Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die mächtige Zauberin - Michael Scott - E-Book
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Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die mächtige Zauberin E-Book

Michael Scott

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Beschreibung

Die Uhr läuft ab: Nicholas Flamel in der Stadt seiner Feinde!

Mit Müh und Not konnten Nicholas Flamel und die Zwillinge Josh und Sophie aus Paris entkommen – bevor ihr erbitterter Widersacher Dr. John Dee die Stadt verwüstet und Notre Dame in Trümmer gelegt hat. Nun sind die Freunde in London, der Stadt ihrer Feinde. Nie waren sie den dunklen Mächten so nah, und ohne den CODEX wird Flamel schwächer und schwächer. Auch die Zwillinge dürfen ihre immer stärker werdenden magischen Kräfte nicht offenbaren. Flamels geliebte Perenelle – die mächtige Zauberin – ist noch immer weit entfernt. Und so muss Flamel allein einen Weg finden, die Zwillinge in der dritten magischen Kraft auszubilden: in der Wassermagie. Aber der Einzige, der sie darin schulen kann, ist völlig unberechenbar: Es ist Gilgamesch, der uralte König, zerrissen vom Wahnsinn.

Der dritte Band der furiosen Fantasyreihe rund um die Geheimnisse des berühmtesten Alchemisten aller Zeiten.

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Seitenzahl: 571

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Michael Scott

DIE MÄCHTIGE

ZAUBERIN

Aus dem amerikanischen Englisch von Ursula Höfker

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
© 2010 für die deutschsprachige Ausgabecbj, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenAlle deutschsprachigen Rechte vorbehalten© 2009 by Michael ScottDie Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel»The Secrets of the Immortal Nicholas Flamel – The Sorceress« bei DelacortePress/Random House Children’s Books, New YorkAus dem amerikanischen Englisch von Ursula HöfkerSK · Herstellung: René FinkSatz: Uhl + Massopust, AalenE-Book-Umsetzung: GGP Media GmbH, PößneckISBN: 978-3-641-04111-3V003www.cbj-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de

Für Courtneyex animo

Ich bin müde jetzt, so müde.

Und ich werde rasch älter. Meine Gelenke sind nicht mehr so beweglich, ich kann nicht mehr gut sehen, und ich merke, dass ich genau hinhören muss, um alles zu verstehen. In den vergangenen fünf Tagen war ich immer wieder gezwungen, meine Kräfte einzusetzen, was meinen Alterungsprozess nur beschleunigt hat. Seit letzten Donnerstag bin ich um schätzungsweise zehn Jahre gealtert – wenn nicht noch mehr. Wenn ich weiterleben will, muss ich Abrahams Buch der Magie finden und kann -darf– mich meiner Kräfte nicht mehr bedienen.

Aber Dee hat den Codex, und ich weiß, dass mir nichts anderes übrig bleiben wird, als weiter auf meine schwindende Aura zurückzugreifen.

Jetzt erreichen wir London. Ich fürchte diese Stadt mehr als alle anderen, weil es Dees Stadt ist, die Stadt, in der seine Macht am größten ist. London hat Wesen des Älteren Geschlechts von überall her angezogen; hier leben mehr von ihnen als in jeder anderen Stadt auf der Welt. Erstgewesene und Ältere der nächsten Generation bewegen sich frei und unerkannt auf den Straßen und mir sind auf den britischen Inseln mindestens ein Dutzend Schattenreiche bekannt. Als Perenelle und ich das letzte Mal hier waren – es war im September 1666 –, hat der Magier die Stadt beinahe in Schutt und Asche gelegt bei dem Versuch, uns gefangen zu nehmen. Seither sind wir nicht zurückgekehrt.

Doch hier im Land der Kelten laufen ungewöhnlich viele Kraftlinien zusammen, und ich hoffe inständig, dass wir mit den neu geweckten Kräften der Zwillinge in der Lage sein werden, über diese Linien nach San Francisco zurückzukehren – zurück zu meiner Perenelle.

Und hier lebt auch König Gilgamesch, der älteste Unsterbliche dieser Welt. Sein Wissen ist unermesslich und allumfassend. Es heißt, dass er einst der Wächter des Codex war, dass er sogar denlegendären Abraham kannte, der das Buch geschaffen hat. Gilgamesch hat das Wissen um alle Zweige der Elemente-Magie, aber rätselhafterweise besaß er nie die Macht, diese Magie zu nutzen. Der König hat keine Aura. Ich habe mich oft gefragt, wie das wohl ist: sich so vieler unglaublicher Dinge bewusst zu sein, Zugang zum Wissen der Urväter zu haben … und nicht in der Lage zu sein, dieses Wissen anzuwenden.

Ich habe Sophie und Josh gesagt, dass ich Gilgamesch brauche, damit er sie in der Magie des Wassers unterweist und eine Kraftlinie für uns ausfindig macht, die uns nach Hause bringt. Was die Zwillinge nicht wissen: Es ist ein Glücksspiel, auf das ich mich aus Verzweiflung eingelassen habe. Falls der König sich weigert, sitzen wir fest – genau im Zentrum von Dees gewaltiger, dunkler Macht.

Und ich habe ihnen auch nicht gesagt, dass Gilgamesch vor allem eines ist: verrückt, vollkommen verrückt.

 

Aus dem Tagebuch von Nicholas Flamel, Alchemyst

Niedergeschrieben am heutigen Tag, Montag, den 4. Juni,

in London, der Stadt meiner Feinde

Montag,4. Juni

Kapitel Eins

Ich glaube, ich sehe sie.«

Der junge Mann in dem grünen Parka, der direkt unter der riesigen runden Uhr im Bahnhof St. Pancras stand, nahm das Handy vom Ohr und betrachtete ein verschwommenes Bild auf dem Display. Der englische Magier hatte es laut Sendedaten vor zwei Stunden geschickt: 4. Juni 11:59. Die Farben waren verwaschen und blass, die Aufnahme war körnig, und es sah aus, als sei sie von einer über Kopf angebrachten Überwachungskamera gemacht worden. Sie zeigte einen älteren Herrn mit kurzem grauen Haar in Begleitung von zwei blonden jungen Leuten, wie sie gerade einen Zug bestiegen.

Der junge Mann stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute sich nach dem Trio um, das er erspäht hatte. Einen Augenblick lang fürchtete er, er hätte die drei in der Menge verloren. Aber selbst wenn das der Fall gewesen wäre, wären sie nicht weit gekommen. Eine seiner Schwestern stand am Fuß der Treppe und eine zweite wartete auf der Straße und beobachtete den Eingang zum Bahnhof.

Wohin waren der ältere Herr und die beiden jungen Leute jetzt nur gegangen?

Der junge Mann mit der schmalen Nase blähte die Nasenflügel und schnupperte sich durch die zahllosen Gerüche im Bahnhof. Er identifizierte den Geruch zu vieler Humani und ging sofort darüber hinweg, genauso wie über die Myriaden unterschiedlicher Parfüms und Deodorants, die Gels und Cremes, den fettigen Geruch von Gebratenem aus den Bahnhofsrestaurants, das vollere Aroma von Kaffee und den scharfen, ölig-metallenen Geruch der Loks und Wagen. Die Nasenflügel unnatürlich aufgebläht, schloss er die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Die Gerüche, die er suchte, waren älter, ursprünglicher, hatten nichts mit der modernen Zivilisation zu tun …

Da!

Pfefferminze: lediglich ein Hauch.

Orange: nur eine ungefähre Ahnung.

Vanille: wenig mehr als eine Spur.

Er öffnete die hinter einer Sonnenbrille mit kleinen rechteckigen Gläsern verborgenen blauschwarzen Augen weit, schnupperte erneut und folgte dann den nur andeutungsweise vorhandenen Aromen durch den riesigen Bahnhof. Jetzt hatte er sie!

Der grauhaarige Herr von dem Bild auf seinem Handy kam in schwarzen Jeans und einer abgewetzten Lederjacke durch die Bahnhofshalle direkt auf ihn zu. In der linken Hand trug er einen kleinen Koffer. Und genau wie auf dem vor zwei Stunden aufgenommenen Foto kamen die beiden blonden jungen Leute hinter ihm her; sie waren sich ähnlich genug, um Bruder und Schwester sein zu können. Der Junge war größer als das Mädchen und sie trugen beide Rucksäcke.

Der junge Mann machte mit seiner Handykamera rasch ein Foto und schickte es an Dr. John Dee. Auch wenn er für den Magier nichts als Verachtung empfand, wäre es unklug gewesen, ihn sich zum Feind zu machen. Dee war Agent eines der gefährlichsten dunklen Wesen des Älteren Geschlechts.

Er zog sich die Kapuze seines grünen Parkas über den Kopf und wandte sich ab, als das Trio näher kam. Dann wählte er die Nummer seiner Schwester, die am Fuß der Treppe wartete. »Es ist eindeutig Flamel mit den Zwillingen«, murmelte er in sein Handy. Er sprach die uralte Sprache, aus der sich irgendwann das Gälische entwickelt hatte. »Sie gehen in deine Richtung. Wir schnappen sie uns, wenn sie rauskommen auf die Euston Road.«

Der junge Mann in dem Kapuzenparka klappte sein Handy zu und heftete sich an die Fersen des Alchemysten und der Zwillinge aus Amerika. Es war früher Nachmittag, und er bewegte sich leichtfüßig durch die Menge, anonym und ohne aufzufallen, einer von vielen jungen Leuten in Schlabberjeans, zerschrammten Turnschuhen und übergroßem Parka, Kopf und Gesicht unter der Kapuze verborgen, die Augen hinter der Sonnenbrille nicht zu erkennen.

Trotz seiner menschlichen Gestalt war der junge Mann nie auch nur im Entferntesten ein Mensch gewesen. Er und seine Schwestern waren in dieses Land gekommen, als es noch mit dem europäischen Festland verbunden war, und über Generationen hinweg waren sie als Gottheiten verehrt worden. Es widerstrebte ihm zutiefst, von Dee herumkommandiert zu werden – der schließlich nichts weiter war als ein Humani. Doch der Magier hatte dem jungen Mann erfreulichen Lohn versprochen: Nicholas Flamel, den legendären Alchemysten. Dees Anweisungen waren klar: Er und seine Schwestern konnten Flamel haben, aber die Zwillinge durften sie nicht anrühren. Die schmalen Lippen des jungen Mannes zuckten. Seine Schwestern würden sich den Jungen und das Mädchen mühelos schnappen, während ihm die Ehre zufiel, Flamel umzubringen. Bei dem Gedanken daran leckte er sich mit seiner kohlschwarzen Zunge über die Lippen. Er und seine Schwestern würden sich wochenlang daran gütlich tun. Aber die leckersten Stücke würden sie natürlich für Mutter übrig lassen.

Nicholas Flamel ging etwas langsamer, damit Sophie und Josh aufschließen konnten. Mit einem erzwungenen Lächeln zeigte er auf die neun Meter hohe Bronzestatue eines sich umarmenden Paares unter der Uhr. »Die Statue trägt den Titel The Meeting Place«, erklärte er laut und fügte dann im Flüsterton hinzu: »Wir werden verfolgt.« Immer noch lächelnd, beugte er sich zu Josh und murmelte: »Dreh dich ja nicht um!«

»Wer?«, wollte Sophie wissen.

»Was?«, fragte Josh gepresst. Ihm war übel und schwindelig. Seine frisch geschärften Sinne verkrafteten die Gerüche und Geräusche im Bahnhof kaum. Vom Nacken herauf zogen pochende Schmerzen durch seinen Kopf. Das Licht war so grell, dass er sich eine Sonnenbrille wünschte, um seine Augen zu schützen.

»›Was?‹ ist die bessere Frage«, erwiderte Flamel grimmig. Er zeigte mit dem Finger auf die Uhr, als spräche er darüber. »Was genau es ist, kann ich allerdings nicht sagen«, gab er zu. »Etwas Uraltes. Ich habe es gleich gespürt, als wir ausgestiegen sind.«

»Es gespürt?«, wiederholte Josh fragend. Er wusste kaum noch, wo oben und unten war, und es wurde immer schlimmer. So schlecht hatte er sich seit seinem Hitzschlag in der Mojave-Wüste nicht mehr gefühlt.

»Ein Kribbeln, als ob es irgendwo juckt. Meine Aura hat auf die Aura von irgendjemandem – von irgendetwas hier reagiert. Wenn ihr eure Auren ein bisschen besser unter Kontrolle habt, spürt ihr das auch.«

Sophie legte den Kopf in den Nacken, als bewundere sie die Decke mit ihrem Gitterwerk aus Stahl und Glas, und drehte sich langsam um. Es wimmelte nur so von Leuten. Die meisten schienen Einheimische zu sein – Pendler –, aber es waren auch jede Menge Touristen darunter, und viele blieben stehen, um sich vor dem Meeting Place oder mit der großen Uhr im Hintergrund fotografieren zu lassen. Niemand schien sich besonders für sie und ihre beiden Begleiter zu interessieren.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Josh. Er spürte Panik in sich aufsteigen. »Ich könnte Sophies Kräfte verstärken«, schlug er hektisch vor, »so wie ich es in Paris …«

»Auf keinen Fall«, zischte Flamel und fasste Josh mit eisernem Griff am Arm. »Von jetzt an dürft ihr eure Kräfte nur im allergrößten Notfall als letztes Mittel einsetzen. Sobald ihr eure Auren aktiviert, ruft das jeden Erstgewesenen, sämtliche Älteren der nächsten Generation und alle Unsterblichen im Umkreis von zehn Meilen auf den Plan. Und hier in England ist fast jeder Unsterbliche, dem man begegnet, mit den Dunklen Älteren verbündet. In diesem Land könnten dadurch außerdem noch andere geweckt werden, Kreaturen, die man am besten schlafen lässt.«

»Aber du hast doch gesagt, wir werden verfolgt«, protestierte Sophie. »Das heißt doch, Dee weiß bereits, dass wir hier sind.«

Flamel schob die Zwillinge nach links, weg von der Statue, und drängte sie zum Ausgang. »Ich kann mir vorstellen, dass an jedem Flughafen, in jedem Seehafen und an sämtlichen Bahnhöfen in ganz Europa Beobachtungsposten stationiert sind.

Dee hat vielleicht vermutet, dass wir nach London wollen, aber wenn einer von euch seine Aura aktiviert, weiß er es mit Sicherheit.«

»Und was macht er dann?«, fragte Josh und schaute Flamel an. In dem grellen Licht von oben waren die neuen Falten auf der Stirn und um die Augen des Alchemysten deutlich zu sehen.

Flamel zuckte mit den Schultern. »Wer weiß denn schon, wozu er in der Lage ist? Er ist verzweifelt und Verzweifelte machen schreckliche Dinge. Vergesst nicht, er war auf dem Dach von Notre Dame. Er hätte das alte Bauwerk zerstört, nur um euch aufzuhalten … Er hätte euch auch umgebracht, damit ihr Paris nicht verlasst.«

Josh schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber das ist es ja gerade, was ich nicht verstehe: Ich dachte, er wollte uns lebendig haben.«

Flamel seufzte. »Dee ist ein Totenbeschwörer. Er beherrscht eine schmutzige, grauenhafte Kunst und kann unter anderem die Aura eines Toten künstlich aktivieren und den Toten so wiederbeleben.«

Bei dem Gedanken lief es Josh eiskalt über den Rücken. »Soll das heißen, er hätte uns umgebracht, um uns dann wieder zum Leben zu erwecken?«

»Genau, als letzte Möglichkeit.« Flamel legte Josh die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. »Glaub mir, es ist ein entsetzliches Dasein, das man kaum Leben nennen kann. Und vergiss nicht: Dee hat gesehen, was ihr getan habt. Das heißt, er hat jetzt eine Ahnung von euren Kräften. Falls er noch irgendwelche Zweifel hatte, ob ihr auch wirklich die legendären Zwillinge seid, sind die jetzt ausgeräumt. Ermusseuch in seine Gewalt bekommen. Er braucht euch.« Flamel stupste Josh mit dem Finger in die Brust. Papier raschelte. Unter seinem T-Shirt trug Josh in einem Stoffbeutel, den er um den Hals hängen hatte, die beiden Seiten aus dem Codex, die er herausgerissen hatte. »Und vor allem muss er diese beiden Seiten haben.«

Sie folgten den Schildern zum Ausgang Euston Road und wurden von einem Strom von Pendlern erfasst, die in dieselbe Richtung gingen.

»Hast du nicht gesagt, es würde uns jemand abholen?«, fragte Sophie.

»Saint-Germain wollte mit einem alten Freund Kontakt aufnehmen«, murmelte Flamel. »Vielleicht hat er ihn nicht erreicht.«

Sie traten aus dem imposanten Backsteinbau des Bahnhofs auf die Euston Road und blieben überrascht stehen. Als sie Paris vor knapp zweieinhalb Stunden verlassen hatten, war der Himmel wolkenlos gewesen, und die Temperaturen hatten bereits bei ungefähr 20 Grad gelegen. Doch jetzt in London waren es gefühlte zehn Grad weniger und es regnete heftig. Der Wind, der durch die Straße fegte, war so kalt, dass die Zwillinge fröstelten. Sie machten auf dem Absatz kehrt und suchten wieder Schutz im Bahnhof.

Und in dem Augenblick sah Sophie ihn.

»Ein junger Mann in einem grünen Parka, der die Kapuze über den Kopf gezogen hat«, sagte sie unvermittelt. Sie drehte sich zu Flamel um und konzentrierte sich auf dessen helle Augen, da sie wusste, dass sie sonst unwillkürlich zu dem jungen Mann hinüberschauen würde, der ihnen mit schnellen Schritten gefolgt war. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie ihn immer noch. Er stand neben einem Pfeiler, schaute auf sein Handy und fummelte daran herum. Irgendetwas stimmte nicht an der Art, wie er da stand. Irgendetwas war unnatürlich. Und sie glaubte, ganz schwach den Geruch von verdorbenem Fleisch wahrzunehmen. Sie zog die Nase kraus, schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Geruch. »Es riecht nach etwas Verwestem, nach einem schon vor längerer Zeit überfahrenen Tier.«

Das Lächeln auf Flamels Gesicht wurde immer angestrengter. »Er trägt eine Kapuze? Ja, der ist uns vorhin schon gefolgt.« Den Zwillingen fiel das leise Zittern in seiner Stimme auf.

»Nur dass es kein junger Mann ist. Stimmt's?«, fragte Sophie.

Nicholas schüttelte den Kopf. »Nicht einmal im Entferntesten.«

Josh holte tief Luft. »Hm, sollte ich euch dann vielleicht darauf aufmerksam machen, dass ich noch zwei Leute mit grünen Parkas sehe und dass beide in unsere Richtung kommen?«

»Drei!«, flüsterte Flamel entsetzt. »Wir müssen verschwinden.« Er packte die Zwillinge an den Armen und zog sie hinaus in den strömenden Regen, wandte sich nach rechts und ging rasch mit ihnen die Straße hinunter.

Der Regen war so kalt, dass Josh fast keine Luft mehr bekam. Dicke Tropfen klatschten ihm ins Gesicht. Endlich zog Flamel die Zwillinge in eine Gasse, wo sie vor dem Regen geschützt waren. Josh blieb stehen und rang nach Luft. Er strich sich das Haar aus den Augen und sah den Alchemysten an. »Wer sind sie?«, wollte er wissen.

»Die Verhüllten«, antwortete Flamel finster. »Dee muss sehr verzweifelt sein und mächtiger, als ich dachte, wenn er ihnen Befehle erteilen kann. Sie sind die Genii Cucullati.«

»Na, super«, sagte Josh. »Jetzt weiß ich Bescheid.« Er sah seine Schwester an. »Hast du schon mal was …«, begann er, unterbrach sich aber, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Du hast schon von ihnen gehört!«

Sophie überlief es kalt, als am Rand ihres Bewusstseins plötzlich Erinnerungen auftauchten. Die Erinnerungen der Hexe von Endor. Etwas stieß ihr sauer auf und ihr Magen krampfte sich vor Ekel zusammen. Die Hexe von Endor hatte die Genii Cucullati gekannt … und sie gehasst. Sophie schaute ihren Bruder von der Seite her an. »Fleischfresser.«

Kapitel Zwei

Die Straßen waren leer. Der Regenguss hatte die meisten Leute in den Bahnhof getrieben oder in die Läden rings herum. Der Verkehr auf der Euston Road war zum Stillstand gekommen und Scheibenwischer zuckten hektisch hin und her. Es wurde gehupt und ganz in der Nähe fing die Alarmanlage eines Autos an zu heulen.

»Bleibt immer dicht hinter mir«, befahl Nicholas und schoss im Slalom durch den stehenden Verkehr über die Straße. Sophie schloss so eng wie möglich auf. Josh zögerte, bevor er vom Bürgersteig auf die Straße trat, und blickte noch einmal zum Bahnhof zurück. Die drei Gestalten standen jetzt im Eingang beieinander, Köpfe und Gesichter von den Kapuzen ihrer Parkas verhüllt. Das Wasser färbte die Parkas dunkelgrün, und Josh hätte schwören können, dass sie für einen Moment zu mittelalterlich aussehenden Umhängen wurden. Er fror, doch die Kälte rührte jetzt nicht mehr nur von dem eisigen Wolkenbruch her. Er drehte sich um und lief hinter den anderen her über die Straße.

Mit eingezogenem Kopf dirigierte Nicholas die Zwillinge zwischen den Autos hindurch. »Beeilt euch. Wenn wir genügend Abstand zu ihnen haben, überdecken die Autoabgase vielleicht unsere Gerüche, und der Regen spült sie fort.«

Sophie blickte über die Schulter zurück. Das Kapuzen-Trio war aus dem Schutz des Bahnhofs herausgetreten und kam rasch näher. »Sie verfolgen uns«, keuchte sie erschrocken.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Josh.

»Keine Ahnung«, gab Flamel offen zu. Er blickte die lange gerade Straße hinunter. »Aber wenn wir hierbleiben, sind wir tot. Zumindest ich bin es.« Er lächelte humorlos. »Ich bin sicher, Dee wird immer noch versuchen, euch beide lebend zu kriegen.« Flamel sah sich um, entdeckte ein Stück weiter links eine Gasse und machte den Zwillingen ein Zeichen, ihm zu folgen. »Hier entlang. Wir versuchen, sie abzuhängen.«

»Wenn nur Scatty hier wäre«, flüsterte Josh, der erst jetzt so richtig begriff, was sie an ihr gehabt hatten. »Sie würde locker mit den Typen fertig.«

Es war trocken in der schmalen, von hohen Mauern begrenzten Gasse. Auf einer Seite standen blaue, grüne und braune Plastikmülltonnen nebeneinander aufgereiht, während die Reste von hölzernen Paletten und überquellende schwarze Müllsäcke an der gegenüberliegenden Mauer lehnten. Es stank. Auf einem Müllsack saß eine Katze mit zerrupftem Fell und zerfetzte den Sack systematisch mit ihren Krallen. Sie sah nicht einmal auf, als Flamel und die Zwillinge vorbeiliefen. Nur einen Herzschlag später allerdings, als die drei Kapuzengestalten in die Gasse kamen, machte die Katze einen Buckel, sträubte das Fell und verschwand mit einem Satz in der Dunkelheit.

»Hast du eine Ahnung, wo wir hier rauskommen?«, fragte Josh, als sie links an einer Reihe von Türen vorbeirannten, wahrscheinlich die Hintereingänge der Geschäfte an der Hauptstraße.

»Nicht die geringste«, sagte Flamel. »Hauptsache weg von den Verhüllten, alles andere spielt keine Rolle.«

Sophie blickte sich um. »Ich sehe sie nicht. Vielleicht haben wir sie schon abgehängt.« Sie folgte Flamel um eine Ecke – und lief direkt in den Alchemysten hinein, der abrupt stehen geblieben war.

Danach bog Josh um die Ecke und konnte den beiden gerade noch ausweichen. »Weiter«, keuchte er, lief an ihnen vorbei und setzte sich an die Spitze. Dann allerdings sah er, weshalb sie stehen geblieben waren: Die Gasse endete an einer hohen roten Backsteinmauer mit Stacheldrahtrollen obendrauf.

Flamel wirbelte herum und legte den Finger auf die Lippen. »Pssst. Vielleicht sind sie an der Gasse vorbeigelaufen …« Ein kalter Regenguss klatschte auf den Boden und brachte einen ranzigen Geruch mit: den fauligen Gestank von verdorbenem Fleisch. »Vielleicht auch nicht«, fügte er hinzu, als die drei Genii Cucullati lautlos um die Ecke bogen. Flamel schob die Zwillinge hinter sich, doch sie bauten sich sofort wieder zu beiden Seiten neben ihm auf. Sophie ging instinktiv nach rechts und Josh nach links. »Zurück«, sagte Flamel.

»Nein«, sagte Josh.

»Du nimmst es nicht allein gegen die drei auf«, fügte Sophie hinzu.

Die Verhüllten wurden langsamer, verteilten sich dann so, dass den anderen der Rückweg abgeschnitten war, und blieben stehen. Sie standen unnatürlich still und ihre Gesichter waren weiterhin unter den übergroßen Kapuzen verborgen.

»Worauf warten sie?«, flüsterte Josh. Es war etwas an der Art, wie die Gestalten dastanden, etwas an ihrer Haltung: etwas, das an ein Tier erinnerte. Er hatte einmal in einem Dokumentarfilm vonNational Geographicgesehen, wie ein Alligator an einem Flussufer darauf gewartet hatte, dass Wild den Fluss überquerte. Auch das Reptil hatte vollkommen reglos ausgeharrt – bis es dann blitzartig angegriffen hatte.

Plötzlich waren in der stillen Gasse schockierend laut seltsame Geräusche zu hören: Zunächst klang es wie das Brechen von Ästen, dann wie Stoff, der reißt.

»Sie verwandeln sich«, flüsterte Sophie.

Unter den grünen Mänteln verformten sich die Körper krampfartig. Die Wirbelsäulen der Kreaturen bogen sich so stark zusammen, dass die Köpfe nach vorn gedrückt wurden. Die Arme wurden sichtbar länger, und die Hände, die jetzt aus den überlangen Ärmeln herausschauten, waren plötzlich dicht behaart. Die Finger endeten in scharfen, gebogenen schwarzen Krallen.

»Wölfe?«, fragte Josh zitternd.

»Mehr Bär als Wolf«, antwortete Nicholas leise und sah sich mit zusammengekniffenen Augen in der Gasse um. »Und mehr Bärenmarder oder Vielfraß als Bär«, fügte er hinzu.

Plötzlich lag ein schwacher Vanilleduft in der Luft. »Und keine Gefahr für uns«, verkündete Sophie. Sie straffte die Schultern, hob die rechte Hand und drückte den Daumen der linken Hand auf den goldenen Kreis, der in ihr Handgelenk eingebrannt war.

»Nein«, fauchte Nicholas und wollte nach Sophies Hand greifen. »Ich habe euch doch gesagt, dass ihr eure Kräfte in dieser Stadt nicht einsetzen dürft. Eure Auren sind zu eindeutig.«

Sophie schüttelte ungehalten den Kopf. »Ich weiß, was diese Wesen sind«, sagte sie bestimmt. Dann schlich sich ein Zittern in ihre Stimme. »Und ich weiß, was sie tun. Du kannst nicht erwarten, dass wir einfach zusehen, wie sie dich auffressen. Ich kümmere mich um sie – ich kann sie schön knusprig braten.« Ihre Unsicherheit verrauchte bei dieser Aussicht rasch und sie lächelte erwartungsvoll. Einen Augenblick lang blitzten ihre strahlend blauen Augen silbern auf. Ihre Gesichtszüge wurden hart und streng und sie sah plötzlich sehr viel älter aus als fünfzehn.

Der Alchemyst lächelte grimmig. »Dass du das könntest, steht außer Frage. Aber ich bezweifle, dass wir weiter als eine Meile kämen, bevor etwas noch viel Gefährlicheres als diese Kreaturen uns einholen würde. Du hast keine Ahnung, was auf diesen Straßen unterwegs ist, Sophie. Lass mich das hier machen. Ich bin nicht ganz hilflos.«

»Sie greifen an«, sagte Josh drängend. Die Körpersprache der Kreaturen sagte ihm, dass sie sich zum Angriff formierten. Er fragte sich flüchtig, woher er das wusste. »Wenn du etwas tun willst, musst du es jetzt tun.«

Die Genii Cucullati hatten sich aufgeteilt und jeweils einer bezog nun vor Flamel, Josh und Sophie Position. Die Kreaturen kauerten mit krummen Rücken, die Parkas spannten sich über ihren breiten Körpern, den muskelbepackten Schultern und Armen. Unter den Kapuzen glühten blauschwarze Augen. Sie redeten in einer Sprache miteinander, die aus Fiepsern und Knurrlauten zu bestehen schien.

Nicholas schob die Ärmel seiner Lederjacke zurück. Jetzt sah man das silberne Kettenarmband und die beiden ausgefransten bunten Freundschaftsbänder, die er am rechten Handgelenk trug. Er zog eines der geflochtenen Bänder ab, rollte es zwischen den Handflächen zusammen, hielt es an die Lippen und blies hinein.

Sophie und Josh sahen, wie er den kleinen Ball vor die Verhüllten auf den Boden warf. Die bunten Fäden fielen in eine schmutzige Pfütze direkt vor den größten ihrer Gegner und die Zwillinge machten sich auf eine Explosion gefasst. Auch die furchterregenden Kreaturen wichen hektisch vor der kleinen Pfütze zurück, sodass ihre Klauen auf dem Pflaster wegrutschten.

Und nichts geschah.

Das Geräusch, das das größte Wesen von sich gab, hätte ein Lachen sein können.

»Dann würde ich sagen, wir kämpfen«, sagte Josh mit fester Stimme, auch wenn das Scheitern des Alchemysten ihn total erschütterte. Er hatte miterlebt, wie Flamel Speere aus reiner Energie auf seine Gegner geschleudert hatte und aus einem Holzfußboden einen Wald emporwachsen ließ, und er hatte nun etwas ähnlich Spektakuläres erwartet. Josh warf seiner Schwester einen kurzen Blick zu und wusste, dass sie genau dasselbe dachte wie er: Flamel war gealtert und körperlich geschwächt und seine Kräfte schwanden zusehends. Josh nickte kaum merklich und sah, dass seine Schwester mit einem ebenso knappen Nicken antwortete und dann die Finger dehnte. »Nicholas, du hast gesehen, was wir mit den Wasserspeiern gemacht haben«, fuhr Josh fort, hundertprozentig überzeugt von den Kräften seiner Schwester und seinen eigenen. »Zusammen können Sophie und ich alles und jeden besiegen.«

»Der Grat zwischen Selbstbewusstsein und Hochmut ist sehr schmal, Josh«, sagte Flamel leise. »Und der Grat zwischen Hochmut und Dummheit sogar noch schmaler, Sophie«, fügte er hinzu, ohne sie anzusehen. »Wenn ihr eure Kraft einsetzt, ist das unser Todesurteil.«

Josh schüttelte den Kopf. Flamels offensichtliche Schwäche fand er unerträglich. Er entfernte sich einen Schritt von dem Alchemysten, zog seinen Rucksack ab und öffnete ihn. Auf einer Seite ragte eine dicke Pappkartonröhre heraus, wie man sie normalerweise zum Transport von Postern und aufgerollten Landkarten benutzt. Er riss den weißen Plastikdeckel der Röhre herunter, griff hinein, fischte nach dem in Luftpolsterfolie eingewickelten Gegenstand darin und zog ihn heraus.

»Nicholas …?«, begann Sophie.

»Geduld«, flüsterte Flamel. »Geduld …«

Der Größte der Verhüllten ließ sich auf alle viere fallen und machte einen Schritt auf sie zu. Seine langen Krallen klickten auf dem Pflaster. »Du bist mir versprochen worden«, sagte die Bestie in einer erstaunlich hohen, fast kindlichen Stimme.

»Dee ist sehr großzügig«, erwiderte Flamel. »Allerdings überrascht es mich, dass die Genii Cucullati sich herablassen, für einen Humani zu arbeiten.«

Die Kreatur kam klackend noch einen Schritt näher. »Dee ist kein gewöhnlicher Humani. Der unsterbliche Magier ist gefährlich, aber er steht unter dem Schutz eines Gebieters, der unendlich viel gefährlicher ist.«

»Vielleicht solltest du eher mich fürchten«, schlug Flamel mit einem dünnen Lächeln vor. »Ich bin älter als Dee, ich habe keinen Gebieter, der mich beschützt – und hatte auch noch nie einen nötig!«

Die Kreatur lachte und machte dann ohne Vorwarnung einen Satz auf Flamels Kehle zu.

Ein Steinschwert zischte durch die Luft, fuhr in die Parkakapuze und schnitt ein großes Stück des grünen Stoffs heraus. Die Kreatur jaulte, drehte sich im Sprung um und wich vor dem erneut angreifenden Schwert zurück, das jetzt vorne in den Mantel fuhr, Knöpfe abrasierte und den Reißverschluss zerschnitt.

Josh Newman stellte sich direkt vor Nicholas Flamel. Das Steinschwert, das er aus der Pappkartonröhre gezogen hatte, hielt er in beiden Händen. »Ich weiß nicht, wer du bist oder was du bist«, sagte er gepresst. Seine Stimme zitterte von der Anstrengung, die es ihn kostete, das Schwert ruhig zu halten. »Aber ich gehe davon aus, dass du weißt, was das hier ist.«

Die Bestie wich weiter zurück, die blauschwarzen Augen fest auf die graue Klinge gerichtet. Die verhüllende Kapuze war zerschnitten, die Fetzen hingen über ihre Schultern und gaben den Kopf frei. Das Gesicht glich nicht einmal im Entferntesten dem eines Menschen, war – wie Josh feststellte – jedoch überraschend schön. Er hatte ein Monster erwartet, doch der Kopf war ziemlich klein; die großen dunklen Augen lagen unter einem schmalen Augenbrauenwulst tief in den Höhlen und die Wangenknochen waren hoch und spitz. Die Nase war gerade, die Nasenflügel bebten. Der schmale gerade Mund war leicht geöffnet, sodass ungleichmäßige, gelb und schwarz gefärbte Zähne zu sehen waren.

Josh sah kurz nach rechts und links zu den anderen Kreaturen. Auch sie starrten das Steinschwert an. »Das ist Clarent«, sagte er leise. »In Paris habe ich mit dieser Waffe den Nidhogg bekämpft. Und ich habe gesehen, was sie mit euresgleichen tut.« Er machte eine kleine Bewegung mit dem Schwert und spürte, wie es bebte und der Griff warm wurde.

»Das hat Dee uns nicht erzählt«, sagte die Kreatur mit ihrer kindlichen Stimme. Sie sah über Joshs Schulter hinweg den Alchemysten an. »Stimmt das?«

»Ja«, antwortete Flamel.

»Nidhogg.« Die Kreatur spuckte den Namen fast aus. »Und was ist aus dem legendären Leichenverschlinger geworden?«

»Nidhogg ist tot«, erwiderte Flamel knapp. »Von Clarent vernichtet.« Er trat vor und legte Josh die linke Hand auf die Schulter. »Josh hat ihn umgebracht.«

»Er wurde von einem Humani getötet?«, fragte der Verhüllte ungläubig.

»Dee hat euch benutzt und betrogen. Er hat euch nicht gesagt, dass wir das Schwert haben. Was hat er euch noch alles verschwiegen? Hat er euch von dem Schicksal der Disir in Paris erzählt? Vom Schlafenden Gott?«

Die drei Kreaturen verfielen wieder in ihre eigene Sprache, fiepten und knurrten miteinander. Dann wandte sich die größte erneut Josh zu. Eine schwarze Zunge tänzelte in der Luft. »Diese Dinge haben wenig zu bedeuten. Ich sehe einen verängstigten Humani-Jungen vor mir. Ich höre, wie seine Muskeln sich anstrengen, damit er das Schwert ruhig halten kann. Ich kann seine Angst in der Luft schmecken.«

»Und trotz der Angst, die du riechen kannst, hat er dich angegriffen«, sagte Flamel leise. »Was schließt du daraus?«

Die Kreatur zuckte unbeholfen mit den Schultern. »Dass er entweder ein Dummkopf ist oder ein Held.«

»Und sowohl Dummköpfe als auch Helden waren von jeher für dich und deinesgleichen eine Gefahr«, sagte Flamel.

»Stimmt, aber es gibt keine Helden mehr auf der Welt. Die Humani glauben nicht mehr an uns. Das macht uns unsichtbar … und unverwundbar.«

Josh ächzte, als er das Schwert so drehte, dass die Spitze nach oben zeigte. »Nicht für Clarent.«

Die Kreatur neigte den Kopf und nickte dann. »Nicht für die Klinge des Feiglings, das ist richtig. Aber wir sind zu dritt und wir sind schnell, unglaublich schnell«, fügte sie mit einem Grinsen hinzu, das wieder ihre ungleichmäßigen Zähne sehen ließ. »Ich glaube, wir können es mit dir aufnehmen, Junge. Wir können dir das Schwert aus den Händen schlagen, bevor du überhaupt weißt, dass es – «

Instinkte, von denen Josh nicht einmal wusste, dass er sie besaß, warnten ihn, dass die Kreatur in dem Moment angreifen würde, in dem sie aufhörte zu reden. Dann wäre alles vorbei. Ohne nachzudenken, führte er einen geraden Hieb, den Johanna von Orléans ihm gezeigt hatte. Die Klinge summte, als die Spitze auf die Kehle seines Gegners zufuhr. Josh wusste, dass er ihn lediglich mit dem Schwert anzuritzen brauchte: Ein einziger Hieb hatte Nidhogg vernichtet.

Lachend tänzelte die Kreatur aus seiner Reichweite. »Zu langsam, Humani-Junge, zu langsam. Ich habe gesehen, wie die Haut über deinen Knöcheln sich gespannt hat, und wie sie weiß wurde, bevor du den Hieb geführt hast.«

Und in diesem Moment wusste Josh, dass sie verloren hatten. Die Genii Cucullati waren einfach zu schnell.

Doch hinter seiner linken Schulter hörte er Flamel in sich hineinlachen.

Josh fixierte die Kreatur. Er wusste, dass er sich auf keinen Fall umdrehen durfte, aber natürlich fragte er sich, weshalb der Alchemyst lachte. Er betrachtete den Verhüllten ganz genau, doch an ihm hatte sich nichts verändert … Nur dass er, als er vor Clarent zurückgewichen war, in der Dreckpfütze gelandet war.

»Hat die Angst dich verrückt gemacht, Alchemyst?«, fragte der Verhüllte.

»Du kennst doch bestimmt die Erstgewesene Iris, die Tochter von Elektra?«, erkundigte sich Flamel im Plauderton und trat um Josh herum. Sein schmales Gesicht war hart und ausdruckslos geworden, die Lippen waren nur noch eine schmale Linie, die hellen Augen wenig mehr als Schlitze.

Die blauschwarzen Augen des Verhüllten weiteten sich vor Entsetzen. Er blickte nach unten.

Das schmutzige Wasser, das sich um die Pfoten der Kreatur kräuselte, leuchtete plötzlich in allen Farben des Regenbogens, die aus den fransigen Fäden von Flamels gewebtem Armband austraten. Der Genii Cucullati versuchte, einen Satz rückwärts zu machen, doch seine beiden Vorderpfoten steckten in der Pfütze fest. »Lass mich frei, Alchemyst«, kreischte er, und in seiner kindlichen Stimme schwang das pure Entsetzen mit. Verzweifelt versuchte die Kreatur, sich zu befreien. Sie stemmte die Krallen in den Boden, doch dann berührte sie mit den Zehen einer Hinterpfote den Rand der Pfütze und brüllte erneut los. Sie zog die Pfote mit einem Ruck zurück, eine gebogene Kralle riss ab und blieb am Rand der Pfütze stecken. Die Kreatur bellte, und ihre Gefährten stürmten herbei, packten sie und versuchten, sie aus dem bunt gefärbten, wirbelnden Wasser herauszuziehen.

»Vor etlichen Jahrzehnten«, fuhr Flamel fort, »retteten Perenelle und ich Iris vor ihren Schwestern. Als Dank gab sie mir diese Armbänder. Ich habe gesehen, wie sie sie aus ihrer eigenen regenbogenfarbenen Aura gewebt hat. Sie versprach mir, dass sie eines Tages ein bisschen Farbe in mein Leben bringen würden.«

Farbige Wolkenbänder schlängelten sich am Bein des Genii Cucullati hinauf. Seine schwarzen Krallen wurden grün, dann rot, dann wurde sein schmutziges Fell schimmernd violett.

»Dafür wirst du sterben«, fauchte der Verhüllte. Seine Stimme war noch höher als vorher und die plötzlich leuchtend blauen Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.

»Irgendwann werde ich sterben«, bestätigte Flamel. »Aber nicht heute und nicht durch deine Hand.«

»Warte nur, bis ich es Mutter sage!«

»Tu das.«

Man hörte ein leises Plopp wie beim Platzen einer Seifenblase und mit einem Schlag überzogen die Regenbogenfarben den gesamten Körper des Genii Cucullati und badeten ihn in Licht. Von dort, wo die beiden anderen ihn festhielten, sprangen die Farben auch auf deren Klauen über, schwappten über die Haut und verwandelten die grünen Parkas in fantastische, farbenfrohe Mäntel. Die Farben veränderten sich ständig und bildeten faszinierende Muster wie bei Öl, das auf Wasser schwimmt. Die Kreaturen stießen noch ein kurzes, entsetztes Geheul aus, doch dann brachen ihre Schreie abrupt ab und sie sackten alle gleichzeitig in sich zusammen.

Als sie reglos auf dem Boden lagen, floss die Farbenpracht rasch wieder aus ihnen heraus, und ihre Mäntel nahmen dasselbe schmutzige Grün an wie zuvor. Dann begannen sich auch ihre Körper zu verändern, Knochen knackten, Muskeln und Sehnen ordneten sich neu, und bis die Farbe in die Pfütze zurückgeflossen war, hatten die Kreaturen wieder ihre menschenähnlichen Gestalten angenommen.

Regen prasselte jetzt auf die Gasse herunter. Die Oberfläche der bunten Pfütze kräuselte sich und zerbarst mit den auftreffenden Tropfen. Einen einzigen Augenblick lang stand ein perfekter Miniaturregenbogen darüber; er verblasste und die Pfütze war wieder so schlammig braun wie vorher.

Flamel bückte sich und klaubte die Reste des Freundschaftsbändchens von der Straße auf. Die verschlungenen Fäden waren nun schlohweiß. Er straffte die Schultern und blickte sich lächelnd zu den Zwillingen um. »Ich bin nicht ganz so hilflos, wie ich aussehe. Unterschätzt nie euren Feind«, riet er. »Aber dieser Sieg geht an dich, Josh. Du hast uns gerettet. Schon wieder. Es wird langsam zur Gewohnheit: Ojai, Paris und jetzt hier.«

»Ich hab nicht gedacht – «, begann Josh.

»Du denkst nie«, unterbrach Sophie ihn und drückte seinen Arm.

»Du hast gehandelt«, sagte Flamel. »Das hat genügt. Kommt, wir verschwinden hier, bevor man sie entdeckt.«

»Sind sie denn nicht tot?«, fragte Sophie und ging um die Kreaturen herum.

Josh wickelte Clarent rasch wieder in die Luftpolsterfolie und steckte das Schwert in die Pappkartonröhre zurück. Dann schob er die Röhre in seinen Rucksack und setzte ihn auf. »Was ist da vorhin eigentlich passiert?«, wollte er wissen. »Das bunte Wasser. Was war das?«

»Ein Geschenk von einer Erstgewesenen«, erklärte Flamel und ging rasch die Gasse hinunter. »Iris wird wegen ihrer vielfarbigen Aura die Göttin des Regenbogens genannt. Sie hat Zugang zu dem Schattenreich, durch das die Wasser des Styx fließen«, fügte er triumphierend hinzu, »des Flusses an der Grenze zum Totenreich.«

»Und das bedeutet?«, fragte Josh.

Flamels Lächeln war grausam verzerrt. »Die Lebenden dürfen mit dem Wasser des Styx nicht in Berührung kommen. Der Schock überfordert ihren Kreislauf und sie werden bewusstlos.«

»Für wie lange?«, fragte Sophie und blickte zurück auf das, was aussah wie ein Bündel Stoff mitten auf der Gasse.

»Der Legende nach – ein Jahr und einen Tag lang.«

Kapitel Drei

Das riesige Esszimmer schimmerte im Licht der Spätnachmittagssonne. Schräg einfallende Sonnenstrahlen liefen golden über polierte Wandpaneelen, wurden von dem gewachsten Fußboden reflektiert, ließen Glanzlichter an einer kompletten Ritterrüstung aufleuchten, die in der Ecke stand, und hoben farbige Punkte in Schaukästen mit Münzen hervor, die mehr als zwei Jahrtausende menschlicher Geschichte dokumentierten. Eine Wand war ganz mit Masken und Helmen aus allen Zeiten und Kontinenten bedeckt; die leeren Augenhöhlen überblickten den Raum. Zwischen den Masken hing ein Ölgemälde von Santi di Tito, das etliche Jahrhunderte zuvor aus dem Palazzo Vecchio in Florenz gestohlen worden war. Das Bild, das jetzt in Florenz hing, war eine perfekt gemachte Kopie. Die Mitte des Raumes nahm ein übergroßer, mit Schrammen übersäter Tisch ein, der einst der Familie Borgia gehört hatte. Um den von der Zeit gezeichneten Tisch herum standen 18 hochlehnige antike Stühle. Nur auf zweien saß jemand, und der Tisch selbst war leer bis auf ein großes schwarzes Telefon, das in diesem mit Antiquitäten ausstaffierten Raum fehl am Platz wirkte.

Auf einer Seite des Tisches saß Dr. John Dee. Dee war ein kleiner, adretter Engländer mit heller Haut und grauen Augen. Er trug seinen üblichen dreiteiligen schwarzen Anzug; die einzigen Farbtupfer waren die winzigen goldenen Kronen auf seiner grauen Fliege. Normalerweise hatte er das stahlgraue Haar zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgebunden, doch jetzt fiel es offen auf seine Schultern und ringelte sich bis hinunter zu seinem dreieckigen Ziegenbärtchen. Die Hände in den dunklen Handschuhen lagen locker auf der hölzernen Tischplatte.

Gegenüber von John Dee saß Niccolò Machiavelli. Das unterschiedliche Aussehen der beiden Männer war frappierend. Im Gegensatz zu dem kleinen, blassen Dee war Machiavelli groß, und sein tief gebräunter Teint hob die einzige Gemeinsamkeit der beiden hervor: die kalten grauen Augen. Machiavelli trug das schneeweiße Haar kurz und hatte nie einen Bart gehabt. Sein Stil tendierte zu etwas mehr Eleganz: Sein schwarzer Anzug und das weiße Seidenhemd waren ganz offensichtlich maßgeschneidert und in seine dunkelrote Krawatte waren Fäden aus reinem Gold eingewoben. Das Porträt an der Wand hinter ihm zeigte ihn selbst, und er wirkte jetzt kaum älter als zu der Zeit, als es gemalt worden war – vor über fünfhundert Jahren. Niccolò Machiavelli war 1469 geboren. Wollte man nur die Jahreszahlen betrachten, war er also 58 Jahre älter als der Engländer. Tatsächlich war er in genau dem Jahr »gestorben«, in dem dieser geboren wurde, nämlich 1527. Beide Männer waren allerdings unsterblich geworden und gehörten damit zu den mächtigsten Wesen der Welt. Im Lauf ihres jahrhundertelangen Lebens hatten die Unsterblichen sich zu hassen gelernt.

Jetzt allerdings erforderten es die Umstände, dass sie sich – mit einigem Unbehagen – verbündeten.

Die beiden Männer saßen nun schon eine halbe Stunde im Speisesaal von Machiavellis großem Stadthaus hinter dem Place du Canada in Paris. Während all der Zeit hatte keiner ein Wort gesprochen. Beide hatten sie auf ihren Handys dieselbe Vorladung bekommen: das Bild eines Wurms – Ouroborus –, der seinen eigenen Schwanz verschluckt. Es war eines der bedeutendsten Symbole der Dunklen des Älteren Geschlechts. In der Mitte des Wurmkreises hatte die Zahl 30 gestanden. Noch vor ein paar Jahren hätten sie die Vorladung per Fax oder mit der Post erhalten, vor Jahrzehnten per Telegramm und noch früher auf Papier oder Pergament, das ein Bote vorbeigebracht hätte. Damals hätte man ihnen Stunden oder Tage Zeit gegeben, um sich auf das Treffen vorzubereiten. Jetzt kam die Nachricht über das Handy und die eingeräumte Zeit war in Minuten bemessen.

Obwohl sie auf den Anruf gewartet hatten, fuhren beide zusammen, als das Telefon in der Mitte des Tisches klingelte. Machiavelli streckte die Hand aus und drehte das Telefon herum, damit er die Anruferkennung sehen konnte, bevor er antwortete. Eine ungewöhnlich lange Nummer, die mit 31415 begann – er erkannte darin den ersten Teil der Kreiszahl Pi –, lief über das Display. Als er den Antwortknopf drückte und die Freisprechanlage einschaltete, erschollen erst einmal ein lautes atmosphärisches Rauschen und Knacken, dann ein leises Flüstern wie von einem milden Lüftchen.

»Wir sind enttäuscht.« Die Stimme am Telefon sprach einen alten lateinischen Dialekt, der zuletzt Hunderte von Jahren vor Julius Cäsar gesprochen worden war. »Sehr enttäuscht.« Es war unmöglich festzustellen, ob die Stimme männlich oder weiblich war, und manchmal klang es sogar, als sprächen zwei Leute gleichzeitig.

Machiavelli war überrascht. Er hatte die knarrende Stimme seines eigenen dunklen Gebieters erwartet – diese hier hatte er noch nie gehört. Aber Dee kannte sie. Obwohl Dees Miene nach wie vor ausdruckslos war, sah der Italiener, wie sich die Kiefermuskeln des englischen Magiers anspannten und er fast unmerklich die Schultern straffte. Aha. Dann war das also Dees geheimnisvoller Gebieter. Das dunkle Wesen aus dem Älteren Geschlecht, dem er seine Unsterblichkeit verdankte.

»Man hat uns versichert, dass alles bereit sei … Man hat uns versichert, dass Flamel gefangen gesetzt und ermordet würde … Man hat uns versichert, dass Perenelle vernichtet würde und dass die Zwillinge festgenommen und uns übergeben würden …«

Die Stimme verlor sich kurz im statischen Rauschen, bevor sie wieder zu verstehen war.

»Aber Flamel ist noch immer auf freiem Fuß … Perenelle kann zwar die Insel nicht verlassen, aber sie ist ihrer Gefängniszelle entkommen. Die Zwillinge sind geflohen. Und wir haben noch immer nicht den vollständigen Codex. Wir sind enttäuscht«, wiederholte die geisterhafte Stimme.

Dee und Machiavelli sahen sich an. Menschen, die die Dunklen des Älteren Geschlechts enttäuschten, hatten die Tendenz, zu verschwinden. Ein Gebieter des Älteren Geschlechts konnte Menschen Unsterblichkeit schenken, doch dieses Geschenk konnte durch eine einzige Berührung auch wieder rückgängig gemacht werden. Je nachdem wie lange der Mensch unsterblich gewesen war, fuhr das Alter oft urplötzlich und mit katastrophalen Folgen durch seinen Körper. Jahrhunderte holten ihn ein und zerstörten mit einem Schlag Gliedmaßen und Organe. In Sekundenschnelle konnte ein gesund wirkender Mensch sich in ein Häufchen ledriger Haut und morscher Knochen verwandeln.

»Ihr habt uns im Stich gelassen«, flüsterte die Stimme.

Keiner der Männer unterbrach die nachfolgende Stille. Beide waren sich nur zu deutlich bewusst, dass ihr ausgesprochen langes Leben nun an einem seidenen Faden hing. Sie waren beide mächtig und einflussreich, aber niemand war unersetzlich. Die dunklen Wesen des Älteren Geschlechts hatten andere menschliche Agenten, die sie auf Flamel und die Zwillinge ansetzen konnten. Jede Menge.

Es knisterte und knackte in der Leitung, dann meldete sich eine andere Stimme: »Dennoch darf ich darauf hinweisen, dass noch nicht alles verloren ist.«

Jahrhundertelange Übung gewährleistete, dass Machiavellis Miene nichts verriet. Das war die Stimme, die er erwartet hatte, die Stimme seines Gebieters aus dem Älteren Geschlecht. Die Stimme eines Herrschers, der vor mehr als 3000 Jahren für kurze Zeit Ägypten regiert hatte.

»Ich darf darauf hinweisen, dass wir näher am Ziel sind als je zuvor. Es besteht Grund zur Hoffnung. Wir haben die Bestätigung, dass die Humani-Kinder wirklich die legendären Zwillinge sind. Wir konnten sogar einige Male eine Demonstration ihrer Kräfte erleben. Der verfluchte Alchemyst und seine Frau, die Zauberin, sitzen in der Falle und werden sterben. Wir brauchen nichts anderes zu tun, als abzuwarten, und die Zeit, unser größter Freund, wird sich an unserer Stelle um sie kümmern. Scathach ist verschwunden und Hekate vernichtet. Und wir haben den Codex.«

»Aber nicht den ganzen«, flüsterte die männlich-weibliche Stimme. »Die letzten beiden Seiten fehlen immer noch.«

»Stimmt. Aber was wir haben, ist dennoch mehr als je zuvor.

Gewiss genug, um schon damit beginnen zu können, die Erstgewesenen aus den entfernteren Schattenreichen zurückzurufen.«

Machiavelli runzelte die Stirn; er überlegte angestrengt. Dees Gebieter aus dem Älteren Geschlecht war angeblich der mächtigste unter den Erstgewesenen, und dennoch wagte sein eigener Gebieter es, sich mit ihm oder ihr anzulegen.

Es knackte in der Leitung und die männlich-weibliche Stimme klang fast trotzig. »Aber es fehlt der letzte Aufruf. Ohne ihn können unsere Brüder und Schwestern jenen letzten Schritt nicht machen – den Schritt aus ihren Schattenreichen in diese Welt.«

Machiavellis Gebieter antwortete gelassen: »Wir sollten unsere Armeen dennoch zusammenziehen. Einige unserer Brüder und Schwestern haben sich weit von dieser Welt entfernt. Sie sind noch über die Schattenreiche hinaus in die Anderwelten gezogen. Es wird viele Tage dauern, bis sie von dort zurückkommen. Wir sollten sie jetzt herbeirufen, sie in die Schattenreiche an der Grenze zu dieser Welt beordern, damit sie, wenn es so weit ist, mit einem einzigen Schritt hinübertreten und alles hier zurückerobern können.«

Machiavelli sah Dee an. Der dunkle Magier hatte den Kopf etwas zur Seite geneigt und die Augen halb geschlossen, während er den Erstgewesenen zuhörte. Als spüre er Machiavellis Blick auf sich ruhen, öffnete er jetzt die Augen und hob die Augenbrauen in einer unausgesprochenen Frage. Der Italiener schüttelte leicht den Kopf; er hatte keine Ahnung, was da gerade geschah.

»Jetzt ist die Zeit angebrochen, die Abraham vorhergesehen hat, als er den Codex schuf«, fuhr Machiavellis Gebieter fort. »Er hatte das zweite Gesicht, er konnte die verschlungenen Fäden der Zeit sehen. Er hat vorhergesagt, dass dieses Zeitalter kommen würde – er nannte es das Zeitalter der Wende, wenn wieder Ordnung in die Welt einkehren würde. Wir haben die Zwillinge aufgespürt, wir wissen, wo Flamel sich aufhält und wo die letzten beiden Seiten des Codex zu finden sind. Sobald wir die Seiten haben, können wir die Kräfte der Zwillinge nutzen, um den letzten Aufruf ergehen zu lassen.«

Wieder knackte es in der Leitung, aber im Hintergrund hörte Machiavelli deutlich zustimmendes Gemurmel. Ihm wurde klar, dass noch andere mithörten, und er fragte sich, wie viele Dunkle des Älteren Geschlechts wohl in der Leitung waren. Er musste fest die Wangen zwischen die Zähne ziehen, um sich ein Lächeln zu verkneifen bei der Vorstellung, wie die Erstgewesenen in ihren unterschiedlichen Gestalten und Erscheinungsformen – menschlich und nicht menschlich, Bestien und Monster – konzentriert an ihren Handys lauschten. Als das Gemurmel verstummte, ergriff Machiavelli die Gelegenheit und begann zu reden, wobei er jedes Wort sorgfältig abwog und jede Emotion in seiner Stimme zu unterdrücken versuchte. Es gelang ihm: Er klang neutral und professionell.

»Darf ich dann vorschlagen, dass ihr uns erlaubt, unsere Aufgabe zu Ende zu bringen? Lasst uns Flamel und die Zwillinge finden.« Er wusste, dass er ein gefährliches Spiel spielte, doch es war offensichtlich, dass in den Reihen der Erstgewesenen Uneinigkeit herrschte, und Machiavelli war schon immer ein Experte darin gewesen, solche Situationen für sich zu nutzen. Ganz deutlich hatte er die Not aus der Stimme seines Gebieters herausgehört. Die Erstgewesenen wollten die Zwillinge und den Codex unbedingt; ohne sie konnte der Rest der dunklen Wesen nicht auf die Erde zurückkehren. Und in diesem Moment begriff er, dass er und Dee immer noch wichtige Aktivposten darstellten. »Der Doktor und ich haben einen Plan ausgearbeitet«, sagte er und wartete schweigend, ob sie den Köder fressen würden.

»Sprich, Humani«, sagte die männlich-weibliche Stimme.

Machiavelli faltete die Hände und sagte nichts. Dees Augenbrauen schossen in die Höhe und er zeigte auf das Telefon. Sprich, sagte er lautlos in Lippensprache.

»Sprich!«, fauchte die Stimme über dem Knistern und Knacken statischer Elektrizität.

»Du bist nicht mein Gebieter«, erwiderte Machiavelli sehr leise. »Du hast mir nichts zu befehlen.«

Als Antwort kam ein lang anhaltender Zischlaut, wie von austretendem Dampf. Machiavelli drehte den Kopf etwas und versuchte, das Geräusch zu identifizieren. Dann nickte er. Es war Gelächter. Die anderen Erstgewesenen fanden seine Antwort amüsant. Er hatte recht gehabt: In den Reihen der Erstgewesenen herrschte Uneinigkeit, und auch wenn Dees Gebieter allmächtig war, hieß das noch lange nicht, dass man ihn mochte. Hierin lag ein Schwachpunkt, den Machiavelli zu seinen Gunsten ausnutzen konnte.

Dee starrte ihn an, die grauen Augen weit aufgerissen vor Entsetzen und vielleicht auch vor Bewunderung.

Es klickte in der Leitung, die Nebengeräusche veränderten sich und dann meldete sich Machiavellis Gebieter. Auch seiner rauen Stimme war deutlich anzuhören, dass er sich amüsierte. »Was schlägst du vor? Sei vorsichtig, Humani«, fügte er hinzu, »du hast auch meine Erwartungen nicht erfüllt. Uns war zugesichert worden, dass Flamel und die Zwillinge Paris nicht verlassen.«

Der Italiener beugte sich mit einem triumphierenden Lächeln näher zum Telefon. »Gebieter, mir war befohlen worden, nichts zu unternehmen, bevor der Magier aus England eintreffen würde. Wertvolle Zeit ging verloren. Flamel konnte Kontakt mit Verbündeten aufnehmen, sich einen Unterschlupf suchen und ausruhen.« Machiavelli beobachtete Dee ganz genau, während er sprach. Er wusste, dass der Engländer sich mit seinem Gebieter aus dem Älteren Geschlecht in Verbindung gesetzt hatte. Dieser hatte daraufhin Machiavellis Gebieter befohlen, dem Italiener zu sagen, er solle nichts unternehmen, bevor Dee nicht da wäre.

Nachdem er diese Spitze angebracht hatte, setzte Machiavelli noch einen drauf: »Diese Verzögerung hat sich jedoch zu unserem Vorteil ausgewirkt. Die Kräfte des Jungen wurden von einem Erstgewesenen geweckt, der auf unserer Seite steht. Wir haben eine Vorstellung von den Kräften der Zwillinge, und wir wissen, wohin sie gegangen sind.« Es gelang ihm nur mit Mühe, die Selbstgefälligkeit in seinem Ton zu unterdrücken. Er sah Dee über den Tisch hinweg an und nickte kurz. Der Engländer verstand den Wink.

»Sie sind in London«, fuhr John Dee fort. »Und Großbritannien ist mehr als jedes andere Land auf dieser Erde unser Territorium«, betonte er. »Anders als in Paris haben wir dort Verbündete, Erstgewesene, Ältere der Nächsten Generation, Unsterbliche und Humani-Diener, die uns unterstützen. Außerdem gibt es in England noch einige, die nur sich selbst treu sind und deren Dienste man kaufen kann. Alle diese Kräfte können gebündelt und für die Suche nach Flamel und den Zwillingen eingesetzt werden.« Nachdem er geendet hatte, beugte er sich vor und fixierte das Telefon, während er auf eine Antwort wartete.

Es klickte in der Leitung, dann war sie tot. Ein irritierendes Belegtzeichen ertönte.

Dee betrachtete das Telefon in einer Mischung aus Schock und Wut. »Wurde die Verbindung unterbrochen oder haben sie einfach aufgelegt?«

Machiavelli drückte auf die Trenn-Taste, damit das Tuten aufhörte. »Jetzt weißt du, wie es mir geht, wenn du einfach auflegst«, sagte er leise.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Dee.

»Wir warten. Ich nehme an, sie sprechen über unsere Zukunft.«

Dee verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. »Sie brauchen uns.« Er versuchte, zuversichtlich zu klingen, was ihm aber nicht gelang.

Machiavellis Lächeln war bitter. »Sie benutzen uns. Aber sie brauchen uns nicht. Ich kenne allein in Paris mindestens ein Dutzend Unsterbliche, die genau das machen könnten, was ich mache.«

»Nun ja, du bist zu ersetzen«, erwiderte Dee mit einem selbstgefälligen Achselzucken. »Aber ich bin schon ein Leben lang hinter Nicholas und Perenelle her.«

»Du meinst wohl, du bist ein Leben lang hinter ihnen her und hast es noch immer nicht geschafft, sie zu fassen?«, korrigierte Machiavelli lächelnd. »So nah dran und doch immer so weit weg.«

Dees Antwort, wie immer sie ausgefallen wäre, wurde vom Läuten des Telefons im Keim erstickt.

»Wir haben folgendermaßen entschieden.«Es war Dees Gebieter, der sprach. Die weibliche und die männliche Stimme verschmolzen zu einer verstörenden Mischung.»Der Magier wird dem Alchemysten und den Zwillingen nach England folgen. Deine Aufgabe ist eindeutig: Vernichte Flamel, nimm die Zwillinge gefangen und beschaffe die beiden fehlenden Seiten. Nutze alle verfügbaren Mittel, um diese Ziele zu erreichen. Wir habenVerbündete in England, die in unserer Schuld stehen. Wir werden diese Schuld jetzt einfordern. Und, Doktor … solltest du uns dieses Mal wieder enttäuschen, werden wir dir das Geschenk der Unsterblichkeit vorübergehend entziehen und zulassen, dass dein Humani-Körper bis an die Grenze zum Tod altert … Und dann, im Augenblick vor deinem Ableben, machen wir dich wieder unsterblich.«Es folgte ein Krächzen, das ein Kichern hätte sein können oder ein tiefes Luftholen.»Stell dir vor, wie das sein wird: dein brillanter Geist, gefangen in einem alten und schwachen Körper, nicht mehr in der Lage, deutlich zu sehen oder zu hören, nicht mehr in der Lage, zu gehen oder die Gliedmaßen zu bewegen, aufgrund einer ganzen Reihe von Krankheiten nie mehr ohne Schmerzen zu sein. Du wirst bis in alle Ewigkeit alt sein, ohne je sterben zu können. Enttäusche uns – und das ist dein Schicksal. Wir werden dich eine Ewigkeit lang in dieser alten, fleischlichen Hülle einschließen.«

Dee schluckte hart. Dann nickte er und sagte mit der gesamten Zuversicht, die er aufbringen konnte: »Ich werde euch nicht enttäuschen.«

»Und du, Niccolò …« Jetzt sprach Machiavellis Gebieter. »Du wirst nach Amerika reisen. Die Zauberin bewegt sich frei auf der Insel Alcatraz. Tu, was immer du tun musst, um die Insel wieder sicher zu machen.«

»Aber ich habe keine Kontakte in Amerika«, wandte Machiavelli rasch ein, »keine Verbündeten. Mein Terrain war immer Europa.«

»Wir haben Agenten überall in Amerika. Sie sind bereits auf dem Weg nach Westen, um dort auf deine Ankunft zu warten. Wir werden einen, der sich auskennt, dazu bestimmen, dass er dich unterstützt. Auf Alcatraz wirst du eine Art Armee vorfinden, die in den Zellen schläft, Kreaturen, die die Humani aus ihrenschlimmsten Albträumen und grauenvollsten Legenden kennen. Wir hatten nicht die Absicht, diese Armee so früh einzusetzen, doch die Ereignisse überschlagen sich, alles geht viel schneller, als wir es erwartet haben. Bald ist Litha, die Zeit der Sommersonnenwende. An diesem Tag sind die Auren der Zwillinge am stärksten und die Grenzen zwischen dieser Welt und den Myriaden von Schattenreichen am durchlässigsten. Wir haben die Absicht, die Welt der Humani an diesem Tag zurückzuerobern.«

Selbst Machiavelli gelang es nicht, seine ausdruckslose Miene beizubehalten. Er sah Dee an und auch der Engländer war ganz offensichtlich geschockt. Die beiden Männer arbeiteten seit Jahrhunderten für die dunklen Wesen des Älteren Geschlechts und hatten immer gewusst, dass die in die Welt zurückkehren wollten, über die sie einst geherrscht hatten. Doch jetzt zu erfahren, dass es nach Jahren des Wartens und Planens in gerade mal drei Wochen so weit sein sollte, war ein Schock.

Dr. John Dee beugte sich näher zum Telefon. »Gebieter – und ich weiß, dass ich in diesem Fall auch für Machiavelli spreche –, wir sind hoch erfreut, dass die Zeit der Wende so nah ist und ihr bald zurückkehren werdet.« Er schluckte und holte Luft. »Aber erlaubt mir, euch zu warnen. Die Welt, in die ihr zurückkehren werdet, ist nicht mehr die Welt, die ihr verlassen habt. Die Humani haben neue Technologien, Kommunikationsmittel, Waffen … Sie werden Widerstand leisten«, fügte er zögernd hinzu.

»Das werden sie gewiss, Doktor«, erwiderte Machiavellis Gebieter.»Deshalb werden wir den Humani etwas geben, auf das sie sich stürzen können, etwas, das ihre Mittel verschlingt und ihre gesamte Aufmerksamkeit erfordert. Niccolò«, fuhr die Stimme fort,»wenn du Alcatraz wieder unter unsere Gewalt gebracht hast, weckst du die Monster in den Zellen und lässt sie aufSan Francisco los. Die Verwüstung und die Angst werden unbeschreiblich sein. Und wenn die Stadt nur noch eine rauchende Ruine ist, erlaubst du den Kreaturen zu gehen, wohin sie wollen. Sie werden ganz Amerika niederwalzen. Die Menschheit hatte immer Angst vor dem Dunkel; wir werden sie daran erinnern, woher diese Angst kommt. Schon jetzt gibt es auf sämtlichen Kontinenten ähnliche Verstecke mit solchen Kreaturen; sie werden zur selben Zeit freigelassen. Die Welt wird sich bald in Wahnsinn und Chaos auflösen. Ganze Armeen werden ausgelöscht werden, sodass keine mehr übrig sind, um sich uns in den Weg zu stellen, wenn wir zurückkehren. Und was werden wir als Erstes tun? Nun, wir werden die Monster vernichten und von den überlebenden Humani als Retter begrüßt werden.«

»Und diese Bestien sind in den Gefängniszellen von Alcatraz?«, fragte Machiavelli entsetzt. »Wie wecke ich sie?«

»Du wirst Anweisungen erhalten, sobald du in Amerika ankommst. Doch zunächst musst du Perenelle Flamel besiegen.«

»Woher wissen wir, dass sie immer noch dort ist? Wenn sie sich aus ihrer Zelle befreit hat, hat sie die Insel doch bestimmt schon verlassen?« Der Italiener merkte, dass sein Herz plötzlich schneller schlug. Vor dreihundert Jahren hatte er der Zauberin Rache geschworen. Sollte das jetzt seine Chance sein, Vergeltung zu üben?

»Sie ist immer noch auf der Insel. Sie hat Areop-Enap befreit, die Urspinne. Die ist ein gefährlicher Feind, aber nicht unbesiegbar. Wir haben Schritte unternommen, sie zu schwächen und sicherzustellen, dass Perenelle dort bleibt, bis du kommst. Und, Niccolò« – die Stimme des Erstgewesenen nahm einen harten, hässlichen Ton an –, »wiederhole nicht Dees Fehler.«

Der Magier straffte die Schultern.

»Versuche nicht, Perenelle zu fangen oder einzusperren. Sprichsie nicht an, verhandle nicht mit ihr und versuche nicht, vernünftig mit ihr zu reden. Töte sie, sobald du sie siehst. Die Zauberin ist unendlich viel mächtiger als der Alchemyst.«

Kapitel Vier

Der Morgenhimmel über Alcatraz hatte die Farbe von angelaufenem Metall. Eiskalter Regen prasselte auf die Insel herunter, und die aufgewühlte See, die donnernd an die Felsen schlug, ließ salzige Schaumflocken emporsteigen.

Perenelle Flamel duckte sich wieder in den Schutz des verfallenen Wärterhauses, rieb sich die bloßen Arme und wischte salzige Tropfen von ihrer Haut. Sie trug ein leichtes, ärmelloses Sommerkleid, das inzwischen voller Schmutz- und Rostflecken war, doch kalt war ihr nicht. Die Zauberin hatte sich zunächst dagegen gesträubt, ihre schwindenden Kräfte einzusetzen, dann aber doch ihre Aura verändert und ihre Körpertemperatur auf eine angenehme Höhe heraufgesetzt. Sie wusste, dass sie nicht mehr klar denken konnte, wenn ihr zu kalt wurde, und sie hatte so ein Gefühl, als bräuchte sie in den nächsten Stunden alle ihre geistigen und körperlichen Kräfte.

Vor vier Tagen war Perenelle Flamel von John Dee gekidnappt und in das Gefängnis von Alcatraz gebracht worden. Zu ihrer Bewacherin hatte man eine Sphinx bestimmt, weil die sich von der Aura anderer Wesen ernährte, das heißt von dem Energiefeld, das alles Lebendige umgibt. Der dunkle Magier hatte gehofft, die Sphinx würde Perenelles Aura völlig in sich aufsaugen und ihre Flucht schon allein dadurch verhindern. Doch wie so oft in der Vergangenheit hatte Dee Perenelle unterschätzt. Der Schutzgeist der Insel hatte ihr geholfen, der Sphinx zu entkommen. Erst danach hatte die Zauberin das schreckliche Geheimnis der Insel entdeckt: Dee hatte Monster gesammelt. In den Gefängniszellen saßen entsetzliche Kreaturen von überall auf der Welt, Kreaturen, die es nach Meinung der meisten Menschen nur in den dunkelsten Mythen und Legenden gab. Doch die größte Überraschung hatte in den verborgenen Tunneln tief unter der Insel gelegen. Dort hatte Perenelle, eingeschlossen hinter magischen Symbolen, die älter waren als die Erstgewesenen, die Urspinne entdeckt, bekannt unter dem Namen Areop-Enap. Die Spinne und sie waren ein unsicheres Bündnis eingegangen und hatten die Morrigan besiegt, die Krähengöttin und ihre Armee von Vögeln. Aber sie wussten beide, dass ihnen noch Schlimmeres bevorstand.

»Dieses Wetter ist nicht natürlich«, sagte Perenelle leise. Ganz schwach war ihr französischer Akzent noch herauszuhören. Sie atmete tief ein und zog eine Grimasse. Ihr geschärfter Geruchssinn erkannte in dem Wind, der von der San Francisco Bay herüberwehte, den Gestank von etwas Fauligem, von etwas, das lange tot war. Und das war ein sicheres Zeichen, dass es kein natürlicher Wind war.

Areop-Enap hockte hoch oben auf der Mauer des ausgebrannten Hauses. Die riesige, aufgedunsene Spinne war eifrig damit beschäftigt, die Außenmauern mit einem klebrigen weißen Netz zu überziehen. Millionen von Spinnen, einige tellergroß, andere kaum größer als ein Staubkorn, krochen in dunklen Wellen über das dicke, tropfende Netz und fügten selbst weitere Lagen Seide hinzu. Ohne den Kopf zu drehen, richtete die Erstgewesene zwei ihrer acht Augen auf die schlanke, große Frau. Sie streckte eines ihrer dicken Beine kerzengerade in die Luft; die purpurfarbenen, an den Spitzen grauen Haare wehten im Wind. »Ja, ja, etwas kommt … Aber keine Erstgewesenen und auch keine Humani«, lispelte sie.

»Etwas ist bereits hier«, erwiderte Perenelle grimmig.

Jetzt wandte sich Areop-Enap ihr zu. Acht winzige Augen saßen auf ihrem gespenstisch menschenähnlichen Kopf. Sie hatte weder Nase noch Ohren, und ihr Mund war eine waagrechte Spalte, gefüllt mit langen Giftzähnen. Die gefährlichen Zähne waren schuld daran, dass sie so seltsam lispelte. »Was ist passiert?«, fragte sie und ließ sich unvermittelt an einem hauchdünnen Faden auf den Steinboden gleiten.

Perenelle machte ein paar vorsichtige Schritte und versuchte dabei, den verknoteten Spinnfäden auszuweichen, die die Konsistenz von Kaugummi hatten und an allem kleben blieben, mit dem sie in Berührung kamen. »Ich war unten am Wasser«, erzählte sie leise. »Ich wollte sehen, wie weit wir vom Festland entfernt sind.«

»Warum?«, fragte Areop-Enap und trat näher zu der Frau, die sie um einiges überragte.