächsten Moment pflügte die Aquamarindrachendame durch die Wellen und zog das Flugzeug hinter sich her, als würde die Queen Mary nichts wiegen.

„Alles okay bei dir?“, wollte Henry von Phönix wissen.

Doch sein Drache schüttelte nur sein mächtiges Haupt. Nichts war okay, und Henry spürte die Angst und die Wut in seinem Drachen so, als wären es seine eigenen Gefühle. Und letztlich waren sie das ja auch. Schweigend folgten sie Lucy, Wellentänzerin und der Queen Mary zurück zur Insel.

Alle Reiter hatten sich auf der Lichtung eingefunden, auf der die Empore unter dem Segel der tausend fliegenden Fische stand. Ihre Drachen drängten sich am Rande des Waldes, jeder hielt das Band zu seinem Reiter geknüpft, um zu erfahren, was los war. Die Sonne fiel in schmalen Streifen durch die Ritzen und Löcher im Segel über Henry und seinen Freunden und sprenkelte die Tafel mit Lichtpunkten.

Master Duncans Botschaft lag aufgefaltet auf der groben Tischplatte. Mit gefurchter Stirn starrte Arthur auf die Wörter, während die anderen ihn wie gebannt anschauten. Schließlich hob er den Blick.

„100% nicht einfach“, murmelte Arthur.

„Okay, du Genie. So weit war ich auch schon“, sagte Timothy. „Nasen, Ohren, Augen.“ Er tippte ungeduldig auf ein Wort nach dem anderen. „Und was zur Hölle soll bitte schön ein Drehfeuer sein?“

Arthur ließ sich von Timothy nicht aus der Ruhe bringen. Er setzte seine Brille ab und putzte nachdenklich die Gläser mit einem Zipfel seines Hemdes, bevor er zu reden begann. „Drehfeuer könnte sich auf einen Begriff aus der Luftfahrtnavigation beziehen, obwohl es eigentlich Drehfunkfeuer heißen müsste. Am Boden, zum Beispiel an Flughäfen, gibt es sogenannte Drehfunkfeuerstationen. Die senden Wellen aus, anhand derer Piloten sich über einen Empfänger im Cockpit orientieren können.“

Er setzte sich seine Brille wieder auf und schaute in ratlose Gesichter.

„Funktioniert ähnlich wie ein Kompass. Ist aber nicht so wichtig. Ich kann mir nur keinen Reim darauf machen, was ein goldenes Drehfunkfeuer sein soll.“

„Da ist ein Loch in der Instrumententafel der Queen Mary“, berichtete Lucy. „Irgendjemand hat eins der Instrumente gewaltsam rausgerissen. Vielleicht das Messgerät, um dieses Drehfunkfeuer zu orten?“

Arthur hob die Schultern. „Mir ist nicht bekannt, dass es auf Sieben Feuer eine Station gäbe, die irgendwelche Signale aussenden würde. Und wenn das einer wissen würde, dann ja wohl ich.“

Übellaunig knüpfte der alte Teufelsgrind Happy das Band zu Henry. Henry spürte, dass der Drache sich Vorwürfe machte, weil er Henrys Sorgen um die Master als Hirngespinst abgetan hatte. Doch das hätte er nie offen zugegeben.

Worüber sprecht ihr?, fragte er mürrisch, und Henry ließ ihn an ihren Gedanken teilhaben.

Er spürte, wie Happys Groll größer wurde. Schließlich kristallisierte sich aus der Wut und Besorgnis des Drachen ein Bild heraus. Ein kleiner hölzerner Kasten, in dem eine goldene Nadel über einer runden Scheibe schwebte. Henry erinnerte das Bild an einen Kompass, doch statt der Himmelsrichtungen waren auf einem Ring am Rand der Scheibe goldene Abbildungen der sieben unterschiedlichen Drachenarten zu sehen. Auf zwölf Uhr mittags sah man zusätzlich die Abbildung eines schwarzen Drachen, in dem Henry den Ur-Drachen Onyx erkannte.

„Was soll das sein?“, fragte Henry zögerlich.

Eine Feuernadel, grollte Happy.

„Und das Ding war in der Queen Mary? Niemals. Daran würde selbst ich mich erinnern.“ Henry schüttelte den Kopf.

Es war scheinbar gut getarnt hinter den anderen Anzeigen im Eisenvogel, entgegnete der alte Drache.

„Und wofür soll das Ding gut sein?“

Ding, Ding, Ding, regte sich Happy auf und ließ ein ziemlich einfältiges Gesicht von Henry vor ihrem inneren Auge entstehen. Er deutete auf Henrys Hinterkopf. Ding, Dong. Aha, wohl niemand zu Hause.

„Nicht lustig“, stellte Henry fest. „Wozu ist sie gut?“

Der alte Grind ließ wieder das Bild des Gerätes vor Henrys innerem Auge auftauchen.

Es ist eine Art Kompass. Doch die Nadel richtet sich nicht nach dem Magnetfeld des Nordpols aus, sondern nach der Präsenz von Drachen. Während der Drachenkriege wurde die Feuernadel genutzt, um Drachennester ausfindig zu machen. Orte, an denen Drachen lebten, die in ihren Höhlen Goldvorräte horteten.

„Um sie …?“ Henry vollendete den Satz nicht, doch der alte Teufelsgrind nickte.

Was glaubst du, Zwerg? Im Krieg besucht man sich selten, um Kaffeekränzchen zu halten. Den Drachen wurde Gold und Leben geraubt. Er hob seinen Kopf und blickte über die Baumwipfel Richtung Meer.

Nach den Kriegen gerieten die Dinger in Vergessenheit. Erst als Sieben Feuer gegründet wurde, wurden sie wieder genutzt. Denn nur mit einer Feuernadel können Menschen die goldene Grenze, die Sieben Feuer umgibt, sicher überqueren.

„Weil die Nadel ihnen den Weg zeigt, wo die letzten Drachen leben“, stöhnte Henry.

So ist es.

Den letzten Satz hatte Henry nicht nur in Gedanken formuliert, sondern laut ausgesprochen, sodass seine Freunde ihn erwartungsvoll ansahen.

„Sorry, habe gerade das Band zu Happy geknüpft. Bin gleich bei euch“, ließ er sie aufgeregt wissen und bestürmte den alten Teufelsgrind mit seinen Fragen.

„Das heißt, Lady Blackstone hätte Sieben Feuer bisher gar nicht angreifen können, da sie ohne Feuernadel die Wolkenburg nicht wiedergefunden hätte.“

Richtig.

„Aber dann hätte Stewart Todd senior die goldene Grenze gar nicht durch seine goldene Kompanie schützen lassen müssen, oder?“

Vielleicht war er sich nicht sicher, ob die alte Hexe nicht doch irgendwo eine Feuernadel gefunden hat.

„Es gibt also mehrere von den Dingern?“

Ich weiß von zweien. Die Feuernadel, die in den Eisenvogel eures Masters eingebaut war, damit er euch Zwerge hin und her fliegen konnte. Und eine weitere Feuernadel, die im Besitz des Rates ist, damit dieser ebenfalls problemlos nach Sieben Feuer kommen und es wieder verlassen kann.

Henry brauchte einen Moment, um die Informationen zu verdauen. Sie sausten durch sein Hirn, wie ein wild gewordener Bienenschwarm.

„Mit der Feuernadel kann Lady Blackstone also die goldene Grenze, die Sieben Feuer schützt, überqueren.“

Der alte Teufelsgrind seufzte schwer. Ich glaube, dass sie sich für einen Angriff erst stark genug fühlt, wenn sie den letzten Blattfinger in ihrer Gewalt hat. Aber sicher sein können wir uns nicht.

„Oh Mann“, ächzte Henry.

Lucy wurde ungeduldig. „Jetzt spann uns nicht länger auf die Folter. Was hat Happy dir erzählt?“

Und obwohl Henrys Kopf voller Fragen war, entschuldigte er sich bei dem alten Teufelsgrind und kappte das Band. Er erzählte seinen Freunden, was es mit der Feuernadel und dem Loch in der Instrumententafel der Queen Mary auf sich hatte.

Nachdem Henry fertig war, erhob Arthur sich und schaltete in seinen gefürchteten Professormodus.

„Ich fasse zusammen: Drachen, die sich innerhalb einer goldenen Grenze befinden, können diese nicht überqueren. Es sei denn, man verabreicht ihnen Grenzenlossaft oder belädt sie mit Gold, so wie wir es getan haben, als wir in unserem ersten Jahr nach Croqc geflogen sind. Menschen wiederum, die sich außerhalb der goldenen Grenze befinden, können diese nicht überwinden, um zu den Drachen zu gelangen, es sei denn, sie sind im Besitz einer Feuernadel.“ Er hielt kurz inne und überlegte. „Oder auf dem Rücken eines Drachen.“

„Hä?“, warf Timothy wenig intelligent ein.

„Na ja, wir sind doch alle oft genug auf unseren Drachen nach Sieben Feuer zurückgekehrt. Ohne Feuernadel. Bedeutet, dass Drachen die goldene Grenze von außerhalb schon überqueren können.“

Arthur hüpfte vom Podest auf den Waldboden, suchte sich einen Stock und begann, eine krakelige Skizze in den sandigen Waldboden zu zeichnen.

„Die goldene Grenze ist eigentlich dazu da, Menschen und Drachen voreinander zu schützen.“ Er deutete auf seine Zeichnung. „Ganz vereinfacht gesagt: Drachen kommen nicht ohne Weiteres raus und Menschen nicht rein.“

„Aber Lady Blackstone könnte doch auf den Blattfingern, die sie bereits in ihrer Gewalt hat, über die goldene Grenze nach Sieben Feuer fliegen“, gab Chloé zu bedenken.

Arthur warf ihr einen anerkennenden Blick zu. „Guter Punkt, aber negativ. Ich gehe mit achtzigprozentiger Sicherheit davon aus, dass das Teufelsjoch die Drachen daran hindert, die goldene Grenze zu überfliegen. Ihr Wille wird gebrochen, sobald ihnen das Teufelsjoch über die Hörner gestülpt wird. Sie können keine Verbindung mehr zu ihren Reitern herstellen. Deshalb schätze ich, dass sie auch keine Verbindung mehr zu den Orten herstellen können, an denen ihre Artgenossen sich aufhalten.“

„Mit dieser Feuernadel hätte Lady Blackstone jetzt aber die Möglichkeit, Sieben Feuer zu finden, oder?“ Edward blickte sorgenvoll in die Runde.

„Das stimmt. Allerdings glaubt Happy, dass sie sich noch nicht stark genug fühlt, um Sieben Feuer anzugreifen. Er vermutet, dass sie erst noch den letzten Blattfinger finden will.“ Vor Henrys innerem Auge tauchte erneut die Feuernadel auf. „Auf dem äußeren Ring dieser Feuernadel waren außer Onyx, dem Ur-Drachen, auch alle anderen Drachen abgebildet“, sagte er langsam.

„Willst du etwa darauf hinaus, dass man mit dem Ding gezielt nach Drachen einer bestimmten Art suchen kann?“, fragte Arthur.

Henry hob die Schultern.

Arthur sah ihn prüfend an, ohne etwas zu sagen.

„Blöde Idee?“, fragte Henry unsicher.

Arthur schüttelte langsam den Kopf.

„Ganz und gar nicht. 100% positiv. Das ist die wohl intelligenteste Schlussfolgerung, die du je gezogen hast.“

Henry war sich nicht sicher, ob das nun ein Kompliment oder eine Beleidigung war.

„Aber hätten unsere Master die Feuernadel dann nicht schon längst benutzt, um die anderen versteinerten Blattfinger zu finden?“, fragte Edward.

Arthur schüttelte den Kopf. „Deshalb ist Henrys Gedanke so genial. Ich schätze, vor ihm hat nie jemand darüber nachgedacht. Die Feuernadel war unter den Armaturen der Queen Mary versteckt und anscheinend auf Sieben Feuer ausgerichtet. Aber wer weiß, vielleicht ist es ja möglich, sogar einzelne Drachen mit ihr aufzuspüren.“

„Oh Mann!“ Edward erhob sich von dem Baumstumpf, auf dem er gesessen hatte, und sprang vom Podest hinab auf den Waldboden. „Und mal wieder hat Lady Blackstone alle Trümpfe in der Hand.“ Er hob eine Eichel vom Waldboden auf und pfefferte sie frustriert gegen einen Baumstamm. „Ich dachte, nachdem wir Crawfords Grab gefunden und das Geheimnis gelüftet haben, wie wir unsere Freunde aus der Versteinerung befreien können, hätte sich das Blatt mal zu unseren Gunsten gewendet.“

Lucy, Henry und Arthur warfen sich vielsagende Blicke zu. Eigentlich war es immer Edward gewesen, der in schwierigen Situationen die Ruhe bewahrt und Optimismus versprüht hatte. Lucy hüpfte zu ihrem Freund und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Wir schaffen das.“

Henry und Arthur gesellten sich zu den beiden.

„Hey. Wir geben niemals auf, oder?“, sagte Henry.

„100% positiv“, pflichtete Arthur ihm bei.

Edward schüttelte den Kopf. „Das mag vielleicht das Clan-Motto der McBains sein. Unseres lautet Aus vielen mach eins. Aber ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie wir aus diesem Scherbenhaufen ein Ganzes zusammenfügen sollen.“

Chloé stellte sich breitbeinig vor Edward hin. Die Arme in die Seiten gestemmt. „Edward Abercrombie. Wir sind doch kein Scherbenhaufen. Schau uns an! Schau dich an! Wir sind die sechs, die vor vier Jahren verweichlicht, verängstigt mit goldenen Handys bewaffnet an diesem verlassenen Pier in London gewartet haben. Darauf, dass uns jemand abholt und auf diese sagenumwobene Eliteschule namens Sieben Feuer bringt. Wir waren so unterschiedlich, konnten uns teilweise nicht leiden und hatten keine Ahnung, was uns erwarten würde. Und jetzt?“ Chloé blickte erwartungsvoll in die Runde.

Timothy räusperte sich.

„Ehrlich gesagt, bin ich der Falsche, was Motivationsreden angeht, aber Chloé hat recht. Sieben Feuer hat uns zusammengeschweißt. Selbst für den da …“, er nickte in Henrys Richtung, „… würde ich durchs Feuer gehen. Und ganz egal, wie übel es gerade aussieht. Mit euch und den Drachen an unserer Seite kann kommen, wer will. Wenn es sein müsste, würde ich es mit dem Teufel persönlich aufnehmen.“

Edward seufzte. „Und mit der Teufelin Blackstone auch?“

„Der treten wir so was von in ihren knöchernen alten Hintern“, bestätigte Timothy.

„Okay, dann brauchen wir wohl einen Plan“, seufzte Edward und grinste schief.

Henrys Handgelenk fest umkrallt, schaute Mortimer ihn mit schief gelegtem Kopf aus schwarzen Knopfaugen an. Sie hatten das Band zueinander geknüpft, und Henry konnte der Krähe vermitteln, dass sie nach Dark Donan Castle fliegen und nach Hinweisen zum Verbleib ihrer Master Ausschau halten sollte. Henry schwang den Arm, auf dem Mortimer saß, in die Luft. Mit einem Krächzen, das sich wie eine Verabschiedung anhörte, erhob sich der schwarze Vogel in den wolkenlosen Himmel über ihnen.