Die geheime Drachenschule - Die Rebellion der Drachenreiter - Emily Skye - E-Book
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Die geheime Drachenschule - Die Rebellion der Drachenreiter E-Book

Emily Skye

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Beschreibung

Das Tribunal der Sieben Flammen hat entschieden: Henry darf nicht auf die Wolkenburg zurückkehren. Nun droht das Bündnis der Sieben Feuer zu zerbrechen, denn Henrys Freunde und sein kompletter Jahrgang stellen sich geschlossen hinter ihn. Gemeinsam mit ihren Drachen und einigen Mastern kehren sie Sieben Feuer den Rücken und schließen einen neuen Pakt: die Flamme des Widerstands. Währenddessen sammelt die ehemalige Goldzunge Lady Blackstone ihre dunklen Kräfte, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie Sieben Feuer angreifen wird ...

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

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30

Epilog

Alle Clans auf einen Blick

Personenverzeichnis

Bastle dir deine eigenen Papierfliegerdrachen!

Blattfinger

Mönchshaube

Maskara

Aquamarin

Kaukasische Vierhörner

Teufelsgrind

Weitere Titel der Autorin

Die geheime Drachenschule

Die geheime Drachenschule –Der Drache mit den silbernen Hörnern

Die geheime Drachenschule –Die Rückkehr des siebten Clans

Die geheime Drachenschule –Das Erwachen der Blattfinger

Die geheime Drachenschule –Das Tribunal der Sieben Flammen

Titel auch als Hörbuch erhältlich

Über dieses Buch

»NEHMT EUCH IN ACHT,DRACHENREITER. ICH SPÜRE ESIN MEINEN ALTEN KNOCHEN:LADY BLACKSTONE WIRDIMMER MÄCHTIGER.«

Mit gemischten Gefühlen kehrt Henry auf die Wolkenburg zurück. Denn er weiß nicht, ob er dort noch länger willkommen ist. Schon bald zeigt sich: Das Bündnis der Sieben Feuer droht zu zerbrechen! Doch Henrys Freunde halten zu ihm. Gemeinsam mit ihren Drachen und einigen Mastern kehren sie Sieben Feuer den Rücken und schließen einen neuen Pakt: die Flamme des Widerstands. Währenddessen schart die ehemalige Goldzunge Lady Blackstone die Feinde von Sieben Feuer um sich. Und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die Wolkenburg angreifen wird …

Emily Skye

Die geheimeDrachenschule

Die Rebellion der Drachenreiter

Band 6

Mit Illustrationen von Pascal Nöldner

BAUMHAUS

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

BAUMHAUS Verlag in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Pascal Nöldner

Gestaltung: Bastei Lübbe AG unter Verwendung von Illustrationen von Pascal Nöldner, Fotos Papierflieger: Bastei Lübbe AG

Motive: © Shutterstock/Kerim Koca; Shutterstock/exshutter; Shutterstock/Wuttichok Panichiwarapun

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0962-0

luebbe.de/baumhaus

be-ebooks.de

lesejury.de

 

Für die drei Brüder Gabriel, Samuel und David.

E. S.

Für meine Eltern.

P. N.

Prolog

In einem mannshohen Gestell aus dicken Eichenbalken war auf Kopfhöhe ein schwarzer Stein, groß wie ein Kürbis, in sieben eiserne Schraubzwingen eingespannt. Direkt unter dem Stein stand in einer kreisrunden Aussparung des Eichenbretts ein bauchiges halbvolles Gefäß aus Glas, das an ein riesiges Tintenfass erinnerte. Es fing die nachtschwarze Flüssigkeit auf, die quälend langsam aus dem Stein tropfte. So voll, wie das Gefäß war, tat sie das bereits seit Jahrhunderten.

Lady Blackstone nahm mit einer Pipette einen winzigen Tropfen der dunklen Flüssigkeit auf und ließ ihn in ein Glas mit Wasser fallen. Eine unheilvolle Wolke breitete sich in dem Glas aus, und nach wenigen Momenten färbte sich das Wasser so schwarz wie das Haar von Lady Blackstone. Sie griff erneut nach der Pipette und füllte sie nun mit einem Tropfen der verdünnten Flüssigkeit.

Vor ihr auf dem Tisch hockte in einem gläsernen Terrarium eine graubraune Wolfsspinne. Lady Blackstone ließ die Pipette einige Sekunden über der Spinne in der Luft schweben, bevor sie eine winzige Menge der Flüssigkeit auf ihren Rücken träufelte. Im ersten Moment huschte das Tier davon. Doch dann wurden seine acht Beine langsamer, bis sie schließlich in der Bewegung erstarrten. Wie zuvor die Spinne durch ihr gläsernes Gefängnis gehuscht war, huschte nun ein Lächeln über das sonst so starre Gesicht von Lady Blackstone.

Behutsam legte sie die Pipette beiseite, klaubte die versteinerte Spinne aus dem Glaskasten und setzte sie auf ihre flache Hand, um sie besser betrachten zu können. Die beiden Vorderbeine hatte die Spinne angriffslustig in die Luft gehoben. Doch vergebens. Gegen eine Gegnerin wie Lady Blackstone hatte sie nicht den Hauch einer Chance.

„Faszinierend“, murmelte sie und kippte langsam die Hand, bis die Spinne ins Rutschen geriet und hinabfiel. Einige Beine brachen ab, als sie mit einem Poltern auf dem steinernen Boden aufschlug.

Es klopfte an der Tür, und Ringeisen steckte zögerlich seinen Kopf hindurch. „Alles in Ordnung, Mylady?“

Lady Blackstone deutete auf den zerbrochenen Spinnenkörper. „Machen Sie das weg!“, befahl sie nicht unfreundlich, und Ringeisen eilte davon, um eine Kehrschaufel zu besorgen.

Für Henry waren es kurze Sommerferien gewesen. Früher, vor seiner Zeit als Drachenreiter auf Sieben Feuer, hätte ihn das geärgert. Doch mittlerweile konnte er gar nicht schnell genug auf die Wolkenburg zurückkehren. Wenn auch diesmal mit gemischten Gefühlen. Er wusste nicht, ob sie ihn dort einfach so wieder aufnehmen würden. Stewart Todd senior, der Vorsitzende des Rats der Alumni, hatte sich nach den Ereignissen im Hotel King’s Arms noch nicht dazu geäußert.

Was Henry aber sicher wusste, war Folgendes: Nie wieder würde er zulassen, dass jemand das Band zwischen ihm und seinem Drachen Phönix zerschnitt! Zumindest nicht, bis die Zeit, sich zu verabschieden, offiziell gekommen war. Dann würde er es akzeptieren. Er war nicht wie Graham Green, der sich an seinen Drachen klammerte wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz und der damit riskierte, die Drachen mit ins Verderben zu reißen. Nein, so war Henry nicht. Das Wohl von Sieben Feuer war ihm heilig, und die Welt der Drachen war größer als er. Sie zu beschützen war das oberste Gebot. Koste es, was es wolle!

So vor sich hin grübelnd erreichte Henry den Hafen, nachdem er sich am Morgen recht früh von seiner Mum verabschiedet hatte. Er wollte den ganzen Weg zum verlassenen Pier, wo Master Duncan sie einsammeln würde, lieber laufen, statt mit der U-Bahn zu fahren. Im Nachhinein keine so gute Idee, da es schon bald angefangen hatte zu regnen. Er hatte sich zwar die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf gezogen, doch der dünne Stoff war im Nu komplett durchnässt. Hätte ihm die Kapuze nicht das Sichtfeld eingeschränkt und wäre er nicht so in Gedanken versunken gewesen, wären ihm vielleicht die beiden Gestalten aufgefallen, die sich auf Höhe des Tower of London an seine Fersen geheftet hatten.

Henry bog um die Kaimauer und erreichte den Teil des Hafens mit den stillgelegten Docks. Die Schienen, auf denen die Löschkräne früher mal verschoben worden waren, rosteten genauso vor sich hin wie die Kräne selbst. Sie erinnerten Henry an schlafende Drachen, doch er beeilte sich, diesen Vergleich aus seinen Gedanken zu verbannen. Falls Happy das Bild entdeckte, wäre er definitiv beleidigt.

Die verlassenen Backsteingebäude zu Henrys linker Seite, in denen früher die Ladungen der Schiffe gelagert wurden, waren mit schlechten Graffitis übersät. Und die meisten der vor Staub und Dreck blinden Fenster hatten Sprünge oder waren eingeschlagen worden.

Ein Schrei riss Henry aus seinen Gedanken, und er fuhr erschrocken herum. Doch es war nur eine Möwe, die auf einem Poller hinter ihm gelandet war. Schlecht gelaunt starrte sie Henry aus ihren gelben Augen durch den Regen an, den Schnabel weit aufgerissen.

„Lass mich in Ruhe! Ich habe nichts zu fressen für dich“, zischte Henry und verscheuchte die Möwe, die mit einem beleidigten Krächzen davonflog.

Als Henry sich wieder umdrehte, meinte er, hinter einem der kaputten Fenster eine Bewegung gesehen zu haben. Als ob jemand einen Schritt zurückgewichen war, um sich im Schatten des verlassenen Speicherhauses zu verstecken. Henry war stehen geblieben und beobachtete das Fenster, doch da war nichts.

„Wieso müssen wir uns eigentlich immer an diesem verlassenen Ort treffen?“, murmelte er. „Wir könnten doch auch von Heathrow oder Gatwick losfliegen.“

Er seufzte und wusste natürlich, dass die beiden Londoner Flughäfen für Master Duncan und sein Wasserflugzeug keine Option waren.

Doch schon als Henry um die nächste Ecke bog, erblickte er endlich seine Freunde. Ein breites Lächeln schob sich auf sein Gesicht, und alle Sorgen waren vergessen. Da war Arthur, der auf Edward, Chloé und Timothy einredete. Und während Chloé und Edward ihm aufmerksam zuhörten und nickten, konnte Henry auch auf die Entfernung erkennen, wie genervt Timothy von Arthurs Monolog war. Ein Stück von den vieren entfernt, balancierte Lucy auf einem ausgefransten Tau, das zwischen zwei Pollern gespannt war. Sie erreichte den zweiten Poller, ohne einmal absetzen zu müssen, und verbeugte sich übertrieben, während Casper, der im Schneidersitz auf dem anderen Poller saß, höflich klatschte. Sein Irokesenschnitt, der in einer Pfeilspitze über der Stirn endete, hatte in den letzten Wochen die Farbe gewechselt und war nun feuerrot.

„Bin ich hier richtig? Ist das der Treffpunkt für die Einhornreiter?“, rief Henry zu ihnen hinüber und ließ seinen Rucksack vom Rücken gleiten.

Lucy quiekte fröhlich, hüpfte vom Poller und rannte ihm entgegen. Henry blieb gar nichts anderes übrig, als einfach die Arme auszubreiten und sie aufzufangen. Lucy dachte nicht daran zu stoppen und stürzte sich mit vollem Karacho in seine Arme.

„Wow“, kommentierte Casper und strich sich mit einem schiefen Grinsen über die Haare. „So bin ich nicht begrüßt worden.“

Henry löste sich aus der Umarmung mit Lucy und klatschte mit ihm ab. „Ich freu mich so, euch wiederzusehen!“, sprudelte es aus ihm heraus.

Casper nickte. „Ich mich auch, kleiner Bruder. Sieben Feuer ohne dich ist einfach nicht dasselbe.“

Die anderen gesellten sich zu ihnen, und es gab ein großes Umarmen.

„Solltest du dein Handy dabeihaben, wirf es lieber gleich ins Hafenbecken“, riet ihm Timothy. Aber Henry schüttelte grinsend den Kopf.

„Wo war ich noch mal stehen geblieben?“, fragte Arthur, als sich alle etwas beruhigt hatten.

Timothy deutete auf das Ende des Piers. „Dahinten irgendwo.“

„100% nicht lustig“, sagte Arthur beleidigt.

Chloé half ihm auf die Sprünge. „Du hast uns etwas über die noch fehlenden versteinerten Blattfinger erzählt.“

„Danke, Chloé.“ Arthur nickte ihr zu und begann vor ihnen auf und ab zu gehen.

„Er ist einfach eine Bestie“, raunte Timothy Henry zu, der zustimmend nickte. „Eine Intelligenzbestie. Keine fünf Minuten, nachdem wir uns getroffen haben, hat er angefangen zu dozieren. Wenn du mich fragst, sollten Wörter rationiert werden. Nicht mehr als fünfhundert pro Tag oder so. Danach sollte man stumm sein“, schlug Timothy vor.

Henry schwieg lieber. Er war sich nämlich ziemlich sicher, dass Timothy selbst große Schwierigkeiten hätte, sich an diese Regel zu halten.

„Also, Henry, wie viele versteinerte Blattfinger müsste es demnach noch geben?“

Arthur sah ihn durch seine großen Brillengläser auffordernd an.

„Ich lach mich tot“, raunte Timothy ihm zu. „Er macht wirklich dieses Lehrerding und nimmt dich dran, weil du nicht zugehört hast.“

„Ähh…“, antwortete Henry wenig geistreich.

„Negativ“, tadelte ihn Arthur. „Also noch mal: Ursprünglich gab es sieben Blattfinger, bis Happy den Drachen von Lady Blackstone getötet hat.“

„Da waren es nur noch sechs“, murmelte Timothy.

„Nur bis Pan geboren wurde“, entgegnete Arthur und begann aufzuzählen: „Neben Pan, Violets Drachen, ist da noch Arundula, die von Casper geritten wird. Zwei weitere Drachen befinden sich in den Kerkern von Dark Donan Castle. Dabei handelt es sich um die Exemplare, die Lady Blackstone und Leander Pebblebuttom ersteigert haben. Und dann gibt es noch den Drachen, der gemeinsam mit Arundula am Grund des Arundelsees gestanden hat und sich nun im Besitz des Rats der Alumni befindet. Immer noch versteinert. Und das bedeutet …“ Arthur machte eine Pause und reckte zwei Finger in die Höhe.

„… dass noch zwei Exemplare verschollen sind“, sagte Henry.

Arthur nickte ihm zu. „Ganz genau. Zwei versteinerte Blattfingerdrachen müssen sich immer noch irgendwo außerhalb von Sieben Feuer befinden. Deshalb habe ich die restlichen Sommerferien nach unserem kleinen Abenteuer im King’s Arms …“

„Aber er war doch gar nicht dabei“, flüsterte Timothy, doch Arthur ließ sich nicht beirren.

„… dazu genutzt, die Nationalbibliothek des Königreichs zu durchforsten. Wusstet ihr, dass sie über 25 Millionen Bücher beherbergt?“

„Und die hast du alle gelesen?“, fragte Lucy erstaunt, doch Arthur schüttelte den Kopf.

„Negativ. Natürlich nicht. Das ist unmöglich. Ich habe es mal ausgerechnet. Wenn ich meine Zeit nicht mit so albernen Sachen verbringen müsste wie Flug- oder Kampftraining und ihr mich nicht andauernd in irgendein Abenteuer verwickeln würdet, ich meine Zeit also ausschließlich mit Lesen und Essen verbringen könnte, dann würde ich, vorausgesetzt, dass ich neunzig Jahre alt werde, noch ungefähr 30.000 Bücher schaffen. Das wiederum würde bedeuten, dass ich für die 25 Millionen Bücher 833 Leben bräuchte.“

„Alter“, ächzte Casper.

„Du machst mich echt fertig“, pflichtete Lucy ihm bei.

„Aber hast du trotzdem etwas Neues über die verschollenen Drachen rausfinden können?“, fragte Chloé.

„Was?“ Arthur sah sie verständnislos an.

„Die versteinerten Blattfinger“, half Henry ihm.

„Ach so, natürlich.“ Arthur machte eine seiner berüchtigten Kunstpausen, hauchte auf seine Brillengläser und putzte sie mit dem Zipfel seiner Jacke.

„Jetzt spuck’s schon aus!“, rief Timothy.

Arthur setzte sich seine Brille wieder auf die Nase und hob beschwichtigend die Hände. „Ihr kennt mich. Durch mein systematisches Vorgehen war es mir natürlich möglich, die Suche sinnvoll einzugrenzen. Und so habe ich dann auch eine heiße Spur gefunden.“

Arthur wurde von einem immer lauter werdenden Brummen unterbrochen. Es war das Motorengeräusch der sich nähernden Queen Mary, Master Duncans altem Wasserflugzeug, das mit jedem Mal klappriger und rostiger zu werden schien. Anstatt sanft hinabzuschweben, plumpste es schwerfällig aus dem Himmel und krachte mit einem ziemlichen Getöse auf die graue Wasseroberfläche der Themse.

Henry und seine Freunde rissen vor Schreck die Augen auf. Doch als sie sahen, dass Master Duncan wie bei jeder Landung seinen Pilotensitz verlassen hatte und ziemlich lässig auf einer Kufe seines Flugzeugs Richtung Pier glitt, atmeten sie erleichtert auf und stürmten ihm entgegen.

„Bitte, bitte, wenn ihr nicht hören wollt, was ich zu sagen habe …“, rief Arthur ihnen hinterher. Er schüttelte den Kopf, und der Verschluss seiner Drachenballkappe, die er nur noch zum Schlafen und Duschen ablegte, schlackerte beleidigt hin und her.

Als die Nase der Queen Mary gegen einen der dicken Eichenbalken rumste, auf denen der Steg gebaut worden war, sprang Master Duncan von der Kufe zu ihnen hinüber.

„Irgendwann werden Sie dabei ins Wasser fallen“, tadelte Chloé ihn.

„Dann könnte er wenigstens nach unseren Handys tauchen“, schlug Timothy vor.

Die Falten um Master Duncans Augen wurden tiefer, und man konnte das Lächeln erahnen, das sich unter seinen buschigen Schnurrbart geschlichen hatte. „Keine Angst, Chloé“, polterte er los. „Ich bin wie ’ne Katze. Ziemlich geschickt und sehr wasserscheu.“

„… sagt der Mann, der auf einem Trottellummenschiss ausgerutscht ist und sich das Bein gebrochen hat“, gab Timothy zu bedenken.

Master Duncan legte ihm seine schwere Pranke auf die Schulter, und Timothy sackte ein Stück in sich zusammen. „Timothy O’Sullivan!“, polterte der Lehrer und blickte übertrieben auf seine Armbanduhr. „Noch keine Minute vorbei, und schon hast du zwei Scherze auf meine Kosten gemacht. Ich glaube, dein viertes Jahr auf der Wolkenburg wird für uns beide sehr, sehr anstrengend.“

Timothy tat so, als ob er sich den Mund abschließen würde, und warf den imaginären Schlüssel ins Hafenbecken.

„Besser so.“ Master Duncan nickte zufrieden und wandte sich an die anderen. „Dann mal alle Mann an Bord! Wir sind spät dran.“

„Hallo?“, empörte sich Lucy und stemmte die Arme in die Hüften.

Master Duncan starrte sie verständnislos an, bevor es ihm dämmerte. „Alle Mann und alle Frau an Bord“, verbesserte er sich genervt und wies einladend auf die Queen Mary.

„Geht doch“, sagte Lucy und setzte sich in Bewegung.

In dem Moment ertönte ein Geräusch, das an das wütende Sirren einer Mücke erinnerte. Nur dass es wesentlich lauter war. Es kam näher, um im nächsten Moment abrupt zu verstummen.

„Was zum Teufel …“, wunderte sich Master Duncan, als Edward mit großen Augen auf Henrys Rucksack deutete und einen Pfeil herauszog.

„Schnell ins Flugzeug!“, rief Master Duncan. „Wir werden angegriffen!“ Geistesgegenwärtig schob er Chloé und Timothy hinter sich, als erneut ein Surren zu hören war.

„Henry!“, rief Casper und stieß ihn zur Seite. Dabei streifte der Pfeil seinen Arm, prallte gegen das Flugzeug und fiel ins Hafenbecken.

„Casper?“, rief Henry, doch Master Duncan packte ihn an den Gurten seines Rucksacks und schubste erst ihn und dann Casper unsanft ins Innere des Flugzeugs. Edward und Chloé folgten.

Nur noch Arthur stand draußen. Nach wie vor eingeschnappt, dass Master Duncan und die Queen Mary ihn bei seiner Blattfingergeschichte unterbrochen hatten. Doch als seine Freunde hastig ins Flugzeug stürzten, war ihm aufgegangen, dass etwas nicht stimmte. Keuchend kam er nun den Steg entlanggeflitzt. Henry starrte durch eines der zerkratzten Bullaugenfenster der Queen Mary. Links und rechts von Arthur schlugen kleine Pfeile in die hölzernen Planken des Stegs. Master Duncan stürmte seinem Freund entgegen.

„Da!“, rief Henry und deutete auf eines der Fenster des leerstehenden Speichers am Hafenufer. Hinter der zerbrochenen Scheibe tauchte ein rot-schwarzes geisterhaftes Gesicht auf. Die Gestalt hob eine Art Blasrohr an die Lippen und zielte erneut auf Arthur. Doch bevor der Pfeil sein Ziel erreichte, warf sich Master Duncan dazwischen. Statt in Arthurs Rücken bohrte sich der Pfeil in den Oberschenkel ihres Lehrers.

Henry konnte nicht länger tatenlos zusehen. Gefolgt von seinen Freunden stürmte er wieder hinaus, um seinem Master und seinem Freund zu Hilfe zu eilen. Und wie durch ein Wunder schafften sie es, ohne noch einmal getroffen zu werden, zurück ins Innere der Queen Mary.

Fluchend ließ sich Master Duncan auf den Pilotensitz fallen, riss sich den Pfeil aus seinem Oberschenkel und startete das Flugzeug. Während der Motor immer wieder absoff, sah Henry, wie drei Gestalten ohne Eile aus dem alten Speicher traten und in ihre Richtung kamen. Alle drei trugen lange dunkle Mäntel, und Henry erkannte, dass sie ihre Gesichter hinter Masken verbargen, die blutrot waren und über die vom Kinn bis zur Stirn eine schwarze Flamme flackerte.

Endlich heulte der Motor auf, und die Propeller begannen sich immer schneller zu drehen. Um Haaresbreite entkamen sie ihren Angreifern, die am Ende des Stegs angekommen waren und ihnen hinterherstarrten, bis die Queen Mary von der grauen Wolkendecke verschluckt wurde.

Was war das denn, bitte schön?“, keuchte Timothy.

„100% negativ“, japste Arthur.

Alle riefen wild durcheinander, um sich gegenseitig und den Motorenlärm zu übertönen.

„Ruhe!“, brüllte Master Duncan irgendwann so laut, dass mit einem Schlag alle verstummten. „Bringt doch nichts, wenn wir uns wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen verhalten“, brummte er versöhnlicher. „Die wichtigste Frage zuerst: Ist irgendjemand getroffen worden?“

„Hallo? Ihnen steckte gerade noch ein Pfeil im Bein!“, entgegnete Timothy.

„Außer mir“, sagte Master Duncan genervt.

„Ich bin mir nicht sicher.“ Arthur tastete hektisch seinen Körper ab.

„Glaub mir, wenn du getroffen worden wärst, hättest du es gespürt“, sagte Master Duncan.

„Wartet“, sagte Chloé aufgeregt und deutete auf Arthurs Drachenballkappe. Am Hinterkopf steckte ein Pfeil. Er hatte das Leder der Kappe durchbohrt, doch der Schaft war zu kurz, um Arthur zu verletzen. Er steckte in der Schafwolle, mit der die Kappe gepolstert war.

Chloé zog ihn vorsichtig heraus.

Master Duncan schaltete den Autopiloten ein und drehte sich zu ihnen um. „Sei vorsichtig, Chloé. Fass bloß nicht die Spitze des Pfeils an. Kann sein, dass sie vergiftet ist.“

Arthur wurde bleich. „100% negativ. Stellt euch mal vor, ich hätte meine Kappe nicht aufgehabt. Ich brauch was zu essen.“ Er kramte ein dickes Sandwich aus seiner Tasche und wickelte es mit zittrigen Fingern aus dem Butterbrotpapier.

Chloé, Lucy und Edward untersuchten den Pfeil. „Sieht ein bisschen aus wie ein Grillspieß“, sagte Lucy.

„Eher wie ein Dartpfeil, nur kleiner“, meinte Edward.

Während die drei diskutierten, tauschten Henry und Casper Blicke. Henry deutete auf Caspers Arm. Dort, wo ihn der Pfeil gestreift hatte.

Doch Casper winkte ab. „Nichts passiert“, sagte er und wandte sich an die anderen. „An dem Ding sind hinten ja gar keine Federn“, sagte er.

„Pfropfen“, nuschelte Arthur, kaute und schluckte einen Bissen Wurstbrot runter, bevor er weiterredete. „Unsere Angreifer müssen mit Blasrohren auf uns geschossen haben.“

Henry nickte. „Haben sie. Habe ich genau gesehen.“

„Die Pfropfen dienen dazu, den Schaft des Blasrohrs zu verschließen. So kann mit der Luft der Lunge ordentlich Druck aufgebaut und der Pfeil über fünfzig Meter weit geschossen werden. Das Blasrohr ist eine Waffe, die vornehmlich von den Ureinwohnern Südamerikas zur Jagd genutzt wird. Dort werden die Pfeilspitzen in der Tat oft vergiftet. Mit einem Sekret von Pfeilgiftfröschen oder auch mit Curare. Das ist eine Substanz, die aus Brechnuss oder Mondscheingewächsen gewonnen wird.“ Die Farbe kehrte in Arthurs Wangen zurück. Sobald er etwas erklären durfte, wurde er wieder munter. „Packt das Ding gut weg. Wir geben es nachher Mistress Leonella. Sie soll es mal untersuchen.“

Henry kletterte zu Master Duncan ins Cockpit und ließ sich neben ihm auf dem Co-Pilotensitz nieder. Er deutete auf dessen Bein. „Spüren Sie denn was?“, fragte er besorgt, doch Master Duncan schüttelte den Kopf.

„Juckt ein bisschen. Ansonsten ist alles gut. Erst mal bring ich uns nach Sieben Feuer. Dann kommt ein bisschen Whiskey auf den Einstich und ein bisschen mehr in meinen Hals, und morgen bin ich wieder der Alte.“ Er zwinkerte Henry zu.

„Meinen Sie, Lady Blackstone steckt hinter dem Angriff?“

Master Duncan nickte grimmig. „Wer sonst? Ich frage mich nur, woher sie wusste, wann und wo wir uns treffen würden …“

Master Duncan flog sie durch eine Gewitterfront an der goldenen Grenze, die sich gewaschen hatte. Die Queen Mary fiel metertief in mehrere Luftlöcher, ächzte und jaulte, während sie wieder an Höhe gewann, um dann in das nächste Luftloch zu fallen. Blass und teilweise grünlich um die Nasen, hatten sie das Unwetter irgendwann hinter sich gelassen und die goldene Grenze überwunden. Und als Sieben Feuer unter ihnen auftauchte, verebbte die Diskussion über die Gestalten mit den Flammenmasken, und sie klebten alle mit ihren Nasen an den Scheiben des Flugzeugs.

„Da unten ist Wellentänzerin! Zwischen den Felsen in der Drachenzahnbucht!“, rief Lucy aufgeregt.

Und auch Henry meinte, sowohl Happy als auch Phönix entdeckt zu haben. Zumindest zogen ein großer roter und ein etwas kleinerer oranger Drache ihre Kreise über dem gähnenden Abgrund. Und als die Drachen wiederum die Queen Mary entdeckten, drehte der kleinere von ihnen bei, um Richtung Anlegesteg zu fliegen. Der größere hingegen verkroch sich in einer der Höhlen an der Steilklippe.

Und nur einen Augenblick später echote eine Stimme durch Henrys Geist. Endlich, du bist zurück! Henrys Herz wurde warm, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Es ist doch gar nicht so viel Zeit vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.“

Wie bitte?, empörte sich Phönix. Mag sein, dass du nach deinem Abenteuer in diesem King’s Arms kurz hier warst. Davor habe ich aber ein halbes Jahr lang gedacht, dass wir uns nie wiedersehen würden. Geschweige denn, das Band zueinander knüpfen.

„Ich weiß“, sagte Henry.

Jeder Tag, den wir nicht beieinander sind, ist ein verlorener Tag, ließ Phönix ihn wissen. Auch wenn ich natürlich verstehe, dass du zu deinem Muttertier wolltest.

Henry lächelte. Was seine Mum wohl denken würde, wenn sie wüsste, dass jemand sie als Muttertier bezeichnete?

Aber Phönix hatte natürlich recht. Nachdem Henry seine Goldzungenfähigkeit zurückerlangt hatte, hatte er zwar einen heimlichen Besuch auf Sieben Feuer unternommen, um Phönix wiederzusehen. Doch dann war er zu seiner Mutter gefahren, um die letzten beiden Wochen der Sommerferien bei ihr zu verbringen.

Und? Glaubst du, wir werden dieses Jahr endlich mal ein ganz normales Schuljahr erleben?

Henry seufzte und schüttelte den Kopf. Dann ließ er seinen Drachen an seinen Erinnerungen teilhaben und zeigte ihm die Bilder vom Angriff der Flammenmasken.

Das erzählst du mir erst jetzt? Geht es dir gut?, fragte Phönix aufgeregt.

„Ja, nur Master Duncan ist getroffen worden. Gleich nach der Landung geht er zu Mistress Leonella, um überprüfen zu lassen, ob der Pfeil vergiftet war.“

Phönix ächzte. Ihr Menschen!Ihr seid schwieriger zu hüten als ein Sack Läuse.

„Flöhe“, korrigierte Henry seinen Freund automatisch. „Kommst du mich am Anlegesteg abholen? Ich würde gerne eine Runde mit dir drehen und Happy besuchen.“

Wird gemacht, antwortete Phönix. Obwohl ich die starke Vermutung habe, dass Happy die Sommerferien mal wieder viel zu schnell vorbeigegangen sind und er gerne noch ein bisschen Ruhe vor dir und deinen Artgenossen gehabt hätte.

„Da hat er Pech gehabt. Ich würde ihn gerne zu den Typen befragen, die uns angegriffen haben. Vielleicht weiß er etwas über diese schwarzen Flammenmasken, die sie getragen haben. Also bis gleich am Steg.“ Henry kappte das Band.

Phönix war nicht der einzige Drache, der sie bei ihrer Landung erwartete. Sie waren alle gekommen, um ihre Reiter zu begrüßen.

Königsherz und Königsblut, die beiden kaukasischen Vierhörner, schwarz wie die Nacht und lediglich durch die Farbe ihrer Hörner voneinander zu unterscheiden, standen dicht gedrängt auf dem Steg.

Hinter ihnen reckte Tausendschön den Hals in den Himmel. Das Schuppenkleid von Chloés Maskara-Drachendame leuchtete in den unterschiedlichsten Farben. Pyrothargas, Arthurs Mönchshaube, stand in sicherer Entfernung am Ufer. Gegen die sprühende Gischt der Wellen, die ans Ufer brandeten, hatte er seine Halskrause wie einen Regenschirm aufgespannt. Noch weiter dahinter stand Arundula, Caspers Blattfingerdame, die nach Jahrzehnten auf dem Grund des Arundelsees mindestens genauso wasserscheu war wie die Mönchshaube. Ganz anders als Wellentänzerin, die Aquamarin-Drachendame, die anmutig durchs Wasser glitt, um Lucy in Empfang zu nehmen.

Lucy war kurz davor, sich ebenfalls in die Wellen zu stürzen, als sie innehielt. „Können wir Sie allein lassen?“, fragte sie zögerlich.

Master Duncan stand etwas steifbeinig auf der Kufe der Queen Mary und war dabei, das Wasserflugzeug am Steg zu vertäuen. Ungehalten brummte er etwas von Taxi-Unternehmen McBain, scheuchte sie dann aber fort wie lästige Fliegen. „Seht zu, dass ihr nichts in der Queen Mary liegen lasst. Ich statte Mistress Leonella einen kurzen Besuch ab, muss dann aber wieder zurück nach London, die anderen Jahrgänge einsammeln. Wir müssen einen neuen Treffpunkt ausmachen. Nicht dass uns diese seltsamen Gestalten mit den Blasrohren wieder in die Quere kommen.“

„Aber was, wenn die Pfeile wirklich vergiftet waren? Dann müssen Sie sich schonen. Kann nicht jemand anderes die Queen Mary fliegen?“, fragte Chloé besorgt.

Master Duncan kratzte sich mit dem kleinen Finger unter der Augenklappe und überlegte. „Ich glaube, Rudge Bleaker hat einen Pilotenschein“, murrte er. „Aber wenn es nicht unbedingt sein muss, gebe ich die Queen Mary nicht aus der Hand.“

„Rudge Bleaker? Ist der etwa noch da?“, fragte Timothy erstaunt. „Ich dachte, Sie würden wieder unseren Unterricht übernehmen.“

Master Duncan grinste. „Ach, auf einmal so anhänglich, O’Sullivan?“

Timothy hob die Schultern. „Wenn ich zwischen Pest und Cholera wählen muss, dann doch lieber Cholera.“

„Verschwindet endlich!“, polterte Master Duncan, während er Timothy seinen Schlapphut hinterherwarf.

Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Lucy hüpfte ins Wasser, und die anderen rannten den Steg hinunter Richtung Ufer, ihren Drachen entgegen.

Als Henry aus dem Flugzeug trat, knüpfte er erneut das Band zu Phönix. „Fängst du mich?“, fragte er und wartete die Antwort gar nicht erst ab. Er rannte nicht zum Ufer, sondern zum anderen Ende des Bootsstegs Richtung Meer. Dann drückte er sich kraftvoll ab und riss die Arme in die Luft. Als die Sohlen seiner Füße den Wellenkamm berührten und er schon dachte, dass sein Plan zu kühn gewesen war, spürte er, wie die Krallen seines Freundes nach ihm griffen und ihn in die Luft zogen.

Du machst mich vollständig.

„Fertig!“, verbesserte Henry lachend.

Fertig? Womit?, fragte Phönix verwirrt.

„Es heißt Du machst mich fertig. Und nicht: Du machst mich vollständig.“

Eure Sprache macht mich fertig, erwiderte Phönix. Aber nur mit dir fühle ich mich vollständig, fügte er nach einigen Flügelschlägen klug hinzu.

Henry umarmte Phönix mit seinem Band. „Langsam hast du den Dreh raus. Und mir geht es genauso. Nur mit dir an meiner Seite fühle ich mich komplett.“

So viele Wörter, gluckste Phönix, während er an Höhe gewann und die Queen Mary klein wie ein Spielzeugflugzeug wurde.

Henry hangelte sich den Hinterlauf seines Drachen hinauf, zog sich eine Schuppe nach der anderen hoch, bis er schließlich hinter der dreizehnten Zacke im Rückenkamm seines Freundes zum Sitzen kam.

„Und jetzt will ich fliegen!“, rief er ausgelassen. „Zeig mir, was du kannst.“

Phönix breitete seine Schwingen aus und schoss über die Insel der Sieben Feuer hinweg. Sie flogen einen weiten Bogen über die wehklagende Aue und drehten eine Runde um das Krähennest der Wolkenburg. Henry spürte den eisigen Wind auf seinem Gesicht, er roch das Meer und den Rauch, der aus den Schornsteinen der Burg stieg. Er atmete tief ein und spürte, dass er wieder zu Hause war. Zurück auf Sieben Feuer.

Er schloss die Augen und breitete seine Arme aus. Sie jagten durch die Höllentalklamm, um zum Haupt des Riesen und zum gähnenden Abgrund zu kommen. Nach einer weiteren Runde über der Drachenzahnbucht, bei der sie Lucy zuwinkten, die unter ihnen auf dem Rücken von Wellentänzerin durchs Wasser pflügte, flogen sie schließlich auf den Eingang von Happys Höhle zu. Wie alle anderen Höhlen war auch sie in die Steilklippe unterhalb des gähnenden Abgrunds gegraben worden. Mit ihren vielen Löchern erinnerte die fast senkrecht abfallende sandfarbene Wand ein bisschen an einen riesigen Schweizer Käse.

Phönix schoss in seine und Happys Höhle und schrammte dabei haarscharf an den felsigen Wänden entlang. Bald würde er so groß sein, dass er nicht mehr einfach so würde hineinfliegen können. Mit seinem Körper versperrte er fast den gesamten Höhleneingang, sodass es in der ohnehin düsteren Höhle finster wurde wie in einer Neumondnacht.

Henry glitt vorsichtig von Phönix’ Rücken und tastete in der Dunkelheit erst mal mit seinem Band nach dem alten Teufelsgrind. Er fand den Geist des griesgrämigen Drachen und stupste ihn vorsichtig an. Nichts geschah. Henry stupste fester. Der Geist des Drachen wirkte vor Henrys innerem Auge genauso riesig wie dessen Körper. Ein Gebirge. Starr und steinern.

Henry konzentrierte sich und rumpelte im Geiste so heftig gegen den alten Drachen, dass es eine mentale Steinlawine auslöste. Fluchend erwachte Happy und überrollte Henry mit Flüchen und Beschimpfungen, die so wüst, aber auch so abwegig waren, dass Henry sich nicht entscheiden konnte, ob er sich aufregen oder lachen sollte. Also wartete er einfach ab. Und irgendwann hörte das Gepolter auf.

Hörst du mir eigentlich zu?, erkundigte sich der alte Drache krächzend.

„Nach hohlköpfiger, halunkiger Hanswurst, der sich wie ein tölpelhafter, trampeliger Taugenichts aufführt, habe ich ehrlich gesagt auf Durchzug gestellt“, antwortete Henry.

Unverschämtheit! Diese Ignoranz, diese Respektlosigkeit vor einem höheren und wesentlich älteren Wesen. Du solltest jedes meiner Worte aufsaugen wie ein trockener Schwamm, wie die Wurzeln eines Baumes nach der Dürre, wie ein Kamel, das nach einer Wüstendurchquerung das rettende Wasserloch erreicht.

„Aber deswegen bin ich doch hier“, schmeichelte Henry ihm. „Um an deinem unermesslichen Erfahrungsschatz, an deinem messerscharfen Verstand, an deinem schier grenzenlosen Wissen teilzuhaben.“

Wirklich?, fragte der alte Drache verdattert.

Henry versuchte das Lachen, das langsam seinen Hals hinaufkroch, zu unterdrücken. Er ging tiefer in die Höhle hinein. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und er erkannte Happys massigen Körper, der im hinteren Teil auf einem Nest aus Stroh ruhte.

Phönix tapste hinter ihm zur Feuerstelle der Höhle und entzündete einige alte Torfbrocken, indem er sie mit seinem Feueratem anhauchte. Rauchfahnen kräuselten sich über blauen Flammen und wurden vom Wind aus der Höhle getragen. Die Flammen zuckten höher und färbten sich orange. Sie warfen tanzende Schatten an die Wände und spiegelten sich in den Schuppen der beiden Drachen. Wärme machte sich breit. Und ein schwerer Geruch, salzig, erdig und ein bisschen sauer.

Henry schloss die Augen und sog ihn gierig ein. So roch Sieben Feuer! Wohlig und nach Abenteuer.

Als er sie wieder öffnete, staunte er überwältigt.

„Wow“, hauchte er. „Das Feuer, das sich in euren Schuppen spiegelt … Ihr beide funkelt wie riesige Rubine.“

Recht so, erwiderte der alte Teufelsgrind besänftigt. Stell deine Frage, Zwerg. Es ist ja nicht verwunderlich, dass in so einem kleinen und mickrigen Körper wie deinem auch nur ein beschränkter, winziger Geist wohnen kann, sagte er gnädig. Wahrscheinlich ist ein Gespräch von Drache zu Mensch so zu bewerten wie das Gespräch eines Menschen mit einem Regenwurm, überlegte er weiter.

Henry erwiderte nichts und ließ den alten Teufelsgrind stattdessen an seinen Erinnerungen teilhaben. Er zeigte ihm den Angriff, der auf sie stattgefunden hatte. Als er zu dem Bild der drei Angreifer kam, die ihnen vom Steg aus hinterherschauten, fror er das Bild der Masken ein, durch die die Fremden ihnen hinterhergestarrt hatten. Ausdruckslose, feuerrote Gesichter, über die eine schwarze Flamme zuckte.

„Kennst du dieses Zeichen?“

Ein düsteres Schweigen legte sich über die Höhle. So lange, dass Henry schon glaubte, Happy hätte das Band zu ihm gekappt. Schließlich echote die Stimme des alten Teufelsgrinds doch noch durch seinen Geist. Die Loge der Schwarzen Flamme, ließ er Henry wissen.

Henry hatte keine Ahnung, was der Begriff zu bedeuten hatte, aber Happys Grabesstimme ließ ihn Böses ahnen.

Die Loge der Schwarzen Flamme, wiederholte Happy und machte eine dramatische Pause. Während der Drachenkriege, also noch lange bevor Sieben Feuer gegründet wurde, gab es unter den Drachenreitern eine Einheit, die sich die Schwarze Flamme nannte. Rücksichtslose Draufgänger, die sich tollkühn und leichtsinnig in noch so aussichtslose Kämpfe stürzten. In jeder Schlacht riskierten sie nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Drachen und ihrer Einheiten. Die Reiter stammten eigentlich aus unterschiedlichen Clans. Doch sie übermalten die Wappen auf ihren Schilden mit der schwarzen Flamme und stellten ihren Leitspruch über den Wahlspruch ihrer Clans.

„Und der lautete wie?“, wollte Henry wissen.

Mut lebt ewig, antwortete Happy und hielt inne, bevor er erneut das Band zu Henry knüpfte. Ich spüre doch, dass du die Schwarze Flamme für diesen Spruch insgeheim bewunderst, Zwerg!

„Mut ist doch was Gutes“, entgegnete Henry.

Nur wenn er richtig eingesetzt wird. Zu viel davon kann blind, rücksichtslos und grausam machen. Manchmal fehlt euch Menschen einfach das richtige Maß. Die Schwarze Flamme gewann zwar viele Schlachten, fuhr der Teufelsgrind fort und seufzte, doch sie verloren noch mehr Männer. Größtenteils Fußsoldaten, die nicht das Privileg genossen, auf dem breiten Rücken eines mächtigen Freundes zu reiten, der sie notfalls durch die Lüfte davontragen konnte.

Ertappt erinnerte sich Henry an die vielen Male, die ihn Happy, Phönix, Master Duncan, Lucy oder erst heute Morgen Casper aus brenzligen Situationen gerettet hatten. Nicht selten hatten sie sich dabei selbst in Gefahr gebracht.

„Aber warum sind diese schwarzen Flammen-Krieger jetzt zurückgekehrt?“, fragte Henry.

Happy seufzte schwer. Lady Blackstone wird sie aus der Mottenkiste hervorgezerrt haben, mutmaßte er. Ich schätze, dass sie ihre Gefolgschaft vergrößern will. Sie braucht Anhänger, die ihr blind folgen.

Der alte Teufelsgrind durchbohrte Henry mit einem Blick aus seinen grün funkelnden Augen.

Und die Loge der Schwarzen Flamme übt unbestreitbar auf gewisse Menschen eine große Faszination aus.

Henry zog ertappt den Kopf zwischen die Schultern.

Die Schwanzspitze des Teufelsgrinds zuckte hin und her, als er sich zu seiner vollen Größe aufsetzte. Fast stieß sein Horn an die Höhlendecke. Nehmt euch in Acht, Drachenreiter, warnte er. Ich spüre es in meinen alten Knochen. Was wir bisher mit der alten Hexe erlebt haben, war nur der Anfang. Sie ist dabei, sich von Neuem zu erheben. Und sie wird immer mächtiger.

Bedrückt flogen Phönix und Henry zurück zur Wolkenburg. Henry hatte Phönix erzählt, was Happy ihm berichtet hatte.

Sie landeten im Innenhof der Wolkenburg, und Arthur winkte Henry aus einem der schmalen Fenster des Turms zu, in dem sich ihre Schlafräume befanden. Henry erinnerte sich noch gut an die Nacht, in der sie zum ersten Mal auf Sieben Feuer angekommen waren. Sie hatten im Dunkeln die Außentreppe, die sich um den Turm wand, hinaufsteigen müssen, und Arthur war damals vor lauter Angst tausend Tode gestorben.

Henry legte seine Hand zwischen Phönix’ Nüstern und versprach seinem Drachen, dass er später am Abend nochmals das Band zu ihm knüpfen würde. Als er den Innenhof durchquerte, öffnete sich die hohe Flügeltür zum Hauptgebäude der Burg, und Master Finley und Mistress Dora traten heraus.

Als sie Henry erblickten, stutzten sie kurz und kamen dann auf ihn zugeeilt. Während Master Finley in seinem weißen Leinengewand und mit hektisch wedelnden Armen an einen aufgeplusterten Schwan erinnerte, sah Mistress Dora in ihrem Waffenrock und dem Wams aus wie eine Gladiatorin. Ihre Arme waren rußgeschwärzt. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder den ganzen Tag in ihrer Schmiede verbracht.

Als die beiden ihn erreichten, umschloss Master Finleys bratpfannengroße Hand sanft seine Schulter, und der Lehrer strahlte heller als ein Goldschatz in der Sonne. Gleichzeitig war er so ergriffen, dass er kein Wort herausbrachte.

Mistress Dora schüttelte Henry so kräftig die Hand, dass es sich anfühlte, als würde sie ihm jeden Moment den Arm abreißen oder die Finger zerquetschen.

„Du weißt gar nicht, wie sehr wir uns freuen, dass du wieder bei uns bist!“, rief sie.

Es war das erste Mal, dass sie Henry nach dem Tribunal wiedersahen.

„Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit war das, als der Rat dich letztes Jahr rausgeworfen hat! Aber denen hast du es gezeigt!“, dröhnte Mistress Dora.

Master Finley nickte zustimmend. „Sir Henry. Einfach bewundernswert. Du weißt, wie sehr ich Gold mag. Da kannst du dir ausmalen, wie betrübt ich war, als du, unser Goldjunge, der Wolkenburg verwiesen wurdest.“ Er schüttelte seinen blank polierten Glatzkopf. „Eine Schande! Umso beeindruckender, dass du trotz des Safts des Vergessens den Weg zu uns zurückgefunden hast.“

„Der Junge klebt an seinem Drachen wie ein alter Kaugummi“, lachte Mistress Dora. „Und diese besondere Verbindung zu dem alten Teufelsgrind …“ Sie klatschte in die Hände. „Wie Pech und Schwefel, einfach unzertrennlich die beiden!“

Henry kratzte sich peinlich berührt am Kopf. „Na ja“, wiegelte er ab. „Zumindest was Happy angeht, glaube ich nicht, dass er das genauso sieht.“

Mistress Dora schniefte geräuschvoll und wischte sich mit dem Handrücken unter der Nase lang. Dafür erntete sie einen pikierten Blick von Master Finley, den sie jedoch nicht bemerkte. „Sei’s drum. Die Hauptsache ist, dass du wieder da bist.“

„Herzlich willkommen zurück, Sir Henry!“, pflichtete Master Finley ihr bei. „Alle freuen sich, dass du wieder bei uns bist.“

Henry hatte eine Bewegung hinter einem der Burgfenster wahrgenommen. Stewart Todd senior hatte sie beobachtet und dann brüsk den Vorhang vor das Fenster gezogen.

„Da bin ich mir nicht so sicher“, murmelte er. Als Mistress Dora und Master Finley ihn fragend anschauten, schüttelte er nur den Kopf und wechselte das Thema. „Haben Sie von dem Angriff auf uns gehört, und wissen Sie, wie es Master Duncan geht?“

Master Finley nickte, und das Strahlen verschwand aus seinem Gesicht. „Irgendetwas an der Wunde an Duncans Oberschenkel ist wohl seltsam. Um den Einstich herum ist die Haut ganz grau und hart geworden.“

„Sie heilt halt schnell“, sagte Mistress Dora achselzuckend. „Du kennst die McBains. Nichts für ungut Henry, aber die Leute von eurem Clan sind doch wie Unkraut.“

Master Finley schüttelte den Kopf. „Mistress Leonella meinte, dass es sich dabei nicht um den klassischen Heilungsprozess handelt, sondern eher um eine Sepsis.“

„Eine was?“, fragte Henry.

„Eine Blutvergiftung. Leonella untersucht gerade die Spitze des Pfeils, den ihr mitgebracht habt. Er muss in irgendeine höchst widerwärtige Flüssigkeit getaucht worden sein.“

„Und Master Duncan?“, fragte Henry alarmiert.

Mistress Dora winkte ab. „Der sitzt längst wieder in der Queen Mary, um den nächsten Jahrgang einzusammeln.“

„Mistress Leonella hat ihm einige Tropfen des traurigen Elixiers auf die Wunde geträufelt. Das hat wohl vorerst geholfen“, ergänzte Master Finley.

„Ich sag’s ja. Wie Unkraut, die McBains.“ Mistress Dora zwinkerte Henry zu. „Und bevor wir es vergessen, es gibt eine kleine Planänderung. Das große Galadinner, um den neuen Jahrgang willkommen zu heißen, findet erst morgen Abend statt. Da wir einen alternativen Treffpunkt in London ausmachen mussten, schafft Master Duncan es nur noch, den dritten Jahrgang einzusammeln. Die Reiter des zweiten und des neuen Jahrgangs stoßen erst morgen zu uns.“

„Heute Abend gibt es also nur belegte Brote“, sagte Master Finley betrübt.

Henry verkniff sich ein Grinsen. Er vermutete, dass Master Finley diese Tatsache selbst am meisten bedauerte. Doch da hatte er sich geirrt.

„Kein Galadinner?“, fragte Arthur entrüstet. „100% negativ.“

Auch Timothy, der gerade dabei war, sein Zeug in die kleine Kommode neben seinem Bett zu stopfen, hielt inne. „Alter! Ich habe ein schwarzes Loch im Bauch, das nach Materie verlangt.“

Henry ließ sich auf das einzige noch freie Bett fallen, das zwischen Timothys und Caspers Lager stand. Es ächzte bedenklich, und eine kleine Staubwolke tanzte im Lichtstrahl, der durch eines der winzigen Fenster in ihr neues Schlafzimmer fiel. „Beschwert euch nicht bei mir! War schließlich nicht meine Idee.“

Casper, der gerade dabei war, seine Straßenklamotten gegen die Drachenballuniform zu tauschen, war mit seinem Kopf im Leinenhemd stecken geblieben. Henry setzte sich auf und griff nach einem der Hemdärmel, die sich verdreht hatten, um ihm zu helfen.

Casper zuckte erschrocken zurück und purzelte dabei von seinem Bett. Als er sich aufrappelte, hatte er es immerhin mit dem Kopf durch die Hemdöffnung geschafft. „Das kriege ich schon allein hin!“, fuhr er Henry wütend an und versteckte dabei seinen Arm hinter dem Rücken.

Henry stutzte und wollte Casper auf seinen Arm ansprechen, doch Timothy lenkte ihn ab.

„Sollte Casper es nicht mal schaffen, sich allein anzuziehen, frage ich mich, wie er dieses Jahr die Prüfungen bestehen soll. Hab gehört, dass das vierte Jahr das härteste sein soll“, witzelte Timothy.

Edward stand am Kamin und versuchte, einige Torfstücke zu entzünden. Er tat sich damit wesentlich schwerer, als einer ihrer Drachen es getan hätte. Doch schließlich begann der Torf erst zu rauchen, und dann endlich züngelten die ersten Flammen. Zufrieden wärmte Edward seine klammen Hände über dem Feuer. „Ich habe mit einer Reiterin aus dem sechsten Jahrgang gesprochen. Sie hat mir gesagt, dass die goldene Kompanie unter der Führung von Master Rudge weiterhin die goldene Grenze beschützen soll.“

Timothy seufzte erleichtert auf. „Deshalb ist der alte Schleifer noch hier. Ich hatte schon befürchtet, dass er weiterhin Master Duncan vertreten wird.“

Edward ließ sich in einen der Sessel neben dem Feuer fallen und suchte Henrys Blick. „Stewart Todd senior ist wohl auch noch hier. Es geht das Gerücht um, dass er so lange bleiben will, bis Lady Blackstone endgültig besiegt ist.“

„100% negativ“, stöhnte Arthur. Seitdem er Henry beim Tribunal gegen Stewart Todds Anklage vertreten hatte, konnte Arthur den Vorsitzenden des Rats nicht leiden.

„Es gibt wohl leider auch noch einige Stimmen, die nicht gerade glücklich darüber sind, dass du wieder zurückgekehrt bist, Henry“, fuhr Edward fort.