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Kein Tier steht dem Menschen näher als der Wolf in seiner Haustierform, dem Hund. Kein Tier befruchtete die Mythen der Menschheit so wie der Wolf. Er war derjenige unter den Beutegreifern, dessen Verhalten dem unserer Vorfahren am stärksten ähnelte. Der Bruder Wolf, dem Jäger Mensch geheimnisvoll verbunden, wurde später zum Feind des Hirten und zum Teufel der Christen. Heidnische Kulturen verehrten "Wolfsmenschen", und Menschen glaubten, sich in Wölfe zu verwandeln, Ureinwohner Amerikas ebenso wie Germanen. Auch heutige Jugendliche identifizieren sich über den Wolf, denn Wölfe leben in der "Wildnis", so wie der Jugendliche in die Welt aufbricht. Als "Lupos", also Wölfe, bezeichnet man in Italien Jugendgangs. Nun kehrt der Wolf nach Deutschland zurück, und mit ihm erstehen die überlieferten Bilder wieder auf. Die einen begeistern sich für das faszinierende Wildtier, die anderen spinnen das Märchen vom Menschenfresser weiter. Das Buch zeigt, welche Bilder Menschen vom Wolf entwickelten und warum diese Bilder die Gesellschaften spiegeln, in denen sie entstanden. Damit eröffnet sich eine Perspektive, die hilft, die heutigen Emotionen bei der Rückkehr des Wolfes zu verstehen.
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Seitenzahl: 261
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Autor und Verlag haben den Inhalt dieses Buches mit großer Sorgfalt und nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt. Für eventuelle Schäden an Mensch und Tier, die als Folge von Handlungen und/oder gefassten Beschlüssen aufgrund der gegebenen Informationen entstehen, kann dennoch keine Haftung übernommen werden.
Copyright © 2013 by Cadmos Verlag, SchwarzenbekGestaltung und Satz: Johanna Böhm, DassendorfLektorat der Originalausgabe: Maren Müller
Coverfoto: shutterstock.com/Joel Bauchat Grant
Konvertierung: S4Carlisle Publishing Services
Deutsche Nationalbibliothek – CIP-EinheitsaufnahmeDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Abdruck oder Speicherung in elektronischen Medien nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.
eISBN: 978-3-8404-6155-2
INHALT
WOLF UND MENSCH – EINE ALTE GESCHICHTE
Hundemenschen – Die Naturgeschichte einer Kultur
Der Wolf als Lehrer der Jäger
Wolf und Hirte – Das Trauma des Abendlands
Wolfsmenschen und Ahnengeister – Der Schamane als Urform des Philosophen
RAUBTIERGÖTTER UND HIMMELSWÖLFE – WOLFSBILDER DER ANTIKE
Philosophen und Lykanthropen – Griechische Wolfsmythen
Die Wölfin erobert die Welt – Das alte Rom
Wolfshäuter und Todeswölfe – Wölfe der Germanen und Kelten
FASZINATION WERWÖLFE
Wolfssegner des Mittelalters
Der Werwolf im Hexenprozess
Der Werwolf von Bedburg – Serienmörder oder Justizmord?
Werwölfe in Literatur und Film
BRUDER WOLF DER INDIANER
Wolfskrieger und Bisonjäger
Krafttier Wolf
MODERNE WOLFSMENSCHEN
Die Bestie vom Gévaudan – Wildes Tier, Werwolf oder Serienmörder?
Rotkäppchen – Der Wolf und die Jugend
Serienmörder Wolf? – Der Werwolf von Hannover
Vom Nutzen der Bestie – Der Würger vom Lichtenmoor
DIE RÜCKKEHR DES WOLFES
Die Bestie und der Wildnisgott – Falsche Bilder vom Wolf
Der Wolf – Ein Urmuster der Psyche des Menschen
Ausgewählte Literatur
WOLF und MENSCH
Eine alte Geschichte
Die Rückkehr des Wolfes nach Deutschland löst heftige Emotionen aus – dabei interessiert die Wiederkehr des Elches oder die Ausbreitung des Bibers kaum jemand. Die einen fürchten um ihre Kinder oder zumindest um ihre Schafe, die anderen begeistern sich für einen Botschafter der Wildnis.
„Der Wolf ist ein Tier, das unserer Vergangenheit angehört“, schrieb der Wolfsforscher Erik Zimen. Er starb 2003, fast hundert Jahre nach dem Tod des letzten Wolfes in Deutschland, und er konnte nicht wissen, dass heute wieder viele Dutzend Wölfe bei uns ihre Heimat haben. Die Vergangenheit wird lebendig: Die Bilder vom Wolf sind nämlich in der Kulturgeschichte überliefert – ältere Menschen wuchsen auf mit dem Wolf als Bestie. Das Gegenbild ist eher bei Jüngeren verbreitet: Statt Angst vor dem Waldräuber zeigt sich Begeisterung. Diese „Wolfsfreunde“ sehen im Wolf die Heilung der geschändeten Natur. Wirkliche Erfahrung mit frei lebenden Wölfen hat kaum jemand, und trotzdem ist der Wolf niemand gleichgültig. Das kulturelle Gedächtnis schlummert im kollektiven Unbewussten. Geschichte wird Gegenwart; der Wolf kehrt zurück und mit ihm die Irrungen und Wirrungen des europäischen Verhältnisses zur Natur. Die Bilder vom Wolf verraten die Gesellschaft, die diese Bilder produziert. Das Gemälde von Meister Isegrim droht atavistisch als Ungeheuer, es glänzt heroisch als Herrscher über die Beute, und es schillert romantisch als edler Wilder. Realistisch ist es hierzulande jedoch fast nie.
Der „Wolf in uns“ verrät, wie wir die Welt außerhalb und innerhalb des Menschen handhaben; er verrät unsere Wünsche und unsere Abgründe. Warum löst aber gerade die Wiederkehr des Wolfes diese Gefühle aus, nicht jedoch die des Seeadlers oder des Schwarzstorchs? Kein Tier steht dem Menschen näher als der Wolf in seiner domestizierten Form als Hund. So schreibt Barbara Ehrenreich: „Unsere wichtigsten Jagdlehrer waren wahrscheinlich (...) die in Rudeln vorgehenden Wölfe und wilden Hunde.“ Im Unterschied zu den großen Katzen, den Bären und den anderen großen Beutegreifern schlossen sich die Wölfe zudem den Menschen an. Zugleich blieben sie eine Gefahr für die frühen Jäger. Wie die frühen Menschen jagen Wölfe im Sozialverband, und auch im wilden Wolf ist der domestizierte Hund erkennbar – der Hund, den wir in die menschliche Familie aufgenommen haben. Der Hund und damit der Wolf bricht die Grenze zwischen uns und den anderen Tieren auf.
Der Waldhund, so nannten Bauern den Wolf im Mittelalter, beschäftigte die Fantasie seit jeher, im gleichen Land ist er mal Bösewicht, mal Wohltäter; bei den Germanen verschlingt er die Welt an ihrem Ende und bei den Römern begründete eine Wölfin ihr Weltreich. Die Ägypter führte ihr Wolfsgott Upukaut in das Land des Feindes. In Griechenland strafte ein „guter“ Wolf einen Räuber, der den Apollotempel plünderte. Lykaon, der „böse“ König von Arkadien, musste jedoch als Wolf umgehen, weil er dem Gott Zeus Menschenfleisch anbot.
Werwölfe gehören zu den Stars des Gruselfilms: als Menschen, die sich in Monster verwandeln. Nur wenigen ist jedoch bekannt, dass solche Wolfsmenschen keine literarische Erfindung sind. Menschen stellten sich nämlich seit archaischen Zeiten vor, sich körperlich oder geistig in Raubtiere zu verwandeln. So zeigt eines der ältesten Kunstwerke überhaupt, eine 32 000 Jahre alte Figur von der Schwäbischen Alb, ein Mischwesen aus Löwin und menschlicher Frau.
Der germanische Gott Odin geht wohl auf die Figur des Jagdschamanen zurück, der in Gestalt eines Raben oder Wolfes seine Reisen in die Geisterwelt unternimmt. Die Sioux und die Komantschen der amerikanischen Prärien glaubten, dass der Wolf, ein Jäger wie sie, ihr Verwandter sei. Auch Tiere, die sich in Menschen verwandeln, sind weltweit verbreitet, so die Delfinmenschen des Orinoko oder die Fuchsgeister Japans.
Frühe blutige Göttinnen hatten mit sanften Mutterfiguren wenig zu tun. Sie waren Raubtiere, die das geheimnisvolle Leben gaben und nahmen. Mythen wimmeln von Herrinnen der wilden Tiere wie der Bärin Artemis oder der „wölfischen“ Jagdgöttin Diana. Morrigan, die Todeskönigin der Kelten, verwandelt sich selbst in eine Wölfin. Barbara Ehrenreich erklärt diese Bedeutung der Frau als Karnivor aus der gedanklichen Verbindung zwischen der Vagina in der Menstruation und dem blutverschmierten Maul des Raubtieres. Die Gebärmutter von Mutter Erde, aus der das Leben kommt, und der Höllenschlund Satans, der es verschlingt, gehörten zusammen.
Die wohl blutdürstigste Göttin der Jetztzeit ist Kali. Sie entspringt aus der Stirn der Kriegsgöttin Durga, weil diese zornig wird. Sie vernichtet die Dämonen, kann aber ihren Blutrausch nicht stillen. In der Hand trägt sie einen Säbel und um den Hals eine Kette aus abgeschlagenen Köpfen. Sie verheißt indes zugleich Schutz und vereinigt die Gegensätze. Noch heute opfern die Hindus ihr in Kalkutta – der Stadt Kalis – täglich das Blut von Ziegen, früher auch von Menschen. Ihre blutrote dreieckige Zunge symbolisiert eine tödliche Scheide. Die Frau mit ihren Blutungen war dem Geheimnis von Leben und Tod verbunden. Die Lupa, die römische Wölfin, war wie die Bitch, die Hündin in den USA, ein Synonym für eine sexuell machtvolle Frau.
Die Vielfalt der Tiermenschen entspricht derjenigen der Tiere. Ihre Eigenschaften entsprechen den bei den Tieren beobachteten: Der Satyr ist lüstern wie ein Ziegenbock, der Werwolf ein Jäger wie der Wolf, der Bärenmensch stark wie ein Bär. Ähnlichkeiten zwischen Tieren und Menschen flossen dabei in die Vorstellungen ein: Das „Lachen“ der Hyäne erinnert an eine garstige Frau, das „Heulen“ der Kegelrobbe an ein weinendes Kind. Afrikanische Kulturen haben entsprechend ihre Hexen, die sich in Hyänen verwandeln, und die Iren kennen Selkies, Robbenmenschen, die voll Sehnsucht auf ihre nasse Heimat schauen. Indien kannte Wertiger, Russland Werbären und Südamerika Werkrokodile. Daksin Ray, der Gott des Mangrovenwaldes in den indischen Sundarbans, kann in jeden Tiger einfahren. Der Tod durch einen „Maneater“ bedeutet den Einheimischen Strafe für ein von ihnen begangenes Vergehen.
Die Sundarbans sind die letzte große Wildnis Südasiens. Sie beherbergen die einzigen Tiger auf der Welt, die regelmäßig Menschen fressen. Der archaische Mensch kannte nicht die Arroganz, seine Kultur über die Natur zu stellen. Die Tiger am Golf von Bengalen erinnern heute an dieses Wissen und damit an die schmerzliche Erkenntnis, dass der Mensch ebenso sterbliches Fleisch ist wie die Tiere.
Wir leben jedoch in einem vom Menschen bestimmten Zeitalter. Tierarten sterben aus wie seinerzeit die Dinosaurier. Nur jedes zwanzigste Säugetier ist heute noch ein Wildtier. Der Mensch bedroht die wilden Tiere, nicht die Tiere den Menschen. Er sieht sich als Herrscher über die Natur, unterfüttert durch die Philosophie des Abendlandes, die den „denkenden Menschen“ als Gegensatz zum „Tier ohne Bewusstsein“ halluziniert. Dieser selbstgerecht gebastelte Antagonismus von Menschen und sogenannten Tieren ist der Kern der westlichen Ideologie. „animal“ kommt von „animus“. Es bedeutet beseelt. Das beseelte Lebewesen wurde aber zum seelenlosen Ding und der zu diesem Ding erklärte Mensch der Vernichtung preisgegeben. Das gute Gewissen der Kolonialherren stützte die Entwürdigung der Anderen als Tiermenschen – vom Völkermord an den ersten Amerikanern über die Versklavung der Afrikaner bis hin zum „Untermenschen“ im Faschismus.
Dieses Denken in Gegensätzen zeichnet das Mensch-Tier-Verhältnis des Westens aus, in einer Konstruktion, die mit den Bedürfnissen der Tiere nichts zu tun hat. Ein boomender Markt versorgt Haustiere mit Spielzeug. Tierpsychologen kümmern sich um die geliebten Hunde, und individuelle Tierquälerei löst einen Aufschrei aus. Die einen werden vermenschlicht: „Kindliche“ Hunde tragen Strickpullis. Die anderen werden zu Produkten: Sogenannte Nutztiere leben in Hallen ohne Sonnenlicht, bis sie geschlachtet werden. Besucher eines Wolfsgeheges mit Bratwurst in der Hand reagieren entsetzt, wenn sie erfahren, dass die Schafe auf der grünen Weide als Futter für die Fleischesser dienen, und ein Wolf mit gefletschten Zähnen über einem Schafskadaver schürt Ängste vor der Bestie, als ob seine Beute ansonsten das Paradies vor sich gehabt hätte. Der Reißerjournalismus weiß das und wechselt Bestienbilder mit Fotos von süßen Wolfswelpen ab – je nachdem, welche Reflexe er auslösen will. Ob wir im Gegenüber Gott oder den Teufel, ein Lebewesen oder eine Sache sehen, kommt also auf den Blickwinkel an.
Die Hinrichtung des Bären Bruno entlarvte das Verhältnis zu Wildtieren hierzulande. Seine Fans imaginierten ihn als Schmuseteddy. Seine Jäger trugen letztlich den Sieg davon und erbeuteten ihn als Trophäe. Wohlsituierte Europäer genießen derweil in Afrika „Wildnis“ und belehren die Einheimischen, wie sie ihre Wildtiere zu schützen haben. Beim ersten Bären im heimischen Wald setzte sich hingegen die unwürdigste Lösung durch – in Bezug auf den Wolf als Schießen, Schaufeln und Schweigen bekannt. Die Menschen in Afrika gehen derweil mit Tieren um, die nicht nur gefährlich sein könnten. Löwen und Leoparden, Schlangen und Krokodile, Flusspferde und Elefanten töten jedes Jahr Menschen. Jäger in traditionellen Gesellschaften lernten das Verhalten der Wildtiere wie Schüler hier die Regeln des Straßenverkehrs.
„EHRFURCHT VOR RAUBTIEREN SCHEINT KEINE ROLLE MEHR ZU SPIELEN; UND DOCH LEBT SIE IM UNBEWUSSTEN FORT.“
Für heutige Großstadtbewohner, die Tiere nur noch als den Bedürfnissen des Menschen angepasste Haustiere, zerteilt auf der Fleischtheke oder aus dem Zoo kennen, ist die Welt der frühen Jäger schwer vorstellbar. Die mächtige Rolle, die Tiere für sogenannte Naturvölker spielen, lassen Fernsehfiguren von samtäugigen Wölfen kaum erkennen. Ehrfurcht vor Raubtieren scheint keine Rolle mehr zu spielen; und doch lebt sie im Unbewussten fort: In den Angstträumen von Kindern treiben Tiermonster ihr Unwesen, obwohl die realen Gefahren, wie von einem Auto überfahren zu werden, nicht von Tieren ausgehen, und obwohl diese Kinder wirkliche Tiere dieser Art nie zu Gesicht bekommen. Die „Wildnis“ wird zur Freizeitindustrie, sie dient dem Outdoortourismus. Seit der deutschen Romantik bedeutete „Natur“ Ruhe vor den Stürmen der modernen Gesellschaft. Der heutige Abenteurer, der seinen Alltag am Schreibtisch verbringt, zieht sich hingegen die Wolfshaut über und erjagt sein Wolfskin im Trekkingladen. Wie die Spanier den „wilden Stier“ erst züchten, den der Torero dann „bezwingt“, so ist dem postmodernen Lederstrumpf die Natur, die er „überwindet“, organisiert. Die Onlinegesellschaft richtet sich die Wildnis als Kathedrale ein und der Wolf ist ihre Ikone.
Die Ehrfurcht, die die Bengalen dem Tiger entgegenbringen, zeigt indes, dass Menschen den gleichen Gesetzen unterworfen sind wie andere Arten. Nicht der Mensch, unbewaffnet und allein, sondern der Tiger herrscht in den Mangroven. Die Regeln, die sich die Bengalen auferlegen, damit dieser Herrscher sie verschont, verweisen auf die gesellschaftliche Evolution des Menschen. Der setzte sich nämlich durch, indem er die Fähigkeiten von Tieren kulturell kopierte. Der Mensch hat zudem die Fähigkeit, im natürlichen Geschehen einen höheren Sinn zu sehen und so dem Tod das Grauen zu nehmen. Vom Tiger wegen Freveln gegen göttliche Gesetze gefressen zu werden ist allemal erträglicher als der sinnlose Zufall, im Magen eines Karnivoren zu verschwinden. Wer gefressen wird, weil er Gesetze bricht, kann auch glauben, dass er überlebt, weil er Gesetze einhält. Den Wolf zu fürchten und sich die Fähigkeiten des Wolfes anzueignen, waren vermutlich zwei Triebkräfte der frühen Menschen.
„DAS RAUBTIER STELLT IN DER ELEMENTAREN RELIGIÖSEN ERFAHRUNG EINE HÖHERE DASEINSFORM DAR.“
Hinter jeder Herrschaft steht die Macht über Leben und Tod. Der Inbegriff dieser Macht ist das mit Zähnen bewehrte Maul des menschenfressenden Tieres. Wildtiere standen den Jägern als Beute, Konkurrenten und Fressfeinde gegenüber – unsere Vorfahren waren auch Opfer. Zum Wolf zu werden bedeutete, mehr als ein Mensch zu sein. So erörterte der Religionshistoriker Mircea Eliade: „Sich wie ein wildes Tier zu verhalten – wie ein Wolf, ein Bär, ein Leopard – ist das Zeichen dafür, dass man aufgehört hat, ein Mensch zu sein, dass man gleichsam zu Gott wird. Das Raubtier stellt auf der Ebene der elementaren religiösen Erfahrung eine höhere Daseinsform dar.“ Die Erfahrung als Jäger und Beute zugleich prägte Homo sapiens, und das Märchen von der Krone der Schöpfung ist Produkt eines Traumas, in dem der Sieg menschlicher Technik keinesfalls feststand.
Löwen, Kurzschnauzenbären oder Säbelzahntiger stellten die Spitze der Nahrungskette und nicht der frühe Mensch – zumindest nicht nackt und allein. Seine Intelligenz, seine Waffen, die er den Tieren nachahmte, und seine Zusammenarbeit ließen ihn zum bestimmenden Jäger werden. Wäre ohne von Tieren zu lernen Kultur möglich gewesen? Der Pfeil, der von der Bogensehne schnellt, spiegelt den Sturzflug des Falken, das Jagdmesser imitiert den Zahn der Großkatzen und die Lanze das Horn der Antilope.
Tiere verständigen sich über Artgrenzen hinweg: Die Strauße überblicken die Savanne; Zebras wie Antilopen riechen und hören Gefahr. Der Mensch brauchte einen solchen Verbündeten. Wie der Wolf und anders als Tiger oder Leopard war er durch seine unterlegene Statur auf die kollektive Jagd angewiesen. Der Wolf roch zudem besser, hörte besser und lief besser als der frühe Mensch.
Bären von der Größe eines Pferdes in Amerika oder gigantische Echsen in Australien bedeuteten Bedrohungen, denen gegenüber die heutige Serengeti wie ein Streichelzoo erscheint. Ob Siegfried mit dem Drachen kämpft und Jesus mit dem bösen Wolf oder ob Beowulf das Monster Grendel besiegt: Der Kampf des Helden mit dem Ungeheuer überliefert das zähe Ringen, vom Opfer zum Sieger zu werden. Zugleich kennzeichnen den Helden selbst Eigenschaften eines gefährlichen Tieres: Die Herrscher demonstrierten ihre Macht durch die Jagd auf Raubtiere. Gleichzeitig verglichen sie sich mit ihnen. Ist der Wolfskiller der Wolf der Wölfe?
Das als Gott verehrte Raubtier fließt über in den Priester, der selbst zum verehrten Tier wird. Das Blutritual inszeniert diese Raubtierverwandlung: Die Obsidianschneide, mit der die Azteken Gefangenen das Herz herausschnitten, repräsentiert die Zähne und Krallen des Jaguars. Der Gott, dem das Opfer gebracht wird, ist ein Jaguar. Löwenmenschen terrorisierten das heutige Tansania. Sie ermordeten ihre Opfer mit Waffen, die die Krallen der Katze nachahmten. Ähnlich mörderisch waren die Leopardenmenschen Liberias, die Anioto.
Verehrung und Furcht sind in Religionen Zwillinge. Steckt in dem Menschenopfer an die (Raubtier-)Gottheit die ersehnte Kontrolle über einen grausigen Zufall? Überhöhten die Menschen eine rationale Erkenntnis in das Religiöse? Ein Beutegreifer, der Beute gefunden hat, lässt die anderen nämlich überleben. Ein Drache, der jedes Jahr eine Jungfrau fordert? Verbirgt sich in solchen Märchen eine schreckliche Praxis? Opferten unsere Vorfahren Kinder, Alte und Kranke den wilden Tieren?
Der Wolf ist nicht nur ein Tier; er ist ein Mythos, und er ist ein Spiegel: „So wurden die unterschiedlichsten Bilder von ihm gezeichnet, die uns heute indes eher etwas über die Menschen von damals aussagen, ihre Ängste, ihre Sorgen, über ihr Machtstreben, ihre Art, Unterdrückung zu überleben, als über den Wolf selbst“, schrieb Erik Zimen.
Dieser Mythos Wolf wanderte mit den europäischen Eroberern, und auch in Südamerika und Australien, wo es nie wirkliche Wölfe gab, schweiften bald Wolfsmenschen umher. Heute berichten die Einheimischen im ehemals französischen Louisiana vom Ruraku – einer Art Sumpf-Yeti. Ruraku leitet sich vom „Loup-Garou“ ab, dem Werwolf. Die ganze Welt kennt solche wilden Männer, nicht mehr ganz Tier und noch nicht ganz Mensch. Warum spielt aber gerade der Wolf in diesen Mythen eine so zentrale Rolle – von Wolfskriegern über Unschuldige, die als Werwölfe lebendig verbrannten, bis zum Horrorfilm? Wir brauchen den Werwolf: Der Wolfsmensch erinnert daran, dass der Mensch auch ein Tier ist. Der Wolf erzählt uns davon, dass der dunkle Wald einmal auch unser Zuhause war.
Hundemenschen – Die Naturgeschichte einer Kultur
„Hatte Napoleon nicht einmal einen Koch dabei?“ So kritisierte Bertolt Brecht die Geschichtsschreibung über die großen Männer. Jeder weiß, dass die Franzosen und nicht Napoleon selbst seine Schlachten schlugen. Amundsen erreichte den Südpol, unsere Vorfahren überquerten die Beringstraße, jagten Hirsche und hüteten Schafe. Hatten sie nicht einmal einen Hund dabei? Ohne den Hund gäbe es die Kultur des Menschen, wie wir sie kennen, nicht.
Menschen und andere Tiere
Tiere in der Geschichte sind der blinde Fleck einer Geisteswissenschaft, die Kultur und Natur als Gegenpole entwirft. Das Tier prägt die Erfindung des Menschen im Abendland – und zwar als negatives Gegenbild zum Menschen: Menschen sind nämlich seit der Philosophie von Aristoteles (304–322 v. Chr.) Menschen, weil sie etwas Besseres als die Tiere sind. Das Christentum rückte den Menschen zwischen Gott und das Tier, und die Aufklärung konstruierte die Vernunft des Menschen gegen die Unvernunft des Tieres.
Tiere, die menschliche Kulturen ermöglichen, Tiere, die selbst Vorformen von Kultur entwickeln, eine Koevolution von Hund und Mensch, die in menschlichen Gesellschaften zusammenfließt? Diese Fragen brechen Zacken aus der selbst aufgesetzten „Krone der Schöpfung“, sie enttäuschen die „Spitze der Evolution“ und den „wissenden Menschen“, wie sich Homo sapiens bescheiden bezeichnet.
„Ich denke, also bin ich“, posaunte René Descartes (1596–1650), der Gottvater der mechanistischen Wissenschaft. Er war ein nachgewiesen gefühlskalter Mensch im psychologisch kranken Sinn, und seine Jünger zerschnitten Hunde bei lebendigem Leib; deren Laute als Schmerzensschreie wahrzunehmen, galt den Vertretern der einzigartigen Menschenseele als unwissenschaftlich, denn die „unwissenden Tiere“ funktionierten in ihrer Vorstellung wie Maschinen. Jane Goodall löste einen Aufschrei des Wissenschaftsbetriebs aus, weil sie Schimpansen als Persönlichkeiten erforschte, denen sie Namen gab. Den Vertretern der cartesianischen Schule sträuben sich die Nackenhaare, wenn Hundeforscher bei Kaniden von Bewusstsein sprechen.
Charles Darwin (1809–1882) löste seinerzeit ebenfalls einen Aufschrei aus, als er wieder erkannte, dass Menschen aus Tieren entstanden und Arten veränderbar sind. Er erkannte es wieder, weil sogenannte Wilde schon vorher Menschen und Tiere als Verwandte betrachteten.
George Louis Leclerc Buffon (1707–1788) sah bereits vor Darwin im Hund den Motor der Kultur: „Wie hätte der Mensch, ohne des Hundes Beistand, die anderen Tiere besiegen, bändigen, unterjochen können? (…) Die erste Kunst des Menschen ist also die Erziehung des Hundes und die Frucht dieser Kunst Eroberung und der friedliche Besitz der Erde gewesen.“ Buffon vermutete zwar eine Verwandtschaft zwischen Wolf und Hund. Er sah im Wolf aber das schwarze Schaf der Familie: „Unangenehm im Ganzen, von gemeiner Miene, wildem Anblick, schrecklicher Stimme, unerträglichem Geruch, boshaftem Naturell, unbändigen Sitten, ist er hassenswert, schädlich in seinem Leben, unnütz nach seinem Tode.“ Der Wolf sei von Mordlust geleitet und gefährlich, weil er auch die Mittel habe, diese auszuleben. Canis lupus war in Buffons Augen der Erzfeind des Hundes. Entweder beide mieden einander oder sie kämpften bis zum Tod. Gut ist demnach der Hund, der dem Menschen nützt; der unerzogene Wolf hingegen ist ein Asozialer in Tiergestalt.
Krähen stellen Werkzeuge her, Schimpansen erkennen sich im Spiegel, Elefanten trauern um ihre Toten und Gorillas entwickeln Traditionen. Die angeborene Grammatik erscheint als letzte Bastion der mit wissenschaftlichen Methoden ebenso wie emotionaler Entrüstung verteidigten Einzigartigkeit des Menschen. Werkzeuge herstellen, ein Bewusstsein über sich selbst entwickeln, sich in andere hineinversetzen oder Symbole anwenden können auch Tiere, und die Grenze verwischt.
„GUT IST DER HUND, DER DEM MENSCHEN NÜTZT; DER UNERZOGENE WOLF HINGEGEN IST EIN ASOZIALER IN TIERGESTALT.“
Auch das Tier, das die Computertastatur bedient und aus dem Wolf das Ebenbild seiner Bedürfnisse, die Hunde, herauszüchtete, ist nämlich das Ergebnis biologischer Evolution. Kein Tier prägte dabei diesen nackten Primaten so wie der Partner der Jäger, das ausführende Organ der Hirten, der Hüter der Kinder, der Retter in Erdbeben, Schneelawine und Seenot und der unfreiwillige Pionier im Weltall – der Hund.
Vom Wolf zum Hund
„Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: Damit machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen besten Haustiere.“ Mit diesen Worten kritisierte Friedrich Nietzsche die bürgerliche Gesellschaft der Moderne. Wann aber wurde der Hund selbst zum Haustier? Hunde, deren Skelette sich von Wölfen unterscheiden, sind bekannt seit circa 15 000 Jahren. Wolfsunterkiefer der Jungsteinzeit weisen schräg gestellte Zähne auf, ein Zeichen der Domestikation. Der Hund ist das Haustier der Jäger und Sammler und das einzige, das unsere Vorfahren nach Amerika begleitete.
„Das Zusammentreffen dieser aufrecht gehenden karnivoren Augenwesen, die mithilfe ihres Gesichtssinns jagten, mit den vierbeinigen karnivoren Vorläufern unserer Hunde (…), die mit einem überragenden Geruchssinn ausgestattet waren, musste zu einer Partnerschaft führen, die die ganze Welt eroberte“, so Erhard Oeser.
Der Stammvater des Hundes ist der Wolf, das belegt die DNA. Konrad Lorenz (1903–1989) glaubte, nur wenige Hunde stammten vom Wolf ab, die übrigen vom Schakal. Einmannhunde, die nichts Sklavisches an sich hätten, seien Nachfahren des Wolfes, in den „Feiglingen“ schimmere der Schakal durch, so Lorenz. Dem Biologen verzerrte das Ideal der Nationalsozialisten, „Sieg oder Tod“, die Sicht auf den Wolf. Wölfe wandern nämlich in der Geschlechtsreife ab, um sich zu paaren, und der einsame Wolf sucht nach einer Gefährtin. Blutige Kämpfe um die Hierarchie entstehen hingegen erst in der Gefangenschaft.
„Wer domestizierte wen?“, fragt Erhard Oeser. Der Mensch, meint Oeser, hätte erst vom Hund die soziale Intelligenz gelernt, die ihn befähigte, Staaten und Nationen zu bilden. „Die Ähnlichkeit des Bewusstseins, Denkens und Fühlens der Hunde mit dem Menschen beruht auf einer Anpassung der Hunde-intelligenz an den sozialen Partner Mensch, die wiederum genetisch fixiert worden ist“, erörtert Oeser. Hundehalter vermenschlichen Hunde und interpretieren deshalb ihr Verhalten oft falsch; die Hunde „vermenschlichten“ jedoch wirklich. Sie verschmolzen nämlich in der Domestikation mit dem kulturellen Bewusstsein des Menschen.
Die materiellen Bedingungen formen indes die Gesellschaften: Belege für Wölfe, die sich in Bürokratien organisieren, bringt Oeser nicht, weil es sie nicht gibt. Er beantwortet nicht die Fragen, wie sich Kulturen entwickelten, die keine Hunde hielten, und warum manche Völker Hunde lieben und andere sie verachten.
Hundwölfe
Über 400 Millionen Hunde in 500 Rassen streifen heute umher, vom Chihuahua, der in eine Handtasche passt, bis zum Irischen Wolfshund. Sie alle können sich unbegrenzt fortpflanzen, sind also streng biologisch Wölfe. Die Genetik dieses Hauswolfs richtete sich auf die Kultur aus: Hunde, die ohne Menschen aufwachsen, verstehen Menschen besser als Wölfe, die mit Menschen aufwachsen. Die magische Welt der Zeichen des Menschen erkennen Hunde von Natur aus. Wölfe leben in der natürlichen Welt; sie verstehen Worte und Gesten auch dann kaum, wenn sie auf Menschen geprägt sind. Der Partner mit der feuchten Nase versteht Menschen sogar besser als unsere biologischen Verwandten, die Schimpansen. „Hunde sind die einzigen Lebewesen, die mit dem Menschen eine so enge Lebensgemeinschaft eingehen, dass sie nur durch den Tod beendet werden kann“, so Oeser.
Nur wenige Wölfe haben eine so geringe Fluchtdistanz, dass sich die Ernährung beim Menschen lohnt: Nur solche „Müllwölfe“ führen sich durch Abfallhaufen mehr Energie zu, als sie verbrauchen. Spalteten sich Wölfe genetisch ab, als sie sich den Menschen anschlossen? Formte sich unser Hund erst aus diesen Hundwölfen heraus? Zahme Wolfswelpen ermöglichen keine Veränderung der Genetik. Ein Szenario, in dem sich Wölfe zuerst genetisch veränderten und dann erst gezüchtet wurden, ist jedoch denkbar. Wölfe, die sich den Lagern näherten, werden erwachsene Tiere gewesen sein, die ihre Jungen im Umfeld der Menschen aufzogen. Hier kommt der Pflegetrieb ins Spiel, den Tierkinder auslösen.
Nutzte der Mensch den Hund als Nahrung? 7000 Jahre alte Hundeknochen belegen den Verzehr. Chinesen und die Azteken hielten Hunde zwar speziell zum Essen – der Wolf ist aber Fleischfresser: Ein Tier mit Fleisch zu füttern, damit es Fleisch produziert, ist jedoch ineffizient.
Peter Pan im Wolfsfell
Peter Pan, der Junge, der nie erwachsen wird, gibt es wirklich, allerdings auf vier Pfoten. Das Wolfsrudel ist eine Familie. Wölfe bringen mehr Kinder zur Welt, die schneller reifen, und deshalb ist das „Rudel“ größer als beim Menschen. Die lange Kindheit der Primaten bedeutet für alte Weibchen, ihre Gene besser weitertragen zu können, indem sie die Kinder ihrer Kinder betreuen, als selbst Kinder auf die Welt zu bringen. Wölfe gehören zu den wenigen Säugern, bei denen sich die älteren Geschwister um die jüngsten sorgen. Ein halbwüchsiger Wolf ließe sich also perfekt in die menschliche Familie integrieren, vorausgesetzt, er würde nicht erwachsen. Dieser infantile Wolf ist der Hund. Das Unterwerfen unter seine (menschlichen) Wolfseltern behielt er vom wilden Welpen.
Der sowjetische Forscher Dimitri Beljaew züchtete Silberfüchse auf Zahmheit, suchte die zutraulichsten Tiere heraus und achtete strikt darauf, die Welpen nicht auf Menschen zu prägen. Bald verhielten sich 85 Prozent der Nachkommen „wie Hunde“, leckten die Hände und suchten den Kontakt zu Menschen. Der Hormonspiegel stabilisierte sich auf niedrigem Niveau; die Füchse wurden nicht erwachsen. Sie sahen sogar aus wie Hunde. Sie bekamen Schlappohren und aufgerollte Schwänze. Warum kuscheln Kinder aber mit Golden Retrievern und nicht mit Schmusefüchsen? Füchsen fehlt die Familie, die gemeinsam lebt. Als Jagdhelfer für größeres Wild und als Wächter der Lager sind die Einzelgänger ungeeignet.
Die Gruppenbindung des Wolfs ließ ihn zum Partner der Menschen werden. Denn „von allen möglichen Vorfahren der Hunde kommt jene Art infrage, welche die ausgeprägteste soziale Intelligenz besitzt, und das sind unbestreitbar die Wölfe“, meint Oeser. Nicht der Wolf, sondern der Afrikanische Wildhund organisiert sich jedoch in den differenziertesten Verbänden. Rudel mit über 40 Tieren, was beim Wolf in den Bereich der Schauermärchen gehört, sind bei ihnen keine Seltenheit. Sie, und nicht die Wölfe, sind die „Kommunisten“ unter den Hunden, versorgen Kranke außerhalb ihrer Kernfamilie und ziehen die Jungen gemeinsam auf. Dieser Canide lebt zudem in Ostafrika, wo Homo sapiens seinen Ursprung hat, und die Ägypter setzten ihn zur Jagd ein.
Warum ging das Haustier der Jäger nicht aus diesem Wildhund hervor? Er erbeutet Großwild am effizientesten unter allen Hunden. Jagt er zu gut, verglichen mit dem Wolf, der auch mit Aas vorliebnimmt? Sich dem Abfall des Menschen anzuschließen, entspricht Canis lupus und widerspricht Lycaon pictus.
Beutetiere präsentierten sich nicht als leichte Opfer: Neandertaler litten unter Knochenbrüchen, wie wir sie heute nur vom Rodeoreiten kennen, also vom ständigen Ringen mit großen Huftieren. Unserem Vetter fehlten Nase und Ohren des Wolfes, und der Muskelprotz pirschte sich vermutlich im Wald an seine Beute heran, statt sie zu hetzen. Er starb vor 24 000 Jahren aus. Damals könnten Cro-Magnon-Menschen den Hund bereits genutzt haben, was sie dem Neandertaler überlegen gemacht hätte. Homo sapiens wanderte aus Nordostafrika in die Welt. Begleiteten ihn Hundwölfe? Eine nette Spekulation. Denn Arabische Wölfe waren einst auf der Halbinsel Sinai verbreitet.
Jäger oder Müllschlucker?
Jagdhunde müssen das Produkt eines langen Prozesses gewesen sein, denn erst die Reaktion auf Hör- und Sichtsignale des Menschen ermöglicht die Jagd unter seinem Kommando. Entwickelte sich das Verstehen aus der Koevolution der beiden Raubsäuger, so wie Zebras den Strauß „verstehen“?
Pariahunde geben womöglich ein Bild des frühen Zusammenlebens. Diese „Underdogs“ beschrieb Alfred Edmund Brehm (1829–1884) als „zwar herrenlos, aber in Abhängigkeit zum Menschen“. Sie ernähren sich von Müll und Mäusen. Sie streiten sich mit Geiern und Waranen um Aas. „Ein toter Esel oder ein verendetes Maultier wird von der hungrigen Meute in einer einzigen Nacht bis auf den Knochen verzehrt“, so Brehm und weiter: „Aas bleibt der (…) Hauptteil ihrer Nahrung; doch sieht man sie auch katzenartig vor den Löchern der Rennmäuse lauern und schakal- oder fuchsartig diesen oder jenen Vogel beschleichen.“ Sie leben näher am Menschen als Wildtiere, aber weiter von ihm entfernt als die Haushunde. Brehm schrieb: „Innerhalb ihrer eigentlichen Wohnkreise sind die verwilderten Hunde ziemlich scheu und vorsichtig, und namentlich vor dem fremdartig Gekleideten weichen sie jederzeit aus, sobald dieser sich ihnen nähert.“ Im heutigen Indien behandeln die Menschen sie freundlich, raten Reisenden jedoch, einen Stock mitzuführen, um sich zur Wehr zu setzen. Die Straßenhunde sehen Menschen nicht als ihr Rudel an. Sie akzeptieren aber die Ansässigen und verteidigen gegen Unbekannte ihr Revier. Einige sind halbe Haushunde, andere leben ähnlich Schakalen außerhalb der Siedlungen. Die Einheimischen schätzen sie als Müllverwerter. Verhielten sich die ersten Hunde ähnlich?
„HOMO SAPIENS WANDERTE AUS NORDOSTAFRIKA IN DIE WELT. BEGLEITETEN IHN HUNDE?“
„Dem Hund, wie wir ihn kennen, gingen lockere Bindungen voraus, in denen Paarungen mit Wölfen vorkamen“, so Oeser. Eine Reise nach Kalkutta heute gibt einen plastischen Eindruck für diese These. Pariahunde sind dort als Müllschlucker beliebt und ersetzen das Wasserklosett.
Pharaonenhunde und Schakalgötter
Menschen züchteten die Hunderassen aus dem Alleskönner Wolf heraus. Skelette vom Windhundtyp belegen spezialisierte Typen bereits vor 7000 Jahren. Im Altertum kristallisierten sich schwere Doggen heraus, bei den Vorkelten wie im Zweistromland. In den Wäldern des Nordens interessierten sich die Jäger für den Spürsinn des Hundes, und den Bedingungen in den Wüsten entsprachen die Windhundeartigen.
Den ersten bekannten Hund mit einem einheitlichen Rasseprofil malte ein ägyptischer Künstler vor 5000 Jahren: Eine lange, schmale Schnauze, spitze Ohren und hohe Beine erinnern an den heutigen Pharaonenhund. Der Gott Anubis ähnelt einem Hund dieses Typs; sein Kopf entspricht aber auch dem des Goldschakals. Der Schakal, der Aasfresser, erscheint als Vorbild für einen Totengott sinnvoll. Die Ägypter verehrten diesen hündischen Gott jedenfalls in Kynopolis, der Stadt des Hundes. Ihre Hundebilder gleichen dabei auffällig dem heutigen Basenji. Der gehört zu den Pariahunden. Basenjis verhalten sich eigenwillig und ordnen sich dem Menschen nie vollkommen unter. Der Forscher Georg Schweinfurth beschrieb sie im Sudan 1868/71. Der Norden dieses Landes gehörte in der Antike zum ägyptischen Reich.
Der Saluki (der arabische), der Sloughi (der persische), und auch der Afghanische Windhund gehören zu den ältesten Rassen. Vor 5000 Jahren jagten ähnliche Tiere in der Wüste Persiens Gazellen. Pferd, Falke und Windhund sind noch heute der Stolz des Arabers und Persers: Ohne diese Tiere hätten sich ihre Vorgänger die Wüsten nicht erschließen können. Brehm schrieb: „Seinem natürlichen Triebe folgend, eilt der aufgescheuchte Wildesel den felsigen Abhängen zu (…). Nur solche gewandte Geschöpfe, wie die eingeborenen Windhunde es sind, können ihm in jene Gebiete folgen.“ Das dürfte 3000 Jahre zuvor umso mehr gegolten haben.
Die Pharaonen hielten zwar auch Löwen, Geparden und Afrikanische Wildhunde für die Jagd, nutzten aber vor allem Jagdhunde. Ihre Hochkultur brachte herrschende Klassen hervor, die von der Arbeit anderer lebten und nicht mehr zum Überleben, sondern zum Vergnügen jagten. Die Hieroglyphen berichten davon, dass die Ägypter die Hunde hoch schätzten. Sie gaben ihnen Namen und begruben sie in Holzsärgen. Grabbilder zeigen Hunde als Jagdgefährten und Schoßhunde.
Krieger mit Fell und Zähnen
Die Herrscher der Pyramiden zogen mit Hunden in den Krieg. Auch die Assyrer im heutigen Iran und Irak, eine wegen ihrer Grausamkeit gefürchtete Kultur, liebte solche gewaltigen Tiere. Die Römer ließen große Hunde aus Irland gegen Tiere kämpfen. Die Inselkelten führten Hunde in die Schlacht, kreuzten sie mit altirischen Rassen und gründeten so eine Zuchtlinie, die die Schnelligkeit des Windhundtyps mit der Kraft der Doggen verband.
Germanen setzten „Toggen“ ein, gefürchteter als menschliche Krieger; der italienische Mastino und der englische Mastiff sollen von ihnen abstammen; die Molosser vermitteln zumindest die Form der Kriegshunde. Schotten und Iren berichten von den Hunden der Feen. Diese Fabelwesen bezeichneten ursprünglich die ersten Bewohner der Britischen Inseln. Die Feenhunde sollen mit ihrem tiefen Gebell ihre Opfer lähmen, und die Schotten stellen sie sich wie riesige Mastiffs vor. Berichten die Fabeln von frühen Kriegshunden?