Die Gen-Lotterie - Kathryn Paige Harden - E-Book

Die Gen-Lotterie E-Book

Kathryn Paige Harden

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Beschreibung

Kathryn Paige Harden informiert über den neuesten Stand der Genforschung, räumt mit gefährlichen eugenischen Vorstellungen auf und konfrontiert uns mit der Frage, was Gleichheit und Gerechtigkeit bedeuten in einer Welt, in der Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten geboren werden. Sie fordert uns dazu auf, die Bedeutung des genetischen Zufalls ernst zu nehmen, wenn wir jemals versuchen sollten, eine gerechte Gesellschaft zu entwickeln.  Dieses richtungsweisende Buch befreit die Genetik vom Erbe der Eugenik und präsentiert eine kühne Vision von einer Gesellschaft, in der alle Menschen erfolgreich sind unabhängig davon, wie sie in der Gen-Lotterie abschneiden.  "Ich empfehle das Buch von Kathryn Harden, denn in der heutigen Zeit, in der vieles einfach argumentativ wegdiskutiert wird, ist ein solches Buch sehr interessant. Es gibt eben doch teilweise massive oder auch nur moderate genetische Einflüsse auf das Verhalten, die man nicht wegdiskutieren kann." Prof. Dr. Lutz Jäncke

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Kathryn Paige Harden

Die Gen-Lotterie

Wie Gene uns beeinflussen

Die Gen-Lotterie

Kathryn Paige Harden

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:

Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br., Prof. Dr. Martina Zemp, Wien

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Hogrefe AG

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

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Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Dr. Susanne Lauri

Herstellung: Daniel Berger

Druckvorstufe: Mediengestaltung Meike Cichos, Göttingen

Umschlagabbildung: brightstars, Getty Images

Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen

Format: ePub

Das vorliegende Buch ist eine Übersetzung aus dem Amerikanischen. Der Originaltitel lautet „The Genetic Lottery. Why DNA Matters for Social Equality“ von Kathryn Paige Harden und erschien 2021 bei Princeton University Press.

1. Auflage 2023

© 2023 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96242-9)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76242-5)

ISBN 978-3-456-86242-2

https://doi.org/10.1024/86242-000

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Für Jonah und Rowan, mein ganzes Glück

Früher glaubte ich, Glück wäre etwas außerhalb von mir, etwas, das lediglich bestimmte, was mir passierte oder nicht passierte. […] Heute denke ich, dass ich unrecht hatte. Ich denke, mein Glück war in mir angelegt, der Grundpfeiler, der meine Knochen zusammenhielt, der goldene Faden, der die rätselhaften Bilderteppiche meiner DNA zusammennähte.

Tara French, Der dunkle Garten

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Zitat/e

Teil 1 Gene und ihre Bedeutung

1 Zur Einführung

1.1 Den Nutzen haben die gut Ausgebildeten

1.2 Die Geburt und die damit einhergehenden beiden Lotterien

1.3 Einstellungen gegenüber der Genetik

1.4 Das langlebige Vermächtnis der Eugenik

1.5 Genetik und Egalitarismus: Ausblick

1.6 Warum wir eine neue Synthese brauchen

1.7 Das Buch und seine Ziele

2 Die Gen-Lotterie

2.1 Wir besitzen riesige Mengen

2.2 Die Normalverteilung

2.3 Lieber glücklich sein als gut

2.4 Spielen für immer und ewig

2.5 Ausblick

3 Kochbücher und College

3.1 Genetische Rezepte, genomische Kochbücher

3.2 Nur eine Zutat auf einmal

3.3 Die kochbuchanaloge Assoziationsstudie

3.4 Von CWAS zu GWAS

3.5 Beängstigend oder irrelevant?

3.6 Polygenische Indizes und das Unvermögen, Lebensverläufe vorherzusagen

4 Herkunft und race

4.1 Wir sind alle miteinander verwandt

4.2 Genealogische und genetische Vorfahren

4.3 Herkunft versus race

4.4 Warum die Herkunft für GWAS von Belang ist

4.5 Eurozentrisches Vorurteil im Zusammenhang mit GWAS-Analysen

4.6 Ökologische Irrtümer und rassistische Vorurteile

4.7 Antirassismus und Verantwortung in einer postgenomischen Welt

4.8 Zusammenfassung und Ausblick

5 Die Lotterie der Lebenschancen

5.1 Ein Adoptionsexperiment

5.2 Ursachen und kontrafaktische Annahmen

5.3 Wahrnehmen, was hätte sein können

5.4 Was Ursachen nicht sind

5.5 Hinreichende und nicht hinreichende Ursachen

5.6 Genetischer Zufall?

6 Zufällige Zuordnung durch die Natur

6.1 Jedes unglückliche Familienmitglied ist auf seine Art und Weise unglücklich

6.2 Heritabilität hat mit Unterschieden zu tun

6.3 Die Heritabilität in sieben Bereichen, die Ungleichheiten aufweisen

6.4 Ein typischer Einwand

6.5 Fehlende Heritabilität

6.6 Innerfamiliäre Erforschung des polygenischen Index

7 Das Geheimnis der Funktion

7.1 Rothaarige Kinder und alternative mögliche Welten

7.2 Die Frage nach dem Wo: Gene entfalten ihre Aktivität im Gehirn

7.3 Die Frage nach dem Wann: Die Auswirkung der Gene wird schon in einer sehr frühen Entwicklungsphase spürbar

7.4 Die Frage nach dem Was: Genetische Auswirkungen berühren grundlegende kognitive Fähigkeiten

7.5 Noch einmal die Frage nach dem Was: Genetische Auswirkungen umfassen mehr als Intelligenz

7.6 Die Frage nach dem Wer: Genetische Auswirkungen bedürfen zwischenmenschlicher Interaktionen

7.7 Rothaarige Kinder, thematisch neu aufgelegt

Teil 2 Ungleichheit und ihre Auswirkungen

8 Alternative mögliche Welten

8.1 Abwärtsspirale: Wenn die schlimmsten Umgebungen entsprechende Ergebnisse hervorbringen

8.2 Gleichheit versus Gerechtigkeit

8.3 Verbesserung: Wenn Interventionen Gerechtigkeit unterstützen

8.4 Ausgegrenzt: Wenn die Reichen immer reicher werden

8.5 Wer profitiert? Mehr Transparenz ist gefragt

8.6 Gerechtigkeit in Bezug auf was? Die lange Kausalkette

8.7 Hoffen auf eine andere Form der Gesellschaft

9 Die Natur mithilfe der Natur verstehen

9.1 Wir wissen noch nicht, was zu tun ist

9.2 Warum die Sozialwissenschaften die härtesten Wissenschaften sind

9.3 Ein Beispiel, bei dem es um Sex geht

9.4 Es falsch zu machen hat seinen Preis

9.5 Die „geheime Übereinkunft“, die Genetik zu ignorieren

9.6 Neue Programme für alte Probleme

9.7 Jedes Tool in der Toolbox nutzen

10 Persönliche Verantwortung

10.1 Genetik und Kriminalität

10.2 Das Bedürfnis nach Schuldzuweisung

10.3 Eineiige Zwillinge und der Koeffizient des freien Willens

10.4 Der Koeffizient des freien Willens im Bildungswesen

10.5 Der Zufall und die dazugehörige Ideologie

10.6 Zurück zum Thema: Das Bedürfnis nach Schuldzuweisung

11 Unterschiede ohne Hierarchie

11.1 Zwei Phänomene im Zusammenhang mit dem Thema Genforschung

11.2 Gesellschaftlich anerkannt, nicht an sich wertvoll

11.3 Gute Gene, schlechte Gene, Gene für die Körpergröße, Gene für Gehörlosigkeit

12 Antieugenische Wissenschaft und Politik

12.1 Aufhören, Zeit, Geld, Talente und Instrumente zu vergeuden

12.2 Genetische Informationen nutzen, um die Chancen der Menschen zu verbessern, nicht um sie zu klassifizieren

12.3 Genetische Informationen nutzen, um Menschen gerecht zu behandeln, nicht auszusondern

12.4 Glücklich sein ist nicht dasselbe wie gut sein

12.5 Überlegen Sie, was Sie tun würden, wenn Sie nicht wüssten, wer Sie einmal sein werden

12.6 Schlussbetrachtung

Anhang

Danksagung

Zur Autorin

|13|Teil 1Gene und ihre Bedeutung

|15|1  Zur Einführung

In dem Sommer bevor mein Sohn in den Kindergarten kam, erbot sich meine Mutter, die der Montessori-Methode, die ich für seine Vorschulausbildung ausgewählt hatte, misstraute, ihn auf das vorzubereiten, was sie als „richtige“ Schule (eine mit Schreibtischen) bezeichnete. Ich war mir ziemlich sicher, dass der Übergang zum Kindergarten kein Problem sein würde, und so nutzte ich die Gelegenheit für einen „richtigen“ Urlaub (einen ohne kleine Kinder). Meine Kinder waren zwei Wochen bei ihrer Großmutter und ich zwei Wochen am Strand.

Meine Mutter hat früher als Lehrerin gearbeitet. Sie war eine ausgebildete Patholinguistin und arbeitete in einem teilweise ländlichen Schulbezirk im Norden von Mississippi. Die Schüler*innen dort hatten meistens massive Lernbehinderungen und waren ausnahmslos arm. Jetzt wo sie im Ruhestand ist, ist der Wintergarten in ihrem Haus in Memphis mit Postern dekoriert, die sie aus ihrem früheren Klassenzimmer mitgenommen hat: das Alphabet, die US-Präsidenten, die Kontinente der Welt, das Treuegelöbnis. Als ich aus dem Urlaub zurückkam, rezitierten meine Kinder stolz: „Ich schwöre Treue auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und die Republik, für die sie steht. Eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden.“

Auf der laminierten Oberfläche des Posters hatte meine Mutter mit einem purpurroten Marker den Text des Treuegelöbnisses durch Wörter ersetzt, die Kinder besser verstehen. Über Republik hatte sie „Land“ geschrieben, über Privilegien „Freiheit“ und über Gerechtigkeit „fair sein“.

„Fair sein“ ist eine sehr gute Definition für Kindergartenkinder. Wie jeder Elternteil weiß, der schon einmal erlebt hat, wie Geschwister sich um ein Spielzeug zanken, haben Kinder ein gutes Gespür dafür, was fair ist und was nicht. Wenn Grundschulkinder an andere Kinder bunte Radiergummis verteilen sollen, als Belohnung dafür, dass sie ihr Zimmer sauber gemacht haben, werfen sie ein über|16|zähliges Radiergummi lieber weg, damit ein Kind nicht einen anderen Anteil bekommt.1

Selbst Affen haben ein Gerechtigkeitsempfinden. Wenn zwei Kapuzineraffen mit Gurkenscheiben „belohnt“ werden, weil sie eine einfache Aufgabe ausgeführt haben, werden beide bereitwillig ihren Hebel betätigen und ihre Gurkensnacks mampfen. Wird jedoch ein Affe mit Weintrauben belohnt, wird der andere Affe dem Versuchsleiter die Gurke mit der gleichen Empörung ins Gesicht werfen, mit der Jesus die Tische der Geldwechsler angestoßen hat.2

Auch wir Erwachsene sind, genau wie unsere Kinder und die mit uns verwandten Primaten, so beschaffen, dass Ungerechtigkeit uns instinktiv in Rage bringt. Heutzutage ist diese Rage um uns herum deutlich spürbar und droht, jeden Moment überzukochen. Im Jahre 2019 waren die drei reichsten Milliardäre in den USA reicher als die ärmsten 50 % der Menschen des Landes.3 Wie der Kapuzineraffe, der mit Gurkenscheiben belohnt wird, während sein Nachbar Weintrauben bekommt, schauen viele von uns auf die Unterschiede in unserer Gesellschaft und denken: „Das ist ungerecht.“

1.1  Den Nutzen haben die gut Ausgebildeten

Das Leben ist definitiv nicht gerecht – das gilt auch für die Dauer des Lebens. Für viele Spezies, angefangen von Nagetieren über Kaninchen bis hin zu Primaten, gilt: Tiere, die in der Hackordnung der sozialen Hierarchie weiter oben stehen, leben länger und sind gesünder.4 In den USA leben die reichsten Menschen im Durchschnitt 15 Jahre länger als die ärmsten, deren Lebenserwartung, wenn sie 40 Jahre sind, vergleichbar ist mit der von Männern im Sudan und Pakistan.5 Mein Labor hat herausgefunden, dass Kinder, die in Familien mit geringem Einkommen aufwachsen, epigenetische Anzeichen aufweisen, die darauf hindeuten, dass sie bereits im Alter von 8 Jahren biologisch schneller altern.6 Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt, aber der Reiche kann sich damit trösten, dass er sich auf den Tag des Jüngsten Gerichts vorbereiten kann.

Die Einkommensunterschiede hängen eng mit unterschiedlicher Bildung zusammen. Schon vor der neuen Coronavirus-Pandemie hatten weiße7 Amerikaner*innen ohne College-Abschluss eine kürzere Lebenserwartung.8 Der Grund für diese historisch ungewöhnliche Verkürzung der Lebensdauer, die in Ländern mit hohem Einkommen einzigartig ist, waren Suizide, begangen aus Verzweif|17|lung.9 Die Coronavirus-Pandemie hat die Lage weiter verschärft. In den USA bekommen Menschen mit College-Abschluss eher Jobs, die es ihnen ermöglichen, zu Hause zu arbeiten, wo sie vor dem Kontakt mit Viren – und vor Freistellungen – besser geschützt sind.10

Abgesehen davon, dass besser Ausgebildete ein längeres und gesünderes Leben führen, verdienen sie auch mehr. In den vergangenen vierzig Jahren hat sich das Einkommen der oberen 0,1 % der Amerikaner*innen um 400 % gesteigert, während die Gehälter der Menschen ohne College-Abschluss seit den 1960er Jahren nicht angehoben wurden.11Die 1960er. Seitdem hat sich viel verändert: Ein Mensch war auf dem Mond; wir waren an Kriegen in Vietnam, Kuwait, Afghanistan, Irak und im Jemen beteiligt; wir haben das Internet erfunden und die DNA verändert; und in dieser ganzen Zeit haben Amerikaner*innen ohne High-School-Abschluss keine Gehaltserhöhung bekommen.

Wenn Volkswirtschaftler*innen über den Zusammenhang zwischen Einkommen und Bildung reden, verwenden sie den Begriff „Leistungsbonus“, der sich auf die unterschiedliche Bezahlung von „gut ausgebildeten“ Arbeitnehmer*innen, also solchen mit College-Abschluss, und „ungelernten“ Arbeitnehmer*innen ohne College-Abschluss bezieht. Diese Vorstellung von „gut ausgebildet“ lässt Geschäftsleute wie Elektriker oder Installateure, die anstatt einer College-Ausbildung eine lange Berufsausbildung, eine Lehre, absolviert haben, außen vor. Und jeder, der schon einmal in einem Job gearbeitet hat, für den man keine „Ausbildung“ braucht, wie am Tisch bedienen, wird sich völlig zu Recht über die Vorstellung empören, dass diese Arbeit keine besonderen Fähigkeiten erfordert. Eine Arbeit, bei der es um Nahrungsmittel geht, setzt beispielsweise voraus, dass man emotional auf andere Menschen eingehen und auf deren Bedürfnisse reagieren kann.12 Die Bezeichnung „ungelernte“ und „gut ausgebildete“ Arbeitnehmer*innen spiegelt wider, was der Schriftsteller Freddie deBoer „den Kult um das Besondere“ genannt hat:13 die Tendenz, die in der formalen Ausbildung erlernten und die dafür benötigten Fähigkeiten aufzuwerten und als wichtiger zu betrachten als alle anderen (etwa handwerkliches Geschick, körperliche Kraft, emotionales Gespür).

In den USA ist die Höhe der „Leistungsboni“ im Zusammenhang mit den Gehältern seit den 1970er Jahren gestiegen und im Jahre 2018 war das Gehalt von Arbeitnehmer*innen mit Bachelor-Abschluss durchschnittlich 1,7-mal höher als das von Menschen, die nur die High-School besucht hatten.14 Menschen mit noch niedrigerem Nachweis ihrer „Fähigkeiten“ – als ein Zeugnis von der High-School – sind noch schlimmer dran. Das sind nicht gerade wenige: Die Anzahl der High-School-Abschlüsse hat sich seit den 1980er Jahren kaum verändert und eine/einer von vier Schüler*innen einer High-School wird die Schule ohne Zeugnis verlassen.15

|18|Der Leistungsbonus ist das, was ein(e) Arbeitnehmer*in verdient. Aber es gibt viele Menschen, die nicht arbeiten und viele Menschen, die nicht alleine leben. Die Unterschiede in der Zusammensetzung der Haushalte verschärfen die Unterschiede noch weiter. Heutzutage ist es in der Regel so, dass Menschen mit College-Abschluss andere Menschen mit College-Abschluss heiraten oder mit ihnen zusammenleben, weshalb es Haushalte gibt, die über viel Geld verfügen.16 Gleichzeitig nimmt bei weniger gut ausgebildeten Frauen die Zahl der Alleinerziehenden und die Fruchtbarkeitsziffer zu.17 Im Jahre 2016 waren 59 % der Geburten bei Frauen, die nur einen High-School-Abschluss hatten, außerehelich, bei Frauen mit Bachelor-Abschluss oder einem höheren Abschluss waren es nur 10 %. Dies bedeutet, Frauen ohne College-Ausbildung verdienen weniger Geld, müssen mehr Personen ernähren und haben zuhause wahrscheinlich niemanden, der ihnen hilft, dies alles zu bewältigen.

Diese sozialen Unterschiede haben psychologische Auswirkungen. Menschen mit geringerem Einkommen leiden häufiger unter Angst, Stress, Traurigkeit und sind nicht so glücklich wie Menschen, die mehr verdienen.18 Sie sind häufiger betroffen von negativen Ereignissen, sowohl von großen (Scheidung) als auch von kleinen (Kopfschmerzen), und sie genießen ihre Wochenenden weniger. Doch die Lebenszufriedenheit – „mein Leben ist für mich das Beste, was ich haben kann“ – steigt global mit dem Einkommen, selbst unter Vielverdienern.

Angesichts der vielen Möglichkeiten, die dazu führen können, dass das Leben von Menschen sich negativ verändert, diskutieren Philosophen darüber, welche Möglichkeiten die wichtigsten sind: Für die einen spielen gerechte finanzielle Ressourcen eine wichtige Rolle. Für die anderen ist Geld lediglich ein Mittel zum Zweck, glücklich zu sein und sich wohlzufühlen. Wieder andere lehnen es ab, sich auf eine einzige Form der Gerechtigkeit zu konzentrieren. Auch Sozialwissenschaftler*innen setzen sich mit der Art der Ungleichheit auseinander, die im Fokus ihrer Ausbildung steht. Wirtschaftswissenschaftler*innen interessieren besonders die Unterschiede von Einkommen und Reichtum, Psycholog*innen die Unterschiede in puncto kognitive Fähigkeiten und Emotionen. Es gibt nicht den einen idealen Ausgangspunkt, wenn man sich anschickt, die schwer zu entschlüsselnden Ursachen der Unterschiede zwischen Menschen ausfindig zu machen. Ob man in den USA zu den „Begüterten“ oder zu den „Habenichtsen“ gehört, hängt in zunehmendem Maße davon ab, ob man einen College-Abschluss hat oder nicht. Wenn wir feststellen können, warum einige Menschen in der Schule mehr Erfolg haben als andere, finden wir eine Erklärung für die zahlreichen Unterschiede in ihrem Leben.

|19|1.2  Die Geburt und die damit einhergehenden beiden Lotterien

Menschen sind sehr unterschiedlich, was Ausbildung, Reichtum, Gesundheit, Glück und das Leben im Allgemeinen anbelangt. Sind diese Unterschiede gerecht? Im Pandemie-Sommer 2020 vergrößerte sich das Vermögen von Jeff Bezos um 13 Milliarden Dollar an einem einzigen Tag,19 während zur gleichen Zeit 32 % der Haushalte in den USA nicht in der Lage waren, die Miete für ihre Wohnung zu bezahlen.20 Diese Unterschiede lösen starken Ekel bei mir aus; sie haben etwas Obszönes. Aber da gehen die Meinungen auseinander.

Wenn es um die Frage geht, ob Unterschiede dieser Art gerecht oder ungerecht sind, ist ein Punkt, über den sich die Amerikaner*innen weitgehend einig sind (oder zumindest so tun als ob), die „Chancengleichheit“. Diesen Begriff kann man auf unterschiedliche Art und Weise verstehen: Was genau gilt als reale „Chance“ und welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um zu gewährleisten, dass alle die gleiche Chance haben?21 Aber die allermeisten sind der Meinung, dass alle Menschen, unabhängig von den Verhältnissen, in die sie hineingeboren werden, die gleichen Möglichkeiten haben sollten, ein langes, gesundes und erfülltes Leben zu führen.

Unter dem Aspekt der „Chancengleichheit“ sind es nicht unbedingt das Ausmaß oder die Größenordnung der Unterschiede, die beweisen, dass die Gesellschaft ungerecht ist, sondern vielmehr, dass der Grund für diese Unterschiede die soziale Schicht ist, aus der die Eltern des Kindes stammen bzw. andere, mit der Geburt zusammenhängende Umstände, die außerhalb der Kontrolle des Kindes liegen. Ob jemand reiche oder arme Eltern hat, gebildete oder ungebildete, verheiratete oder nicht verheiratete, ob jemand aus dem Krankenhaus in eine saubere und gute Nachbarschaft oder in eine schmutzige und chaotische kommt – all dies sind Zufälle, die mit der Geburt zusammenhängen. Eine Gesellschaft, in der Chancengleichheit herrscht, ist eine, in der mit der Geburt zusammenhängende Zufälle nicht über das Schicksal im Leben eines Menschen bestimmen.

Was die Chancengleichheit anbelangt, zeichnen einige Statistiken über Ungleichheit in den USA ein düsteres Bild. Auf der linken Seite von Abbildung 1-1 ist eine solche Statistik dargestellt, die den Zusammenhang zwischen College-Ausbildung und Familieneinkommen zeigt. Das Ergebnis überrascht nicht. Im Jahre 2018 war die Anzahl junger Erwachsene mit College-Abschluss aus Familien, deren Einkommen im oberen Viertel lag, vier Mal höher als die Anzahl der College-Absolventen aus Familien, deren Einkommen im unteren Viertel lag: 62 % der reichsten Amerikaner*innen hatten im Alter von 24 Jahren einen Bachelor-Abschluss, bei den ärmsten Amerikaner*innen waren es 16 %.

|20|Es gilt zu bedenken, dass zwischen diesen Daten eine Wechselbeziehung besteht. Wir können allein aufgrund dieser Daten nicht sagen, warum reichere Familien Kinder haben, die eher einen College-Abschluss schaffen oder ob es ausreichen würde, den Familien einfach mehr Geld zu geben, damit ihre Kinder mehr Erfolg in der Schule haben.22

Abbildung 1-1:  Bildungsunterschiede in den USA.

Anzahl der College-Abschlüsse in den USA basierend auf dem Einkommen der Familie vs. Unterschiede in der genetischen Ausstattung. Die Daten über College-Abschlüsse basierend auf dem Einkommen stammen von Margaret W. Cahalan et al., Indicators of Higher Education Equity in the United States: 2020 Historical Trend Report (Washingon, DC: The Pell Institute fort the Study of Opportunity in Higher Education, Council for Opportunity in Education (COE), and Alliance for Higher Education and Democracy of the University of Pennsylvania (PennAHEAD), 2020), https://eric.ed.gov/?id=ED606010. Die Daten über die College-Abschlüsse basierend auf dem polygenischen Index stammen von James J. Lee et al., „Gene Discovery and Polygenic Prediction from a Genome-Wide Association Study of Educational Attainment in 1,1 Million Individuals“, Nature Genetics 50, no. 8 (August 2018) : 1112–21, https://doi.org/10.1038/s41588-018-01a7; weitere Analysen mit freundlicher Genehmigung von Robbee Wedow. Analysen des polygenischen Index basieren nur auf Individuen, deren genetische Merkmale von Vorfahren stammen, deren letzte Vorfahren alle in Europa gelebt haben; in den USA werden diese Menschen sehr wahrscheinlich als Weiße identifiziert. Der Unterschied zwischen race und genetischen Vorfahren wird in Kapitel 4 ausführlicher erläutert.

Doch in öffentlichen Debatten und wissenschaftlichen Texten zum Thema Ungleichheit gelten zwei Dinge im Zusammenhang mit Statistiken als erwiesen. Erstens: Daten über den Zusammenhang zwischen den sozialen bzw. umgebungsbasierten Bedingungen und der Geburt eines Kindes einerseits und seines Lebensverlaufs andererseits werden generell als wissenschaftlich sinnvoll erachtet. Forscher*innen, die die Struktur sozialer Ungleichheit in einem Land verstehen |21|wollen, jedoch keine Informationen über die sozialen Verhältnisse haben, in die die Menschen hineingeboren wurden, würden auf große Schwierigkeiten stoßen. Lebenslange Karrieren werden einzig und allein dem Ziel gewidmet herauszufinden, warum genau Kinder aus Familien mit hohem Einkommen mehr Erfolg in der Schule haben, und Strategien und Interventionen zu entwickeln, die einkommensbedingte Bildungsunterschiede ausgleichen.23 Zweitens, Statistiken dieser Arten gelten als moralisch relevant. Viele Leute unterscheiden zwischen gerechten und ungerechten Unterschieden: Ungerechte Unterschiede sind solche, die mit dem Zufall der Geburt zusammenhängen, über die man keine Kontrolle hat, wie z. B. darüber, ob man in privilegierte oder ärmliche Verhältnisse hineingeboren wird.

Allerdings gibt es noch einen weiteren, mit der Geburt zusammenhängenden Zufall, der ebenfalls mit unterschiedlichen Lebensverläufen von Erwachsenen korreliert: Dieser betrifft nicht die sozialen Verhältnisse, in die man hineingeboren wird, sondern die Gene, mit denen man auf die Welt kommt.

Die Daten auf der rechten Seite in Abbildung 1-1 stammen aus einem Artikel in Nature Genetics24, in dem die Wissenschaftler*innen einen bildungsabhängigen polygenischen Index entwickelt haben, in dem ausschließlich zählte, welche DNA-Varianten die Teilnehmer*innen hatten oder nicht hatten. (In Kapitel 3 werde ich ausführlicher darauf eingehen, wie polygenische Indizes ermittelt werden.) Wie beim Familieneinkommen können wir uns die Anzahl der College-Abschlüsse im unteren und oberen Bereich bei dieser Verteilung des polygenischen Index anschauen. Hier haben wir die gleiche Situation: Bei Personen, deren polygenische Indizes im oberen Viertel der „genetischen“ Verteilung liegen, war die Wahrscheinlichkeit vier Mal so hoch, ihren College-Abschluss zu schaffen, als bei denen im unteren Viertel.

Die Daten zum Familieneinkommen auf der linken Seite sind trotz ihrer Korrelativität ein entscheidend wichtiger Ausgangspunkt, um das Phänomen Ungleichheit zu verstehen. Die soziale Schicht ist ein systemischer Faktor, der bestimmt, wer eine bessere Bildung/Ausbildung bekommt und wer nicht. Die Daten zum Familieneinkommen werden von vielen auch als Augenscheinbeweis für Ungerechtigkeit verstanden – eine Benachteiligung, die es abzuschaffen gilt. Doch was ist mit den Daten auf der rechten Seite?

In diesem Buch werde ich darlegen, dass die Daten auf der rechten Seite, die die Beziehung zwischen den ermittelten Genen und Bildungsabschlüssen zeigen, sowohl in empirischer als auch in moralischer Hinsicht, ebenfalls von entscheidender Bedeutung für das Thema soziale Ungleichheit sind. Genauso wie die Tatsache, dass man in eine reiche oder arme Familie hineingeboren werden kann, ist |22|es auch vom Zufall abhängig, mit welchen genetischen Varianten man auf die Welt kommt. Sie können sich Ihre Eltern nicht aussuchen, und dies gilt sowohl für die Gene als auch für die Umgebung. Und genau wie bei der sozialen Schicht ist das Ergebnis der genetischen Lotterie ein systemischer Faktor, der darüber entscheidet, wer mehr und wer weniger von fast all den Dingen bekommt, die in der Gesellschaft zählen.

1.3  Einstellungen gegenüber der Genetik

Die Behauptung, Gene seien relevant, um Bildung und soziale Unterschiede zu verstehen, heißt mit dem Feuer spielen. Wir haben es anscheinend mit einem gefährlichen Thema zu tun. Ehrlich gesagt klingt es irgendwie eugenisch. Ein Historiker verglich Wissenschaftler*innen, die einen Zusammenhang zwischen Genetik und Ergebnissen wie College-Abschlüsse herstellten, mit Deutschen, die sich am Holocaust beteiligt haben („CRISPR’s willfährige Vollstrecker“).25 Ein anderer Kollege schickte mir eine E-Mail, in der stand, weil ich den Zusammenhang zwischen genetischer Ausstattung und Bildungsabschlüssen untersuche, sei ich „nicht besser sei als ein Holocaust-Leugner“. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Akademiker*innen die Thematisierung der genetischen Ursachen sozialer Unterschiede für ein zutiefst rassistisches, klassizistisches, eugenisches Vorhaben halten.

Wir wissen auch, wie die Öffentlichkeit über Wissenschaftler*innen denkt, die über genetisch bedingte individuelle Unterschiede sprechen – und das ist nicht unbedingt nett.

Die Teilnehmer*innen einer sozialpsychologischen Studie sollten eine Geschichte über einen erfundenen Wissenschaftler, Dr. Karlsson, lesen.26 Die Vignette gab es in zwei Versionen. In beiden wurden das Forschungsprogramm und die wissenschaftlichen Methoden von Dr. Karlsson mit exakt den gleichen Worten beschrieben. Doch Dr. Karlssons Ergebnisse waren anders: In der einen Version stand, Dr. Karlsson habe einen geringfügigen Zusammenhang von 4 % zwischen der genetischen Ausstattung und dem Abschneiden bei einem Mathematik-Test festgestellt. In der anderen Version hatten die Gene einen stärkeren Einfluss, nämlich 26 %.

Die Teilnehmer*innen sollten die Befunde lesen und dann bei fünf Aussagen angeben, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Dr. Karlsson diesen zustimmt:

|23|Der gesellschaftliche Status von Menschen sollte ihren natürlichen Fähigkeiten entsprechen.

Menschen und soziale Gruppen sollten ungeachtet ihrer Fähigkeiten gleichbehandelt werden.

Bestimmte Menschen sollten besser behandelt werden, weil sie sehr viel talentierter sind als andere.

Es ist in Ordnung, wenn die Gesellschaft einigen Menschen mehr Macht und Erfolg zugesteht als anderen – das ist ein Naturgesetz.

Die Gesellschaft sollte sich bemühen, Unterschiede zu beseitigen, damit es gerechter zugeht.

Diese Aussagen dienten der Einschätzung „egalitärer“ Wertvorstellungen. Merriam-Webster definiert Egalitarismus so: „Die Auffassung, dass Menschen gleich sein sollten, besonders wenn es um soziale, politische und ökonomische Belange geht; eine Sozialphilosophie, welche die Beseitigung von Unterschieden zwischen den Menschen propagiert.“ Als die Teilnehmer*innen gelesen hatten, Dr. Karlsson habe Beweise dafür gefunden, dass mathematische Fähigkeiten auf die genetische Ausstattung zurückzuführen sind, schrieben sie ihm eine weniger egalitäre Einstellung zu und fanden, er halte bestimmte Menschen für wertvoller als andere, er sei an einer gerechteren Gesellschaft nicht interessiert, er sei nicht der Meinung, dass Menschen gleichbehandelt werden sollten.

Des Weiteren ergab die Studie, dass eine Wissenschaftlerin, die behauptete, Intelligenz sei genetisch bedingt, auch als weniger objektiv wahrgenommen wurde, eher daran interessiert, eine bestimmte Hypothese zu beweisen und vor ihrer wissenschaftlichen Karriere nicht egalitäre Überzeugungen vertreten habe. Teilnehmer*innen, die sich als politisch konservativ einordneten, zweifelten, unabhängig von Befunden, generell an der Objektivität der Wissenschaftler*innen; bei Teilnehmer*innen, die sich als politisch liberal einschätzten, war die Wahrscheinlichkeit, die Objektivität der Wissenschaftlerin infrage zu stellen, besonders hoch, als diese darauf hinwies, dass Gene Einfluss auf die Intelligenz haben.

Diese Studie ist wichtig, weil die Teilnehmer*innen keine Wissenschaftler*innen oder Akademiker*innen waren, die sich mit Genetik, Mathematik oder politischer Philosophie auskannten. Sie waren College-Student*innen, die an einem Kurs teilnahmen oder Leute, die zu Hause arbeiteten und sich ein wenig Geld nebenbei verdienen wollten, indem sie Fragebogen ausfüllten. Die Studie macht deutlich, wie selbstverständlich für Menschen, besonders für solche mit liberalen politischen Überzeugungen, die Unvereinbarkeit empirischer Aussagen über den |24|Einfluss der Gene auf das menschliche Verhalten mit moralischen Überzeugungen ist, die darauf abzielen, dass Menschen gleichbehandelt werden sollten.

1.4  Das langlebige Vermächtnis der Eugenik

Es gibt natürlich gute Gründe, warum für viele Menschen Erkenntnisse aus der Genetik unvereinbar mit sozialer Gleichheit sind. Mehr als 150 Jahre diente die Wissenschaft, die sich mit dem menschlichen Erbgut befasste, dazu, rassistische und klassenfeindliche Ideologien zu propagieren, was grausame Konsequenzen für Menschen hatte, die als „weniger wertvoll“ eingestuft wurden.

Im Jahre 1869 veröffentlichte Francis Galton – Cousin von Charles Darwin und derjenige, der den Begriff „Eugenik“ prägte – sein Buch Hereditary Genius.27 Galtons Buch, das im Wesentlichen Hunderte von Seiten mit Genealogien enthielt, sollte belegen, dass die Struktur der britischen Schichten auf dem biologischen Erbe der „Eminenz“ basierte. Männer, die in der Wissenschaft, im Geschäftsleben und im juristischen Bereich Großes geleistet hatten, stammten von anderen bedeutenden Männern ab. In Hereditary Genius und Galtons im Jahre 1889 erschienenen Buch Natural Inheritance28 beinhaltete die Erforschung des „Erbgutes“ die Feststellung messbarer Ähnlichkeiten zwischen Verwandten29 – ein wissenschaftlicher Ansatz, der auch heute noch praktiziert wird, auch in den vielen Studien, die ich in diesem Buch vorstellen werde.

Galton genügte es jedoch nicht, lediglich Familienähnlichkeiten in Form von Ahnentafeln zu dokumentieren; er wollte diese Ähnlichkeit quantifizieren – sie mit Zahlen untermauern. Quantifizierung begeisterte ihn in der Tat nachhaltig; sein Slogan lautete, „wann immer es geht, zählen Sie“.30 Um Familienähnlichkeiten mathematisch darstellen zu können, erfand Galton grundlegende statistische Konzepte wie den Korrelationskoeffizienten. Doch neben seinen Entwicklungen im Bereich der Statistik machte er sich auch Gedanken darüber, wie das menschliche Erbgut verändert werden könnte und sollte. In einer 1883 veröffentlichten Fußnote führte Galton den neuen Begriff „Eugenik“ ein, um „die Wissenschaft zur Verbesserung des Bestandes [stock]“ bekannt zu machen, deren Ziel es war, „besser geeigneten Rassen oder Blutlinien die Chance zu geben, sich schnell gegenüber den weniger geeigneten durchzusetzen“.31 Von Anfang an war die aufkommende Wissenschaft der Statistik und die Nutzung statistischer Zahlen für die Untersuchung von Familienähnlichkeiten sowohl mit Vorstellungen, bestimmte races seien anderen überlegen, als auch mit Vorschlägen, die menschliche Reproduktion zu manipulieren, um die Spezies zu verbessern, verknüpft.

|25|Als Galton 1911 starb, vermachte er dem University College London Geld für die Einrichtung eines Lehrstuhls für Eugenik im Sinne Galtons, eine Position, die sein Protegé Karl Pearson bekam, der auch der Leiter des neu geschaffenen Department of Applied Statistics war.32 Pearson entwickelte weitere statistische Methoden, die heute in allen Bereichen der Wissenschaft und Medizin routinemäßig genutzt werden. Seine Forschungsaktivitäten waren in neutraler Sprache abgefasst: „Wir verfolgen im Galton-Labor keine eigennützigen Zwecke. Wir gewinnen nichts und wir verlieren nichts durch die Verkündung der Wahrheit.“ Doch Pearsons politische Agenda war alles andere als neutral. Unter Verweis auf Statistiken von Familienkorrelationen zum Thema „mentale Eigenschaften“ (etwa die Einschätzung der Studierfähigkeit von Lehrern) argumentierte Pearson, fortschrittliche soziale Reformen wie die Erweiterung der Bildungsmöglichkeiten seien sinnlos. Er war auch gegen Arbeitsschutzmaßnahmen, wie das Verbot von Kinderarbeit, Mindestlohn und den Acht-Stunden-Arbeitstag mit der Begründung, dass derartige Reformen die Reproduktion „untauglicher Personen“ fördern.33

In den Vereinigten Staaten fand die Begeisterung von Galton und Pearson für quantitative Studien zur Ermittlung von Daten über die Ahnentafeln von Familien ihr Pendant in der Arbeit von Charles B. Davenport, der ein Eugenics Record Office in Cold Spring Harbor auf Long Island, New York, etablierte. 1910 ernannte Davenport Harry H. Laughlin zum Leiter des Office und förderte damit den wohl schärfsten Befürworter der eugenischen Gesetzgebung in der Geschichte Amerikas.

Fast unmittelbar nachdem Laughlin seine Arbeit aufgenommen hatte, begann er mit Untersuchungen für sein Buch Eugenical Sterilization in the United States,34 das 1922 schließlich veröffentlicht wurde. Laughlin berief sich auf Präzedenzfälle wie Zwangsimpfung und Quarantäne und propagierte in seinem Buch „das Recht des Staates, die menschliche Reproduktion zur Verbesserung der Rasse zu begrenzen“. Das Buch gipfelte in dem Textvorschlag für ein „Model Eugenical Sterilization Law“ für die Gesetzgebung der Staaten, die ein Interesse daran hatten zu verhindern, „dass sich Personen fortpflanzen, die aufgrund defizitärer Erbanlagen sozial unzulänglich sind.“ Als „sozial unzulänglich“ galten Personen, „die dauerhafte Probleme hatten … als nützliche Mitglieder des staatlich organisierten gesellschaftlichen Lebens zu fungieren“, darunter fielen auch „Schwachsinnige“, Geisteskranke, Kriminelle, Epileptiker, Alkoholiker, Personen mit Syphilis, Blinde, Gehörlose, Verkrüppelte, Waisen, Obdachlose sowie „Landstreicher und Arme“. Im Jahre 1924 verabschiedete der Staat Virginia ein Sterilisationsgesetz, das in einer Sprache abgefasst war, die wörtlich dem von Laughlin vorgeschlagenen Gesetz entsprach.35

|26|Der Eifer der Eugeniker*innen, die Konstitutionalität des Gesetzes zur Eugenischen Sterilisation in Virginia zu etablieren, fand mit Carie Buck schnell einen idealen Testfall; Emma, die leibliche Mutter von Carie, hatte Syphilis und brachte als Unverheiratete eine Tochter namens Vivian zur Welt, nachdem sie von dem Neffen ihrer Pflegeeltern vergewaltigt worden war.36 Oliver Wendell Holmes, Richter am Supreme Court, schrieb im Sinne der Mehrheit im Fall Buck vs. Bell, als er die Anwendung des Gesetzes des Staates Virginia mit einer infamen Äußerung über die Familie Buck begründete: „Drei Generationen von Schwachsinnigen reichen.“ Nach dem Urteil im Fall Buck vs. Bell wurden bis zum Jahre 1972 mehr als 8.000 Einwohner*innen des Staates Virginia sterilisiert und zusätzlich noch etwa 60.000 weitere Amerikaner*innen, weil andere Staaten dem Beispiel von Virginia folgten.37

Doch die Sterilisationen gingen den eifrigsten Befürworter*innen der Eugenik nicht schnell genug. Als Deutschland kurz nach Hitlers Machtergreifung im Jahre 1933 seine Version des Modells von Laughlin verabschiedete, drängten amerikanische Eugeniker*innen auf Ausweitung der Sterilisationsprogramme hier. „Die Deutschen schlagen uns mit unseren eigenen Waffen“, klagte Joseph DeJarnette, ein Sohn der Upper Class zur Zeit der Konföderation, der im Fall Buck vs. Bell gegen Carie Buck ausgesagt hatte und der als Direktor des Western State Hospital in Staunton, Virginia, mehr als 1.000 Sterilisationen überwachte.38

Im Jahre 1935 verabschiedete die Nazi-Regierung die Nürnberger Gesetze, die die Eheschließung zwischen Juden und Deutschen nicht jüdischer Abstammung verboten und Juden, Roma und andere ihrer vom Gesetz garantierten Rechte und ihrer Bürgerrechte beraubten. Im gleichen Jahr schrieb Laughlin an seinen Nazi-Kollegen Eugen Fischer, dessen Arbeit über das „Problem der Rassenmischung“ für die Nürnberger Gesetze als ideologische Grundlage fungierte.39 Mit seinem Brief wollte Laughlin Fischer mit Wickliffe Preston Draper bekannt machen, einem Textilmagnaten und begeistertem Anhänger der Eugenik, der wenig später nach Berlin reisen wollte, um an einer Konferenz der Nazis zum Thema „Rassenhygiene“ teilzunehmen.40

Nach seiner Rückkehr in die USA gründete Draper zusammen mit Laughlin den Pioneer Fund, der 1937 amtlich eingetragen wurde und heute noch existiert. Der Fund wurde „ehrenhalber“ nach den ersten Familien benannt, die ursprünglich die amerikanischen Kolonien gegründet hatten; zudem verfolgte er das Ziel, die Erforschung des menschlichen Erbgutes und „das Problem der Verbesserung der Rasse“ zu fördern. Es war eine seiner ersten Aktivitäten, den Propaganda-Film der Nazis, Erbkrank, zum Thema Sterilisation zu verbreiten, der Hitlers lobende Anerkennung fand.41

|27|Wir können sowohl finanziell als auch ideologisch eine direkte Linie von diesen Eugeniker*innen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts bis zu denjenigen ziehen, die heute noch die Überlegenheit der Weißen propagieren. Zu denen gehört beispielsweise auch Jared Taylor. Er bezeichnet sich selbst als „race realist“ und vertritt die Meinung, dass Schwarze Amerikaner*innen für „keine Art von Kultur“ taugen; er wurde kürzlich vom Pioneer Fund finanziell unterstützt.42 Im Sinne der ideologischen Tradition von Pearson und Laughlin setzt Taylor die Genetik als rhetorische Waffe gegen die Ziele sozialer und politischer Gleichheit ein. In seiner Rezension von Blueprint, einem Buch des auf Verhalten spezialisierten Genetikers Robert Plomin (dessen Arbeit ich in diesem Buch vorstellen werde), postuliert er, die aktuellen Entwicklungen in der Genetik würden das Ende der Gerechtigkeit in der Gesellschaft bedeuten: „Würden [diese] wissenschaftlichen Befunde allgemein akzeptiert, würde dies die Basis sämtlicher Bemühungen egalitärer Initiativen der letzten 60 Jahre zunichtemachen.“43

2017 trafen sich Anhänger*innen der Idee von der Überlegenheit der weißen race in Charlottesville zur Rally „Unite the Right.“44 In Khaki gekleidete Männer schwenkten Hakenkreuz-Flaggen und sangen „Wir lassen uns nicht durch Juden ersetzen“, als sie durch die Stadt marschierten, in der Carie Buck begraben ist – eine grausige Erinnerung, dass die kranke Ideologie von der „Reinheit der Rasse“, die das Virginia von Jim Crow und Nazi-Deutschland verbindet, eine Ideologie, die auch gravierende Konsequenzen für arme Weiße wie Buck hatte, niemals ganz verschwunden ist.

1.5  Genetik und Egalitarismus: Ausblick

In den 150 Jahren, die seit der Veröffentlichung von Hereditary Genius vergangen sind, haben Genetiker*innen die materielle Substanz des Erbguts identifiziert, die DNA-Doppelhelix entdeckt, ein Schaf geklont, die Genome von in anatomischer Hinsicht modernen Menschen und Neandertalern sequenziert, Embryonen mithilfe von drei Elternteilen erschaffen und den Weg für die CRISPR-Cas9-Technologie bereitet, die es ermöglicht, die DNA direkt zu manipulieren. Doch in dieser ganzen Zeit hat sich die Art, wie Menschen die Beziehung zwischen genetischen Unterschieden und sozialen Ungleichheiten sehen, seit der Zeit von Galtons ursprünglicher Formulierung kaum weiterbewegt: Auf Erfahrungen basierende Behauptungen („die Menschen unterscheiden sich in genetischer Hinsicht, was körperliche, psychologische und verhaltensbezogene Unterschieden nach sich zieht“) |28|werden vermengt mit moralischen Empfehlungen („es ist in Ordnung, dass bestimmte Menschen besser behandelt werden als andere“) und deren potenziell schlimmen Konsequenzen.

Ziel dieses Buches ist es, ein neues Bild von der Beziehung zwischen der Disziplin der Genetik und Gleichheit zu zeichnen. Wird es gelingen, die verhaltensorientierte Genetik, angefangen von Galtons Beobachtungen bis hin zu modernen genetischen Studien, die sich mit der Erforschung von Intelligenz und Bildungsabschlüssen befassen, von rassistischen, klassenfeindlichen und eugenischen Ideologien, von denen sie geprägt war, zu befreien? Wird es gelingen, eine neue Synthese zu entwickeln? Und wird es dank dieser neuen Synthese möglich sein, unsere Auffassung von Gleichheit und wie sie erreicht werden kann zu erweitern?

Bevor ich beschreibe, wie es gelingt, ein neues Verständnis der Beziehung zwischen Genetik und Egalitarismus zu entwickeln, ist es sinnvoll, an dieser Stelle darzulegen, wo ich von einem Buch in der Tradition von Galton abweiche – The Bell Curve von Richard Herrnstein und Charles Murray.45 Der Titel „The Bell Curve“ unterstützt Galtons statistische Vorliebe, zu beobachten, ob die Registrierung der Auftretenshäufigkeit unterschiedlicher Ausprägungen menschlicher Eigenschaften eine typische Bellsche „Normalverteilung“ ergibt, die bestimmte mathematische Eigenschaften hat. Der Untertitel (Intelligence and Class Structure in American Life) entspricht Galtons Interesse an der Gesellschaft, das der Frage gilt, ob die Unterschiede zwischen den Schichten sich in den Erbanlagen widerspiegeln.

Herrnstein und Murray fokussierten sich nicht auf „Eminenz“, sondern auf Intelligenz. Diese wird ermittelt mithilfe standardisierter Tests, die das abstrakte Denkvermögen überprüfen. Wie Herrnstein und Murray (sowie die allermeisten Wissenschaftler*innen im Bereich Psychologie) glaube auch ich, dass Intelligenztests einen Aspekt der Psychologie einer Person überprüfen, der über den Erfolg im heutigen Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt entscheidet, dass Zwillingsstudien uns wichtige Daten über die genetischen Ursachen individueller Unterschiede von Menschen liefern und dass Intelligenz vererbt wird (ein Konzept, das gründlich missverstanden wird; in Kapitel 6 werde ich ausführlicher darauf eingehen). Angesichts dieser Ähnlichkeiten sind Vergleiche zwischen diesem Buch und The Bell Curve sowie Herrnsteins früherem, 1973 erschienenen Buch über IQ und Leistungsgesellschaft46 unvermeidlich. Eine kurze Auflistung der Unterschiede zwischen uns an dieser Stelle hat den Vorteil, Missverständnissen vorzubeugen, aber auch die Argumente zu benennen, die ich im weiteren Verlauf dieses Buches vorbringen werde.

Ich vertrete die These, dass die Wissenschaft, die sich mit den individuellen Unterschieden zwischen Menschen befasst, durchaus vereinbar ist mit einem ve|29|hementen Egalitarismus. Der letzte Teil von The Bell Curve spielt mit der Idee, die Genetik könne dazu dienen, egalitäre Argumente zu untermauern zugunsten der ökonomischen Gleichheit: „Warum sollte [jemand] wegen seines Einkommens und seines sozialen Status bestraft werden? … Wir könnten sicherstellen, dass dies keine Frage von Verdiensten ist, sondern ökonomischer Pragmatismus, der darauf abzielt, den am wenigsten begünstigten Mitgliedern der Gesellschaft ausgleichende Zuwendungen anzubieten.“

Diese Aussagen beinhalten zwei wichtige Ideen: (1) dass Menschen ökonomische Nachteile nicht verdienen, nur weil sie zufällig eine bestimmte Kombination von DNA-Varianten geerbt haben, und (2) dass die Gesellschaft so organisiert werden sollte, dass ihre am wenigsten begünstigten Mitglieder von ihr profitieren. Es ist verblüffend, derartige Ideen in The Bell Curve zu lesen, denn sie hören sich an, als stammten sie aus einem ganz anderen Buch: A Theory of Justice von dem an Egalitarismus und Politik interessierten Philosophen John Rawls.

In A Theory of Justice benutzte Rawls die Metapher „Lotterie der Natur“, als er beschrieb, mit welch unterschiedlichen Ausgangspositionen Menschen ihr Leben beginnen. Wie ich in Kapitel 2 erläutern werde, ist Lotterie eine perfekte Metapher für das genetische Erbe: Verantwortlich für das Genom eines jeden Menschen ist der Powerball Natur.

Rawls erläutert alsdann auf mehreren Hundert Seiten, wie eine gerechte Gesellschaft ausgestattet sein sollte, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass bei der Geburt von Menschen zwei Lotterien Einfluss ausüben, die natürliche und soziale.

Rawls war weit davon entfernt, Unterschiede zwischen Menschen und ihren „naturgegebenen Fähigkeiten“ als Rechtfertigung für Ungleichheit zu betrachten und prangerte die Ungerechtigkeit von Gesellschaften an, die sich am Prinzip der „Beliebigkeit der Natur“ orientierten. Seine Vorstellungen von Gerechtigkeit veranlassten ihn zu der Aussage, dass Ungleichheiten, für die die Lotterie der Natur verantwortlich ist, nur dann akzeptabel sind, wenn die am wenigsten Begünstigten in der Gesellschaft davon profitieren. Biologische Unterschiede zwischen Menschen ernst zu nehmen, so Rawls, mache die Idee des Egalitarismus nicht zunichte; dies sei Teil der Ideen, die ihn veranlassten, sich für eine gerechtere Gesellschaft zu engagieren.

The Bell Curve und die vagen Anklänge an die Ideen von Rawls waren erste Hinweise auf eine andere Einstellung gegenüber Genetik und sozialer Gleichheit. Doch nach ihrer quälenden halbseitigen Spielerei mit Egalitarismus, vertreten Herrnstein und Murray einen profunden Inegalitarismus und klagen, „es sei anrüchig zu sagen, dass einige Menschen anderen überlegen sind …Uns gefällt die Idee, |30|dass manche Dinge besser sind als andere – nicht nur nach unserer subjektiven Meinung, sondern nach traditionellen Standards von Verdienst und Unterlegenheit“ (Hervorhebung: die Autorin). Nach 500 Seiten wird klar, welche Art von Dingen – und welche Art von Menschen – sie für besser halten. Nach ihrer Meinung bedeutet Überlegenheit: besser bei Intelligenztests abzuschneiden; ein Weißer zu sein; aus einer höheren Schicht zu stammen. Für sie ist wirtschaftliche Produktivität („der Welt mehr geben als [man] ihr nimmt“) tatsächlich unverzichtbar für die Würde des Menschen.“

Vergleichen Sie ihre dreiste Behauptung, dass einige Menschen anderen überlegen sind, mit der Definition von Inegalitarismus, die von der politischen Philosophin Elizabeth Anderson stammt:

Inegalitarismus erfordert die Berechtigung bzw. die Notwendigkeit, soziale Ordnung im Rahmen einer auf intrinsischen Werten basierenden Hierarchie zwischen Menschen zu etablieren. Ungleichheit hat weniger mit der Verteilung von Gütern zu tun, sondern mit den Beziehungen zwischen wertvollen und weniger wertvollen Personen … Ungleiche soziale Beziehungen dieser Art generieren eine gewollte Ungleichheit, was die Verteilung von Freiheiten, Ressourcen und Wohlergehen anbelangt. Dies ist die Quelle inegalitärer Ideologien wie Rassismus, Sexismus, Nationalismus, Denken in Kategorien von Kasten und Schichten und Eugenik.47

Anders ausgedrückt, die eugenische Ideologie geht davon aus, dass es eine Hierarchie gibt, bestehend aus wertvollen und weniger wertvollen Menschen und dass die DNA den intrinsischen Wert einer Person und deren Stellung innerhalb dieser Hierarchie bestimmt. Die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Unterschiede, die sich aus dieser Hierarchie ergeben – in der die Wertvollen mehr und die weniger Wertvollen weniger bekommen – sind aus eugenischer Sicht unvermeidlich, naturgegeben, gerecht und notwendig.

Die übliche Reaktion auf die Kritik an der Ideologie der Eugenik war der Hinweis darauf, dass die Menschen gleich sind, was ihre Gene anbelangt. Und es könne nicht sein, dass die genetischen Unterschiede der Menschen ihren Wert und ihre Stellung bestimmen, wenn es diese Unterschiede gar nicht gibt. Diese Rhetorik, die politische und ökonomische Gleichheit mit der Ähnlichkeit der Gene verknüpft, zeigt sich in der Art und Weise, wie Präsident Bill Clinton verkündete, das menschliche Genomprojekt habe den ersten Schritt zur Aufschlüsselung der DNA-Sequenz getan. Er „verkaufte“ die genetische Gleichheit der Menschen als empirische Wahrheit, die das Ideal der Egalität unterstützte:

|31|Wir sind gleich geschaffen und haben ein Anrecht darauf, nach dem Gesetz gleichbehandelt zu werden … Für mich ist eine der größten Wahrheiten, die das Ergebnis dieser triumphalen Expedition in das menschliche Genom mit sich bringt, die, dass alle Menschen, egal welcher race sie angehören, in Bezug auf ihre Gene 99,9 % gleich sind.48

Clinton sagte in einer anderen Situation, „es wurden Fehler gemacht“, und einer der Fehler, die Clinton gemacht hat, war aus meiner Sicht der, dass er die Gleichheit der Gene mit egalitären Idealen verknüpft hat. Es stimmt, die genetischen Unterschiede zwischen zwei Menschen sind winzig im Vergleich zu der Länge der DNA-Stränge, die in jeder menschlichen Zelle enthalten sind. Aber diese Unterschiede spielen eine große Rolle, wenn es darum geht zu verstehen, warum beispielsweise ein Kind Autismus hat und das andere nicht; warum das eine gehörlos ist und das andere nicht; und – wie ich in diesem Buch noch ausführen werde – warum ein Kind Schwierigkeiten in der Schule hat und das andere nicht. Genetische Unterschiede haben Auswirkungen auf unser Leben. Sie verursachen Unterschiede, was Dinge betrifft, die uns wichtig sind. Eine Verknüpfung mit Egalitarismus aus der Tatsache abzuleiten, dass wir die gleichen Gene haben, wäre so, als würde man ein Haus auf Sand bauen.

Der Biologe J. B. S. Haldane vergleicht Karl Pearson mit Christopher Columbus: „Seine Theorie über Heredität war in grundlegenden Aspekten genauso inkorrekt wie die Vorstellungen, die Christopher Columbus von der Geografie hatte. Er wollte nach China und entdeckte Amerika.“49 Columbus mit Pearson und seinen Kolleg*innen zu vergleichen, ist meiner Ansicht sehr gut. Sie sind sich ähnlich, was den Umfang ihrer Fehleinschätzungen, das Ausmaß der Gewalt und der Schäden, die sie unschuldigen Menschen zugefügt haben – und was die Bedeutung ihrer Entdeckungen anbelangt. Nach allem, was wir heute wissen, können wir nicht behaupten, dass der amerikanische Kontinent nicht existiert. Nach allem, was wir heute wissen, können wir nicht behaupten, dass die Genetik keine Rolle spielt. Wir müssen die wissenschaftlichen und ideologischen Fehler der Eugeniker*innen vorsichtig abtragen und wir müssen uns dazu äußern, wie die Wissenschaft, die sich mit dem Erbgut befasst, in ein egalitäres Konzept passt.

In diesem Buch werde ich darlegen, warum es nichts mit Eugenik zu tun hat, wenn man sagt, dass Menschen sich in genetischer Hinsicht unterscheiden. Es hat auch nichts mit Eugenik zu tun, wenn man sagt, dass manche Menschen, weil sie sich genetisch unterscheiden, es leichter haben, bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln. Auch hat es nichts mit Eugenik zu tun, wenn Sozialwissenschaftler*innen aufzeigen, wie das Bildungssystem, der Arbeitsmarkt und |32|der Finanzmarkt Menschen finanziell und auch auf andere Art und Weise für bestimmte, historisch und kulturell geprägte Talente und Fähigkeiten, die von unseren Genen beeinflusst sind, belohnen. Eugenisch ist allerdings, wenn individuelle Unterschiede zwischen Menschen und ihren ererbten genetischen Varianten, die für diese individuellen Unterschiede verantwortlich sind, mit bestimmten Vorstellungen von wertvoll oder nicht wertvoll und einer hierarchischen oder naturgegebenen Ordnung zwischen den Menschen verknüpft werden. Eugenisch ist auch, Strategien zu entwickeln und zu implementieren, die wegen einer in moralischer Hinsicht willkürlichen Verteilung genetischer Varianten Unterschiede zwischen Menschen und ihren Ressourcen, Freiheiten und ihrem Wohlergehen, erzeugen oder festschreiben.

Das antieugenische Projekt zielt darauf ab: (1) Zu vermitteln, was der genetische Zufall für die Beschaffenheit unseres Körpers und unseres Gehirns bedeutet, (2) aufzuzeigen, wie unsere heutigen Bildungssysteme, Arbeits- und Finanzmärkte nur bestimmte körperliche und geistige Eigenschaften, und (3) darüber nachzudenken, wie es gelingt, diese Systeme so zu verändern, dass alle darin ihren Platz finden, unabhängig von den Auswirkungen ihrer genetischen Lotterie. Der Philosoph Roberto Mangabeira Unger schreibt: „Die Gesellschaft ist etwas Erschaffenes und Erdachtes … sie ist ein menschliches Artefakt und nicht die Folge einer zugrunde liegenden naturgegebenen Ordnung.“50 In diesem Buch wird das Wissen über die natürliche Welt, in diesem Fall die Genetik, als Helfer und nicht als Feind verstanden, wenn es darum geht, eine neue Gesellschaft zu planen und zu realisieren.

1.6  Warum wir eine neue Synthese brauchen

Dass die Genetik helfen kann, die Ziele der Gleichheit in der Gesellschaft voranzutreiben, stößt häufig auf Skepsis. Die potenziellen Gefahren der Eugenik spielen bei dieser Idee eine nicht unerhebliche Rolle. Die potenziellen Vorteile der Verknüpfung von Genetik und sozialer Ungleichheit werden als gering wahrgenommen. Und selbst wenn eine neue Synthese von Genetik und Egalitarismus möglich ist, warum sollte man das Risiko eingehen? Angesichts des düsteren Vermächtnisses der Eugenik in Amerika wirkt die Vorstellung, die Genforschung könnte jemals auf eine andere Art und Weise wahrgenommen und genutzt werden, allzu optimistisch, wenn nicht gar naiv.

Was bei dieser Betrachtung der Risiken und Vorzüge jedoch ausgeblendet wird, sind die Risiken, die entstehen, wenn der Status quo beibehalten wird, der da|33|durch gekennzeichnet ist, dass der Zusammenhang zwischen genetischen Unterschieden zwischen Menschen und sozialen Unterschieden sowohl von Akademiker*innen als auch von der Bevölkerung weitgehend tabuisiert wird. Dieser Status quo darf nicht länger hingenommen werden.

Kapitel 9 zeigt auf, dass die weit verbreitete Tendenz, die Existenz individueller genetischer Unterschiede zu ignorieren, wissenschaftliche Fortschritte in den Bereichen Psychologie, Erziehungswissenschaften und anderen Bereichen der Sozialwissenschaften hemmt.51 Infolgedessen waren wir deutlich weniger erfolgreich als wir hätten sein können, mehr über die menschliche Entwicklung zu erfahren und zu intervenieren, um das Leben der Menschen zu verbessern. Der politische Wille und die Ressourcen zur Verbesserung des Lebens der Menschen sind begrenzt; wir dürfen weder Zeit noch Geld in Lösungen investieren, die nicht funktionieren. Die Soziologin Susan Mayer sagt: „Wenn Sie [Menschen] helfen wollen, müssen sie genau wissen, welche Art von Hilfe sie brauchen. Sie sollten nicht einfach davon ausgehen, dass sie die Lösung schon haben“52 (Hervorhebung: die Autorin). Wenn Sozialwissenschaftler*innen sich gemeinsam der Herausforderung stellen, das Leben von Menschen zu verbessern, dann können wir es uns nicht leisten, eine grundlegende Wahrheit über die menschliche Natur zu ignorieren: Die Menschen sind nicht gleich, wenn sie auf die Welt kommen.

Genetische Unterschiede zwischen Menschen zu ignorieren, hinterlässt einen Interpretationsspielraum, den politische Extremisten nur allzu gerne für ihre Zwecke nutzen. Jared Taylor ist nicht der einzige Extremist, der sich für Genetik interessiert. Die Genetiker Jedidiah Carlson und Kelley Harris verweisen darauf, dass „die Mitglieder and Anhänger*innen weißer nationalistischer Bewegungen unersättlich sind, was den Konsum wissenschaftlicher Forschung anbelangt.“53 Journalist*innen und Wissenschaftler*innen schlagen Alarm und verweisen darauf, wie die Genforschung auf den Webseiten der Befürworter*innen weißer Überlegenheit, wie z. B. Stormfront, analysiert wird (Motto: „White Pride Worldwide“),54 aber Carlson und Harris konnten dieses Phänomen mit Zahlen belegen, indem sie Daten auswerteten, die zeigten, wie die Nutzer*innen von sozialen Medien Arbeitspapiere teilten, die Wissenschaftler*innen an bioRxiv. gepostet hatten. Ihre Auswertung hat gezeigt, dass Texte, in denen es um Genetik geht, bei weißen Nationalist*innen besonders beliebt sind.

Ich habe dieses Phänomen bei meiner eigenen Arbeit erlebt. Ein Beispiel: Ich war Mitverfasserin eines Textes, der den Zusammenhang zwischen genetischen Unterschieden und „nicht kognitiven Fähigkeiten“, wie Ökonomen sie nennen, und guten Ergebnissen in der Schule untersuchte. (In Kapitel 7 gehe ich näher auf diese Studie ein).55 Die Untersuchung von Carlson und Harris hat ergeben, dass |34|fünf von sechs der eifrigsten Twitter-Nutzer*innen in unserer Studie Menschen waren, die, bewertet man ihre Ausdrucksweise in ihren biografischen Angaben und Nutzernamen, offensichtlich Akademiker*innen aus den Bereichen Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Genforschung und Medizin waren (Abbildung 1-2). In der sechsten Gruppe waren Twitter-Nutzer*innen, deren biografische Angaben Begriffe wie „weiß“, „nationalistisch“ sowie das Emoji grüner Frosch enthielten, ein Zeichen, das in antisemitischen und weißen Communities von Befürworter*innen der weißen Vorherrschaft als Hasssymbol verwendet werden kann.56

Abbildung 1-2:  Schlüsselbegriffe der sechs größten Nutzergruppen bei Twitter.

Die sechs größten Nutzergruppen in den sozialen Medien, die für einen wissenschaftlichen Text über Genetik und nicht kognitive Fähigkeiten ausgewählt wurden. Die Analysemethoden der Nutzergruppen sind nachzulesen in Jedidiah Carlson und Kelley Harris, „Quantifiying and Contextualizing the Impact of bioRxiv Preprints through Automated Social Media Audience Segmentation“, PLOS Biology 18, no. 9 (22. September 2020: e3000860m https://doi.org/10.1371/journal.pbio.​3000860. Die Nutzergruppen werden vorgestellt wegen eines Vorabdrucks von Perline Demange et al., „Investigating the Genetic Architecture of Noncognitive Skills Using GWAS-by-Subtraction“, Nature Genetics 53, no.1 (January 2021):35–44, https://doi.org/10.1038/s41588-020-00754-2.

Das ist eine gefährliche Entwicklung. Wir leben in einem für die Genforschung goldenen Zeitalter, in dem neue Technologien es ermöglichen, schnell genetische |35|Daten von vielen Millionen Menschen zu sammeln und mit neuen statistischen Methodiken zu analysieren. Doch es reicht nicht aus, nur neue genetische Erkenntnisse zu generieren, denn sie verlassen den Elfenbeinturm und verbreiten sich in der Öffentlichkeit, weshalb es für Wissenschaftler*innen und die Öffentlichkeit wichtig ist, sich damit auseinanderzusetzen, was diese Forschung für die Identität und Gleichheit der Menschen bedeutet. Viel zu häufig wird diese wichtige Aufgabe der Meinungsmache den extremsten und hasserfülltesten Personen überlassen, wovor Eric Turkheimer, Dick Nisbett und ich gewarnt haben:

Wenn Menschen mit fortschrittlichen politischen Wertvorstellungen, die die Existenz eines genetischen Determinismus und pseudowissenschaftliche rassistische Spekulationen ablehnen, ihre Verpflichtung nicht nutzen, sich für die Wissenschaft zu engagieren, die sich mit den menschlichen Fähigkeiten und den genetischen Grundlagen des menschlichen Verhaltens beschäftigt, dann übernehmen dies diejenigen, die diese Wertvorstellungen nicht teilen.57

1.7  Das Buch und seine Ziele

Welche Bedeutung haben denn die Wissenschaft, die sich mit den menschlichen Fähigkeiten beschäftigt, und die genetischen Grundlagen des menschlichen Verhaltens für die soziale Gleichheit? Um diese Frage zu beantworten, ist das Buch in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil hoffe ich, Sie überzeugen zu können, dass die Genetik wichtig ist, wenn es darum geht, das Phänomen soziale Ungleichheit zu verstehen. Die üblichen Argumente gegen diese Behauptung lauten: Zwillingsstudien sind hoffnungslos fehlerhaft, Schätzungen zum Thema Heritabilität seien sinnlos, Vergleiche mit identifizierter DNA sind lediglich Korrelationen und liefern keine Beweise, dass Gene ursächlich sind oder sein könnten, aber es spiele ohnehin keine Rolle, ob dies so ist, wenn der Mechanismus nicht bekannt ist. Diese Einwände halten einer genauen Überprüfung nicht stand, doch um zu erklären, warum das so ist, müssen wir uns mit zwei Dinge beschäftigen: mit methodologischen Details, was die Durchführung der Genforschung betrifft, und mit Wissenschaftsphilosophie zur Klärung der Frage, welchen Zweck diese Methoden erfüllen.

In Kapitel 2 gehe ich ausführlicher auf die Metapher genetische Lotterie ein und stelle biologische sowie statistische Konzepte vor, z. B. Rekombination der Gene, polygenische Erbanlagen und Normalverteilung. An dieser wie an anderen Stellen des Buches nehme ich immer wieder Bezug auf die genetischen Unter|36|schiede zwischen Menschen, die zufallsbedingt sind und auf solche, die ausgewählt werden wie bei der Präimplantationsdiagnostik oder anderen Reproduktionstechnologien.58

Kapitel 3 präsentiert gängige Methoden, die die Assoziation zwischen genetischen Unterschieden und unterschiedlichen Lebensverläufen ermitteln: genomweite Assoziationsstudien und Studien zur Berechnung des polygenischen Index. Kapitel 4 erläutert, warum die Ergebnisse von genomweiten Assoziationsstudien keine Erkenntnisse über die Ursachen von Unterschieden zwischen Gruppen liefern, insbesondere von Gruppen, deren Mitglieder unterschiedlichen races angehören. Die vielen Bücher und Artikel über „angeborene“ Unterschiede zwischen den einzelnen races sind Schall und Rauch und insofern zu vernachlässigen. Die Genforschung zum Thema soziale Unterschiede mithilfe von Zwillingsstudien und Untersuchungen mit identifizierter DNA, hat sich fast ausschließlich darauf konzentriert, die individuellen Unterschiede zwischen Menschen zu verstehen, deren direkte genetische Vorfahren ausschließlich aus Europa stammen59 und die in der Regel Weiße sind.

Diese Verengung des Rahmens kennzeichnet alle empirischen Ergebnisse, die in diesem Buch beschrieben werden. Die Genforschung zum Thema soziale und verhaltensorientierte Phänotypen und deren aktuelle Fokussierung auf Menschen mit europäischen Vorfahren liefert keine nennenswerten wissenschaftlichen Erkenntnisse über soziale Ungleichheiten zwischen Gruppen, die verschiedenen races und Ethnien angehören. Doch wie in Kapitel 4 dargelegt, beweist die Tatsache, dass Menschen immer und immer wieder auf die wissenschaftlich bedeutungslose Frage nach den genetischen Unterschieden zwischen den einzelnen races zurückkommen, dass die Genetik benutzt wird, um von der sozialen Verantwortung abzulenken, dass Veränderungen herbeigeführt werden müssen. Die Genetik als Vorwand für die Ablehnung sozialer Verantwortung zu benutzen, ist falsch und muss aufgedeckt werden, ungeachtet dessen, wie die Gene innerhalb oder zwischen sozial konstruierten race-Gruppen verteilt sind.

Unter Berücksichtigung der Differenzierung zwischen Gruppenunterschieden und individuellen Unterschieden thematisiert Kapitel 5 die Ergebnisse genomweiter Assoziationsstudien und Studien zum polygenischen Index: Liefern diese Studien Erkenntnisse über die genetischen Ursachen? Um auf diese Frage eingehen zu können, muss zuerst die allgemeinere Frage „Wodurch wird etwas zur Ursache?“ geklärt werden. Basierend auf diesem Wissen erläutert Kapitel 6 die Ergebnisse der genomweiten Assoziationsstudien und Heritabilitätsstudien. Auch hier wird auf die Vielzahl der Beweise hingewiesen, die belegen, dass die Gene für wichtige Lebensverläufe inklusive Bildungsabschlüsse verantwortlich sind. |37|Kapitel 7 beendet die erste Hälfte des Buches und fasst zusammen, was wir über die Mechanismen wissen, die Gene und Bildung/Ausbildung miteinander verknüpfen.

In der zweiten Hälfte des Buches geht es darum, wie wir das Wissen, dass die Gene wichtig sind, um soziale Ungleichheit zu verstehen, umsetzen können. Was bleibt, wenn wir die Auffassung der Eugeniker*innen, dass genetische Unterschiede zu einer Hierarchisierung beitragen, die Menschen in wertvolle und weniger wertvolle Individuen einteilt, ausblenden? In den Kapiteln 8 und 9 wird erläutert, inwiefern das Wissen um genetische Unterschiede uns helfen kann, die Welt mithilfe sozialpolitischer Maßnahmen und Interventionen zu verbessern. Kapitel 10 geht der Frage nach, was Menschen motiviert, Informationen über die genetischen Ursachen menschlichen Verhaltens abzulehnen und wie die Erkenntnis, dass die Gene nach dem Zufallsprinzip verteilt werden, Menschen, die in der Schule und in ökonomischer Hinsicht „gescheitert“ sind, von der ihnen angelasteten Schuld befreien kann. Kapitel 11 zeigt auf, warum es so schwierig ist, genetische Einflüsse auf die Ergebnisse von Intelligenztests und insbesondere auf Bildungsabschlüsse von der Vorstellung zu befreien, dass es wertvolle und weniger wertvolle Menschen gibt, und es vergleicht, wie die Genforschung über diese Aspekte der menschlichen Psychologie und die Erforschung anderer Merkmale, wie z. B. Gehörlosigkeit oder Autismus, wahrgenommen wird. Kapitel 12 stellt fünf Prinzipien vor, an denen eine antieugenische Wissenschaft und Politik sich orientieren sollte.

In diesem Buch werde ich nicht versuchen zu verhehlen, dass ich eher linke politische Ansichten vertrete. Aber ich hoffe doch sehr, dass ich selbst Leser*innen mit völlig anderen politischen Auffassungen davon überzeugen kann, dass die Fragen, mit denen ich mich hier auseinandersetze, wichtig sind, auch wenn sie meine Antworten absolut nicht teilen. Ich möchte meine konservativen Leser*innen daran erinnern, dass sich mit dem Konzept Gerechtigkeit schon die alten Griechen, die Autoren der Bibel und die Gründerväter auseinandergesetzt haben. Wie sollen wir „gerecht handeln“, wie der Prophet Micha anmahnte, in einer Zeit, in der immer neue Technologien entwickelt und die Genforschung immer neue Erkenntnisse zutage fördert? Meiner Auffassung nach ist dies eine Frage, deren Konsequenzen uns alle angehen, ungeachtet dessen, wo man politisch steht.

Es ist ein kühnes Unterfangen, ein Buch über Egalität zu schreiben. Ich bin Psychologin und auf Verhalten spezialisierte Genetikerin, und mein Fachgebiet ist die verhaltensorientierte Genetik von Kindern und Jugendlichen. In Theorien über Egalität geht es selten um Gene, sondern um Fähigkeiten, Talente, Können, Bega|38|bung, Fähigkeiten, Ambitionen, Wettbewerb, Verdienste, Glück, angeborene Eigenschaften, Chancen und Möglichkeiten. Ich hoffe, mit diesem Buch zeigen zu können, dass die verhaltensorientierte Genetik dazu viele Erkenntnisse beitragen kann, auch wenn das, was die Genetik uns mitteilen kann (und was nicht), sehr viel komplizierter ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Endnoten

1

Alex Shaw and Kristina R. Olson, “Children Discard a Resource to Avoid Inequity,” Journal of Experimental Psychology: General 141, no. 2 (2012): 382 – 95, https://doi.org/10.1037/a0025907

2

Sarah F. Brosnan and Frans B. M. de Waal, “Monkeys Reject Unequal Pay,” Nature 425, no. 6955 (September 2003): 297 – 99, https://doi.org/10.1038/nature01963

3

“Bernie’s Right: 3 Billionaires Really Do Have More Wealth Than Half of America,” Inequality.org, accessed July 24, 2020, https://inequality.org/great-divide/bernie-3-billionaires-more-wea​lth-half-america/

4

Noah Snyder-Mackler et al., “Social Determinants of Health and Survival in Humans and Other Animals,” Science 368, no. 6493 (May 22, 2020): eaax9553, https://doi.org/10.1126/science.aax9553

5

Raj Chetty et al., “The Association Between Income and Life Expectancy in the United States, 2001 – 2014,” JAMA 315, no. 16 (April 26, 2016): 1750 – 66, https://doi.org/10.1001/jama.2016.4226

6

Laurel Raffington et al., “Analysis of Socioeconomic Disadvantage and Pace of Aging Measured in Saliva DNA Methylation of Children and Adolescents,” bioRxiv, June 5, 2020, 134502, https://doi.org/10.1101/2020.06.04.134502

7

Anmerkung des Lektorats: In der hier vorliegenden dt. Übersetzung wurde der engl. Begriff race an den meisten Stellen (bis auf vereinzelte Ausnahmen in der Einleitung, wo mit Blick auf den historischen Zusammenhang der deutsche Begriff in den direkten Zitaten beibehalten wurde) bewusst nicht übersetzt, weil die damit assoziierten historischen und gesellschaftlichen Diskurse sich gänzlich von denen im deutschsprachigen Kontext unterscheiden und in differenzierter Weise davon abzugrenzen sind. Zudem konnte nicht eindeutig entschieden werden, ob Begriffe wie „Ethnie“ oder „Population“ in den jeweiligen Fällen eine angemessene Alternative darstellen. Abschließend weisen wir darauf hin, dass es in den deutschsprachigen (Forschungs-)Diskursen bisher keinen Konsens darüber gibt, wie mit dem Begriff umzugehen ist. In Anlehnung an Kelly (2019) und andere Autor*innen haben wir uns final dazu entscheiden, primär den engl. Ausdruck race in kursiv gesetzter Form beizubehalten. Für eine generelle und weiterführende Auseinandersetzung zu rassismuskritischem Sprachgebrauch verweisen wir auf die Werke von Arndt, S. & Ofuatey-Alazard, N. (2015). (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast. Kelly, N. (2019). Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster: Unrast. Ogette, T. (2019). Exit Racism. Rassismuskritisch denken lernen. Münster: Unrast.

Im englischen Original verwendet die Autorin in Übereinstimmung mit den stilistischen Vorgaben der American Psychological Association Großbuchstaben für Begriffe, die mit race zu tun haben, z. B. Black and White. Auch wenn diesbezüglich kein Konsens herrscht, hat das Center for the Study of Social Policy festgelegt, dass Schwarz, am Anfang großgeschrieben, „sich nicht nur auf die Farbe bezieht, sondern auch für die Geschichte und die Identifizierung der Schwarzen Amerikaner*innen mit ihrer race steht.“ Und weiter, „Weiße“ nicht als Angehörige einer race zu bezeichnen ist gegen Schwarze Menschen gerichtet, weil dies impliziert, weiß sein sei neutral und die Norm … Die Autorin stellt klar, Menschen zu verurteilen, die ein großes „W“ schreiben, um Gewalt zu provozieren; stattdessen schreibe sie ein großes „W“, unter anderem deshalb, weil sie dazu anregen möchte, gründlich darüber nachzudenken, wie es kommt, dass die weiße Hautfarbe fortbesteht – und sowohl explizit als auch implizit Unterstützung erfährt. “Racial and Ethnic Identity,” APA Style, accessed February 8, 2021, https://apastyle.apa.org/style-grammar-guidelines/bias-free-language/racial-ethnic-minorities; Ann Thúy Nguyễn and Maya Pendleton, “Recognizing Race in Language: Why We Capitalize ‘Black’ and ‘White,’” Center for the Study of Social Policy, March 23, 2020, https://cssp.org/2020/03/recognizing-race-in-language-why-we-capitalize-black-and-white/

8

Anne Case and Angus Deaton, “Mortality and Morbidity in the 21st Century,” Brookings Papers on Economic Activity 2017, no. 1 (2017): 397 – 476, https://doi.org/10.1353/eca.2017.0005

9

Case and Deaton.

10

“The Fed—Publications: Report on the Economic Well-Being of U. S. Households (SHED),” Board of Governors of the Federal Reserve System, accessed July 24, 2020, https://www.federalreserve.gov/publications/2020-economic-well-being-of-us-households-in-2019-fi​nancial-repercussions-from-covid-19.htm; “Hispanic Women, Immigrants, Young Adults, Those with Less Education Hit Hardest by COVID-19 Job Losses,” Pew Research Center (blog), accessed July 13, 2020, https://www.pewresearch.org/fact-tank/2020/06/09/hispanic-women-immigrants-young-adults-those-with-less-education-hit-hardest-by-covid-19-job-losses/

11

David H. Autor, “Skills, Education, and the Rise of Earnings Inequality among the ‘Other 99 Percent,’” Science 344, no. 6186 (May 23, 2014): 843 – 51, https://doi.org/10.1126/science.1251868

12

Paul Myerscough, “Short Cuts: The Pret Buzz,” London Review of Books, January 3, 2013, https://www.lrb.co.uk/the-paper/v35/n01/paul-myerscough/short-cuts

13

Fredrik deBoer, The Cult of Smart: How Our Broken Education System Perpetuates Social Injustice (New York: All Points Books, 2020).

14

Organisation for Economic Cooperation and Development, “Education and Earnings,” accessed February 3, 2021, https://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=EAG_EARNINGS

15