Die geheime Drachenschule - Der Drache mit den silbernen Hörnern - Emily Skye - E-Book
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Die geheime Drachenschule - Der Drache mit den silbernen Hörnern E-Book

Emily Skye

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Beschreibung

Henry ist überglücklich. Nach den Startschwierigkeiten auf Sieben Feuer hat er endlich seinen eigenen Drachen gefunden und ein magisches Band zu ihm geknüpft. Auch wenn die Ausbildung zum Drachenreiter kein Zuckerschlecken ist, sind er und Phönix ein eingespieltes Team. Doch plötzlich hört Henry noch eine andere Stimme in seinem Kopf: Ein fremder Drache bittet ihn um Hilfe. Er ist in einem Verlies eingesperrt, aus dem er ohne ihn nicht entkommen kann. Was hat es damit auf sich? Und können Henry und seine Freunde den Drachen befreien?

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Seitenzahl: 213

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

1

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6

7

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9

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Alle Clans auf einen Blick

Werde auch du zum Drachenreiter!

Wie gut kennst du dich in Drachengeschichte aus?

Welcher Clan passt am besten zu dir?

Auswertung

Eine Runde Drachenball

Zeit für die richtige Ausrüstung

Auf geheimer Mission

Herzlichen Glückwunsch!

Emily Skye

Die geheimeDrachenschule

Der Drache mit den silbernen Hörnern

Mit Illustrationen von Pascal Nöldner

BAUMHAUS

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

BAUMHAUS Verlag in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Pascal Nöldner

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0134-1

www.luebbe.de/baumhaus

www.luebbe.de

www.lesejury.de

„Dann wird es von nun an keine Blattfinger mehr geben?“

Die Kälte der sternenklaren Nacht ließ den Atem des Reiters gefrieren. Er sah seinen Drachen fragend an.

Der Drache hielt sein mächtiges Haupt leicht schräg, während er antwortete. Er musste sich noch daran gewöhnen, dass sein linkes Horn fehlte. Er hatte es im Kampf gegen den siebten Clan geopfert.

Ihre Herzen waren vergiftet. Es gab keine andere Möglichkeit, sagte er.

Der Reiter nickte. Er wusste es selbst.

Die Insel Sieben Feuer zeigte sich an diesem Morgen weder von ihrer guten noch von ihrer schlechten Seite. Wie so oft zeigte sie sich gar nicht. Stattdessen lag sie versteckt hinter dichten Nebelschleiern, die die schroffe Landschaft in Watte packten. Henry stand an einem der schmalen Fenster im Turmzimmer der Wolkenburg und blickte verschlafen in das graue Nichts. Ein kalter Wind wehte ihm um die Nase.

Auch schon wach?, ertönte eine Stimme in seinem Kopf, und Henry zuckte zusammen. So ganz hatte er sich noch nicht daran gewöhnt, dass sein Drache Phönix sich immer wieder in seine Gedanken schlich.

Lust auf einen Morgenritt? Wir könnten raus aufs Meer fliegen und der Sonne beim Aufgehen zusehen.

Henry lächelte. „Bin dabei. Treffen vor der Wolkenburg in zehn Minuten?“

Prima!, jubelte Phönix und verstummte. Was genau sind zehn Minuten?, fragte er nach einer Weile.

„Egal, komm einfach rübergeflogen. Wir treffen uns gleich vor der Burg.“

Jetzt sag schon. Was sind diese Minuten?, drängelte Phönix.

Henry stöhnte. Sein Drache war erst vor Kurzem geschlüpft. Er wusste also noch fast gar nichts, war aber auf alles neugierig. Henry blieb also nichts anderes übrig, als ihm den lieben langen Tag die Welt zu erklären. Während er sich sein Wams über den Kopf zog, schickte er Phönix in Gedanken das Bild einer Uhr.

„Wenn der größte der drei Zeiger sich einmal im Kreis gedreht hat, ist eine Minute vergangen. Wenn der zweitgrößte sich einmal im Kreis gedreht hat, ist eine Stunde vergangen. Und wenn der kleinste sich zweimal im Kreis gedreht hat, ist ein Tag vorbei.“

Phönix blieb einen Moment lang still. Ihr Menschen teilt die Zeit in Kreise ein?, fragte er ungläubig.

„Hm … irgendwie schon“, antwortete Henry und zog sich seinen Kilt über die Lederhose.

Ihr seid schon seltsam, befand Phönix.

„Komm einfach vor die Burg und warte dort auf mich“, befahl Henry.

Okay, das sollte ich in zehn schnellen Kreisen schaffen, sagte Phönix eifrig und verschwand aus Henrys Kopf.

Als Henry sich gerade seine schweren Stiefel anzog, schob sich der Vorhang vor Arthurs Bett zur Seite. Zum Vorschein kam ein zerknittertes rundes Gesicht, aus dem ihn zwei kleine Maulwurfsaugen anblinzelten. Henrys Freund Arthur tastete nach seiner Brille. „Rein statistisch gesehen, braucht der Mensch in unserem Alter mindestens acht Stunden Schlaf, besser neun“, stöhnte Arthur vorwurfsvoll und gähnte.

Henry hob die Schultern. „Rein statistisch gesehen, dürfte es auch keine Drachen geben.“

„Das sagst du doch nur so. Hast du es jemals nachgerechnet?“, fragte Arthur müde.

„Rein statistisch gesehen, bekommt ihr beide gleich eins auf die Nase, wenn ihr nicht aufhört zu quatschen“, kam es giftig vom Vorhang, hinter dem sich Timothys Bett befand.

Henry grinste. Er stand auf und schlich, so leise es seine schweren Stiefel erlaubten, zum Kamin in der Mitte des Turmzimmers. Über Nacht waren die Torfstücke fast völlig verbrannt, und nur noch eine kleine Glut glühte unter einer dicken Aschehaut. Kein Wunder, dass sie alle rochen wie geräucherte Schinken. Aber so hatten sie es nachts wenigstens warm. Und trotz allem liebte Henry den Geruch von brennendem Torf. Er erinnerte ihn immer daran, was für ein großartiges Abenteuer er gerade erlebte. Denn er war dabei, ein echter Drachenreiter zu werden!

Es war noch gar nicht so lange her, dass man ihn auserwählt hatte, die geheimnisvolle Schule von Sieben Feuer zu besuchen. Ein Ort, von dem alle Kinder in England träumten. Dabei wusste kaum jemand, wo diese Schule überhaupt lag. Geschweige denn, was sie so besonders machte.

Henry wusste es genau. Wer auf der Wolkenburg zur Schule ging, wurde zum Drachenreiter ausgebildet. Denn hier, auf einer abgelegenen Insel, vergessen vom Rest der Welt, lebten sie – die letzten Drachen! Kluge, magische Wesen, die sich alle sieben Jahre einen neuen Schüler aussuchten, der zu ihrem Begleiter wurde. Vorausgesetzt, dem Schüler gelang es, das magische Band zu seinem Drachen zu knüpfen.

Henry seufzte. Leider hatte er ein besonders altes, griesgrämiges Exemplar erwischt. Happy (der ihm für diesen Namen noch immer am liebsten den Hosenboden verbrennen würde) hatte es ihm nicht gerade leicht gemacht, das Band zu ihm zu knüpfen. Es hatte Henry einige wilde Drachenflüge und unzählige blaue Flecken gekostet. Und nur mithilfe seiner Freunde Lucy, Arthur und all den anderen hatte er schließlich herausgefunden, warum der Drache ihn so abweisend behandelte: Happy hatte Henry nicht seinetwegen nach Sieben Feuer gerufen, sondern damit er das Band zu Phönix knüpfte, einem jungen Drachen, der damals noch in seinem Ei schlummerte und darauf wartete zu schlüpfen …

Henry lächelte, als er an Phönix dachte. Dann griff er sich ein Stück Torf aus dem Korb, der neben dem Kamin stand, legte es auf den Aschehaufen und blies so lange in die Glut, bis kleine Flammen züngelten. Die anderen würden ihm dankbar sein, wenn sie aufstanden und es noch warm war.

Ausgestattet mit einer Thermoskanne Tee und einer Packung Kekse, die er sich in der Küche stibitzt hatte, ging Henry wenig später durch das eiserne Tor der Wolkenburg.

Auf dem Vorplatz lag Phönix und schnappte träge nach einem Spatz, der über seinen Rücken hüpfte. Empört zwitschernd flog der Vogel davon.

Da bist du ja endlich!, beschwerte sich der Drache.

„Ich hab doch gesagt, dass ich zehn Minuten brauche.“

Ihr mit euren Zeitkreisen, murrte Phönix. Da soll mal einer schlau draus werden. Komm, spring auf! Der einzige Kreis, der darüber bestimmen darf, wann Tag und wann Nacht ist, steigt gleich aus dem Meer auf und nennt sich Sonne.

„Auch wieder wahr“, sagte Henry und kletterte auf Phönix’ Rücken.

Seitdem der Drache geschlüpft war, waren seine orangen Schuppen nachgedunkelt und leuchteten jetzt so rot wie die Blätter der Laubbäume im Herbst. Zudem war er ein ganzes Stück gewachsen und schon fast so groß wie die Vierhörner, die Henrys Klassenkameraden Timothy und Edward ritten.

Der junge Grind wurde seinem alten Artgenossen, dem grimmigen Happy, immer ähnlicher.

Henry machte es sich hinter der dreizehnten Schuppe in Phönix’ Rückenkamm bequem, und während sich der junge Drache in die Luft erhob, knabberte Henry einen seiner Kekse und goss sich etwas Tee in den Deckel seiner Thermoskanne – und das, ohne auch nur einen einzigen Tropfen zu verschütten. Was das Fliegen anging, waren sie vom ersten Tag an ein perfektes Team.

So sausten die beiden Richtung Meer.

Was ist eigentlich eine Thermoskanne?, fragte Phönix in die Stille hinein.

Nicht schon wieder!, dachte Henry, versuchte aber seine Ungeduld im hintersten Winkel seines Herzens zu verstecken. Schließlich wollte er seinen Drachen nicht verletzen.

Thermos! Klingt wie ein Drachenname oder wie der Name eines Gottes. Hat die Kanne etwa mal einem Gott gehört?, fragte Phönix aufgeregt.

Henry musste grinsen. „Ja, dem Titanen Henry.“

Er schraubte den Deckel wieder zu und verstaute die Kanne unter seinem Wams. Gerade noch rechtzeitig, denn sonst wäre sie ihm schon im nächsten Moment aus der Hand gefallen und zusammen mit den Keksen ins Meer gestürzt.

Ein Sirren erfüllte die Luft, und dann ging alles ganz schnell. Phönix drehte sich auf die Seite und tauchte ab. Reflexartig presste Henry seine Oberschenkel fester an den Körper des Drachen und krallte sich in die Rückenschuppe vor ihm.

„Hey, was soll …“ Weiter kam er nicht.

Gut festhalten!, befahl Phönix und jagte durch den bleigrauen Himmel irgendetwas hinterher, das längst von den Wolken vor ihnen verschluckt worden war. Doch der junge Grind konnte sich auf seine Instinkte verlassen. Einen Wimpernschlag später riss er sein Maul auf und schnappte nach dem Etwas, das das sirrende Geräusch verursacht hatte. Ein hässliches Knacken ertönte, und das Sirren erstarb.

„Was zur Hölle war das denn?“, entfuhr es Henry.

Keine Ahnung, aber es hat uns angegriffen.

„Ist … ist es tot?“, fragte Henry.

Na ja, es sirrt zumindest nicht mehr, und wenn ich mich nicht täusche, besteht es jetzt aus mindestens drei Teilen, erwiderte Phönix kauend und mit vollen Backen.

Henry wurde flau im Magen. „Lass uns auf dem Haupt des Riesen landen und es uns genauer ansehen.“

Das Haupt des Riesen war der höchste Punkt von Sieben Feuer. Eine Steilklippe, an der die Drachen ihre Höhlen hatten.

Ich könnte es auch einfach runterschlucken, und wir tun so, als ob nichts gewesen wäre, schlug Phönix vor.

Henry schüttelte den Kopf. „Wenn ich hier eins gelernt habe, dann, dass man sich seinen Geheimnissen stellen muss“, seufzte er.

Wie du willst, sagte Phönix und steuerte auf die Steilklippe zu.

Sie landeten, und während Henry vom Rücken seines Drachen stieg, spuckte Phönix ein vollgesabbertes Etwas aus.

Henry traute sich gar nicht hinzusehen. Vorsichtig spähte er über den Vorderlauf seines Freundes und erblickte …

„Ein Holzfrisbee?“, fragte er ratlos.

Was ist ein Frisbee?, wollte Phönix wissen, der dabei war, das dreiteilige Puzzle mit seiner Schnauze zusammenzuschieben.

Bevor Henry antworten konnte, landeten links und rechts von ihnen zwei schwarze Drachen. Kaukasische Vierhörner. Einer mit vier goldenen, der andere mit vier blutroten Hörnern. Von den Rücken der Drachen stiegen zwei Schüler aus einem der Jahrgänge über ihm. Henry hatte sie schon mal im Speisesaal gesehen, doch er bezweifelte, dass die beiden sich an ihn erinnerten oder ihn überhaupt wahrgenommen hatten. Schließlich war er auf Sieben Feuer so was wie ein Erstklässler.

Doch er irrte sich.

„Sieh einer an: Henry McGregor! Der Junge mit dem Babygrind“, sagte der eine, während er sich die dunklen Haare mit einer arroganten Handbewegung aus der Stirn strich und Henry abschätzig musterte.

Am Muster des Kilts erkannte Henry, dass es sich bei ihm um ein Mitglied des Murray Clans handelte. Derselbe Clan, dem auch Timothy angehörte.

„Hi, ich bin Marc, und das ist Dex“, stellte sich der zweite Reiter vor, ein großer breitschultriger Junge mit einem freundlichen Gesicht. „Du hast nicht zufällig unseren Scorer gesehen?“

Phönix konnte nicht verstehen, was der Junge zu Henry gesagt hatte, aber er spürte, dass sein Reiter nervös wurde. Er hörte damit auf, die zerbrochene Frisbeescheibe zusammenzuschieben, und hob den Kopf. Was wollen sie?, fragte er Henry.

„Schh“, antwortete Henry. Ihm fiel es schwer, gleichzeitig auf die Gedanken zu antworten, die sein Drache ihm sandte, und mit den Jungen zu reden, die vor ihm standen.

„Oh Mann, das gibt’s doch nicht“, stöhnte Dex auf, als er die zerbrochene Scheibe zwischen Phönix’ Vorderklauen entdeckte. „Mistress Dora wird uns umbringen!“

Henry kannte die Lehrerin, die an der Schule traditionelle Holz- und Schmiedearbeiten unterrichtete, nur zu gut. Und ja, Mistress Dora konnte ziemlich aufbrausend sein.

„Ich fürchte, das da war euer Scorer, oder?“, fragte Henry kleinlaut.

„Richtig, Blitzbirne!“, schnauzte Dex ihn an. „Es wird mindestens ’ne Woche dauern, bis wir einen neuen gebaut haben.“

Er bückte sich nach einem der Bruchstücke und schleuderte es wütend über die Steilklippe ins Meer.

„Wie dämlich ist dein Drache, einfach einen Scorer zu zerbeißen?“, fluchte Dex.

Henry tat zwar leid, was passiert war, aber niemand nannte seinen Drachen dämlich. Er straffte die Schultern. Und auch Phönix, der die Wut seines Reiters spürte, stellte sich auf seine Hinterläufe.

Marc legte Henry eine Hand auf die Schulter und wandte sich an Dex.

„Ruhig Blut, Leute. Das ist doch ein viel zu schöner Morgen, um sich zu streiten.“

Er deutete zum Horizont, wo gerade die Sonne aufging und Wolken und Nebel beiseiteschob.

„Woher soll der Babygrind denn wissen, was ein Scorer ist oder wie man Drachenball spielt?“, sagte er, um Dex zu beruhigen. „Ich bin mir sicher, dass Mistress Dora noch irgendwo einen Ersatzscorer für uns hat. Und heute Nachmittag mache ich mich gleich an einen neuen.“

Dex murrte etwas Unverständliches, wandte sich aber ab und ging zu seinem Drachen zurück.

Marc zwinkerte Henry zu.

„Ich … ich kann dir beim Bauen von dem Ding helfen“, stammelte Henry, doch Marc winkte ab und ging zurück zu seinem Drachen, der bereits den Kopf gesenkt hatte, um seinen Reiter aufsteigen zu lassen.

„Was genau ist Drachenball?“, fragte Henry schnell, bevor sich Marc auf den Rücken seines kaukasischen Vierhorns schwingen konnte.

Marc hielt inne. „Du weißt nicht, was Drachenball ist?“ Sein Gesicht hellte sich auf. „Die beste Sportart der Welt?“

Für Henry gab es zwar keine bessere Sportart als Fußball, aber er war trotzdem neugierig geworden und hob fragend die Schultern.

„Komm schon, Marc“, rief Dex ungeduldig. „Wir können uns wenigstens noch ein paar Defender zuschießen.“

Marc ignorierte ihn. „Die Grundregeln des Drachenballs sind eigentlich ganz einfach“, fing er aufgeregt an zu erklären. „Mit dem Scorer musst du wie beim Rugby oder Fußball Punkte erzielen, indem du ihn ins gegnerische Tor wirfst. Beim Drachenball ist das Tor ein riesiger Baumstamm, gegen den man den Scorer wirft, sodass er im Stamm stecken bleibt.“

„Und man wirft den Scorer wie ein Frisbee?“, fragte Henry.

Marc nickte. „Und dann gibt es noch diese Dinger hier. Die Defender.“

Aus einer kleinen Tasche, die er vor seinem Kilt trug, fischte er einen mandarinengroßen Holzball. Dann zog er eine Schleuder aus seinem Gürtel, straffte das Gummiband und schoss den Defender aufs Meer hinaus.

Im nächsten Augenblick breitete Dex’ Vierhorn seine Schwingen aus und katapultierte sich in die Luft. Mit einem lauthals schimpfenden Reiter auf seinem Rücken jagte er dem Ball hinterher.

Marc sah den beiden lachend nach. „Nimm’s Dex nicht übel. Er ist ein ziemlicher Morgenmuffel.“

Henry grinste schief und dachte an Timothy. „Kein Problem, so einen kenne ich auch.“

Marc hielt ihm die Schleuder hin und kramte einen weiteren Defender aus seiner Tasche.

„Hier, willst du auch mal?“

„Ja klar!“ Henry nahm die Schleuder.

Marc deutete auf einen Findling, der zwanzig Meter von ihnen entfernt aus der Heide ragte. „Versuch mal, den da zu treffen. Du musst …“

Doch noch während er Henry erklären wollte, wie man mit der Schleuder zielte, feuerte Henry den Defender ab.

Mit einem lauten Tock traf der Ball den Findling genau in der Mitte.

Marcs Augenbrauen wanderten anerkennend in die Höhe. „Nicht schlecht. Wenn das kein Anfängerglück war, scheinst du echt Talent zu haben.“

Phönix, der vor Neugier fast platzte, drängte sich wieder in Henrys Gedanken. Der Reiter ist netter als der andere, oder? Kann ich mitspielen?

„Du kannst den Holzball holen. Aber zerbeiß ihn nicht wieder“, forderte Henry ihn auf, und Phönix sauste davon.

„Und? Schaffst du das noch mal?“, fragte Marc, als Phönix mit dem Ball zurückkam.

Henry legte ihn in die Schleuder. Zielen und schießen kannte er vom Fußball. Darin machte ihm niemand etwas vor.

„Wie wäre es mit dem Findling dahinten?“ Henry deutete mit dem Kinn auf einen Felsen, der viel weiter entfernt stand und um einiges kleiner war als der, den er eben abgeschossen hatte.

Marc schüttelte lächelnd den Kopf. „Niemals. Du bist ja genauso ein größenwahnsinniger Angeber wie Dex.“

Henry spannte das Gummiband, zielte und traf den Findling exakt in der Mitte.

Marc schlug sich mit der Faust in die Hand und staunte. „Das hätte Robin Hood auch nicht besser hinbekommen!“

Henry lächelte stolz.

„Wenn das nicht auch wieder ein Glückstreffer war, bekommen wir mit eurem Jahrgang vielleicht endlich mal einen ernst zu nehmenden Herausforderer“, sagte Marc.

Er ließ sich von Phönix den Defender bringen und stieg dann auf sein Vierhorn.

„Hat mich gefreut, Henry. Du solltest dein eigenes Team gründen. Je mehr Gegner wir bekommen, desto besser.“ Er nickte ihm zu und hob mit seinem Drachen ab.

Lucy blies sich eine Locke aus dem Gesicht und blinzelte Henry kopfschüttelnd zu. Er war mal wieder zu spät und stolperte völlig außer Atem die steinerne Treppe hinunter, die in die Bibliothek unter der Wolkenburg führte.

Master Nicolas, ihr Lehrer in Drachenkunde, unterbrach sich und sah ihn vorwurfsvoll an.

„Entschuldigung, ich bin zu spät“, japste Henry.

Master Nicolas nickte. „Eine bedeutende Wahrheit mit großer Gelassenheit ausgesprochen, Henry. Vielleicht sollten wir den Wahlspruch deines Clans ändern: von Wir geben niemals auf in Wir kommen niemals pünktlich.“

Henry schoss das Blut in die Ohren. Und während seine Mitschüler kicherten, nahm er kleinlaut zwischen Lucy und Arthur an dem großen Holztisch in der Mitte des Raumes Platz.

„Wo bist du gewesen?“, flüsterte Lucy.

„Ich war mit Phönix unterwegs. Wir haben zwei ältere Schüler getroffen. Die haben noch vor dem Unterricht Drachenball geübt“, murmelte Henry zurück.

„Drachen… was?“, fragte Lucy.

Master Nicolas hielt erneut inne. Seine buschigen grauen Augenbrauen sahen normalerweise aus wie zwei Gutwetterwölkchen. Doch jetzt formte sich auf seiner Stirn eine tiefe Zornesfalte, und die Wölkchen schossen wie bei einem Gewitter aufeinander zu. Gleich würde es ein Donnerwetter geben.

„Henry! Verrätst du mir, warum du zu spät zu meinem Unterricht kommst, ihn störst und zudem auch noch Lucy ablenkst? Was genau ist so viel interessanter?“

Normalerweise war der gutmütige Master nicht so leicht aus der Fassung zu bringen.

„Dra… Drachenball“, stotterte Henry. Auf die Schnelle war ihm nichts Besseres eingefallen als die Wahrheit.

Edward, Timothy und selbst Chloé starrten ihn neugierig an. „Drachenball?“

„Drachenball … Was finden nur alle an diesem Sport?“, stöhnte Master Nicolas kopfschüttelnd.

Arthur holte tief Luft, plusterte sich auf und reckte den Zeigefinger in die Luft.

Master Nicolas gab seufzend nach. „Bitte, Arthur. Erklär es den anderen.“

„Danke, Master Nicolas.“ Arthur nahm die Brille von seiner Nase, hauchte in die Gläser, und während er sie mit dem Zipfel seines Hemdes polierte, begann er zu dozieren.

„Drachenball ist ein Spiel, das bereits vor Jahrhunderten erfunden wurde. Es gilt als Vorläufer des Rugbys und des Polos. In jeder Mannschaft spielen jeweils drei Reiter auf ihren Drachen. Die Spielzeit beträgt eine Stunde. Ziel ist es, den Spielball – eine Art Frisbeescheibe, die Scorer genannt wird – gegen den Baumstamm der Gegner zu werfen, ein zehn Meter hoher Stamm, der in den jeweiligen Clanfarben der Mannschaft bemalt ist. Der Scorer darf nur von den Reitern geworfen, gefangen oder abgewehrt werden. Berührt ein Drache die Scheibe, gilt das als Foul, und die gegnerische Mannschaft erhält den Scorer zurück. Darüber hinaus hat jeder Spieler fünf Defender. Kleine Holzbälle, die mit einer Schleuder auf den Scorer abgefeuert werden können, um seine Flugbahn zu verändern, oder aber auf gegnerische Spieler, um sie am Fangen oder Werfen des Scorers zu hindern. Die kleinen Holzbälle dürfen auch von den Drachen abgefangen und sogar verbrannt werden.“

Arthur holte Luft und setzte sich seine Brille wieder auf die Nase. Seine dadurch wesentlich größer wirkenden Augen blickten warnend in die Runde.

„Drachenball ist ein ziemlich gefährliches Spiel. Es kommt nicht selten zu Verletzungen oder Zusammenstößen der Drachen, ähnlich wie beim Rugby. Es heißt sogar, früher hätten sich die Reiter damit auf bevorstehende Schlachten vorbereitet“, beendete Arthur seinen kleinen Vortrag.

„Noch Fragen?“, wollte Master Nicolas wissen. „Oder können wir jetzt zum eigentlichen Thema unserer Stunde zurückkehren?“

„Und es wird immer noch gespielt?“, fragte Timothy hoff-nungsvoll. Er war nicht der Einzige, der neugierig geworden war.

„Schluss jetzt!“, rief Master Nicolas. „Ich übernehme wieder. Wenn ihr mehr über Drachenball erfahren wollt, fragt Master Duncan. Unser Thema ist heute das dunkle Zeitalter.“

Doch während der Lehrer seinen Monolog über längst gewonnene und verlorene Schlachten fortsetzte, drifteten Henrys Gedanken immer wieder ab. Vielleicht hatte Marc ja recht, und er könnte sein eigenes Drachenballteam gründen …

„Einhundert Prozent negativ!“, sagte Arthur, als er nach dem Mittagessen gemeinsam mit Henry und Lucy in den Innenhof der Wolkenburg schlenderte.

„Ja, das waren früher wirklich finstere Zeiten“, pflichtete Lucy ihm bei. „Ich verstehe einfach nicht, wieso die Menschen die Drachen damals so sehr gehasst haben.“

Arthur nickte. „Wenn es das Bündnis der Sieben Feuer nicht gegeben hätte, wären sie wahrscheinlich ausgerottet worden.“ Er kratzte sich an der Nase. „Ist euch auch aufgefallen, dass Master Nicolas nie ein Wort über den siebten Clan verliert? Irgendetwas muss geschehen sein, über das heute niemand mehr sprechen möchte.“

„Was denkst du, Henry?“, wollte Lucy wissen.

„Hä?“, machte Henry und starrte sie mit großen Augen an.

„Erde an Henry! Hast du auch eine Meinung?“

Henry nickte. „Ja, wir sollten Master Duncan fragen.“

Arthur und Lucy sahen ihn verständnislos an.

„Wir fragen ihn, ob wir noch heute ein Drachenballteam gründen können.“

Lucy boxte ihm auf den Oberarm.

„Hey, was soll das?“ Henry rieb sich die Schulter. Er war immer wieder aufs Neue erstaunt, wie viel Kraft in seiner zierlichen Freundin steckte.

Arthur schüttelte fassungslos den Kopf. „Du hast wirklich nicht ein Wort von dem mitbekommen, worüber wir gerade geredet haben, oder?“

Henry lächelte die beiden entschuldigend an. „Würdet ihr mich zum Kapitän unseres Drachenballteams wählen? Ich meine, immerhin war ich an meiner alten Schule Kapitän der Fußballmannschaft. Und Torschützenkönig“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu.

„Hoffnungsloser Fall“, stöhnte Lucy.

„Definitiv“, murmelte Arthur.

Sie erreichten den Innenhof. Master Duncan lehnte an der Burgmauer und hatte sein Gesicht der Sonne zugewandt. Als er seine Drachenreiter kommen hörte, rückte er die Augenklappe wieder über die Stelle, wo eigentlich sein rechtes Auge sein sollte. Die Sonnenstrahlen fühlten sich gut an auf der vernarbten Haut. Und sie schien selten genug auf Sieben Feuer.

Er stieß sich von der Mauer ab und kletterte auf den Bock des Planwagens.

„Da seid ihr ja endlich!“, brummte er. „Hätte gedacht, dass ihr bei so einem Wetterchen jede Sekunde auf den Rücken eurer Drachen verbringen wollt.“

„Das stimmt, aber der Mensch muss auch essen“, belehrte Arthur ihn und hievte sich ächzend auf die Ladefläche des Wagens.

„Und es gibt Menschen, die sollten mal ein bisschen weniger essen“, stichelte Timothy und handelte sich dafür böse Blicke von Edward und Chloé ein. Doch für einen Witz, egal wie gut oder schlecht er auch sein mochte, hätte Timothy seinen Drachen verkauft.

Als schließlich auch Lucy und Henry auf einer der Holzbänke Platz genommen hatten, schnalzte Master Duncan mit der Zunge, und die Pferde trabten schnaubend los. Der Wagen rumpelte vom Innenhof der Wolkenburg Richtung Drachenacker.

„Master Duncan?“, fragte Henry, als sie den schmalen Weg entlangholperten, der sich durch die sanften Hügel der Insel schlängelte.

„Was gibt’s, Henry?“

„Ich wollte mal fragen … Also, heute Morgen bin ich ’ne Runde mit Phönix geflogen und habe zwei ältere Schüler getroffen“, stammelte Henry. „Die haben trainiert. Drachenball. Und ich habe mich gefragt …“

Master Duncan drehte sich zu Henry um und sah ihn vorwurfsvoll aus seinem linken Auge an.

„Hab schon davon gehört. Und ein gewisser junger Grind hat den Scorer zerbissen.“

„Ja, stimmt. Das tut ihm auch leid“, stotterte Henry. „Eigentlich wollte ich aber wissen …“

Master Duncan unterbrach ihn erneut.

„Ganz hinten im Wagen steht eine große Kiste. Schaut mal rein.“

Mit einem Lächeln drehte er sich wieder nach vorne um und schwang die Zügel.

Chloé, die der Holzkiste am Nächsten saß, öffnete den gewölbten Deckel. Neugierig beugten sich alle über den Inhalt.

„Reich die Sachen mal rum“, beschwerte sich Timothy, der am weitesten weg saß und nichts sehen konnte.

Eine gepolsterte Lederkappe kreiste durch ihre Hände. Lucy versuchte sie aufzusetzen und ihre dunkle Lockenmähne darunter zu bändigen. Schließlich hatte sie es geschafft und den Riemen der Kappe unter ihrem Kinn festgeschnallt. An Schläfen und Stirn war die Kappe mit Metallbeschlägen verstärkt. Und auch über der Nase lag ein metallener Steg. Der Bereich der Ohren und des Nackens war gepolstert. Das Leder war alt und brüchig, an einigen Stellen waren die Nähte aufgeplatzt, und Schafwolle quoll aus dem Leder hervor.

Die anderen fingen an zu lachen, als sie Lucy erblickten.

„Du siehst aus wie eine glatzköpfige Oma mit Beulen!“, rief Timothy.

„Mich würden keine zehn Drachen dazu bekommen, so ein Ding aufzusetzen“, prustete Henry.

Lucy warf ihm einen giftigen Blick zu. „Wer nichts im Kopf hat, braucht ihn auch nicht zu schützen“, schoss sie zurück und zog sich die Kappe wieder vom Kopf.

Chloé reichte ihnen lederne Arm- und Beinschienen so-wie eine kleine hölzerne Schleuder, die besonders Edward, Timothy und Henry interessierte. Sie ähnelte der Schleuder, mit der Henry am Morgen hatte schießen dürfen. Er tippte Master Duncan auf die Schulter.

„Heißt das, dass wir auch ein Drachenballteam gründen werden?“, fragte er hoffnungsvoll.

Master Duncan wog den Kopf hin und her. Seine langen grauen Haare wehten im Wind. „Hängt davon ab, ob ihr Talent habt und zäh genug seid. Drachenball ist gefährlich. Dagegen ist Rugby so harmlos wie ein Sonntagsspaziergang.“