Die Geminiden - Spektrum (#2) - Nanna Foss - E-Book

Die Geminiden - Spektrum (#2) E-Book

Nanna Foss

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Beschreibung

Freundschaft, Liebe, Zusammenhalt, Geheimnisse und schicksalhafte Entscheidungen über die Grenzen der Zeit hinweg: »Die Geminiden« ist die fesselnde Fortsetzung der Fantasy-Mystery-Reihe SPEKTRUM Pi, Noah & Co. versuchen herauszufinden, warum ausgerechnet sie als Zeitreisende mit übernatürlichen Kräften auserwählt wurden und wer hinter dem Mordanschlag auf den Astrophysiker Josef steckt. Pi ist bislang durch ihr schrilles Äußeres aufgefallen und dadurch, dass sie ihre Gefühle meist hinter einem Lächeln verbirgt. Doch jetzt kann sie Feuer erzeugen und hat ständig Angst davor, jemanden zu verletzen. Außerdem wird sie jede Nacht von der Erinnerung an die Begegnung mit ›Schattengesicht‹ heimgesucht. Wer ist der unheimliche Mann, und wer ist der geheimnisvolle William, in den sie nach einem Kuss aus heiterem Himmel zu verlieben droht? Auf der Suche nach Antworten auf all ihre Fragen begibt sich die Gruppe auf neuerlichen Zeitreise, ohne die Folgen abschätzen zu können … »Echte Buchmagie ... Eine fantastische Erzählung mit einem Plot-Twist nach dem anderen.« WEEKENDAVISEN (Dänemark) Bd. 3 "Die Ursiden": Herbst 2025

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 691

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nanna Foss

Spektrum 2

Die Geminiden

Aus dem Dänischen von Alina Becker

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

Spektrum 1 – Geminiderne im Verlag Gyldendal, Kopenhagen.

Die Übersetzung wurde gefördert von der Danish Arts Foundation.

Deutsche Erstausgabe

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2025

GPSR-Kontakt: W1-Verlage GmbH, Semperstrasse 24, 22303 Hamburg, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Der Verlag untersagt ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung die Nutzung dieses Werkes im Sinne des §44b UrhG für das Text- und Data-Mining.

© Nanna Foss & Gyldendal, Copenhagen 2020. Published by agreement with Gyldendal Group Agency

Übersetzung: Alina Becker

Covergestaltung: Franziska Stern @coverdungeonrabbit unter Verwendung von Motiven von © cgtrader.com und © freepik.com

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Alle Rechte vorbehalten. Der Verlag untersagt ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung die Nutzung dieses Werkes im Sinne des §44b UrhG für das Text- und Data-Mining.

 

ISBN978-3-03880-183-2

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

PI

DIE GEMINIDEN-Playlist

Disturbed

Indestructible

 

Jason Mraz

I’m Yours

 

John Lennon

Happy Xmas (War Is Over)

 

Lady Gaga

Born This Way

 

Marilyn Manson

The Fight Song

 

The Beatles

Blackbird

I’ve Just Seen A Face

I Want to Hold Your Hand

I Will

With A Little Help from My Friends

Yesterday

 

Throwdown

Burn

1

Ich habe Josef nicht umgebracht.

Meine Finger krallen sich in die Fleecedecke auf meinem Schoß, während ich Noah anstarre. Seine Haut leuchtet bläulich im Schein des Fernsehers, sein Blick ist auf das Zombie-Spiel gerichtet, das er gerade auf der Playstation spielt. Das schwarze Haar hängt ihm in die Augen. Er machte keine Anstalten, es zur Seite zu streichen.

Das Klackern des Controllers ist das einzige Geräusch im Raum. Normalerweise zieht mein Bruder immer Grimassen, wenn er spielt, aber jetzt ist sein Gesicht ausdruckslos. Als hätte er den vergangenen Tag noch nicht verarbeitet.

Ich schwitze unter der Fleecedecke. Meine Haut kribbelt warm, vor allem an den Handflächen. Meine Kleidung und meine dicken Dreadlocks stinken immer noch nach Rauch.

Die Brandbombe hat den Schuppen zum Explodieren gebracht. Nicht ich.

Das habe ich mir immer wieder vorgebetet, seit wir von Karl zurückgekehrt sind. Seit wir ihm erzählt haben, dass wir seinen Vater sterben sahen.

Ich schließe die Augen und erinnere mich, wie meine Hände zu brennen begannen, als die Brandbombe durch das Fenster des Schuppens flog. Wie ich in Panik den Holztisch anzündete und sich das Feuer so nur noch schneller ausbreitete.

Wie ich es nicht, überhaupt gar nicht kontrollieren konnte. Und wie jeder Schrei meine Panik noch stärker machte, das Feuer noch kräftiger.

Ich weiß nicht, ob Josef so oder so tot gewesen wäre. Ich weiß nicht, ob wir irgendetwas hätten tun können, um es zu verhindern.

Aber ich habe es schlimmer gemacht.

Ich drehe die Handflächen nach oben. Meine Finger werfen krumme Schatten in dem blauen Fernsehlicht, das über sie hinwegflackert. Kein rotes Licht wie in dem Moment, als ich den Tisch in Brand setzte. Blutrote Flammen. Bis dahin waren sie immer gelb gewesen.

Im Erste-Hilfe-Kurs in Australien habe ich gelernt, dass man Feuer nie unterschätzen sollte. Es kann sich in Sekundenschnelle von harmlos zu tödlich entwickeln. Vor allem in der australischen Trockenzeit, wenn alles ausgedörrt und die Brandgefahr ultrahoch ist.

Ich habe gelernt, wie man Verbrennungen behandelt. Dass man niemals Wasser über brennendes Öl schütten darf, sondern stattdessen versuchen sollte, die Flammen mit einer Decke zu ersticken. Feuer muss atmen können, um zu leben.

Ich habe alles gelernt, was man über Feuer wissen muss. Nur nicht, was zu tun ist, wenn man selbst brandgefährlich ist. Wenn das Feuer von innen kommt. Ich habe keine Ahnung, wie ich es kontrolliere oder warum die Flammen plötzlich die Farbe wechseln. Was hat das rote Feuer zu bedeuten?

Aus dem Fernseher ertönen Schreie, als Noah einen Zombie mit einem Kopfschuss erledigt. Er kaut auf einem seiner Snakebite-Piercings herum, aber ansonsten ändert sich sein Gesichtsausdruck nicht. Seine Finger bewegen sich mechanisch über die Knöpfe.

Wir konnten nicht direkt ins Bett gehen, als wir in der Nacht heimkamen. Es war wie eine stillschweigende Übereinkunft. Noah hat die Playstation eingeschaltet und ich habe zwei Dosen Cola geholt. Obwohl wir jetzt telepathieren können, sind wir oft so sehr auf einer Wellenlänge, dass wir es gar nicht brauchen. Bei einigen Dingen zumindest.

Glücklicherweise ist niemand da, der unsere nächtlichen Eskapaden kommentieren könnte. Unsere Mutter kommt erst nächste Woche aus Australien zurück, also hat sie keine Ahnung, dass wir den Großteil des Abends im Jahr 1969 verbracht haben.

Ich ziehe die Beine hoch aufs Sofa, presse die Stirn fest gegen meine Knie und versuche, die Erinnerung an die lodernden Flammen aus meinem Kopf zu verdrängen. Aber sie tanzen auf den Innenseiten meiner Augenlider und lassen sich unmöglich ersticken. Ich öffne die Augen wieder. Sie brennen vor Müdigkeit.

Josef ist fort. Es fällt mir immer noch schwer, das zu verstehen. In der Vergangenheit haben wir ihn gerade erst kennengelernt, aber in unserer Gegenwart ist er schon seit vielen Jahrzehnten tot. Karl wurde als Siebenjähriger zum Waisenkind.

Es kommt mir vor, als säßen wir schon seit Stunden schweigend auf dem Sofa, aber draußen vor dem Fenster ist es noch völlig dunkel und die Schatten der vielen Umzugskisten im Wohnzimmer flimmern im Licht des Bildschirms.

Aus Gewohnheit tippe ich auf mein Smartphone, um zu sehen, wie spät es ist, aber das Display bleibt schwarz.

Oh, crap. Es funktioniert nicht. Alle unsere Handys und Uhren sind komplett zerstört worden, als wir durch die Zeit gereist sind. Stattdessen schaue ich auf die digitale Anzeige an einem der Geräte.

»Es ist halb vier. Wir sollten ins Bett gehen«, sage ich.

Noah pustet einem weiteren lebenden Toten das Hirn weg.

Wozu?, fragt er, ohne die Lippen zu bewegen.

Ich verziehe das Gesicht. Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, ihn in meinem Kopf zu haben. Es ist erst ein paar Tage her, dass wir die Sache mit der Telepathie entdeckt haben. Zum Glück teilen wir nicht alle unsere Gedanken miteinander, sondern nur das, was wir an den anderen gerichtet denken.

»Wenn wir die ganze Nacht wach bleiben, sehen wir so aus wie die da.« Ich werfe einen vielsagenden Blick auf die Zombies, die ziellos über den Bildschirm wanken. »Denk daran, was wir mit den anderen abgesprochen haben.«

Noah stößt ein Schnauben aus.

Ja sicher, telepathiert er. Klugscheißer-Alban findet, wir sollten ›eine Fassade von Normalität wahren‹.

»Nicht nur Alban«, erwidere ich gereizt. »Josef hat gemeint, wir sollen kein Aufsehen erregen und niemandem von den Zeitreisen und unseren Fähigkeiten erzählen. ›Ihr wisst nicht, wem ihr vertrauen könnt.‹ Das waren seine letzten Worte!«

»Nicht die allerletzten.« Noah benutzt zum ersten Mal seine Stimme, seit wir wieder zu Hause sind. Durch die vielen Stunden des Schweigens klingt sie noch heiserer als sonst. Er drückt auf Pause und dreht den Kopf zu mir. »Er wollte uns im Schuppen noch etwas erzählen, vor dem Ausbruch des Feuers. Was hat er noch einmal genau gesagt?«

Die Sommersprossen auf Noahs Nase rücken zusammen, als er versucht, sich daran zu erinnern, was passiert war, kurz bevor jemand Adriana und mich in den Schuppen stieß und die Tür zuschlug.

Ich schlucke.

»Er hat gesagt: ›Mehr Zeit bekommt ihr nicht. Und Betrügen ist lebensgefährlich.‹«

Noah nickt langsam.

»Was hat er mit ›Betrügen‹ gemeint?«, fragt er, eher an sich selbst gerichtet. Er setzt das Spiel fort und schießt weiter auf Zombies, in seine Spekulationen versunken. Beim Töten denkt es sich am besten. Das ist sein Mantra.

Normalerweise spiele ich mit. Ich liebe den Adrenalinkick, wenn wir uns in ›Tekken‹ gegenseitig killen oder gemeinsam Monster zur Strecke bringen. Aber im Moment wird mir von den röchelnden Schreien übel.

Ich schaue auf Noahs Hände, um das Gemetzel auf dem Bildschirm nicht ertragen zu müssen. Ein Großteil seines schwarzen Nagellacks ist abgeblättert, die Nägel sind weiter heruntergekaut als sonst. Das dreieckige Muster auf seiner Handfläche leuchtet immer dann bläulich auf, wenn das Licht des Fernsehers auf die glänzende Haut fällt. Die Narben sind ein physischer Beweis dafür, dass wir das alles nicht nur geträumt haben.

Wie kann es sein, dass unsere Verletzungen so schnell verheilt sind? Es sind erst wenige Tage seit den Verbrennungen durch den Zeitreisekompass vergangen, aber anstelle von Schorf haben wir bereits Narben. Mit exakt der gleichen Form und dem gleichen Muster wie das Glasprisma, das Noah in Australien gekauft hat. Glücklicherweise trägt er es immer unter dem Oberteil, sodass die Chance besteht, dass Mama die Ähnlichkeit entgeht und sie gar nicht erst anfängt, Fragen zu stellen.

Bis auf Weiteres kann ich die Narben noch unter meinen fingerlosen Handschuhen verstecken. Aber was ist, wenn es Sommer wird? Wir können sie nicht ewig verdecken. Nicht so clever, mit riesigen identischen Brandwunden herumzulaufen, wenn wir uns, wie Josef geraten hat, unauffällig verhalten wollen.

Ich habe das Gefühl, dass Mama ausflippen wird. Sie hat kein Problem mit unseren Piercings und wechselnden Haarfarben, aber bei Noahs illegalem Tattoo ist sie völlig ausgetickt. Ich schiele auf die großen schwarzen Buchstaben auf seinem Unterarm.

Courage is resistance to fear, mastery of fear

not absence of fear

Teenie-Rebellion ohne Rücktrittsrecht. Typisch Noah.

Mama hat uns Tattoos verboten, solange wir noch nicht achtzehn sind. Einer ihrer seltenen Erziehungsversuche, hat sie doch selbst am Hals ein Tattoo, ein hässliches Herz mit dem Namen Juan, als Erinnerung an ihre Jugendzeit.

Noah hat sich sein Tattoo stechen lassen, kurz nachdem Papa abgehauen ist. Hat die Sache nicht gerade besser gemacht.

Das Sofa knarrt, als er gegen die Rückenlehne plumpst. Die dreieckige Form des Prismas ist mitten auf seiner Brust zu erahnen, unter dem schwarzen T-Shirt.

Ich habe nie kapiert, warum er es trägt. So ein Bling-Bling passt eigentlich nicht zu seiner schwarz gekleideten »Scheiß auf die Welt«-Attitüde. Andererseits hält er es für eine Frage der Ehre, immer das genaue Gegenteil davon zu tun, was die Leute von ihm erwarten.

»Ich gehe jetzt ins Bett«, sage ich. »Wenn du später bei Karl einschläfst, don’t blame it on me.«

Noah versucht nicht einmal, zu antworten. Er erledigt zwei Zombies mit einem Schuss, ohne zu blinzeln. Ihre schlammig schwarze Hirnmasse spritzt in alle Richtungen.

»Ich werde dich nicht decken, wenn du die Schule schwänzt.« Ich stehe von der Couch auf.

Noahs Mundwinkel wandern nach unten und formen ein Lächeln. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der verkehrt herum lächeln kann.

»Schwänzen?«, fragt er unschuldig. »Das würde mir im Traum nicht einfallen. Was Alban sagt, ist – FUUUUUUCK!« Seine Stimme schwillt zu einem Brüllen an, als plötzlich eine Horde Zombies auf dem Bildschirm auftaucht. »SHIT! WOZUMTEUFELKOMMENDIEDENNHER?!« Er hämmert hektisch auf den Controller ein, aber der erste Zombie hat ihn schon erwischt. Die Lebensanzeige am oberen Rand des Bildschirms nimmt rasant ab.

»Viel Spaß beim Gefressenwerden«, sage ich, aber er ist so sehr damit beschäftigt, Verwünschungen in Richtung Fernseher zu schleudern, dass er mich gar nicht hört.

Ich lege die Fleecedecke auf die Armlehne des Sofas und schlängele mich an den Umzugskartons vorbei. Gefolgt von Noahs Rufen gehe ich die Treppe hinauf in mein Zimmer.

Meine Nachttischlampe ist noch nicht an die Wand geschraubt worden, also lasse ich sie von einem Umzugskarton aus leuchten, während ich mich in meine Bettdecke einwickele und ganz an die Wand rücke. Ich nehme mein Tablet und gehe online. Eine meiner alten Klassenkameradinnen in Australien hat ein Paar sonnencremeglänzende Unterschenkel am Strand gepostet, getaggt mit #aussiespring und #crazyfrigginHOT. Da unten ist es jetzt fast Sommer. Das Leben dort geht seinen gewohnten Gang, auch wenn Noah und ich nicht länger dazugehören.

Ohne die sozialen Medien hätte ich keine Ahnung, was all meine alten Freunde so treiben. Jedes Mal, wenn wir umziehen, verspreche ich, in Kontakt zu bleiben, aber irgendwie verläuft alles im Sand. Meine Freundesliste ist ein Flickenteppich aus verschiedenen Epochen meines Lebens. Schulen, Vereine, Sportteams, Ferienlager. Wenn ich jedem Einzelnen lange Nachrichten schreiben müsste, würde ich mehr Zeit in der Vergangenheit als in der Gegenwart verbringen. Es ist einfacher, ein ›Like‹ zu geben und den Rest meiner Energie auf das Leben im Hier und Jetzt zu verwenden.

Ansonsten ist mein Feed voll von Bildern und Tour-Updates von den Musikern, denen ich folge, aber ich habe keine Lust, etwas davon zu kommentieren oder zu reposten. Und ich schaffe es beim besten Willen nicht, auf Mamas überdrehte E-Mail zu antworten, in der sie schreibt, wie irrsinnig schnell sie den Papierkram für unser Haus in Australien und die Kunstgalerie doch erledigt und wie unfassbar sie sich darauf freut, uns bald zu sehen, und wie viel Glück sie gerade bei einer Auktion für ein Gemälde auf irgendeiner Antiquitätenseite hatte.

Ich lege das Tablet auf den Boden und rolle mich noch enger in die Bettdecke ein. Die Schüsse und das Geschrei von Noahs Zombie-Spiel dringen leise durch den Boden. Ich versuche, mich zusammenzureißen und das Licht auszuschalten, aber ich kann es immer noch nicht.

Komm schon, Pi, denke ich. Es ist doch nur Dunkelheit.

Meine Finger krallen sich an den Rand der Bettdecke. Das Licht der Nachttischlampe färbt meine Fingerknöchel gelb, obwohl mir klar ist, dass sie weiß sind.

Ich sehe wieder die Flammen vor mir. Wie sie alles verzehrt haben. Wie ich sie habe intensiver werden lassen. Wenn Emilie und Alban nicht rechtzeitig die Tür von außen geöffnet hätten, wären wir bei der Explosion alle umgekommen.

Ich kneife die Augen fest zu.

Jemand hat versucht, uns zu töten, aber wer?

Josef hat behauptet, dass auch andere durch die Zeit reisen können. Was, wenn auch der Bombenleger ein Zeitreisender ist? Sind wir in unserer Gegenwart überhaupt sicher?

Die Dunkelheit außerhalb des gelben Lichtkreises der Lampe dringt zu mir durch. Ich spüre, wie sie auf meine geschlossenen Augenlider drückt, sich schwer über meine Bettdecke breitet und mir das Atmen erschwert.

Ich hole tief Luft, langsam. Zähle in Gedanken.

1–2–3.

Ein-at-men.

Ich versuche, mein Gehirn komplett auszuschalten. Wie beim Laufen, wenn die Welt um mich herum verschwindet und nur mein Atem bleibt.

1–2–3.

Aus-at-men.

Die Geräusche aus dem Wohnzimmer werden leiser, meine Muskeln entspannen sich. Langsam einatmen. Langsam ausatmen.

Wieder. Und wieder. Und wieder …

2

Der Schotter knirscht unter den Reifen meines Fahrrads. Das Handy ist auf volle Lautstärke gedreht und ich singe ›I Will‹ mit, so laut, dass meine Kehle rau wird. Der weiße Lichtkegel der Fahrradlampe tanzt vor mir wie ein schmaler Pfad durch die Dunkelheit. Mit dem alten Beatles-Song im Ohr kommt es mir so vor, als würde ich durch einen Schwarz-Weiß-Film aus der Vergangenheit fahren. Meine Dreadlocks klatschen gegen meine Schultern, während ich vorwärtssause. In meinem Bauch, der nach der Strand-Grillparty meiner Klasse noch mit Burgern und Softdrinks gefüllt ist, blubbert es vor Freude.

Ich unterlege Paul McCartneys Falsett mit einer opernhaften Zweitstimme und trete fester in die Pedale.

Der Englischtest heute ist gut gelaufen. Ich bin mir nur bei zwei Fragen nicht sicher gewesen. Und jetzt liegen zwei Wochen Ferien vor mir, bevor das nächste Schulquartal beginnt. Surfen und Partys und Gitarre spielen am Lagerfeuer. Keine Hausaufgaben. Yeah!

Die Playlist springt zu ›Born This Way‹ von Lady Gaga. Der schnelle Rhythmus der Musik pulsiert durch meine Beinmuskeln.

Ich lege den Kopf in den Nacken, johle den sichelförmigen Mond an und grinse so breit, dass meine Wangenpiercings an den hinteren Backenzähnen kratzen.

Dann fahre ich durch ein Schlagloch und verliere durch den Ruck einen meiner Ohrstöpsel. Das Pfeifen der Zikaden dringt in das freie Ohr, während das andere noch mit Musik vollgedröhnt wird.

Ich werfe einen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass mein Hoodie noch fest auf dem Gepäckträger klemmt. Die drei gelben Punkte des Rettet Christiania-Logos leuchten in der Dunkelheit, und ein Ärmel hat sich gelöst und flattert hinter mir wie ein roter Wimpel. Ich versuche, ihn im Fahren zu schnappen, aber das bringt mich nur aus dem Gleichgewicht.

Ach, fuck it. Ich bin sowieso gleich zu Hause.

Ich stopfe mir Lady Gagas andere Seite zurück ins Ohr und gebe Gas.

Der Wind fühlt sich wie lauwarmer Atem auf meinem Gesicht an. Die Nächte werden langsam wärmer. Ich muss mich immer noch daran gewöhnen, dass es im September Frühling wird, weil die Jahreszeiten in Queensland genau umgekehrt zu London sind.

Australien ist um Lichtjahre geiler als England, wo wir letztes Jahr gelebt haben. Ein Haus mit dem Pazifik direkt hinterm Garten ist auf jeden Fall besser als ein Penthouse mit Blick auf eine Skyline, die im Smog versinkt. Und ich mag es, so weit von der Stadt entfernt zu wohnen, dass man nachts die Sterne sehen kann.

Ich radle durch ein Gebiet, das von einem Buschfeuer verwüstet worden ist. Die Baumstämme hier sind nackt und dunkel, und das Gras fängt gerade erst wieder an, aus der verbrannten Erde zu sprießen. Ich erschaudere bei dem Gedanken, vom Feuer eingeschlossen zu sein. Versuche, nicht auf die dunklen Silhouetten zu schauen.

Aber Lady Gaga übertönt schnell die düsteren Gedanken, und ich singe extra laut mit, lasse den Lenker los und breite die Arme aus. Die Freude sprüht wie kleine blaue Funken durch mein Blut.

Freiheit. Tempo. Musi…

Ich erwische wieder ein Schlagloch und Lady Gaga wird mir aus den Ohren gerissen, als mein Handy aus der Gesäßtasche fällt.

»Shit.« Ich stoppe mit quietschenden Bremsen und lasse das Fahrrad auf den Schotterweg fallen. Im Mondlicht suche ich angestrengt nach dem Handy und halte Abstand zum Gras am Wegrand, um nicht auf eine Schlange oder etwas anderes Fieses zu stoßen.

Etwas weiter den Weg hinauf raschelt es in einem Busch, aber ich beachte es nicht. Ich bin zu weit vom Fluss entfernt, als dass es ein Krokodil sein könnte, und die Dingos sind sehr scheu und kommen Menschen eigentlich nicht zu nahe.

Mein Spaghetti-Top klebt mir am Rücken und ich spüre einen kleinen Stich am Hals.

»Damn!« Ich schlage nach dem Störenfried. Hoffentlich schwillt der Stich bis zur Party morgen nicht zu sehr an. Nicht, dass ich dann aussehe wie ein …

»Suchst du was, Sweety Pie?«

Ich zucke zusammen und schaue die Straße entlang. Im schwachen Mondlicht erkenne ich eine Gestalt, die hinter einer Gruppe verkohlter Eukalyptusbäume hervortritt und sich nähert.

»Mein … mein Handy«, stammele ich mit bis zum Hals klopfendem Herzen.

Woher kennt er meinen Kosenamen? Den benutzt nur Mama.

Und warum spricht er Dänisch mit mir? Ich dachte, wir wären so ziemlich die einzigen Dänen hier in der Gegend.

Der Mann steigt über das umgestürzte Fahrrad. Ich kann ihn nicht richtig erkennen, weil er sich um den Lichtkegel herumbewegt, den die Fahrradlampe schräg in die Luft wirft. Seine Schritte auf dem Schotter klingen ungleichmäßig, als würde er humpeln.

»Ein Handy?« Seine Stimme ist rau und er macht seltsame schniefende Geräusche.

Ich halte den Atem an und stehe ganz still. Der Mann stoppt ein paar Meter vor mir. Seine Silhouette ist vornübergebeugt und sein Atem pfeift.

»Dumm gelaufen«, sagt er. »Dass es dir heruntergefallen ist.«

»Ich komme einfach morgen wieder und suche es«, sage ich schnell. »Jetzt ist es sowieso zu dunkel.«

Ich gehe auf mein Fahrrad zu, aber der Mann stellt sich mir in den Weg. Er schnauft erneut.

»Grüß mir meine Schwester, wenn ihr nach Dänemark zieht«, sagt er.

Umziehen? Wir sind doch gerade erst angekommen. Ist er dicht?

»Sie ist älter als ich. Eine alte Schnepfe. Sie sieht nicht mehr wie meine kleine Schwester aus. Du wirst sie nicht wiedererkennen.« Die Atemzüge des Mannes zischen schärfer, je mehr er spricht. Er humpelt einen Schritt näher heran. »Sie war immer die Sensibelste von uns dreien. Sie konnte damit nicht umgehen. Horror Vacui hat sie in den Wahnsinn getrieben.«

Horror-was-für-ein-Ding?

Oh shit, er muss wirklich auf Drogen sein.

Es raschelt im Gebüsch und der Mann dreht ruckartig den Kopf zur Seite.

Einen Moment lang kann ich sein Profil im Schein der Fahrradlampe erkennen. Der Nasenrücken ist schief und das Licht zeichnet scharfe Schatten auf seinem Gesicht, die seinen Mund wie eine Kluft zwischen den Wangen wirken lassen. Ein Muster auf seiner Haut schlängelt sich vom Ausschnitt seines Hemdes bis zum Hals. Es ist dunkel wie eine Tätowierung. Vielleicht eine Schlange oder so etwas.

Das raschelnde Geräusch verstummt. Der Mann wendet das Gesicht vom Licht ab und als er mich wieder ansieht, verschwindet das schattige Lächeln. Ich weiche einen Schritt zurück, aber er kommt mir näher. Ich suche am Wegrand vergeblich nach meinem Handy.

Wenn ich doch nur per Gedankenübertragung einen Notruf absetzen senden könnte. Telepathisch. Wie in Noahs dämlichen Comicserien.

»Du hast keine Ahnung, was dich erwartet.« Der Atem von Schattengesicht riecht ekelhaft und süßlich, schlechte Mundhygiene gemischt mit einer starken Alkoholfahne. Er schnauft wieder, fast wie ein Hund, der versucht, mich zu erschnüffeln.

»Mein Bruder kommt gleich«, sage ich laut. Ich atme ruckartig und ein Schweißtropfen läuft mir am Rücken hinunter.

»Das kann noch dauern«, sagt er. »Noahs Taekwondo-Training zieht sich eine Weile hin.«

Ein Adrenalinstoß schießt mir unter den Rippen hoch.

Verfolgt er uns?

»Ich muss jetzt nach Hause. Meine Eltern machen sich Sorgen, wenn ich zu spät komme.« Ich versuche, ruhig zu klingen.

»Sie sind doch nicht zu Hause, Sweety Pie.« Der Mann schnalzt mit der Zunge. »Niemand weiß, dass du hier bist. Und niemand wird es herausfinden. Wenn du irgendjemandem von mir erzählst, bringe ich deine Familie um. Es wird mir ein Vergnügen sein, deinen verdammten Bruder zu töten, nach allem, was ihr getan habt.«

Die Angst kribbelt in meinem Nacken und bringt mich zum Zittern.

»Ist dir kalt?« Er streckt eine Hand aus, aber ich weiche zurück und gehe einen Schritt auf mein Fahrrad zu.

»Nein.« Ich versuche abzuschätzen, wie lange ich brauchen werde, um wieder in den Sattel zu kommen. Wenn er wirklich betrunken ist, müsste ich ihm davonfahren können.

»Nein, Mädchen mit Feuer frieren nie, oder?« Sein Lachen klingt so rau wie sein Atem, es ist fast ein Husten.

Harte Finger greifen fest um meinen Oberarm. Mein Körper reagiert von selbst und stößt ihm ein Knie zwischen die Beine.

Schattengesicht stößt einen heiseren Schrei aus und lässt mich los.

Ich haste zum Fahrrad. Ohne mich umzudrehen, schwinge ich mich auf den Sattel und habe schon einige Meter auf dem Schotterweg hinter mich gebracht, als mich sein Schrei einholt.

»Ich bringe dich verdammt noch mal um!«

Der Ärmel meines Christiania-Hoodies peitscht zornig gegen das Hinterrad. Ich bete, dass er sich nicht zwischen den Speichen verfängt.

Die Eukalyptusbäume am Wegrand sind wie ein schwarzer Nebel, der immer wieder von freien, grasbewachsenen Flächen durchbrochen wird.

Plötzlich schallt eine vertraute Stimme durch die Dunkelheit.

»Pi! Wo bist du? PI!«

Ich heule fast vor Erleichterung.

»NOAH!« Ich strample so schnell, dass meine Wadenmuskeln schmerzen. »Ich bin gleich d…«

Das Flattergeräusch des Kapuzenpullis hört abrupt auf und ebenso abrupt stoppt das Fahrrad. Die Straße rast auf mich zu, als ich über den Lenker fliege.

3

Ich wache schreiend auf.

Pi! Ich höre Noahs Stimme in meinem Kopf, noch bevor ich bemerke, dass er auf meiner Bettkante sitzt. Wach auf!

Es riecht verbrannt. Mit einem Ruck setze ich mich auf und sehe, dass mein Kissen auf dem Boden liegt, mit einem schwarz-verschwitzten Handabdruck auf dem Bezug.

»Ich habe es ausgetreten«, sagt Noah. Sein Brustkorb unter dem schwarzen T-Shirt bewegt sich ruckartig. Er muss mein Geschrei bis ins Wohnzimmer gehört haben. Es ist nicht das erste Mal, dass er mich aus einem Albtraum geweckt hat, aber es ist das erste Mal, dass er auch die Auswirkungen löschen musste.

Ich schüttle den Kopf und merke, dass meine Wangen feucht sind.

»Alles okay?« Sein Blick gleitet von meinem Gesicht zu meinen Händen, die sich immer noch warm anfühlen. Noah hat die gleichen intensiv türkisfarbenen Augen wie ich, und für einen Moment habe ich das Gefühl, als würde ich mich von außen betrachten. Mich mit derselben Wachsamkeit ansehen, die sein ganzer Körper ausstrahlt.

Pi?, telepathiert Noah, als ich nichts sage.

Er beugt sich vor, um mir ins Gesicht zu sehen, berührt mich aber nicht. Als ich das erste Mal den Albtraum hatte, kurz nach meinem Fahrradsturz, versuchte er mich wach zu rütteln, aber ich geriet in Panik. Hielt ihn für Schattengesicht. Das blaue Auge, das ich ihm verpasste, behielt er noch mehrere Wochen lang.

Es war nur ein Traum, telepathiert er. Nicht die Wirklichkeit.

Ich kann nur auf den verbrannten Kissenbezug schauen. Jetzt ergeben die Worte von Schattengesicht Sinn.

›Mädchen mit Feuer frieren nie.‹ Er wusste davon. Er wusste von meiner Fähigkeit, bevor ich sie bekam.

Noah steht auf und geht ins Bad, das sich zwischen unseren Zimmern befindet. Durch die Wand höre ich das schwache Brausen des Wasserhahns.

Ich taste nach der Lederschnur, die mehrmals um eins meiner Handgelenke gewickelt ist. Finde den kleinen Anhänger, die vertraute Form des hölzernen Vogels zwischen meinen Fingerspitzen. Zwei Flügel mit kleinen Unebenheiten, die Federn darstellen sollen, und ein winziger Schnabel, spitz genug, um ein Loch in etwas zu stechen, wenn man fest genug drückt.

Normalerweise beruhigt mich das Gefühl des glatten, warmen Holzes, doch unter meinem T-Shirt rast mein Herz weiter. Mein Daumen fährt über die schwarzen Flügel, wieder und wieder, und versucht, Schattengesicht wegzureiben. Ich rieche immer noch seinen ekelerregenden Atem und höre sein schrilles Lachen, obwohl schon zwei Monate vergangen sind. Erinnere mich immer noch an das flatternde Geräusch meines Christiania-Hoodies, der gegen das Hinterrad klatscht.

Ich habe meine Sachen nach dem Unfall nicht zurückgeholt. Vielleicht liegen Fahrrad, Handy und Hoodie noch immer mitten im australischen Busch. Den Pullover vermisse ich fast am meisten. Mir fehlen all die Details, die ihn zu meinem Lieblingsteil gemacht haben. Das kleine Loch an einem der Ärmel, durch das ich immer den Daumen gesteckt habe, und der gelbe Nagellackfleck auf der Vordertasche, der aussah, als würde Farbe aus dem mittleren gelben Kreis heraustropfen.

Der Kapuzenpulli auf dem Fußballvideo, das wir bei Karl zu Hause gesehen haben, hat wieder Salz in die Wunde gestreut. Obwohl man auf der Schwarz-Weiß-Aufnahme nicht erkennen konnte, ob der Pullover rot war, haben mich die drei horizontalen Kreise auf dem Rücken an meinen eigenen Hoodie erinnert. Vielleicht ist dieser Albtraum deshalb wieder zurückgekehrt.

Noah kommt zurück ins Zimmer und reicht mir ein Glas Wasser. Meine Hand zittert, als ich es nehme, und der erste Schluck ist so kalt, dass mir fast das Hirn einfriert. Ich verziehe das Gesicht und stelle das Glas auf einen Umzugskarton.

Noah zieht eine Augenbraue hoch, die linke. Kommst du klar?, heißt das in Zwillingssprache.

Ich schenke ihm ein blasses Lächeln, das hoffentlich überzeugend genug für ein Ja wirkt.

Er hebt mein Kopfkissen vom Boden auf, nimmt den Bezug ab und wirft es mir zu. Dann geht er zurück in sein eigenes Zimmer. Es rumpelt und dann taucht er mit seiner Matratze, der Bettdecke und dem Kissen im Schlepptau in der Tür auf.

Wir haben nicht mehr im selben Zimmer geschlafen, seit wir klein waren und uns in unserem Etagenbett Höhlen gebaut haben. Er muss wirklich befürchten, dass ich das ganze Haus in Brand stecke. Aber er verliert kein Wort über den Kissenbezug, wirft einfach die Matratze neben mein Bett und lässt sich auf die Bettdecke fallen, ohne sich auszuziehen. Er streckt eine Hand aus, um die Nachttischlampe auszumachen.

»Nein!«, sage ich, lauter als beabsichtigt.

Er blinzelt mich an. Ich kann die Frage in seinem Gesicht so deutlich lesen, als hätte er sie in meinem Kopf formuliert.

Nein, normalerweise habe ich keine Angst vor der Dunkelheit, Noah.

»Horror Vacui«, murmle ich, als würde das alles erklären.

Er nickt kurz, zieht die Hand zurück und dreht sich auf die Seite, sodass er mit dem Rücken zum Bett liegt.

Horror Vacui scheint ein guter Grund zu sein, sich vor der Dunkelheit zu fürchten. ›Die Angst vor dem leeren Raum‹, das war Josefs Beschreibung für die schmelzenden Schatten, die uns bis in die Turnhalle verfolgt hatten, kurz bevor wir ins Jahr 1969 zurückgereist waren. In früheren Albträumen war ›Horror Vacui‹ nur ein unsinniges Wort gewesen.

Schattengesicht sagte, es habe seine kleine Schwester in den Wahnsinn getrieben. Er wusste Dinge über meine Familie und meine Zukunft, die er nicht wissen sollte. Dass wir bald umziehen würden, auch wenn die Sache mit Papa noch gar nicht passiert war.

Was, wenn Schattengesicht auch ein Zeitreisender ist? Was, wenn er derjenige ist, der versucht, uns zu töten?

Noah weiß, dass ich in jener Nacht mit dem Fahrrad gestürzt bin, aber er weiß nicht alles. Er weiß nicht, warum ich fast jede Nacht Albträume habe.

›Wenn du irgendjemandem von mir erzählst, bringe ich deine Familie um.‹

Vielleicht kann ich ihm meine Erinnerungen telepathieren. Via mentales Bluetooth übermitteln, wie Bilddateien, die von einem Laufwerk auf ein anderes kopiert werden. Dann habe ich es ihm technisch gesehen nicht erzählt.

Die Angst summt wieder warm unter meinen Handflächen.

Ich traue mich nicht. Kann nicht.

Ich starre auf Noahs Rücken. Er schläft noch nicht, das merke ich am Rhythmus seines Atems. Er liegt so nah neben mir, dass ich ihn berühren könnte, aber er fühlt sich weiter weg an als eine Armlänge entfernt. Der alte Noah ist in der Nacht meines Fahrradunfalls verschwunden. In der Nacht, als unser Leben in zwei Hälften gerissen wurde.

Früher waren wir beide gemeinsam gegen den Rest der Welt. So fühlt es sich im wahrsten Sinne des Wortes an, wenn man jedes Jahr die Schule wechselt. Neue Klassenkameraden, Nachbarn und Lehrer. Eine Mutter, die sich ständig auf Ausstellungen und in Meetings herumtreibt, und ein Vater, der völlig in seiner Malerei und seinen Proben mit irgendwelchen lokalen Bands aufgeht.

Noah war immer da, ein Teil von mir, so beständig wie ein Spiegelbild. Ein supernerviges Spiegelbild, um genau zu sein. Niemand konnte mich so sehr aus der Fassung bringen wie er. Er wusste immer genau, welche Knöpfe er drücken musste.

Aber mich konnte auch niemand so sehr zum Lachen bringen wie er. Es gibt so vieles, was nur Noah versteht. Wie kann man jemandem so nahestehen – und ihm gleichzeitig mehrmals täglich am liebsten den Kopf in den Bauch rammen wollen?

Papa hat uns Yin und Yang genannt, wie das chinesische Schriftzeichen. Er sagte, wir seien zwei Seiten derselben Medaille, Schwarz und Weiß, die miteinander verschmelzen. Irgend so ein weit hergeholter Künstler-Shit. ›Ihr müsst euch gegenseitig ausgleichen. Ein Lichtfleck in der Dunkelheit des anderen sein‹, hat er immer betont. ›Die Familie ist das Wichtigste, was man hat.‹

Das war, bevor er abgehauen ist. Bevor Yin und Yang zerhackt wurden und Noah das Patent für die schwarze Seite für sich beanspruchte, weshalb ich in die entgegengesetzte Richtung ziehen musste. Meiner Mutter zuliebe. Ich verstecke mich hinter den bunten Klamotten, den flammenden Dreadlocks und einem Lächeln, das ich mir ins Gesicht klebe wie Isolierband, das alles zusammenhält.

Ich starre auf Noahs Hinterkopf, auf das wilde Haar, das früher einmal kupferfarben war, voller Sand und Salzwasser anstelle von Wachs und schwarzer Haarfarbe. Ich weiß nicht mehr, was da drinnen vor sich geht. Wir müssten uns durch die Telepathie eigentlich noch näher sein, aber es fühlt sich nicht so an. Es wirkt, als hätte er seine Antennen eingeklappt, als wäre es ihm egal. Vor zwei Monaten hätte er sich nicht einfach umgedreht.

Ich beiße die Zähne zusammen.

Komm schon. Sag es ihm einfach. Du schaffst das.

Aber bevor ich den Mut aufbringen kann, beginnt er zu schnarchen und ich bin wieder allein im Zimmer.

Meine Entschlossenheit löst sich auf und fließt mir als warmes Rinnsal aus den Augenwinkeln die Schläfe hinunter. Ich taste nach dem Holzvogel am Lederarmband. Die kleinen schwarzen Flügel kribbeln in meiner Handfläche.

Zwei Monate lang hat der Vogel mir geholfen, mich getröstet. Aber er ist aus Holz gemacht und meine Angst aus Feuer. Eines Tages werde ich mich so sehr fürchten, dass ich das Einzige zerstöre, was die Schatten verjagen kann.

Es ist nur eine Frage der Zeit.

 

Am nächsten Morgen treffen wir Alban, Emilie und Linus auf dem Schulhof. Ihre Augen sind so blutunterlaufen wie unsere. Rauch, Weinen oder Schlafmangel. Vielleicht alles zusammen. Emilies Augenlider sind geschwollen und ihr Zopf löst sich auf. Linus’ T-Shirt ist zerknitterter als sonst und Alban ist blass, hat aber einen entschlossenen Zug um den Mund. Sein Blindenstock ist seit Montag ziemlich zerkratzt.

Es ist erst mein fünfter Tag in der neunten Klasse, aber ich hatte noch nie einen derart geisteskranken Schulanfang. Das sagt so einiges aus, wenn man regelmäßig den Kontinent gewechselt hat.

»Hat einer von euch mit Adriana gesprochen?«, frage ich.

»Nein«, sagt Emilie. »Sie reagiert nicht auf meine Nachrichten. Ich hoffe, dass sie in die Schule kommt.« Sie schaut sich nervös auf dem Schulhof um und spricht leiser weiter. »Josef hat gesagt, wir sollen zusammenbleiben.«

Als sein Name fällt, gleitet ein Schatten von Ernsthaftigkeit über unsere Gesichter.

»Ja, aber nur während der Meteorströme«, sagt Noah. »Und das bedeutet nicht, dass wir ständig einander auf dem Schoß hocken müssen.« Er wirft Alban einen Seitenblick zu und rümpft die Nase. Er kommt offenbar nicht damit klar, wie sehr Alban dem Taekwondo-Trainer aus Australien ähnelt. Dem, der gestorben ist.

Die Stimmung zwischen Noah und Alban ist immer noch irgendwie schräg, nachdem Noah bei ihrem ersten Treffen am Montag aus der Kantine abgehauen ist. Aber sie würden sich wahrscheinlich auch sonst gegenseitig auf die Nerven gehen. Mama sagt immer, dass Männer vom Mars und Frauen von der Venus kommen, aber Noah und Alban stammen von entgegengesetzten Enden des Sonnensystems.

»Wenn Horror Vacui zurückkommt, haben wir ohne Adriana ein ernstes Problem«, sagt Linus. »Josef sagte, dass wir alle sechs zusammen sein müssen, um den Kompass zu aktivieren.«

»Hast du daran gedacht, ihn mitzunehmen?«, fragt Alban.

»Ja, er ist in der Tasche.« Linus tippt nervös mit dem Daumen gegen einen der Riemen seines Rucksacks. »Was ist mit dem Prisma?«

»Jep«, sagt Noah und schlägt sich mit der Faust auf die Brust. »Alles ist bereit für die Operation H-V.«

Der Gedanke, rund um die Uhr für eine Flucht bereit zu sein, macht mir Angst. Nicht nur wegen der alles verschlingenden Angst, die mit Horror Vacui einhergeht. Sondern auch weil ich es hasse, von anderen abhängig zu sein, nicht selbst entscheiden zu können, was ich wann tue. Es reicht schon, wenn man eine Standleitung zu seinem Zwillingsbruder eingerichtet hat.

Wir machen uns auf den Weg zu den höheren Klassen. Es fühlt sich total seltsam an, ganz normal zur Schule zu gehen, nachdem wir am Tag zuvor fast ein halbes Jahrhundert durch die Zeit geworfen wurden.

»Treffen wir uns heute Nachmittag um drei an der Bushaltestelle?«, fragt Alban leise.

»Wenn ich bis dahin nicht vor Langeweile gestorben bin, ja«, sagt Noah. »Euer kleiner Streberklub hat seine Meinung zu diesem ganzen Null-Fehlstunden-Scheiß wahrscheinlich nicht geändert?«

»Nein«, sagt Alban. »Wir müssen eine Fassade …«

»Ja, ja, I know.« Noah verdreht Augen und verschwindet in unserer Klasse.

Emilie und ich folgen ihm. Sie setzt sich auf den Platz neben ihm, rückt aber ganz an den Rand, damit sie so weit wie möglich von meinem Bruder entfernt ist. Sein Blick streift sie zufällig und sie schaut schnell auf den Tisch. Ihre Ohren werden unter ihrem geflochtenen Haar rot und sie kaut nervös auf ihrer Oberlippe herum.

Sie scheint tatsächlich voll von krankhafter Noahphilie erwischt worden zu sein. Armes Ding. Ich weiß wirklich nicht, was die Mädchen immer wieder an ihm finden.

Noah knibbelt nur völlig ausdruckslos an seinem schwarzen Nagellack herum.

Ich entdecke Adriana an unserem Tisch und atme erleichtert auf. Ich hatte schon die Befürchtung, dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitten haben könnte. Sie wirkte ziemlich fertig, als wir von Karl aufbrachen.

Sie sagt nichts, als ich mich neben sie auf den Stuhl setze. Eine ihrer langen blonden Korkenzieherlocken ist am Ende verfilzt, als hätte sie darauf herumgekaut, und auch ihr Make-up kann die dunklen Ringe unter ihren Augen nicht verbergen.

»Hey«, flüstere ich, aber sie antwortet nicht.

Meine Hände schwitzen in den fingerlosen Fäustlingen. Ich zupfe an einem herum und denke daran, dass Feuer für mich immer etwas Gutes gewesen war. Lagerfeuer am Strand, Kerzen und knisternde Gemütlichkeit im Kamin. Aber wenn es von mir ausgeht, richtet es Schaden an.

Wenn du noch länger mit deinen Händen herumfuchtelst, denken die Leute noch, dass du einen Riesenjoint zum Frühstück hattest, ertönt Noahs Stimme in meinem Kopf.

Ich drehe mich zu ihm um und strecke ihm die Zunge raus.

Halt’s Maul, erwidere ich.

Emilie sieht mich seltsam an und ich erinnere mich daran, dass ich mich von seinen telepathischen Sticheleien nicht provozieren lassen darf, solange wir Zuschauer haben.

Ich sehe mich schnell in der Klasse um. Bin überrascht, Jonathan an einem der hinteren Tische zu sehen. Bis jetzt war er noch in keiner der frühen Schulstunden.

Er schaut Noah finster an und flüstert mit Casper und Mathias, die wie immer in seiner Nähe sind. Er hat sich eine Strickmütze über die gebleichten Haare gezogen. Dass er heute so früh aufgestanden ist, hat bestimmt nichts mit Englisch zu tun. Seinem verkniffenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ist ihm eher danach zumute, auf Noah einzuprügeln, als sich mit unregelmäßigen Verbformen auseinanderzusetzen.

Ich höre, wie er das Wort ›Homo‹ murmelt. Worte wie dieses werden Noah regelmäßig an den Kopf geworfen, seit er sein Gothic-Ding mit den schwarzen Haaren, schwarzem Nagellack und schwarzer Kleidung durchzieht. Ich verstehe nicht, was daran beleidigend sein soll, jemanden als schwul zu bezeichnen, aber nach dem, was mit Papa passiert ist, lässt sich Noah ohnehin durch nichts provozieren.

Casper und Mathias lachen über etwas, das Jonathan gerade gesagt hat. Er lächelt und knackt mit den Fingerknöcheln. Eigenartig, wie selbstgefällig er ist, nachdem Noah ihn am Montag in der Bibliothek verprügelt hat. Gestern hatte er sogar den Kompass aus Noahs Spind geklaut und mit all seinen Freunden geprotzt, die meinen Bruder ohne Weiteres aufmischen könnten.

Ich mustere Caspers und Mathias’ verschränkte Arme. Kann mir nicht vorstellen, dass er die beiden damit gemeint hat. Wahrscheinlich nur leere Drohungen. Leute wie er haben oft eine große Klappe, aber nichts dahinter.

Die Klassenzimmertür öffnet sich und unser Englischlehrer Janus kommt herein. Das Geplapper um mich herum verstummt, als er durch den Raum geht. Er ist der einzige Lehrer, der diese Wirkung hat. Vielleicht liegt es an seinem Aussehen. Vor allem an der großen Narbe, die sein Gesicht auf der linken Seite bedeckt. Die langen grauen Haare und der Vollbart verdecken einen Teil, aber die verfärbte Narbe zieht sich über Wange, Nasenrücken und Stirn.

Janus trägt links eine Augenklappe, aber das rechte Auge kann einen so durchdringend anstarren, dass er gar nicht zwei braucht. Mit der Klappe und dem verbissenen Gesichtsausdruck sieht er wie Nick Fury aus Noahs Marvel-Comics aus – obwohl ihn seine Cordhose und der bunte Pullover auf der Hardcore-Skala wieder ein paar Stufen nach unten befördern. Wirklich ein merkwürdiger Typ.

»Time for the English grammar test!« Janus lässt seinen zerfledderten Fjällräven-Rucksack mit einem dumpfen Schlag auf das Lehrerpult fallen und holt einen Stapel Zettel hervor.

Ich krame mein Federmäppchen und meinen Notizblock aus dem Chaos in meinem eigenen Rucksack heraus. Damn, ich habe die ganzen Englischbücher zu Hause vergessen.

Adriana rührt sich immer noch nicht. Ich schaue auf ihre Hände. Einer der künstlichen Nägel ist abgefallen und an der Nagelhaut sind Reste von Ruß zu sehen. Ich frage mich, ob sie ihre Fähigkeit mittlerweile akzeptiert hat? Dass sie Dinge bewegen kann, ohne sie zu berühren? Ihrem toten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hat sie überhaupt nichts akzeptiert.

Janus geht an unserem Tisch vorbei und ein Blatt Papier landet vor mir. Ich schaue es an und versuche, mich auf die Wörter zu konzentrieren, aber sie ergeben heute keinen Sinn.

»Everybody, listen up!« Janus’ Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken. Er hat sich wieder vor der Tafel aufgebaut. Der Blick des einsamen Auges streift mich und die glänzende Narbenhaut legt sich in Falten, als er die Stirn runzelt. Die Bewegung führt dazu, dass sich die Klappe in den vernarbten Nasenrücken bohrt.

Das geht so seit unserem ersten Schultag am Montag. Jedes Mal, wenn Janus und ich Blickkontakt haben, bekommt er diese kleinen Zuckungen um den Mund, als hätte er etwas Bitteres gegessen. Vielleicht hat er ein Problem mit Grübchenpiercings, orangefarbenen Dreadlocks und zerfledderter Kleidung mit Neonfarben, Sicherheitsnadeln und Totenköpfen. Ich bin es gewohnt, dass alte Leute mit meinem Aussehen nicht zurechtkommen. Eigentlich die meisten Leute.

»You’ve got twenty minutes for the test.« Janus holt eine altmodische Taschenuhr hervor. Er wirkt heute Morgen außerordentlich grimmig. Das muss ein wirklich gemeiner Test sein, den er für uns ausgeheckt hat. »Find a pencil and get ready. On your marks …«

Ich krame in der Federtasche. Alle meine Bleistiftspitzen sind abgebrochen. Ich greife in meinen Rucksack und erwische ganz unten am Boden einen Bleistift und einen Kugelschreiber.

Adriana starrt lethargisch auf ihre Hände und ich stoße sie mit dem Ellbogen an.

»Was?« Sie schaut mich mit rot geränderten Augen an.

Ich nicke in Richtung Janus.

»Englischtest«, flüstere ich.

Adriana nimmt einen tiefen, zittrigen Atemzug und zieht den Test zu sich heran. Es sieht so aus, als hätte sie keine Ahnung, was sie als Nächstes tun soll.

Ich reiche ihr den Bleistift und sie nimmt ihn an, ohne mich anzusehen. An unserem ersten Tag hier war sie eine Streberin und immer auf Vollgas. Sie hat ständig die Hand gehoben und im Unterricht lange Monologe gehalten. Aber nachdem wir von Karls Kompass verbrannt wurden, hat sie aufgehört zu reden.

»All right«, sagt Janus. »The clock is ticking.« Er drückt auf die Uhr.

Ich starre auf das Blatt mit den Fragen. Bei der ersten geht es um den Unterschied zwischen their, they’re und there. Ich halte den Stift fest umklammert und zwinge mich, mich zu konzentrieren. Englisch ist praktisch meine zweite Muttersprache, aber ich bin eine Niete in Grammatik und kann nie mit Sicherheit sagen, wie die Wörter wirklich geschrieben werden.

Adriana sitzt nur da, meinen Stift in der Hand. Sie hat noch nicht einmal angefangen, die Fragen zu lesen.

Ich schreibe Bist du okay? auf meinen Block und schiebe ihn über den Tisch.

Keine Reaktion. In der Klasse ist es zu still, als dass ich etwas zu ihr sagen könnte, also beginne ich mit dem Test.

Nach ein paar Minuten beginnt auch Adriana zu schreiben. Ich schaue zu ihr hinüber und sehe kleine, nasse Flecken auf ihrem Papier. Tränen tropfen von ihrer Nasenspitze auf die Wortspalten. Ihre Hand zittert und sie drückt den Bleistift fest auf das Papier. Plötzlich bricht die Spitze ab und der amputierte Stift hinterlässt eine Wunde in den Fragen.

Adriana knallt den Bleistift auf den Tisch und steht so abrupt auf, dass ihr Stuhl auf den Boden poltert. Sie stürmt aus dem Klassenzimmer, bevor ich etwas tun kann.

Die Stille hallt wie ein Klingeln in meinen Ohren nach.

Ich sehe Emilie an, die mit großen Augen neben Noah sitzt.

So viel zum Thema ›eine Fassade von Normalität wahren‹. Seine Stimme klingt heiser, selbst wenn er telepathiert.

Halt die Klappe, Noah! Ich weiß nicht, wie sich meine Stimme in seinem Kopf anhört, aber ich hoffe, sie ist so laut, wie ich sie mir vorstelle.

Ich vermeide es, Janus oder einen der anderen anzusehen, während ich mir Adrianas Tasche schnappe und aufstehe.

»Ich rede mal mit ihr«, murmle ich und eile ihr hinterher.

4

Ein gedämpftes Schniefen ertönt aus der hintersten Kabine der Mädchentoilette. Der Hall hier drinnen verstärkt das Geräusch.

»Adriana?« Ich klopfe mit einem Fingerknöchel an die Tür.

Das Schniefen hört abrupt auf.

»Ich bin’s nur. Pi. Ich habe deine Tasche mitgebracht.«

Keine Antwort.

»Willst du nicht aufmachen?« Ich lehne den Kopf an ein Graffiti-Tag neben der Tür. Fuck, bin ich müde. Das Spiegelbild über dem Waschbecken zeigt mir, dass meine Augen noch stärker gerötet sind als heute Morgen. Meine Haut ist blass und das Türkis sieht in dem grellen Licht dunkler aus. Als hätte unsere Zeitreise die ganze Welt, sogar die Farben, aus der Bahn geworfen.

Eine Minute vergeht, in der ich nur Adrianas unregelmäßiges Atmen hören kann. Dann klappert das Schloss und die Tür öffnet sich. Ihr Mascara hat eine schwarze Spur unter ihre Augen gezogen und ihre Unterlippe zittert, als sie mich sieht.

Ich stelle meine Tasche auf dem Boden ab und will Adriana umarmen, aber sie weicht schnell einen Schritt zurück.

»Mir geht’s gut.« Sie hält die Hände in die Höhe. »Lass mich einfach in Ruhe.«

»Ähm … okay.« Ich trete zur Seite.

Adriana schlängelt sich an mir vorbei und geht zum Waschbecken. Sie verzieht das Gesicht, als sie sich im Spiegel sieht.

Ich greife in die Kabine und ziehe einen langen Streifen Toilettenpapier aus dem Halter an der Wand. »Hier.«

Sie sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. Dann nimmt sie es mir aus der Hand und wendet sich wieder dem Spiegel zu. Das Klopapier färbt sich hellbraun von der Foundation, als sie sich die Nase putzt.

»Ich sehe scheiße aus«, stöhnt sie und wischt sich mit den Fingerknöcheln unter den Augen hin und her. Feuchte schwarze Linien bleiben auf ihrer Haut zurück. Sie schüttelt verärgert den Kopf und dreht ihre goldblonden Korkenzieherlocken im Nacken zu einem Dutt zusammen. Dann holt sie einen großen, rosafarbenen Kulturbeutel aus ihrer Tasche und breitet verschiedene Schminkutensilien auf dem Waschbeckenrand aus. Mascara, Foundation, flüssigen Eyeliner, Puder, Lipgloss, Gesichtscreme … und noch mehr Dinge, die ich nicht benennen kann. Sie nimmt eine Tüte mit Wattepads und eine kleine Flasche Make-up-Entferner und fängt an, sich die Mascara-Spuren von den Wangen zu wischen.

Ich stehe schräg hinter ihr und betrachte die Auswahl. Wenn man wie ich im Alltag nur Wimperntusche, Eyeliner und Lippenbalsam benutzt, ist das schon beeindruckend.

Nach und nach kommt die wahre Adriana zum Vorschein. Ihr Gesicht sieht ungeschminkt ganz anders aus, aber es ist eigentlich richtig hübsch mit den hellen Wimpern und den fast durchsichtigen Sommersprossen überall auf ihrer Haut. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel und sie beugt sich schnell vor, damit ich ihr nacktes Gesicht nicht sehen kann.

»Was hat deine Mutter eigentlich gesagt, als du gestern nach Hause gekommen bist?«, frage ich.

Adriana drückt den Wattebausch fest zusammen. Graue Wassertropfen rinnen zwischen ihren Fingern hervor.

»Nichts.«

Ich schaue auf ihre Stiefel hinunter. Sie sind schwarz und aus Leder. Die hellen Wildlederstiefel, die sie gestern getragen hat, waren komplett mit Ruß und Schnee bedeckt, genau wie der Rest von ihr.

»Hat sie nicht gemerkt, dass deine Klamotten völlig ruiniert waren?«

»Nein.« Sie wirft den Wattebausch in den Mülleimer und lehnt sich wieder vor, um sich das Gesicht mit Wasser abzuspülen. Sie benutzt nur ihre Fingerspitzen, um die Pflaster über den dreieckigen Narben auf ihren Handflächen nicht nass zu machen.

»Was hast du damit gemacht?«, frage ich. »Mit deinen Klamotten, meine ich. Hast du sie weggeworfen?«

Sie schraubt den Deckel ihres Gesichtswassers ab.

»Ja.«

»Zum Glück waren die Brandlöcher in meinen nicht so groß. Und ich hoffe, der Rauchgeruch lässt sich wegwaschen.«

»Aha.«

Na toll. Das steinigste Gespräch der Welt. Ich fahre mit der Zungenspitze über die kleine Scheibe an der Innenseite meines Grübchenpiercings.

»Wie läuft eure Gruppenarbeit?«, frage ich. Sie will doch bestimmt über das Schulprojekt reden, an dem sie gemeinsam mit Emilie arbeitet.

Adriana stöhnt.

»Es ist die Hölle.« Sie spritzt Gesichtswasser auf ein frisches Wattepad. Das meiste geht daneben und landet im Waschbecken. »Laut meinem Lernplan sollten wir schon die Hälfte der Bücher auf unserer Leseliste durchgegangen sein, aber dabei haben wir noch nicht einmal eine Fragestellung ausgearbeitet!«

»Lernplan? So organisiert sind Noah und ich nicht. Ich kann von Glück reden, wenn ich ihn dazu bringe, überhaupt etwas zu lesen.« Ich versuche zu lächeln, aber Adrianas Spiegelbild tupft sich nur mit hektischen Bewegungen Gesichtswasser auf die Stirn.

»Ich mache mir immer einen Lernplan. Und jetzt ist er einfach völlig aus dem Ruder gelaufen, wegen allem, was passiert ist. Ich habe nichts mehr unter Kontrolle!« Sie wirft das Wattepad ins Waschbecken. »Ich komme einfach überhaupt nicht damit klar!«

Ich weiß nicht, ob sie die Projektarbeit oder alles andere meint.

»Sie tun nicht mehr weh, oder?«, frage ich. »Die Narben?«

»Nur noch ein bisschen.« Adriana starrt ins Waschbecken.

Ich krümme die Finger in den fingerlosen Fäustlingen.

»Meine auch nicht. Die Wunden sind wirklich schnell verheilt. Das ist mega-freaky.«

»Ja.« Ihre Finger krallen sich um den Rand des Waschbeckens. Auf den Pflastern glitzern winzige Wassertropfen.

»Hast du … äh … mehr von deiner Fähigkeit bemerkt?«, frage ich.

Adriana schaut sich schnell um, als hätte sie Angst, dass mich jemand gehört hat. Sie zieht die Schultern übertrieben hoch und greift nach dem Tiegel mit der Gesichtscreme.

»Ich möchte nicht darüber reden.« Ihr Rücken ist zu einem Panzer gekrümmt, der sie gegen meine Fragen abschirmt.

Ich hake beide Daumen in die Taschen meiner Jeans und lehne mich gegen die Toilettentür.

»In Ordnung.«

Ich würde zu gern erfahren, was neulich wirklich passiert ist, als sie und Noah mit Schnee bombardiert wurden und sie die Schneebälle dazu gebracht hat, ihre Richtung zu ändern. Ich frage mich, ob ihre Fähigkeit genauso schwer zu kontrollieren ist wie meine.

»Ich hoffe, Karl kann uns helfen, mehr herauszufinden«, sage ich. »Wenn er uns ins Haus lässt.«

Er war gestern zu schockiert, um zu protestieren, als Noah sagte, dass wir nach der Schule wiederkämen, um über den Zeitreisekompass zu reden. Das Video von seinem Vater hatte ihn fast zu Tode erschreckt. Auf eine nicht-metaphorische Weise.

Adriana trägt Gesichtslotion auf und tut so, als würde sie mich nicht hören.

»Nimmst du nachher den Bus, oder fährst du mit dem Fahrrad zu Karl?«, frage ich.

»Ich komme nicht mit.« Sie zieht die Kappe von ihrer Foundation ab und drückt sich einen großen Klecks auf den Handrücken.

»What? Warum nicht?«, frage ich. »Wir wollten doch zusammen hingehen!«

»Ich habe letzte Nacht nicht geschlafen, denn jedes Mal, wenn ich die Augen zumache, bin ich wieder in diesem Schuppen. Allein der Gedanke, zu Karls Haus zu gehen und wieder an das Ganze erinnert zu werden … das Feuer und alles, was Josef gesagt hat …« Sie schüttelt den Kopf. »Ich ertrage das gerade wirklich nicht.«

»Aber wir versuchen doch herauszufinden, warum jemand den Schuppen in Brand gesetzt hat! Was das alles zu bedeuten hat!«

Adriana schnaubt.

»Es ist mir völlig egal, was das bedeutet. Ich will nur, dass es wieder aufhört.« Sie fischt ein Schwämmchen aus ihrem Kulturbeutel und tupft sich Foundation ins Gesicht.

»Vielleicht kann Karl uns helfen, dass es wieder aufhört«, sage ich. »Josef hat gesagt, dass Karl uns helfen wird.«

»Und woher wissen wir, dass alles, was Josef gesagt hat, wahr ist?«

Wut lodert in mir auf.

»Josef hat versucht, uns zu helfen!«, sage ich.

»Aber warum hilft er uns? Was hat er davon?« Adriana starrt mich wütend im Spiegel an. »Leute wollen immer eine Gegenleistung. Wir sollten Josef nicht einfach so vertrauen. Oder Karl.«

Ich strecke den Rücken und nehme die Hände aus den Taschen.

»Ganz ehrlich, du klingst wie Noah.«

Adriana dreht sich mit dem Make-up-Schwamm in der Hand um.

»Und du klingst, als würdest du nichts verstehen!« Sie wirft den Schwamm von sich, der in einer der Toilettenkabinen landet. »Wir wären wegen Josef fast umgebracht worden!«

»Woher willst du wissen, dass es seinetwegen war?«

»Das Kompassding hat doch ihm gehört, bevor wir es bei Karl gefunden haben! Was, wenn Josef ihn selbst gebaut hat?«

»Josef hätte uns gesagt, wenn der Zeitreisekompass seine eigene Erfindung wäre!«

»Ja, klar. Weil er uns ja wirklich alles erzählt hat, nicht wahr?« Adriana schnappt sich den Kulturbeutel und pfeffert mit heftigen Bewegungen das Make-up hinein. Der Tiegel mit der Gesichtscreme fällt auf den Boden und zerbricht.

Sie stößt ein lautes, unterdrücktes Geräusch aus und tritt gegen den zerbrochenen Tiegel. Er kracht gegen die Wand und Scherben des cremeverschmierten Glases fliegen uns vor die Füße.

»Du musst mitkommen«, sage ich. Hitze pulsiert durch meinen Körper bis in die Handflächen. »Wir müssen zusammenarbeiten. Josef hat gesagt, dass wir ohneeinander verloren sind.«

»Was auch immer er gesagt hat, er ist jetzt tot, also sind mir seine Überlebensstrategien scheißegal.« Adriana bückt sich und wirft den offenen Kulturbeutel in ihre Tasche. Noch mehr Make-up kullert über den Boden, als sie sich mit hochrotem Gesicht aufrichtet. »Wenn er wegen des Kompasses gestorben ist, ist es gefährlich, weiter mit dem Ding herumzuhantieren. Wenn ihr mit dem Feuer spielen wollt, nur zu. Aber lasst mich da raus.« Sie marschiert aus der Tür und knallt sie hinter sich zu.

Ich gehe ein paarmal vor dem Waschbecken hin und her. Dann schlage ich mit der flachen Hand gegen die Tür der Toilettenkabine. Es tut höllisch weh, aber ein seltsames Kribbeln in meiner Handfläche übertüncht den Schmerz. Ein brennender Geruch steigt mir in die Nase.

Ich drehe die Hand um.

Ein kleines Loch hat sich in meinen fingerlosen Handschuh gebrannt, genau in der Mitte der Handfläche. Man kann die Narbe darunter erkennen.

Ich muss diesen crap wirklich in den Griff kriegen.

Die Tür geht auf und ein Mädchen aus der Unterstufe schaut mich seltsam an, während ich meine Hand hinter dem Rücken verstecke und schnell den Raum verlasse.

Ich sollte eigentlich zurück in den Englischunterricht gehen, aber ich bin einfach zu wütend, um jetzt Janus’ Anblick zu ertragen.

Nein, ich brauche etwas Luft. Ich gehe hinaus auf den Schulhof und schaue mich um, bevor ich meine Handschuhe ausziehe. Es kribbelt angenehm kühl auf meinen glühenden Wangen und Handflächen. Ich schließe die Augen und sauge die Kälte auf.

1–2–3.

Ein-at-men. Drei Zahlen beim Einatmen, drei beim Ausatmen. Ich konzentriere mich darauf, wie die Luft in meine Lunge hinein- und wieder hinausströmt. Die Hitze wird langsam schwächer.

1–2–3.

Aus-at…

»PI!«, ruft eine tiefe Stimme und Schritte hallen zwischen den hohen Mauern der Schule wider. Ich öffne die Augen. Ein großer, schlaksiger Typ, ungefähr in meinem Alter, läuft auf mich zu. Dunkelbraune Locken peitschen um sein Gesicht, während er rennt.

»Oh, Gott sei Dank!« Er kommt schlitternd vor mir zum Stehen. Sein Gesicht ist schweiß- und tränennass und das schulterlange Haar klebt ihm am Kinn.

Bevor ich etwas tun oder sagen kann, packt er mein Gesicht mit beiden Händen.

Und küsst mich.

Seine Lippen fühlen sich verzweifelt und brennend heiß auf meinem kalten Gesicht an. Ich drücke meine Hände gegen seine Brust. Das Herz unter seinem Islandpulli schlägt heftig und schnell.

»Hey! Was soll das?!« Ich stoße ihn weg.

Er stinkt nach Rauch, bestimmt war er draußen beim Raucherschuppen. Er sieht alt genug aus, um wie Alban in die zehnte Klasse zu gehen.

»Ich …« Der geheimnisvolle Kerl schnappt nach Luft. Seine braunen Augen werden plötzlich sehr groß. »Oh nein.« Er schlägt sich eine Hand vor den Mund. »Oh nein! Du kennst mich nicht!«

»Nein, verdammt noch mal!«, sage ich wütend. »Soll das ein kranker Scherz sein, weil ich neu bin? Eine lächerliche Wette mit deinen Freunden?«

»Nein, Pi, ich … nein!« Er streicht sich mit beiden Händen durch die Locken, wieder und wieder. »Ich dachte … oh nein.« Er vergräbt das Gesicht in den Händen und stöhnt zwischen seinen Handgelenken hervor. »Das ist alles ganz falsch!«

»WILL! WASMACHSTDUDA?«, ertönt eine gellende Stimme.

Ein Mädchen mit langen rabenschwarzen Haaren rennt über den Schulhof. Ihre Augen sind auf mich gerichtet und ihre Mundwinkel sind nach unten gezogen.

»Lya, das ist sie nicht!« Der Typ, der offenbar Will heißt, dreht sich um. »Sag nichts!«

Das Mädchen hat uns erreicht und packt einen seiner Oberarme.

»Ich habe dir gesagt, du sollst es sein lassen!« Sie zieht an seinem Arm, um ihn von mir wegzuzerren. »Komm schon!«

Okay, anscheinend hatte seine eifersüchtige Freundin nichts mit der Wette zu. Worum auch immer es dabei gehen mochte.

Der Kerl stolpert hinter ihr her, dreht aber den Oberkörper, um wieder Blickkontakt mit mir aufzunehmen.

»Tut mir leid«, keucht er. Dann verlassen beide eilig den Schulhof.

Die Wärme von seinem Kuss prickelt mir immer noch auf den Lippen und mein Herz rast.

What. The. Fuck.

5

»Ich fasse es nicht, dass Adriana total dichtmacht«, sagt Noah. Wir sind auf dem Weg die schmale Straße hinauf, die zu Karls Haus führt. Sie ist noch nicht vom Schnee geräumt worden, aber unser letzter Besuch hat eine breite Spur von Fußabdrücken hinterlassen.

Es fällt mir schwer, mich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf den Schulhofküsser mit den lockigen Haaren. Ich verstehe immer noch nicht, was so lustig an dem Joke gewesen sein soll, dessen Ziel ich offenbar war.

»Adriana hat allen Grund, dichtzumachen«, sagt Alban. Er stapft neben Emilie die Einfahrt hinauf. Sein Gesicht ist vor Konzentration verzerrt, und er hält seinen Blindenstock fest umklammert, völlig vertieft in die Warnungen, die seine eigene Fähigkeit ihm zukommen lässt. Obwohl die blaugrauen Augen nichts sehen können, umrundet er die tiefen Schneehaufen, ohne dass Emilie ihm etwas sagen muss. »Die letzten paar Tage waren … ziemlich überwältigend.«

»Ziemlich sehr überwältigend«, fügt Emilie hinzu.

»Ja«, sagt Alban. Er streicht sich eine Locke seiner dunkelbraunen Haare aus dem verschwitzten Gesicht und steigt über einen Ast, der halb in einer Schneewehe versunken ist. »Adriana braucht wahrscheinlich nur Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Wir müssen versuchen, uns in ihre Lage zu versetzen, und ihr etwas Zeit geben.«

Noah verdreht die Augen.

Ja, das wird bestimmt helfen, telepathiert er. Diejenige, die Angst vor Zeitreisen hat, braucht einfach mehr Zeit. Right!

Ich ignoriere ihn und gehe neben Linus her. Wir sind jetzt fast am Haus.

»Das war der längste Schultag aller Zeiten«, sage ich laut. Neues Thema. »Konntest du dich im Unterricht auf irgendetwas konzentrieren, Linus? Ich jedenfalls nicht.«

Linus zuckt beim Klang meiner Stimme zusammen. Seit wir aus dem Bus gestiegen sind, ist er in seiner eigenen Welt versunken.

»Ich auch nicht.« Er pustet gegen eine hellbraune Haarsträhne, die unter seiner Strickmütze hervorlugt, und während wir gehen, tippt er mit der Außenseite seines Daumens gegen seinen Oberschenkel. Sein schmächtiger Körper konnte während der Busfahrt kaum still sitzen. Mir ist aufgefallen, dass er unruhig wird, wenn er nachdenkt. »Es gibt so viel, was wir noch nicht wissen. Ich hoffe nur, dass Karl uns ein bisschen weiterhelfen kann.« Er rückt seinen Rucksack mit dem Zeitreisekompass zurecht und sieht mich aus dem Augenwinkel an. »Meinst du, er ist immer noch sauer wegen des Tisches im Esszimmer?«

»Weil ich ihn in Brand gesteckt habe, meinst du?«

Linus nickt.

»Ja. Und dass ich beim Löschen seine Unterlagen und seinen Computer kaputt gemacht habe. Außerdem habe ich erst gestern seinen Filmprojektor geschrottet«, fügt er hinzu.

»Ich glaube wirklich nicht, dass Karl sich im Moment für den ganzen Kram interessiert«, sagt Emilie. »Sein Vater ist gerade gestorben. Noch einmal.«

Die Erinnerungen an gestern übermannen mich. Gestern, das nicht nur ein Gestern war, sondern auch ein Novembertag im Jahr 1969.

Josef hat gesagt, er habe uns schon einmal getroffen. Das klang so, als hätten wir viel Zeit, um Fragen zu stellen. Doch jetzt ist er tot. Bevor wir ihn überhaupt kennenlernen konnten.

Alban räuspert sich. Als könnte er die finsteren Blicke spüren, die wir einander zuwerfen.

»Habt ihr Ärger mit euren Eltern bekommen, weil ihr zu spät nach Hause gekommen seid, Pi?«, fragt er betont locker.

»Unsere Eltern sind geschieden«, sage ich. »Und wir haben im Moment … äh … keinen Kontakt zu unserem Vater.«

Noah macht ein Kotzgeräusch hinter meiner Stirn.

Nein, glücklicherweise.

Ich ignoriere ihn automatisch.

»Unsere Mutter ist noch in Australien«, sage ich zu Alban. »Sie kommt nächste Woche nach Hause.«

»Ihr seid also seit eurem ersten Schultag allein zu Hause?« Er runzelt die Stirn.

Das klingt ja so, als würde er am liebsten das Jugendamt benachrichtigen. Chill doch mal, telepathiert Noah.

»Wir sind nicht allein. Wir haben ja uns.« Ich schicke meinem Bruder ein giftiges Lächeln. »Mama musste weg, weil plötzlich Käufer für unser Haus und ihre Kunstgalerie aufgetaucht sind. Sie wollte alles ein für alle Mal klären, damit sie sich ganz auf unser neues Leben konzentrieren kann, wenn sie zurückkommt.«

Sofern es ihr überhaupt möglich ist, sich länger als fünf Minuten auf etwas zu konzentrieren.

»Wie schade, dass sie euren ersten Schultag verpasst hat, immerhin ist es doch ihre alte Schule«, sagt Emilie.

»Eigentlich ist es ganz cool, dass wir gerade alles für uns allein haben«, sage ich. »So können wir uns an das Haus und die Schule gewöhnen. Uns selbst ein Bild machen, weißt du.«

Ich hatte schon viele erste Schultage, an denen meine Mutter das Heft in die Hand genommen hat. Sie war immer diejenige, die die meisten Fotos machte und von den Lehrern zur Raison gerufen wurde. Einmal trug sie Kleidung und Accessoires, die zu den Farben unserer Schultaschen passten. Wenig überraschend, dass es Noah und mir nichts ausgemacht hat, den ersten Schultag diesmal allein anzugehen.