Die Geliebte des Malers - Nora Roberts - E-Book
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Die Geliebte des Malers E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Cassidy braucht dringend einen neuen Job. Da bekommt sie ein höchst interessantes Angebot: Der irische Künstler Colin Sullivan, berühmt für seine Bilder ebenso wie für seine Affären, ist hingerissen von ihrem bildschönen Gesicht und bittet sie, für ihn Modell zu stehen. Cassidy wähnt sich sicher vor den Avancen eines Herzensbrechers. Doch Tag für Tag gerät die selbstbewusste Frau mehr in den Bann dieses charismatischen Mannes.

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Nora Roberts

Die Geliebte des Malers

Roman

Aus dem Amerikanischen von Sonja Sajlo-Lucich

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe Sullivan’s Woman ist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen. Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.

Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, 

Neumarkter Str. 28, 81673 München. Copyright © 1984 by Nora Roberts Published by Arrangement with Eleanor Wilder Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by MIRA Taschenbuch in der Cora Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Uximetc Pavel Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-12112-9 V004

www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

1. KAPITEL

Cassidy wartete.

Mrs. Sommerson warf ihr achtlos das dritte Kleid in die Arme. »Nein, das ist auch nicht das Richtige«, murmelte sie und begutachtete mit gerunzelter Stirn eine dunkelblaue Kreation aus Leinen. Doch nach einem kurzen Augenblick flog dieses Kleid ebenfalls auf Cassidys Arm. Die sich tapfer ermahnte, die Geduld nicht zu verlieren.

Seit drei Monaten arbeitete Cassidy nun schon als Verkäuferin in »The Best Boutique«, und sie hatte eigentlich das Gefühl, sehr geduldig geworden zu sein. Das war alles andere als einfach gewesen.

Ergeben folgte sie Mrs. Sommersons imposanter Figur zur nächsten Kollektion. Nachdem sie siebenundzwanzig Minuten lang stumm wie ein Kleiderständer herumgestanden war, fand Cassidy allerdings, dass ihre hart erkämpfte neue Tugend hier wirklich auf eine harte Probe gestellt wurde.

»Ich werde noch dieses hier anprobieren«, verkündete Mrs. Sommerson schließlich und marschierte zurück zur Umkleidekabine.

Leicht verärgert steckte Cassidy eine lockere Haarnadel fest. Julia Wilson, die Inhaberin der Boutique, war erbarmungslos pedantisch. Keinem Härchen war es erlaubt, sich aus der Frisur ihrer Angestellten zu lösen und auf die Schultern zu fallen. Adrett, ordentlich und fantasielos. Cassidy rümpfte leicht die Nase und hängte das blaue Leinenkleid zurück.

Wie bedauerlich, dass Cassidy chaotisch, spontan und ganz und gar nicht ordentlich war. Ihr Haar schien ihre Persönlichkeit nur noch zu unterstreichen: Da mischten sich alle Schattierungen, von hellstem Blond bis zu sattem Braun. Das Ganze ergab einen wunderbaren Goldton, wie man ihn von alten Gemälden her kannte. Das schwere lange Haar weigerte sich beharrlich, sich von Haarnadeln einzwängen zu lassen. Ständig rutschten vorwitzige Strähnen heraus. Wie Cassidy selbst war es widerspenstig und störrisch und doch so weich und faszinierend.

Eigentlich war es sogar Cassidys etwas unkonventionelles Aussehen gewesen, das ihr zu dem Job verholfen hatte. Erfahrung gehörte nämlich ganz bestimmt nicht zu ihren Qualifikationen. Aber Julia Wilson hatte sofort die Möglichkeiten erkannt, mit Cassidy für die etwas wagemutigeren Kollektionen Werbung zu machen.

Cassidy war groß und schlank, mit einer Figur, zu der satte Farben und ausgefallene Schnitte bestens passten. Ihr Gesicht war zweifellos auch ein Plus. Julia war sich nicht sicher, ob es schön zu nennen war, aber mit Sicherheit war es ein außergewöhnliches Gesicht, eines, das auffiel. Cassidy hatte geradezu aristokratische Züge. Feine Augenbrauen bogen sich über schräg stehenden Augen, die in dem schmalen Gesicht übergroß wirkten und von einem erstaunlichen Violett waren.

Julia betrachtete Cassidys Gesicht, ihre Figur und ihre wohlklingende Stimme zwar als Qualifikation, aber sie bestand dennoch darauf, dass sie ihr Haar hochsteckte. Wenn Cassidy es offen trug, verlieh es ihren aristokratischen Gesichtszügen eine betrüblich übermütige Qualität.

Julia war begeistert von Cassidys Jugend, von ihrer Intelligenz und ihrer schier unerschöpflichen Energie.

Allerdings musste sie sehr schnell feststellen, dass ihre Angestellte keineswegs so formbar war, wie ihre Jugend hatte vermuten lassen. Julias Ansicht nach hatte Cassidy den unglücklichen Hang, sich zu viel Vertraulichkeit mit den Kunden zu erlauben. Mehr als einmal war Julia schon Zeuge davon geworden, wie Cassidy indiskrete Fragen stellte und ungebetene Ratschläge erteilte. Zudem spielte da von Zeit zu Zeit ein geheimnisvolles Lächeln um ihre Lippen, wenn sie die Kunden bediente, so als würde sie sich über einen vorzüglichen Witz amüsieren. Außerdem verlor sie sich zu oft in Tagträumereien. Kurz: Julia Wilson hegte inzwischen ernsthafte Zweifel, ob Cassidy St. John tatsächlich die passende Besetzung für ihre Boutique war.

Nachdem die von Mrs. Sommerson abgelehnte Auswahl wieder an ihrem ursprünglichen Platz hing, nahm Cassidy ihren Platz neben der Umkleidekabine ein. Sie konnte das leise Rascheln von Stoff hören. Wie immer, wenn sich die Möglichkeit bot, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Die kehrten unweigerlich zu dem Manuskript zurück, das auf dem Schreibtisch in ihrer Wohnung lag. Und auf sie wartete.

Solange Cassidy denken konnte, träumte sie davon, zu schreiben. Vier Jahre lang hatte sie diese Kunst mit gewissenhaftem Ernst studiert. Als sie mit neunzehn ohne Familie und mit nur sehr wenig Geld dastand, finanzierte sie sich ihr Studium mit allen möglichen Teilzeitjobs, während sie am College die Techniken und die Selbstdisziplin lernte, die für ihren Traumberuf unerlässlich waren. Zwischen ihrer Ausbildung und den Jobs blieb ihr kaum Freizeit, aber Cassidy verzichtete selbst darauf, um ihren ersten Roman zu vollenden.

Für Cassidy war das Schreiben kein Beruf, sondern eine Berufung. Ihr ganzes Leben war darauf eingerichtet. Für andere Unternehmungen war nie viel Zeit geblieben. Menschen faszinierten sie, aber es gab nur wenige, mit denen sie sich wirklich einließ. Dabei schrieb sie über komplexe menschliche Beziehungen und analysierte deren Strukturen, doch ihr Wissen stammte dabei nur aus zweiter Hand.

Was ihrem Werk Tiefe und Qualität verlieh, waren ihre scharfe Beobachtungsgabe und ihre außergewöhnliche Empfindsamkeit. Für den größten Teil ihres Lebens hatte sie im Schreiben ein Ventil für ihre rege Gefühlswelt und Fantasie gefunden.

Jetzt, ein Jahr nach dem Examen, nahm sie weiterhin die seltsamsten Jobs an. Die Miete zahlte sich schließlich nicht von allein. Ihr erstes Manuskript wanderte noch immer von Verlagshaus zu Verlagshaus, während ihr zweites Werk langsam Gestalt annahm.

Als Mrs. Sommerson die Tür zur Umkleidekabine aufzog, überarbeitete Cassidy gerade in Gedanken eine Szene in ihrem Buch. Da sie jedoch brav und mit der Demut einer Kammerzofe neben der Kabine wartete, war Mrs. Sommerson zufrieden. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn.

»Das ist doch recht nett. Meinen Sie nicht auch?«

Mrs. Sommersons Wahl war auf ein flammend rotes Seidenkleid gefallen. Die Farbe, so fiel Cassidy auf, verstärkte noch Mrs. Sommersons immer leicht geröteten Teint, bildete aber einen eindrucksvollen Kontrast zu ihrem schwarzen toupierten Haar, das zu einer Hochfrisur aufgetürmt war. Cassidy erkannte durchaus das Potenzial.

»Damit werden Sie alle Blicke auf sich ziehen, Mrs. Sommerson«, antwortete sie nach einem Moment des Überlegens. Mit den richtigen Accessoires könnte Mrs. Sommerson geradezu majestätisch wirken. Allerdings saß die Seide auffallend stramm über der ausladenden Hüftregion. Eine Nummer größer würde das Kleid perfekt passen, entschied Cassidy.

»Ich glaube, das haben wir auch noch in einer Nummer größer da«, dachte sie laut.

»Wie bitte?«

Da Cassidy zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt war, fielen ihr Mrs. Sommersons empört hochgezogene Augenbrauen nicht auf.

»Eine Nummer größer«, wiederholte sie dienstfertig. »Das hier spannt ein wenig um die Hüften. Die nächste Größe sollte dann perfekt sitzen.«

»Das hier ist meine Größe, junge Frau.« Mrs. Sommersons Busen hob und senkte sich heftig. Eine wahrhaft Ehrfurcht erregende Bewegungsabfolge.

Cassidy war ganz mit der Lösung des Accessoire-Problems beschäftigt. »Eine dicke goldene Gliederkette«, sagte sie lächelnd und nickte. »Ja, das passt.« Sie tippte mit dem Finger an ihre Unterlippe. »Warten Sie einen Moment, ich hole Ihnen eben Ihre Größe.«

»Das hier«, es war Mrs. Sommersons Ton, der jetzt Cassidys volle Aufmerksamkeit fesselte, »ist meine Größe.« Aus jeder Silbe schäumte die Empörung.

Und endlich erkannte Cassidy ihren Fehler. Der Magen sackte ihr in die Kniekehlen. Oh, oh! Sie nahm sich zusammen, versuchte ihre Gedanken zu ordnen, doch bevor sie etwas Beschwichtigendes zu Mrs. Sommerson sagen konnte, trat Julia schon dazu.

»Eine wirklich ausgezeichnete Wahl, Mrs. Sommerson«, flötete sie mit ihrer tiefen sanften Stimme. Ein unverbindliches Lächeln auf den Lippen, sah sie von der Kundin zu ihrer Angestellten und wieder zurück. »Gibt es etwa ein Problem?«

»Diese junge Frau«, wieder wogten die Massen, als Mrs. Sommerson erneut einen empörten Atemzug nahm, »behauptet, ich hätte mich in der Kleidergröße geirrt.«

»Aber nein, Ma’am, ich …« Cassidy verstummte sofort, als Julia ihr mit einer bleistiftdünnen hochgezogenen Augenbraue das Gesicht zuwandte.

»Ich bin sicher, Miss St. John wollte Sie nur darauf hinweisen, dass dieses Kleid ganz besonders klein ausfällt. Der Designer ist berüchtigt dafür, dass seine Größen nicht der Norm entsprechen.«

Da hätte sie auch selbst drauf kommen können! gestand Cassidy sich ein.

»Nun«, Mrs. Sommerson schnaubte und bedachte Cassidy mit einem feindseligen Blick, »dann hätte sie das auch sagen sollen, anstatt mir vorzuhalten, ich bräuchte die nächste Größe. Wirklich, Julia«, sie machte Anstalten, in die Kabine zurückzugehen, »Sie sollten darauf achten, dass Ihr Personal weiß, wovon es redet.«

Bei dem Ton blitzten Cassidys Augen auf und verdüsterten sich dann. Die Nähte der roten Seide protestierten ächzend bei jeder von Mrs. Sommersons Bewegungen. Aber ein warnender Seitenblick von Julia ließ sie die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, hinunterschlucken.

»Ich selbst werde Ihnen das Kleid heraussuchen, Mrs. Sommerson.« Das freundliche Lächeln saß wieder fest an seinem Platz, als Julia sich jetzt an Mrs. Sommerson wandte. »Es wird ganz bezaubernd an Ihnen aussehen, kein Zweifel.«

Bevor sie ging, raunte sie Cassidy noch zu: »Warten Sie in meinem Büro auf mich, Cassidy.«

Mit sinkendem Mut sah Cassidy Julia nach. Den Ton kannte sie – nur zu gut. Drei Monate also. Sie seufzte still. Nun, da war eben nichts zu machen. Mit einem letzten Blick auf Mrs. Sommerson drehte Cassidy sich um und lief den schmalen Korridor entlang zu Julias winzigem, aber äußerst effizient eingerichtetem Büro.

Sie sah sich in dem fensterlosen Hinterzimmer um und setzte sich dann auf einen zierlichen Stuhl mit gerader Rückenlehne und bronzefarbenem Sitzkissen. Hier war sie eingestellt worden, hier würde sie auch gefeuert werden.

Viel zu heftig schob sie eine weitere lockere Haarnadel ins Haar zurück und runzelte die Stirn. In ein paar Minuten wird Julia hereingeschwebt kommen und sich hinter ihren eleganten Rosenholzschreibtisch setzen, um mich mit einer hochgezogenen Augenbraue durchdringend zu mustern, dachte Cassidy. Dann würde sie sich leise räuspern und loslegen.

»Cassidy, Sie sind eine wirklich nette junge Frau, aber Sie sind nicht mit dem Herzen bei der Arbeit.«

»Mrs. Wilson«, würde Cassidy dann wohl erwidern, »Mrs. Sommerson kann unmöglich Größe 42 tragen. Ich wollte nur …«

»Natürlich nicht«, würde Julia sie dann mit einem geduldigen Lächeln unterbrechen. »Ich würde nicht im Traum darauf verfallen, ihr Größe 42 verkaufen zu wollen. Aber …« Hier stellte Cassidy sich vor, dass Julia mahnend einen manikürten Zeigefinger heben würde. »Wir müssen ihre Illusionen bewahren und ihre Eitelkeit erlauben. Takt und Diplomatie, meine Liebe, sind unerlässlich für jeden, der im Verkauf tätig ist. Ich fürchte, Sie müssen diese Fähigkeiten noch ausbauen. In einer Boutique wie dieser …« Hier würde Julia die Finger verschränken und sich mit den Ellbogen auf die Schreibtischplatte stützen. »… muss ich mich hundertprozentig auf mein Personal verlassen können. Nun, wäre dies der erste Vorfall, könnte ich sicherlich darüber hinwegsehen, aber …« Julia würde eine bedeutungsschwangere Pause machen und dann seufzen. »Erst letzte Woche haben Sie zu Miss Teasdale gesagt, dass sie in schwarzem Crêpe wie eine trauernde Witwe aussieht. So kann man unsere Ware nicht verkaufen.«

»Nein, natürlich nicht, Mrs. Wilson«, würde Cassidy mit reuiger Miene zustimmen. »Aber mit Miss Teasdales Haarfarbe und ihrem Teint …«

»Takt und Diplomatie.« Der Zeigefinger würde wieder nach oben an die Decke deuten. »Sie hätten Miss Teasdale vorschlagen können, dass ein kräftiges Blau ihre Augen besser zur Geltung bringt. Oder dass ein frostiges Rosé ihre Haut schimmern lässt. Der Kunde ist König und will hofiert werden. Jede Frau, die zu dieser Tür hinausgeht, soll das Gefühl haben, etwas ganz Besonderes bei uns gefunden zu haben.«

»Das ist mir schon klar, Mrs. Wilson. Aber ich kann einfach nicht tatenlos mit ansehen, wie jemand sich für etwas völlig Unpassendes entscheidet. Deshalb möchte ich ja auch …«

»Sie haben ein gutes Herz, Cassidy.« Julia würde mütterlich lächeln, bevor sie dann das Beil fallen lassen würde. »Aber Sie haben einfach kein Talent zum Verkaufen … oder zumindest nicht das Talent, das ich in meiner Boutique benötige. Natürlich werde ich Sie für den Rest der Woche bezahlen und Ihnen ein Empfehlungsschreiben aushändigen. Sie waren immer pünktlich und zuverlässig. Vielleicht sollten Sie es besser in einem großen Kaufhaus versuchen …«

An diesem Punkt in dem ausgedachten Szenario krauste Cassidy die Nase, setzte aber schnell wieder eine neutrale Maske auf, als sie die Tür hinter sich aufgehen hörte.

Julia trat ein, schloss leise die Tür, setzte sich hinter ihren Rosenholzschreibtisch, hob eine Augenbraue und musterte Cassidy für einen langen Moment. Dann räusperte sie sich.

»Cassidy, Sie sind eine wirklich nette junge Frau, aber …«

Cassidy konnte nur seufzend mit den Schultern zucken.

Eine Stunde später schlenderte Cassidy, jetzt arbeitslos, durch das Hafenviertel Fisherman’s Wharf.

Sie liebte die leicht verwitterte, malerische Romantik, den Hauch von Rummelplatzatmosphäre. Das Leben schillerte hier in allen Farben. San Francisco entsprach Cassidys Vorstellung von einer perfekten Stadt, aber in Fisherman’s Wharf hatte man das Ende des Regenbogens endlich erreicht. Hier trafen Realität und Fiktion aufeinander und schlenderten einträchtig Hand in Hand.

Cassidy bummelte an den Marktständen vorbei, nahm sich Zeit und suchte in den Schalen und Kartons nach unentdeckten Schätzen, befühlte Seidenschals und saugte die Geräusche in sich auf. Aber es war die Bucht, die sie anzog. Mit langsamen, unbekümmerten Schritten spazierte sie auf das Wasser zu, als der Nachmittag in den Abend überging. Der Geruch von Fisch hing in der Luft, vermischt mit einem Bouquet von Zwiebeln und Kräutern und Menschen.

Sie lauschte den Straßenhändlern, die lautstark ihre Waren anpriesen, beobachtete, wie ein Krebs aus dem Korb genommen und in einen Topf mit kochendem Wasser geworfen wurde. Fisherman’s Wharf war gesäumt von zahllosen Restaurants, Cafés und noch mehr kleinen Läden. Auch wenn alles leicht heruntergekommen wirkte und manches sogar schäbig: Cassidy liebte es hier. Dieses Viertel musste man nicht beschönigen oder entschuldigen, denn es war alt und liebenswert und völlig zufrieden mit sich, so wie es war.

Sie kaufte sich eine frische Brezel und wanderte knabbernd weiter, unter an Leinen aufgehängtem Chinesischem Rettich hindurch, vorbei an Kisten mit frisch gefangenen Muscheln und lebenden Krebsen.

Erste Nebelschwaden wirbelten um ihre Fußknöchel, die Sonne ging langsam unter. Sie war froh, dass sie ihre violette Steppjacke trug, als die kühle Abendbrise von der Bucht hereinwehte.

Wenn schon nichts anderes, so habe ich doch ein paar ganz nette Sachen zum Anziehen mit einem ordentlichen Rabatt bekommen, dachte sie und runzelte die Stirn, bevor sie ein großes Stück von der noch warmen Brezel abbiss. Wenn Mrs. Sommerson nicht gewesen wäre, dann hätte sie die Stelle in der Boutique noch. Und dabei hatte sie es nur gut mit der Frau gemeint …

Unwirsch zog sie die Haarnadeln heraus und warf sie in den nächsten Papierkorb. Das befreite Haar fiel ihr in langen Locken über die Schultern, und Cassidy seufzte vor Erleichterung auf.

Endlich! Cassidy biss herzhaft in die Brezel und lief auf das Wasser zu. Sie hatte diesen Job gebraucht, auch wenn es ein blöder Job gewesen war. Sie seufzte bedrückt, während sie über das Dock ging, vorbei an den festgemachten Booten. In Gedanken überschlug sie ihre Finanzen. Die Miete war nächste Woche fällig, und sie brauchte einen neuen Packen Schreibmaschinenpapier. Das müsste sie schaffen – wenn sie in den nächsten Tagen nicht allzu viel Wert auf Essen legte.

Ich wäre ja nicht der erste Schriftsteller in San Francisco, der den Gürtel enger schnallen muss, dachte sie. Diese Sache mit den vier Hauptnahrungsgruppen war vermutlich so oder so übertrieben.

Mit einem ergebenen Achselzucken verschlang sie den letzten Bissen ihrer Brezel. Das würde wohl vorerst für einige Zeit die letzte sättigende Mahlzeit für sie bleiben. Schief grinsend stopfte sie die Hände in die Taschen und schlenderte weiter zum Geländer am Ende des Docks.

Nebel schwebte über die Bucht herein wie ein Geist. Auf seinem Weg landeinwärts verschluckte er das Wasser. Doch heute war er luftiger als sonst, nicht wie diese dicke graue Melasse, die die Stadt so oft verschlang. Im Westen versank die Sonne am Horizont und schickte ihre letzten Strahlen wie Speere über das Meer.

Cassidy wartete auf das letzte goldene Aufglühen. Ihre Laune verbesserte sich schon wieder. Schließlich war sie von Natur aus optimistisch. Sie verlor grundsätzlich nicht die Hoffnung und glaubte an ihr Glück. So wie sie an das Schicksal glaubte. Und ihr Schicksal, da war sie absolut sicher, war das Schreiben. Ein Traum, der stetig genährt worden war, wenn sie mal wieder einen Artikel oder eine Kurzgeschichte an eine Zeitschrift verkauft hatte.

Die vier Jahre im College hatten sich einzig und allein darum gedreht, die Kunst des Schreibens zu perfektionieren. Die verschiedenen Jobs hatten sichergestellt, dass sie ein Dach über dem Kopf und zu essen hatte, mehr hatten sie ihr nie bedeutet. Was Verabredungen anging, so mussten diese sich danach richten, ob sie gerade Zeit hatte oder nicht. Und wenn sie sich verabredet hatte, dann hatte sie auch immer darauf geachtet, das Ganze unverbindlich zu halten.

Bis jetzt hatte Cassidy noch keinen Mann getroffen, der sie so sehr interessierte, dass sie von ihrem direkten, schnurgeraden Weg abgewichen wäre. Es gab keine Kurven oder Biegungen in ihrem Plan. Keine Abweichungen, keine Umleitung.

Der Abend legte sich über die Bucht, die Lichter im Hafenviertel flammten auf. Dass sie ihren jetzigen Job verloren hatte, beunruhigte Cassidy nur vorübergehend. Ihre Stimmung war schon viel besser. Sie war jung, voller Energie. Widerstandsfähig. Irgendwas würde sich schon ergeben.

Cassidy stützte sich auf das Geländer und sah auf die Wasseroberfläche hinunter. Kleine Wellen leckten an einem Fischerboot. Sie brauchte nicht viel Geld, jeder Job wäre ihr recht. Als Verkäuferin in einem Kaufhaus zu arbeiten könnte möglicherweise tatsächlich genau das Richtige für sie sein. Vielleicht in der Haushaltsgeräteabteilung. Wenn man einen Toaster anpries, war wohl ausgeschlossen, dass sie jemandem auf die Füße trat und dessen Eitelkeit verletzte.

Zufrieden mit dieser Lösung, verdrängte Cassidy auch die letzten trüben Gedanken und beobachtete die Nebelschwaden, die über dem Wasser wabberten und immer näher kamen, bis die ersten luftigen Fetzen sie erreichten.

Der Wind wurde stärker, es wurde schnell kälter. Cassidy hielt ihr Gesicht in die Brise und genoss das Gefühl von Nebel und Wind auf ihrer Haut. Der Lärm von den Marktständen drang nur gedämpft bis zu ihr herüber, der Nebel verschluckte auch die Geräusche. Ein Vogel zog über den Himmel und stieß einen gellenden Schrei aus, Cassidy sah auf und folgte seinem Flug mit den Augen. Das erste Mondlicht fiel auf ihr Gesicht, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie es sich erlaubte, ein wenig zu träumen.

Erschreckt zuckte sie zusammen und schnappte nach Luft, als sich von hinten eine Hand auf ihre Schulter legte. Noch bevor sie einen Laut ausstoßen konnte, wurde sie herumgezogen, und sie blickte in das Gesicht eines Fremden.

Er war groß, fast einen Kopf größer als sie, eine wilde dunkle Lockenmähne umrahmte sein schmales Gesicht. Er sah attraktiv aus … nein, gefährlich. Vielleicht lag es an ihrem Schreck, am schleichenden Nebel und der einbrechenden Dunkelheit, dass Cassidy dieses Wort angebrachter schien. Oder daran, dass er eher wie ein Abenteurer wirkte als ein Fischer. Seine Augen waren blau, ein tiefes, intensives Blau, das unter langen dunklen Wimpern hervorstrahlte. Über diesen Augen saßen geschwungene schwarze Augenbrauen. Seine Nase war schmal und gerade, die Lippen voll, und sein Kinn teilte ein Grübchen. Es war ein faszinierendes, markantes Gesicht. Die Jeans und der schwarze Wollpullover, die er trug, betonten seine maskuline Statur.

Cassidy hatte sich von dem ersten Schock erholt. Sie umklammerte ihre Handtasche und streckte den Rücken durch. »Hören Sie, ich habe nur zehn Dollar bei mir.« Furchtlos schob sie das Kinn vor. »Und die brauche ich mindestens so dringend wie Sie.«

»Seien Sie still«, befahl er knapp und kniff die Augen zusammen. Sein Blick lag beunruhigend intensiv auf ihrem Gesicht, musternd, durchdringend, suchend. Es jagte Cassidy einen Schauer über den Rücken, als der Fremde ihr Kinn fasste und ihren Kopf hin und her drehte. Ohne ein Wort zu sprechen, betrachtete er sie mit absoluter Konzentration. Seine Augen waren geradezu hypnotisierend. Cassidy konnte nichts anderes tun, als ihn stumm anzusehen und mitzuverfolgen, wie seine Augenbrauen sich zusammenzogen und er die Stirn runzelte. Erwartung lag in seinem Blick. Cassidy versuchte sich seinem Griff zu entziehen.

»So halten Sie doch still!«, ordnete er barsch an. Seine Stimme war tief, und er klang eindeutig verärgert. Sein Griff wurde fester.

Cassidy schluckte unmerklich. »Ich habe den schwarzen Gürtel in Karate, das sollten Sie wissen«, sagte sie mit bemühter Ruhe. »Ich werde Ihnen die Arme brechen, sollten Sie versuchen, sich an mir zu vergreifen.«

Sie sah über seine Schulter und musste feststellen, dass die Lichter der Restaurants durch den dichten Nebel nur noch schwach zu erkennen waren. Sie waren also praktisch allein hier auf dem Dock.

»Mit einem Handkantenschlag breche ich eine vier Zentimeter dicke Holzplanke in der Mitte durch«, fügte sie hinzu, als der Mann sich weder beeindruckt noch eingeschüchtert zeigte. Ihr war aufgefallen, wie kräftig seine Finger waren, und trotzdem er schlank und sehnig war, hatte er breite Schultern. »Außerdem kann ich sehr laut schreien. Also schauen Sie besser, dass Sie davonkommen.«

»Perfekt«, murmelte er und fuhr mit den Daumen über ihr Kinn. Cassidys Herz begann stürmisch zu pochen. »Absolut perfekt. Doch, Sie sind genau richtig.« Mit einem Schlag schwand die Intensität aus seinem Blick, und er lächelte. Die Veränderung ging so blitzschnell vor sich, war so verblüffend, dass Cassidy nichts anderes tun konnte als wortlos starren. »Warum sollten Sie das tun wollen?«

»Was?« Sie war noch zu verdattert über diesen abrupten Wandel, sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

»Eine vier Zentimeter dicke Holzplanke mit der bloßen Hand in der Mitte durchbrechen.«

»Wie bitte?«, fragte sie verständnislos. Den eigenen Bluff hatte sie längst vergessen. Sie runzelte die Stirn. »Oh, das«, fiel es ihr wieder ein. »Nun, zur Übung, vermute ich mal. Man muss seine Gedanken ganz auf das Brett richten und sich praktisch durch das Brett denken, oder so ähnlich, um dann …« Sie brach ab, als ihr bewusst wurde, dass sie hier auf einem verlassenen Dock stand und eine völlig unsinnige Unterhaltung mit einem potenziell Wahnsinnigen führte, der ihr Kinn noch immer eisern mit seinen Fingern packte. »Sie sollten mich jetzt besser loslassen, bevor ich etwas wirklich Drastisches tue.«

»Sie sind genau das, wonach ich gesucht habe«, sagte er, ohne ihrer Aufforderung nachzukommen. Cassidy hörte den Anflug eines Akzents heraus, aber sie nahm sich jetzt nicht die Zeit, darüber nachzudenken, welchen ethnischen Hintergrund er haben könnte.

»Nun, das tut mir leid für Sie, aber ich bin nicht interessiert. Mein Mann ist Football-Profi und spielt als Verteidiger bei den San Francisco 49ers. Er ist fast zwei Meter groß, wiegt hundertzwanzig Kilo und ist extrem eifersüchtig. Er müsste eigentlich jede Minute hier sein, wir sind nämlich hier verabredet. Und jetzt lassen Sie mich endlich los. Meine zehn Dollar können Sie von mir aus haben.«

»Wovon zum Teufel reden Sie da überhaupt?« Wieder runzelte der Fremde die Stirn. Mit den Nebelschwaden im Rücken sah er regelrecht wild aus. Er riss eine Augenbraue hoch, sodass sie unter ungebändigten schwarzen Locken verschwand. »Glauben Sie etwa, ich will Sie überfallen?« Verärgerung huschte über seine Miene und gab ihm ein noch grimmigeres Aussehen. »Ich bin weder an Ihren zehn Dollar interessiert noch habe ich es auf Ihre Ehre abgesehen. Ich will Sie malen.«

»Mich malen?«, wiederholte Cassidy fasziniert. »Sie sind Künstler? Sie sehen nicht aus wie ein Künstler.« Sie musterte seine Züge, die so sehr an die eines Piraten erinnerten, genauer. »Was für eine Art Künstler sind Sie?«

»Ein exzellenter«, erwiderte er nur und hob ihr Gesicht ein wenig höher. Ein Mondstrahl fiel darauf. »Ich bin berühmt, talentiert und passioniert.« Da war das charmante Lächeln wieder – und auch der irische Akzent. Cassidy reagierte auf beides.

»Ich bin beeindruckt.« Dieser Mann war offensichtlich nicht ganz bei Trost, aber er war interessant. Ihre Furcht war vergessen.

»Natürlich sind Sie das«, pflichtete er ihr wie selbstverständlich bei und drehte ihr Gesicht ins Profil. »Das ist schließlich zu erwarten.« Endlich ließ er ihr Kinn los, aber ihre Haut prickelte, dort, wo seine Finger gelegen hatten. »Ich wohne auf einem Hausboot, etwas außerhalb der Stadt. Wir gehen dorthin, und ich werde noch heute Abend die ersten Skizzen von Ihnen machen.«

Cassidy schaute ihn halb belustigt, halb argwöhnisch an. »Müssten Sie mir jetzt nicht anbieten, mir Ihre Skizzensammlung zu zeigen, sozusagen als Variation eines alten, immer gleichen Themas?« Sie fühlte sich nicht länger bedroht von dem Mann, auch wenn er wirklich hartnäckig zu sein schien.

Er seufzte. »Diese Frau denkt wirklich immer nur an das eine. Hören Sie … wie heißen Sie eigentlich?«

»Cassidy«, antwortete sie automatisch. »Cassidy St. John.«

»Oh nein. Halb irisch, halb englisch. Das könnte Probleme geben.« Er stopfte die Hände in die Hosentaschen, ohne die Augen von ihrem Gesicht zu nehmen. Er schien entschlossen, sich jeden Millimeter einzuprägen. »Cassidy, lassen Sie mich Ihnen versichern, dass ich weder Ihre zehn Dollar brauche noch plane, Ihre Ehre zu verletzen. Was ich will, ist Ihr Gesicht. Und ja, meine Skizzenmappe und alles andere, was noch so dazugehört, ist tatsächlich auf meinem Hausboot.«

»Ich würde nicht einmal auf Michelangelos Hausboot mitkommen, wenn er mir mit einer so plumpen Anmache käme.« Cassidy lockerte den Griff um ihre Handtasche und schüttelte ihr Haar zurück. Sie musste grinsen, als sie seinen schweren Seufzer hörte.

»Na schön.« Sie konnte seine Ungeduld spüren, als er sich zu den trüben Lichtern im Nebel umdrehte. »Wir bestellen uns eine Tasse Kaffee, in irgendeinem hell erleuchteten und gut besuchten Café. Ist Ihnen das lieber? Sollte ich Anstalten machen, etwas Unanständiges zu versuchen, können Sie ja den Tisch mit Ihrem berüchtigten Handkantenschlag zerbrechen und so dafür sorgen, dass alle Augen sich auf uns richten.«

Cassidys Lippen zuckten. »Ich glaube, darauf kann ich mich einlassen.«

Bevor sie noch etwas anderes sagen konnte, hatte er sie schon bei der Hand gefasst und zog sie hinter sich her. Es war eine seltsam vertraute Geste, und gleichzeitig konnte Cassidy seine absolute Entschlossenheit spüren. Dieser Mann würde ein Nein niemals akzeptieren. Er ging mit ausholenden Schritten auf die Kneipen und Cafés zu, und sie fragte sich, ob er es immer so eilig hatte. Dabei war sein Gang geschmeidig und locker.

Er zog sie in ein kleines Café und fand eine freie Nische. Sobald sie saßen, lag sein durchdringender Blick wieder auf ihrem Gesicht. Seine Augen waren von einem noch intensiveren Blau, als sie draußen auf dem dunklen Dock hatte erkennen können. Die schwarzen Wimpern und die gebräunte Haut ließen die Farbe noch strahlender erscheinen. Sie hielt seinem Blick stand, forschte selbst in seinem Gesicht und fragte sich, was für ein Mann wohl hinter solch blauen Augen stecken mochte.

Die Kellnerin brach den Bann.

»Was kann ich Ihnen bringen?«

»Äh … Kaffee, bitte«, sagte Cassidy. »Zwei Tassen«, fügte sie hinzu, als ihr Begleiter keine Anzeichen machte, etwas zu bestellen. Nachdem die Bedienung wieder davongetrottet war, richtete sich Cassidy an ihr Gegenüber. »Warum starren Sie mich eigentlich so an?« Es ärgerte sie, dass sie sich von diesem Blick nervös machen ließ. »Das ist sehr unhöflich, wissen Sie das? Und zudem nervenaufreibend.«

»Das Licht hier drinnen ist grässlich, aber immerhin besser als der Nebel da draußen. Glätten Sie die Stirn«, wies er an. »Wenn Sie die Stirn runzeln, bekommen Sie da oben eine Falte.« Bevor sie einen Ton sagen konnte, strich er ihr mit dem Finger bereits über die Stelle zwischen ihren Brauen. »Sie haben ein bemerkenswertes Gesicht. Ich bin mir nur noch nicht sicher, ob diese violetten Augen ein Plus oder ein Minus sind. Man tendiert dazu, Violett nicht für echt zu halten.«

Während Cassidy noch versuchte, diese Worte zu verarbeiten, brachte die Kellnerin die beiden Tassen Kaffee. Er schaute auf, lächelte sein umwerfendes Lächeln und nahm der jungen Frau den Bleistift aus der Hand.

»Den brauche ich, nur für ein paar Minuten. Entspannen Sie sich«, wandte er sich an Cassidy. »Trinken Sie Ihren Kaffee«, wies er sie mit einer nachlässigen Geste an. »Es wird auch ganz bestimmt nicht wehtun.«

Cassidy tat, wie ihr geheißen, während er auf einer Papierserviette zu zeichnen begann.

»Haben Sie einen Job mit festen Arbeitszeiten, die wir einplanen müssen? Oder unterhält Sie Ihr erfundener Ehemann mit den Mitteln, die er beim Football einspielt?«

»Woher wollen Sie wissen, dass er erfunden ist?«, konterte Cassidy und zwang sich, den Blick von seinem Gesicht zu wenden.

»Aus dem gleichen Grund, aus dem ich weiß, dass Sie erhebliche Schwierigkeiten mit einer Vier-Zentimeter-Planke hätten.« Er zeichnete ohne Unterbrechung weiter. »Also, haben Sie einen Job?«

»Ich bin heute Nachtmittag gefeuert worden«, murmelte sie in ihre Tasse.

»Das vereinfacht die Dinge ungemein. Lassen Sie das Stirnrunzeln sein! Ich bin kein geduldiger Mann. Ich zahle Ihnen das übliche Honorar.« Er sah auf. »Was ich vorhabe, sollte nicht länger als zwei Monate dauern. Wenn alles glattläuft. Schauen Sie nicht so schockiert drein, Cassidy. Meine Absichten waren von Anfang an ehrenhaft. Es war nur Ihre schlüpfrige Fantasie, die …«

»Meine Fantasie ist nicht schlüpfrig!«, widersprach sie empört. Sie spürte, wie ihre Wangen zu brennen begannen. »Wenn man sich im Nebel an andere heranschleicht …«

»Heranschleichen?« Seine Finger unterbrachen ihre Arbeit, er schaute auf und warf ihr einen verdrießlichen Blick zu. »Ich habe mich nicht an Sie herangeschlichen.«

»Nun, von meiner Warte aus betrachtet wirkte das aber ganz anders.« Sie nippte an ihrem Kaffee. Ihr Blick fiel auf die Skizze, die er angefertigt hatte. Überrascht riss sie die Augen auf und setzte die Tasse ab. »Aber das ist ja großartig!«, entfuhr es ihr impulsiv.

Mit wenigen schwungvollen Strichen hatte er ihr Gesicht zu Papier gebracht. Und nicht nur das, er hatte die Stimmung eingefangen, hatte das Wesen wiedergegeben, das sie als das ihre erachtete. »Es ist wunderbar«, sagte sie, als er auch schon eine zweite Skizze begann. »Sie sind ja wirklich talentiert. Und ich dachte, Sie wollten nur angeben.«

»Ich bin geradezu schonungslos ehrlich«, murmelte er, während der Bleistift zwischen seinen Fingern über das Papier flog.

Ihre Begeisterung nahm zu, als sie die Qualität seiner Arbeit erkannt hatte. Eine zweimonatige Beschäftigung … das war jetzt genau das, was sie brauchte. Nach Ablauf dieser Zeit würde sie bestimmt von dem Verlag gehört haben, bei dem im Moment ihr Manuskript lag. Zwei Monate, in denen sie schon einmal keine Toaster verkaufen musste! Die Abende würden frei bleiben, sodass sie an ihrer neuen Geschichte weiterarbeiten konnte. Die Vorteile drängten sich regelrecht auf, es wurde immer besser! Das Schicksal musste Mrs. Sommerson eingegeben haben, ausgerechnet heute Nachmittag ein Kleid kaufen zu wollen.

»Und Sie wollen wirklich, dass ich Ihnen Modell sitze?«

»Sie sind genau das, was ich brauche.« Er hörte sich an, als sei für ihn alles bereits beschlossene Sache. Die zweite Skizze war schon fast fertig. Die Tasse stand noch immer unberührt neben ihm. Der Kaffee musste inzwischen kalt geworden sein. »Ich will, dass Sie morgen anfangen. Um neun, das müsste früh genug sein.«

»Ja, aber …«

»Lassen Sie Ihr Haar offen, und übertreiben Sie es nicht mit dem Make-up, sonst werden Sie es nur abwaschen müssen. Ihre Augen könnten Sie vielleicht etwas betonen, aber nicht mehr.«

»Ich habe noch nicht gesagt, dass ich …«

»Natürlich brauchen Sie die Adresse.« Er überging ihre Einwände völlig. »Kennen Sie sich hier in der Stadt aus?«

»Ich wurde hier geboren und bin hier aufgewachsen«, teilte sie ihm leicht überheblich mit. »Aber ich …«

»Umso besser, dann werden Sie auch keine Probleme haben, mein Atelier zu finden.« Er kritzelte eine Anschrift auf den Rand der Papierserviette. Dann hob er jäh den Blick und musterte sie wieder.

Eine Weile starrten sie einander schweigend an, inmitten des Geklappers von Geschirr und der Gespräche der anwesenden Gäste. Was Cassidy in diesem Moment fühlte, hätte sie nicht beschreiben können, sie wusste nur, dass sie so etwas noch nie gefühlt hatte. Und so schnell es aufgekommen war, so schnell war es auch wieder vorbei. Er stand auf, und Cassidy fühlte sich, als wäre sie soeben eine lange Strecke in einer extrem kurzen Zeit gerannt.

»Neun Uhr«, sagte er nur. Er stutzte, überlegte kurz und ließ einen Geldschein für die beiden Kaffee auf den Tisch fallen. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Café.