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»Die einzige Konstante der Tradition ist Veränderung.« Luca Cesari Wenn auf unseren Tellern etwas nicht fehlen darf, dann ist es Pasta: all’amatriciana, alla bolognese, alla carbonara, al pomodoro oder al pesto – jeder liebt sie, jeder isst sie. Und doch wissen wir viel zu wenig über das Nationalgericht Italiens. Wie sahen Spaghetti alla bolognese im späten 19. Jahrhundert aus? Wieso hatten es Gnocchi lange Zeit so schwer? Wer steckte die Tomate in die Dose? Welche Nudelsorte bezeichnet man als »Nabel der Venus«? Luca Cesari, passionierter Koch und food historian, erzählt die Geschichten hinter den Gerichten. Vom historisch erstmals erwähnten Rezept bis hin zu seinen heute teils hitzig diskutierten Varianten und Zutaten. Knoblauch in die Carbonara? Ein Skandal! Eine unterhaltsame und verblüffende Reise durchs Universum der Nudeln, bei der für alle was dabei ist. Schmackhaft, sinnlich, sättigend – Viva la Pasta! »Im Grunde kann jede Nudelsorte eine Geschichte erzählen. Wir sollten uns nicht wundern, wenn Lasagne oder Spaghetti all’amatriciana heute nicht mehr genauso schmecken wie vor hundert Jahren. Ganz sicher handelt es sich nicht um eine Verschwörung, wenn all die alten Kochbücher unser Lieblingsgericht ganz anders beschreiben, als wir es heute kennen. Die »echte« Amatriciana von heute ist nicht mehr die »echte« Amatriciana der 1960er-Jahre und ähnelt schon gar nicht mehr der »echten« Amatriciana vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts, sondern ist das Ergebnis einer hundertjährigen kulinarischen (und politischen) Entwicklung. Die interessanteste Veränderung betrifft jedoch weniger die im Lauf der Geschichte wechselnden Zutaten, sondern vielmehr das Narrativ – denn ein Rezept sollte, mehr noch als gut schmecken, vor allem »schön erdacht« sein.«
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Seitenzahl: 430
Die italienische Originalausgabe erschien 2021 unter dem TitelStoria della pasta in dieci piatti bei Il Saggiatore, Mailand.
Deutsche Erstausgabe © 2021 Il Saggiatore, Mailand © 2021 Jahr by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von KUZIN & KOLLING, Büro für Gestaltung, Hamburg Coverabbildung von Maccheroni Pianigiani By Achille Luciano Mauzan Vintage 1922 Advertising Poster / aufbereitet durch Zakir Ozunal / Lordprice Collection / Alamy Stock Foto E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749951345www.harpercollins.de
Der Horizont liegt häufig hinter uns.
TONINO GUERRA
Kochen ist heutzutage in Italien keinesfalls ein unverfängliches, sondern ein höchst riskantes Gesprächsthema. Das zeigt sich tagtäglich auf diversen Websites und Blogs zum Thema Küche, und zwar immer dann, wenn es um die sogenannte traditionelle italienische Küche geht – vielleicht kennen Sie dieses Phänomen sogar aus eigener Erfahrung.
Mir selbst ist Folgendes passiert: Ich hatte vergessen, Guanciale 1 einzukaufen, und dummerweise war auch kein Pecorino 2 im Haus.
Ich öffnete also den Kühlschrank, holte geräucherte Pancetta, Eier und Parmesan heraus und kochte mir Spaghetti Carbonara. Bevor ich zu essen begann, postete ich ein Foto meines gefüllten Tellers auf Facebook. Eine Flut von Beschimpfungen ergoss sich über mich, und als ich mich zu verteidigen versuchte, wurden daraus sogar Drohungen. Wer, bitte schön, fiel da über mich her?
Es handelt sich um eine spezielle menschliche Spezies (leider gibt es davon inzwischen ein ganzes Heer), die ich als »Gastropurist: innen« bezeichne. Sie sind die neuen Hohepriester: innen der traditionellen italienischen Küche. Gastropurist: innen wissen immer (oder glauben zu wissen), welches die einzig richtigen und unverzichtbaren Zutaten für jedes beliebige Traditionsrezept sind – weil ihre Großmutter, Urgroßmutter oder noch länger verblichene Vorfahren »es schon immer so gemacht haben«.
Dahinter steckt die Grundüberzeugung, traditionelle Gerichte hätten seit je genau so ausgesehen, wie wir sie heute kennen, wären also über die Jahrhunderte hinweg völlig unbeschadet und unverändert auf unseren Tischen und Tellern gelandet. Ein derart verzerrter und ideologisierter Blick auf die Geschichte des Kochens hat das Ziel, die Geburtsstunde traditioneller Rezepte in eine möglichst graue Vorzeit zu verlegen, weil Alter und Beständigkeit als die zwei Hauptkriterien für die Beurteilung dessen dienen, was als »traditionell« zu gelten hat und was nicht. Also werden mehr oder weniger hanebüchene Märchen darüber verbreitet, wie unsere berühmtesten Pastagerichte entstanden sind – weswegen die italienische Geschichte nur so von arbeitsamen und gewitzten Bauern oder geheimnisumwitterten Hofköchen wimmelt, die aus den wenigen Zutaten, die ihnen zur Verfügung standen, wahrhaft unvergessliche Gerichte zauberten.
Dabei reicht ein kurzer Blick in die Geschichte (in jene, die aus Fakten und schriftlichen Dokumenten besteht), um sich bewusst zu machen, dass all diese traditionellen Spezialitäten praktisch immer jünger sind, als man vermutet; und auch ihre Zubereitung ist alles andere als in Stein gemeißelt. Der Weg, den die zehn »unantastbaren« Ikonen in diesem Buch zurückgelegt haben, ist gepflastert mit Varianten, Rückschlägen und überraschenden Weiterentwicklungen. Man kann daraus schließen, dass sich unsere heutigen Rezepte immer unweigerlich stark von denen entfernt haben, aus denen sie einst entstanden sind, und dass Industrialisierung und Globalisierung dabei eine viel entscheidendere Rolle gespielt haben, als man gern glauben würde. Das lässt sich an zwei anderen Beispielen erläutern, die mit Kulinarik wenig zu tun haben.
Praktisch jede: r kennt die Brüder Lumière, denen es erstmals gelang, bewegte Bilder auf eine große Leinwand zu projizieren, Pioniere jener neuen künstlerischen Ausdrucksform und inzwischen florierenden Industrie, die wir Kino nennen.
Beantworten Sie die folgende Frage, ohne vorher irgendwo nachzusehen: Welche Filme konnte Auguste Marie, der später Verstorbene der beiden Lumière-Brüder, zu seinen Lebzeiten noch sehen? Vielleicht einen der ersten langen Stummfilme? Hat er die Entwicklung des Tonfilms noch mitbekommen? Oder gar einen der ersten Farbfilme gesehen?
Nehmen wir ein anderes Bruderpaar, Wilbur und Orville Wright, Protagonisten einer weiteren bedeutenden Revolution, der des Fliegens: Ahnten sie bereits, dass Menschen sich irgendwann mithilfe eines Motorflugzeugs mit festen Tragflächen in die Lüfte würden erheben können? Der erste Flug der Wrights dauerte nur eine knappe Minute und war doch der Beginn einer neuen Ära. Auch hier wüsste ich gern von Ihnen: Welche Weiterentwicklungen hat Orville, der später Verstorbene der beiden, noch miterlebt? Das Aufkommen des Doppeldeckers? Die Überquerung des Ärmelkanals? Oder des Atlantiks? Flugzeuge mit nur einer Tragfläche?
Nun, Auguste Marie Lumière starb 1954 im Alter von 91 Jahren, war also noch in den Genuss von Meisterwerken wie Ein Herz und eine Krone mit Audrey Hepburn und Gregory Peck oder Boulevard der Dämmerung von Billy Wilder gekommen, die schon den Niedergang von Hollywoods goldenem Zeitalter einläuteten.
So ähnlich sieht es auch bei Orville Wright aus: Er starb 1948 mit 76 Jahren, lebte somit lange genug, um mitzubekommen, wie aus Flugzeugen Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden – der tragische Schlussakt des Zweiten Weltkriegs.
Beiden Pionieren genügte also ihre Lebensspanne, um mitzuverfolgen, wie sich ihre Erfindungen von den ersten Prototypen bis zur technischen Reife entwickelten und die menschliche Gesellschaft tiefgreifend veränderten.
Wenn wir einen Flug buchen, erwarten wir eine Boeing 747 und bestimmt keinen Doppeldecker. Und doch sind beides Flugzeuge, und mit beiden kann man das Gleiche tun, nämlich fliegen. Abgesehen von kleineren oder größeren technischen Entwicklungen ermöglichen sie uns zwei unterschiedliche Flugerfahrungen. Und selbst wenn wir mit einem Doppeldecker keine längeren Strecken absolvieren möchten, kann ein Flug darin doch seinen Reiz haben – so wie ein alter Stummfilm. Das lässt sich mehr oder weniger auch aufs Kochen übertragen.
Wir sollten uns daher nicht wundern, wenn Lasagne oder Spaghetti all’amatriciana heute nicht mehr genauso schmecken wie vor hundert Jahren. Was wir heute auf den Tisch bringen, ist das Ergebnis einer langen Entwicklung, im Laufe derer sich selbstverständlich vieles verändert hat. Ganz sicher handelt es sich nicht um eine Verschwörung, wenn all die alten Kochbücher unser Lieblingsgericht ganz anders beschreiben, als wir es heute kennen. Vielmehr existierten bereits in der Vergangenheit nebeneinander oder nacheinander unterschiedliche Versionen dessen, was uns heute als unverrückbares Denkmal oder untrennbarer Teil unserer kulinarischen Identität erscheint.
Selbst die Pasta hat sich ihren Platz in der Küchentradition Italiens mühsam erobern müssen – eine Entwicklung, die sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigte. Heute ist die italienische Küche ohne Pastasciutta3 nicht vorstellbar, während sie noch vor eineinhalb Jahrhunderten in vielen Kochbüchern einen sehr begrenzten Platz einnahm.
Sehen wir uns ein Beispiel aus der Übergangszeit näher an, nämlich La cuciniera bolognese (Die Bologneser Köchin), ein Rezeptbüchlein, das 1874 in Bologna gedruckt wurde. Es reicht ein kurzer Blick ins Register, um festzustellen, dass kein einziges Nudelrezept enthalten ist, auch keines der Gerichte, die heute als Wahrzeichen der Hauptstadt der Emilia-Romagna gelten: keine Spur von Ragù allabolognese, Tagliatelle oder Cannelloni. Tortellini? Fehlanzeige. Stattdessen stoßen wir auf Rezepte, die wie in vielen anderen Kochbüchern des 19. Jahrhunderts vom Interesse an anderen fremden Küchen zeugen: deutsche, portugiesische und katalanische Suppen, Mailänder Risotto, englisches Roastbeef und Steak, venezianische Leber und Tauben nach Art der Marken.
Wenig überraschend auch, dass noch in Publikationen vom Beginn des 20. Jahrhunderts viele unserer berühmten regionalen Spezialitäten schwer zu erkennen sind. In 100specialità di cucina italiane ed estere (100 Spezialitäten der italienischen und auswärtigen Küche) von 1908, dem ersten Kochbuch, das nach Kriterien der regionalen Herkunft gegliedert ist, ist die piemontesische Küche mit Rezepten wie Käsefondue, Schafszunge am Spieß, Kalbskopf nach Art von Vercello oder frischem Lachs vertreten. Das sagt meiner Meinung nach alles darüber, welchen Weg die kulinarische Entwicklung seither zurückgelegt hat. Ich bezweifle, dass heute eines der genannten Gerichte auf der Karte eines Restaurants im Piemont zu finden ist.
Kann es also sein, dass Rezepte, die in unseren regionalen Traditionen so fest verwurzelt scheinen, vor einem Jahrhundert noch gar nicht existierten oder ganz anders aussahen? Und wie schmeckten sie damals? Solchen Fragen wird dieses Buch nachgehen.
Abschließend möchte ich noch meine Vorgehensweise vorstellen und einen Wunsch aussprechen. Um die Geschichte der hier versammelten Nudelgerichte zu rekonstruieren, habe ich viele Quellen herangezogen. Die mehr oder weniger alten Kochbücher gehörten dabei ganz sicher zu den reichhaltigsten und ergiebigsten, und doch hat auch ihr Erkenntniswert seine Grenzen. Je weiter man zurückgeht, desto elitärer geben sich diese Rezeptsammlungen, denn in ihnen spiegelte sich anfangs die Küche der Herrscher, dann die des Adels und schließlich die des Großbürgertums. Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts erschienen erste Kochbücher, die für den Gebrauch in der Durchschnittsfamilie gedacht waren. Alles in allem sind sie jedenfalls keine erschöpfende Quelle. Es versteht sich von selbst, dass vor allem die Alltagsküche der untersten Gesellschaftsschichten nicht vertreten ist, abgesehen davon, dass viele der Veröffentlichungen bestimmte geografische Regionen schlicht ignorierten.
Der Versuch, die Geschichte der Pasta mithilfe schriftlicher Quellen zu rekonstruieren, steht außerdem noch vor einer weiteren Schwierigkeit: Veröffentlichungen zum Thema Kochen waren lange Zeit ausschließlich für den Hausgebrauch gedacht und wurden wenig wertgeschätzt, weswegen sie selten aufbewahrt wurden, weder von Privatleuten noch von öffentlichen Bibliotheken. Es sollte uns daher bewusst sein, dass wir von unserem jetzigen Standpunkt aus nur einen kleinen Ausschnitt eines breiten kulinarischen Erbes überblicken können, das aus mündlicher Überlieferung sowie verloren gegangenen handgeschriebenen Heften und sonstigen Quellen, die aus diversen Gründen nicht überlebt haben, besteht. Trotz dieser Einschränkungen bleiben Kochbücher die besten verfügbaren Zeugnisse kulinarischer Moden der Vergangenheit – nicht zuletzt, weil sie es ermöglichen, Geschichten und keine Märchen zu erzählen. Und weil sie nicht nur untergegangene Kochtechniken vermitteln, sondern auch die Art und Weise, wie man früher über das Kochen geschrieben und gesprochen hat – was, wie ich hoffe, ebenfalls zu Ihrem Lesevergnügen beitragen wird.
Das jedoch ist nicht das einzige Ziel dieses Buches. Wie jede Kunst hat auch die Kochkunst große Interpreten hervorgebracht, von denen ich Ihnen einige vorstellen möchte: In einer Flut von weniger bedeutenden Rezeptsammlungen gibt es Fixsterne, die in fast jedem Kapitel wieder auftauchen. Maestro Martino, der größte Koch des 15. Jahrhunderts, Bartolomeo Scappi und Cristoforo di Messisbugo, die Meister der Renaissanceküche, der Neapolitaner Ippolito Cavalcanti sowie Francesco Leonardi, Koch der russischen Kaiserin Katharina der Großen – bis hin zu dem kulinarischen Revolutionär Pellegrino Artusi, der 1891 erstmals das noch heute bekannteste Kochbuch Italiens veröffentlichte: La scienza in cucina e l’arte di mangiar bene (auf Deutsch teilweise gekürzt und überarbeitet unter den Titeln Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens oder Der große Artusi erschienen).
Damit drängt sich sofort eine Frage auf: Warum kommen wir noch heute in den Genuss eines Mozart-Konzerts, finden jedoch kein Restaurant, welches nach den Rezepten von Mozarts Zeitgenossen Leonardi kocht? Das ist, als würde man heute nur noch die Musik der vergangenen dreißig, vierzig Jahre hören, und vom ganzen Rest hätten wir zwar noch die Partituren, würden sie aber nicht aufführen.
Tatsächlich sind die vielen alten Rezepte, die in diesem Band enthalten sind, nicht nur aus historischer, sondern auch aus kulinarischer Sicht hochinteressant. Ich fände es daher sehr wünschenswert, wenn Sie diese nicht nur mit Interesse zur Kenntnis nähmen, sondern Lust bekämen, sie nachzukochen.
Eine Geschichte der italienischen Pasta muss einfach mit dem Mythos Fettuccine Alfredo beginnen, dieser so einfachen, aus nur zwei Zutaten bestehenden Nudelsauce und ihrem gigantischen Erfolg: Seit 1933 ist sie in mehr als 800 amerikanischen Kochbüchern enthalten. Wie? Sie kennen dieses Gericht gar nicht?
Keine Sorge, ihr Bekanntheitsgrad ist selbst in Italien höchst begrenzt, und Italiener: innen, denen man sie vorsetzt, verachten sie genauso wie die berühmten Spaghetti mit Fleischbällchen aus Susi und Strolch oder eine Carbonara, die mit Pancetta, Knoblauch, Pilzen und Sahne gemacht ist – als schlechte Kopien italienischer Gerichte, die mit unserer traditionellen Küche rein gar nichts zu tun haben.
Tja, Erfolg hat eben seinen Preis. Doch wenn ich Ihnen jetzt erzähle, dass die »echten« Fettuccine Alfredo jahrhundertealt sind und dass es sich dabei sogar um das erste Pastagericht der italienischen Küche handelt? Dazu kommen wir noch.
In den USA haben sich Fettuccine Alfredo inzwischen in Tagliatelle mit einer Sauce aus Sahne und Käse, manchmal ergänzt durch Knoblauch und Petersilie, verwandelt. Man bekommt sie in dieser simplen Form, aber auch angereichert mit anderen Zutaten: Häufig anzutreffen sind »Chicken Alfredo« mit Hähnchenbrust oder »Shrimps Alfredo« mit Garnelen. In einer Extremform ist die Sauce in amerikanischen Supermärkten zu finden: in Tüten, deren Inhalt man mit Wasser und Butter anrührt, oder in Gläsern, aus denen man sie direkt über die Nudeln gießen kann (oder auf eine Pizza, wie auf einigen Etiketten vorgeschlagen wird). »Alfredo« wird von zig verschiedenen Marken produziert, in unterschiedlichsten Variationen, auch vegan oder bio. Im besten Fall ist die Hauptzutat Sahne, häufig jedoch überwiegen modifizierte Stärke, Maltodextrin, teilweise hydriertes Sojaöl und ähnliche Zumutungen.
Auf den ersten Blick könnte es sich dabei um eine dieser erfolgreichen »Italianisierungen« handeln, die sich in der amerikanischen Küche breitgemacht haben, ohne dass die Urheber davon mein schönes Heimatland je gesehen haben. Die Marketingabteilungen gerissener multinationaler Konzerne drehen dieses Zeug Leuten an, die einen gefällig-sahnigen Geschmack gewöhnt sind, aber von echter italienischer Küche nicht die geringste Ahnung haben.
Tatsächlich muss es von einem bestimmten Moment an so gelaufen sein, und doch entsprangen die Fettuccine Alfredo überraschenderweise geradezu dem Herzen Italiens, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Koch ein fabelhaftes Gericht entdeckte (beziehungsweise wiederentdeckte), das mit nur wenigen Zutaten zu einem großartigen Ergebnis führt. Es mag einem merkwürdig vorkommen, doch zu jener Zeit waren in Rom die primi piatti (ein erster Gang in Form von Nudeln oder Risotto), wie sie heute jede: r kennt, noch gar nicht üblich. Spaghetti all’amatriciana wurden noch verschämt in der einen oder anderen Osteria angeboten, Cacio e pepe (Nudeln mit Käse und Pfeffer, von denen in diesem Kapitel noch die Rede sein wird) galten noch nicht als römische Spezialität, und Spaghetti Carbonara oder Pasta alla gricia1 hatten noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt.
Das berühmteste Nudelgericht in der Ewigen Stadt hieß damals tatsächlich Fettuccine Alfredo.
Die meisterhaften Fettuccine al doppio burro
Alfredo di Lelio, Erfinder der nach ihm benannten Fettuccine, kam 1883 in Rom zur Welt und machte seine ersten Schritte in der Küche im familieneigenen Restaurant an der Piazza Rosa, die heute der Einkaufspassage Galleria Sordi gewichen ist. Schon als Kind arbeitete er im von seiner Mutter Angelina geführten Unternehmen mit. Es handelte sich um eine der unzähligen gesichtslosen Trattorien der Hauptstadt, und dabei wäre es auch geblieben, wäre nicht 1908 Armando, Alfredos erster Sohn, zur Welt gekommen. Dessen Mutter Ines war nach der Geburt so geschwächt, dass Alfredo sich daranmachte, ein nahrhaftes und leicht verdauliches Gericht zu kreieren, um seiner jungen Frau wieder auf die Beine zu helfen.
Und so ging er vor: »Eigenhändig bereitete er in Grieß gewendete und mit frischer Butter und Parmesan gemischte Fettuccine zu. Daraufhin sandte er der heiligen Anna (Schutzpatronin der Gebärenden) ein Bittgebet, servierte Ines das Gericht und sprach: ›Wenn’s dir nicht schmeckt, ess’ ich es selbst.‹« 2
Der Gattin schmeckte es. Und zwar so sehr, dass sie sofort anregte, das Gericht auf die Speisekarte der kleinen Trattoria zu setzen. Ein einfaches Gericht auf der Basis von Butter und Parmesan, die – perfekt gemischt – eine cremige, gut an den Fettuccine haftende Sauce ergaben. Doch was unterschied diese Zubereitungsart von anderer pasta in bianco (Nudeln in Weiß), also den bis dahin längst üblichen Nudeln mit Butter und Käse? Sicher die Frische der Zutaten, vor allem aber Alfredos Können, der mit seiner besonderen Technik für eine außergewöhnlich luftige Mischung sorgte.
Zwei Jahre später verschwand infolge städtebaulicher Maßnahmen das alte Familienrestaurant, in der die Fettuccine Alfredo erfunden worden waren, von der Bildfläche. 1914 jedoch konnte Alfredo ein neues Restaurant eröffnen, diesmal ganz zentral in der Via della Scrofa, und er gab ihm seinen eigenen Namen. Wie der Ruhm seiner Spezialität sich irgendwann über die Grenzen der Hauptstadt hinweg bis über den Atlantik verbreitete, bleibt ein Geheimnis. Dass die ausländischen Besucher und Besucherinnen sich von der humorvollen Art des Eigentümers angesprochen fühlten und die Fettuccine Alfredo dem amerikanischen Nudelgeschmack entgegenkamen, spielte dabei sicher eine gewisse Rolle.
Eine der ersten amerikanischen Erwähnungen des Gerichts findet sich in Sinclair Lewis’ 1922 erschienenem und damals recht erfolgreichem Roman Babbitt. Der Protagonist lernt irgendwann eine Amerikanerin aus der Oberschicht kennen, die ihm ihre Rom-Begeisterung eingesteht. Gegenstand ihrer Bewunderung sind aber weder Kunstwerke noch Musik oder die antiken Bauten, sondern eine kleine Trattoria in der Via della Scrofa, wo sie die besten Fettuccine der Welt zubereiten. 3
Doch das war erst der Anfang. Nur wenige Jahre später wird das Lokal in der Saturday Evening Post besprochen – von George Rector, Verfasser zahlreicher Bücher, Moderator einer Radiosendung auf CBS und Autorität in gastronomischen Fragen. Seinen ellenlangen Artikel über das Werk von »Maestro« Alfredo di Lelio beginnt er selbstverständlich mit den Fettuccine, zubereitet aus einem Kilo Mehl, fünf Eigelb, einem Glas Wasser und einer Prise Salz. Doch der Schlüsselfaktor für das Gelingen des Rezepts ist laut Rector ein anderer: die Zubereitung bei Tisch oder besser gesagt diese Zubereitung bei Tisch. Alfredo persönlich brachte einen großen Löffel und eine Gabel, bestreute die Fettuccine mit Parmesan und begann, »unermüdlich zu rühren. Das klingt ziemlich einfach, aber wie schon Eva Tanguay 4 über ihre Tanzkunst zu sagen pflegte: ›Es kommt nicht darauf an, was du tust, sondern wie du es tust.‹« Damit war das Geheimnis der Fettuccine Alfredo also endlich enthüllt, und die Begeisterung des Rezensenten für Alfredo kannte keine Grenzen, wie sein abschließendes Bonmot verrät: »Das Rezept ist ganz einfach. So einfach, wie einen Rembrandt zu malen: Man nehme Ölfarben und eine Leinwand, male das Bild – und fertig.« 5
Damit scheint eines nun klar: Bei Alfredos Fettuccine handelte es sich nicht nur um ein vorzügliches Gericht, sein Erfinder war auch ein echter Könner, wenn es darum ging, seine Gäste für sich einzunehmen, indem er die Zubereitung seiner Spezialität geschickt ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Das, was normalerweise in der Küche stattfand, wurde in den Gastraum verlagert, wo die Kundschaft sehnsüchtig darauf wartete, einem Wunder beizuwohnen: der Verwandlung eines einfachen Nudelgerichts in die »meisterhaften Fettuccine al doppio burro« 6 – also doppelt gebuttert, wie sie von den damaligen Zeitungen bezeichnet wurden.
Doch erst 1927 erfolgte die eigentliche und mit größtmöglichem Pomp zelebrierte Weihe dieser römischen Spezialität, und zwar durch zwei Hollywoodstars – wie hätte es auch anders sein können angesichts der gewichtigen Rolle, die die Inszenierung bei diesem Gericht spielte. Um bei der Wahrheit zu bleiben, hatten Mary Pickford und Douglas Fairbanks bereits 1920 anlässlich ihrer Hochzeitsreise bei Alfredo Station gemacht. Sieben Jahre später tauchten sie mit einem überraschenden Geschenk von außerordentlicher Werbewirksamkeit wieder auf: einem goldenen Besteck, in das die Widmung »To Alfredo, king of the noodles« graviert war. Die immense Popularität dieser zwei Stummfilmgrößen lässt sich kaum mit den Stars heutiger Prägung vergleichen. Douglas Fairbanks galt als »König von Hollywood«; er war der erste Zorro auf großer Leinwand, der Robin Hood in einem Kassenschlager von 1922 sowie 1926 der Hauptdarsteller in Der Seeräuber, einem der ersten Farbfilme der Geschichte. Als würde das noch nicht genügen, gehörte er auch zu den 36 Gründungsmitgliedern der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die 1929 die Oscarverleihung ins Leben rief. Mary Pickford, eine der bekanntesten und bestbezahlten Stummfilmdiven, verkörperte gern liebenswürdige junge Damen mit goldenen Korkenzieherlocken. Dieser Inbegriff des All-American Girl war zusammen mit ihrem Ehemann und Größen wie David Wark Griffith und Charlie Chaplin eine Mitbegründerin der United Artists, einer noch heute existenten unabhängigen Filmgesellschaft. Die Hochzeit der beiden besiegelte nicht nur die Verbindung zweier Kino-Ikonen – es handelte sich zur damaligen Zeit schlicht um das berühmteste Paar der westlichen Welt.
Keine noch so gute Werbekampagne hätte so viel bewirkt wie die Anerkennung durch das Ehepaar Pickford-Fairbanks, und Alfredo wusste diese Chance zu nutzen, ohne auch nur ein Jota an seinem berühmten Rezept zu verändern. Bekannte Persönlichkeiten aus aller Welt machten während ihres Rom-Aufenthalts in der Via della Scrofa Station, wo ihnen der Wirt persönlich, immer mit strahlendem Lächeln unter dem Schnauzer, seine Spezialität direkt am Tisch zubereitete.
Im Jahr 1943, einem der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Hauptstadt, verkaufte Alfredo sein denkwürdiges Lokal mitsamt den zahllosen Starfotos an den Wänden. Gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs eröffnete er wieder ein Restaurant an der Piazza Augusto Imperatore, das er »Il vero Alfredo« (Der echte Alfredo) nannte. Beide Restaurants profitierten von Alfredos Ruf und lieferten sich einen heftigen Wettstreit, doch ganz gleich welches in jenen Jahren das wahre Zentrum des römischen Dolce Vita gewesen sein mochte, das Rezept war längst weit über die Grenzen der Hauptstadt hinaus berühmt.
Vielleicht war es die enge Verbindung zwischen Rezept und Erfinder, verbunden mit der Angst, sich dem Vorwurf des Plagiats auszusetzen, die dafür sorgte, dass sich die Zubereitungsart innerhalb Italiens nicht verbreitete – die Allgegenwart klassischer römischer Nudelgerichte wie Spaghetti all’amatriciana, Carbonara oder Cacio e pepe erreichte es jedenfalls nie. Auch andere Gründe könnte man vermuten: So erinnert pasta in bianco immer ein wenig an Schonkost, und eine Sauce aus nur zwei Zutaten lässt sich so gut wie nicht variieren. Möglicherweise verhinderte auch die Verwendung von Parmesan statt Pecorino, dass Fettuccine Alfredo in die Riege der typischen Hauptstadtgerichte aufgenommen wurde. Es bleibt festzuhalten, dass ihre Zubereitung in ganz Italien auf mehr oder weniger zwei Lokale beschränkt blieb.
Seit den 1940er-Jahren tauchten – wenn auch sporadisch – Rezepte für die berühmten Fettuccine in den Kochbüchern auf. Der Name Alfredo wurde dabei nie genannt, die angegebene Buttermenge wuchs dagegen kontinuierlich. Aus den »Tagliatelle al burro« 7 (Tagliatelle mit Butter) des Tesoretto della cucina italiana (Schatzkästlein der italienischen Küche, 1948) werden bei Annabelle in cucina (Annabelle in der Küche, 1964) »Tagliatelle doppio burro« 8 (Tagliatelle mit doppelt Butter). Endgültig etablieren sich die »Fettuccine (tagliatelle) al triplo burro« 9 (Fettuccine/Tagliatelle mit dreifach Butter) von Luigi Carnacina aus dem Jahr 1961, sie werden 1979 unter der gleichen Bezeichnung von Vincenzo Buonassisi und schließlich 1985 von Luigi Veronelli wieder aufgenommen. Widmen wir uns stellvertretend für alle der Version von Carnacina:
Fettuccine (Tagliatelle) mit dreifach Butter
(Für 6 Personen): 420 g hausgemachte Fettuccine (Teig aus 9 Eiern pro kg Hartweizenmehl mit etwas Grieß). Etwa 200 g Süßrahmbutter eine Zeitlang in kaltem Wasser lagern, damit sie etwas weicher wird. 200 g Parmesan (aus dem Mittelstück eines halb reifen Rads, erst im letzten Moment gerieben). Die Fettuccine in siedendem, leicht gesalzenem Wasser al dente kochen, abgießen und in eine (heiße) Porzellanschüssel geben. Sofort mit dem Parmesan bestreuen, die Butter in Würfeln zugeben, gründlich durchmischen und ganz heiß servieren.
Die in der Rezeptbezeichnung »triplo burro« versprochene dreifache Buttermenge wird durch 200 Gramm Butter auf nur 400 Gramm Tagliatelle sichergestellt, die nur knapp unter den 250 Gramm Butter auf 400 Gramm Pasta in Veronellis Rezept liegen.
Der Erfolg des Gerichts beruhte ganz sicher auf seiner Schlichtheit: Jede: r, der nur halbwegs mit der Bedienung eines Herds vertraut war, bekam es hin. Anfangs versuchten auch die Amerikaner: innen, die Originalversion zuzubereiten, wie die »Fettuccine all’Alfredo« in dem 1961 erschienenen Kochbuch Cook as the Romans Do10 (Kochen wie die Römer) bezeugen. Verfasst hat es Myra Waldo, eine der produktivsten amerikanischen Kochbuchautorinnen und großer Fan der europäischen Küche. Zugleich jedoch verbreiteten sich in Amerika sozusagen demokratischere Zubereitungsarten, das heißt solche, die auch jenen einen Erfolg garantierten, die so gut wie überhaupt keine Kochkenntnisse besaßen. Aus diesem Bestreben entstanden Versionen mit großen Mengen von Sahne (zum Teil angereichert mit Eigelb) sowie Knoblauch und Petersilie, alles Zutaten, die in dem römischen Rezept nie vorgekommen waren.
Jenseits der Kochbücher begann sich Alfredos Nudelsauce im amerikanischen Stil auch über andere Kanäle zu verbreiten, so beispielsweise über eine Packung »Fettuccine Egg Noodles«, die die Firma Pennsylvania Dutch ab 1966 vertrieb. Auf der Rückseite war ein Rezeptvorschlag mit Sahne und Schweizer Käse zusätzlich zu Butter und Parmesan abgedruckt. 11
Die endgültige Anerkennung in den USA ging jedoch mit der Industrialisierung und dem massenhaften Vertrieb als Fertigprodukt einher. Die in Tüten oder Gläsern verkaufte Sauce konnte man direkt über die Nudeln geben oder nach Belieben noch aufpeppen. Wie es in diesen Fällen fast immer passiert, wurde die Qualität der Zutaten der leichten Handhabung untergeordnet, und da hatte sich selbst ein so simples Gericht wie Pasta mit Butter und Parmesan der durch die Supermarktregale diktierten Logik zu beugen.
In diese Entwicklung reihte sich auch eine Restaurantkette namens Olive Garden ein, die auf italoamerikanische Küche spezialisiert war. Dort standen Fettuccine Alfredo mit Sahne, Butter und Parmesan auf der Karte, die man mit Huhn oder Garnelen kombinieren konnte – Gerichte wie »Chicken Alfredo«, »Seafood Alfredo« oder »Shrimps Alfredo« waren geboren. Die Kette, die seit den 1980er-Jahren das Bild der italoamerikanischen Küche entscheidend prägt, betreibt heute mehr als 800 Filialen weltweit.
Es reicht, sich einmal kurz bei führenden amerikanischen Kochwebsites umzusehen, um festzustellen, dass sich bis heute nicht allzu viel geändert hat, auch wenn die Wertschätzung hochwertiger Ausgangsprodukte in den vergangenen Jahren definitiv zunimmt. Unter anderem dank unzähliger Kochblogs und Kochsendungen im Fernsehen wächst inzwischen der Anteil der Bevölkerung, die kulinarisch höhere Ansprüche stellt und auch bereit ist, Zeit und Energie in besseres und bewussteres Essen zu investieren. Davon beflügelt gibt es sogar Köche und Köchinnen, die versuchen, Alfredos Originalrezept in die Vereinigten Staaten zu reimportieren. 12
Nudeln und Käse – ein perfektes Paar
Doch nun machen wir wieder einen Schritt zurück – und zwar einen großen, nämlich um mehrere Jahrhunderte. Wir verzichten kurz auf das Ritual der am Tisch zubereiteten Fettuccine, die prominenten Gäste und das goldene Besteck des Ehepaars Pickford-Fairbanks. Was haben wir dann vor uns? Einen Teller mit Bandnudeln, Butter und Parmesan. Sieht vielleicht nicht nach viel aus, kann sich aber im Gegensatz zu anderen Pastagerichten rühmen, bereits ein halbes Jahrtausend auf dem Buckel zu haben.
Seit dem Mittelalter gab es mindestens zwei weitere Methoden der Pastazubereitung, entweder im Ofen oder in Brühe (bzw. Milch), aber das, was man heute in Italien als Pastasciutta bezeichnet, wurde immer mit geriebenem Käse bestreut.
Zuallererst müssen wir uns jedoch von einer verbreiteten, aber falschen Annahme befreien. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass die gängigen primi piatti der italienischen Küche schon immer so verbreitet waren wie heute und Pasta dabei seit je dominierte. Im Gegenteil, Jahrhundertelang haben Nudeln eine vergleichsweise untergeordnete Rolle gespielt.
In den frühesten Quellen war Käse zur Pastasciutta nicht eine zusätzliche Würze, sondern integraler und nicht zu ersetzender Bestandteil des Gerichts. Die Kombination aus Nudeln und Käse ist in mittelalterlichen Vorstellungen fest verankert, wofür es einen sehr berühmten Beleg gibt: In der dritten Novelle des achten Tags in Boccaccios Dekameron (entstanden um 1350) versucht Maso (mithilfe von Bruno und Buffalmacco) dem einfältigen Calandrino einen Streich zu spielen. Um sein Opfer zu ködern, fabuliert Maso von »Schlaraffia«, einem Fantasieland, in dem Maccheroni 13 und Ravioli einen Berg aus Parmesan herunterrollen, um perfekt in Käse gehüllt und damit verzehrfertig unten im Tal anzukommen:
Dort gäbe es einen Berg aus geriebenem Parmesan, auf dem die Menschen nichts anderes täten, als Gnocchi und Ravioli in Hühnerbrühe zu kochen, um sie herunterzuwerfen; je mehr einer auffange, umso mehr bekomme er. 14
Boccaccios »Schlaraffia« ist nur eine der vielen Ausprägungen der literarischen Utopie eines Schlaraffenlands, in der man immer im Überfluss essen und genießen kann, ohne Mühe oder Arbeit auf sich zu nehmen. Wenn in einem Land, in dem alles möglich ist, Maccheroni und Ravioli nur von Käse begleitet serviert werden, bezeugt das indirekt auch, dass dies eine der wenigen vorstellbaren Zubereitungsarten war.
Mehr oder weniger zur gleichen Zeit tauchen auch die ersten Rezeptbeispiele auf, die das belegen können, wie das Libro de la cocina (Buch von der Küche), in dem ein wunderbares Lasagne-Rezept enthalten ist. Zu dieser Nudelform werde ich in einem späteren Kapitel noch mehr erzählen. An dieser Stelle genügt es darauf hinzuweisen, dass diese Spezialität in ihren Anfängen aus schlichten Nudelrechtecken bestand, die in Brühe gekocht und mit Schichten aus geriebenem Käse aufeinandergestapelt wurden.
Von den Lasagne
Nimm gutes weißes Mehl und mische es mit lauwarmem Wasser, sodass ein fester Teig entsteht. Dann roll ihn dünn aus. Lass ihn trocknen. Er muss in Brühe vom Kapaun 15 oder anderem fettem Fleisch gekocht werden. Leg ihn dann auf eine Platte und schichte ihn nach Belieben mit fettem geriebenem Käse übereinander. 16
Wie man sieht, wurde damals noch nicht einmal Butter in Betracht gezogen, die erst im 15. Jahrhundert eine Zutat für Nudelgerichte wurde.
Die erste präzise Beschreibung des neuen Zubereitungsverfahrens finden wir im Libro de arte coquinaria (Buch von der Kochkunst) von Maestro Martino de Rubeis (de Rossi), 17 auch als »König der Köche« 18 bezeichnet. Ihm werden die wichtigsten Kochbuchmanuskripte seiner Epoche zugeschrieben, 19 wobei ihm das Verdienst zukommt, die Kochkunst sehr viel systematischer abgehandelt zu haben als viele mittelalterliche Autoren – für ihn gehörte sie ohne Wenn und Aber zu den menschlichen Kulturtechniken seiner Zeit. »Ravioli für die Fleischzeit« und »Vermicelli« bereitete er nur mit geriebenem Käse und Gewürzen zu, während er bei den »Maccaroni siciliani« und den Maccaroni romaneschi« Butter vorsah.
Für Maccaroni romaneschi
Nimm gutes Mehl, mische es und mach den Teig etwas dicker als für Lasagne, rolle ihn um einen Stab und zieh diesen wieder heraus. Schneide den Teig in der Breite eines kleinen Fingers, sodass die Stücke aussehen wie Bänder oder Schnüre. Koch sie in fetter Brühe oder in Wasser. Wenn du sie in Wasser kochst, gib frische Butter dazu und ein wenig Salz, und wenn sie gekocht sind, gib sie in Teller mit gutem Käse, Butter und süßen Gewürzen. 20
Würde Maestro Martino seine Tagliatelle mit Eiern zubereiten und keine Gewürze hinzugeben, entspräche dieses Gericht ganz exakt der Erfindung von Alfredo di Lelio fünf Jahrhunderte später (interessanterweise befinden wir uns hier ebenfalls in der Gegend von Rom).
Noch in der gesamten Renaissance, dem goldenen Zeitalter der italienischen Küche, wurde Pastasciutta ausschließlich mit Butter und Käse kombiniert, allerdings immer häufiger in Kombination mit Zucker und Gewürzen (insbesondere Zimt) – zumindest von den wenigen, die es sich leisten konnten, aber darauf komme ich noch.
In den folgenden Jahrhunderten sind keine größeren Veränderungen zu verzeichnen, und noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts blieben die Grundzutaten dieselben, auch wenn sich bereits wichtige Neuerungen abzeichneten.
1803 gelang es Vincenzo Agnoletti, in einem einzigen Rezept für Nudeln auf verschiedenerlei Art drei verschiedene Zubereitungen von Pastasciutta zu vereinen, nämlich die, die noch zu seiner Zeit die Norm darstellten.
Maccheroni wurden nach wie vor mit Butter und Parmesan gemischt, hinzu kamen hin und wieder Pfeffer und Zimt, manchmal auch Sahne und Béchamelsauce – oder Fleischsauce (eine wichtige Neuerung, wie sich in späteren Kapiteln zeigen wird).
Italienische Maccaroni auf verschiedenerlei Art
Vorspeise und Terrine. In einem Topf lässt man ein großes Stück Butter schmelzen und gibt in Salzwasser gekochte, gut abgetropfte Maccheroni hinein, stellt sie kurz auf den Herd und fügt geriebenen Parmesan hinzu (und nach Belieben auch eine Prise zerstoßenen Pfeffer oder Zimt). Dann gibt man sie auf Teller, würzt sie mit weiterem geriebenem Parmesan und geschmolzener Butter und serviert sie sofort sehr heiß. Man kann sie auch auf andere Weise servieren, nämlich nachdem man sie abgegossen hat, wie zuvor beschrieben, kann man etwas Culì 21 oder Bratensauce, auch solche mit Nelken, dazugeben und sie gut vermischt wie oben angegeben servieren.
Oder man nimmt statt Culì oder Bratensauce frische Sahne oder Béchamelsauce und serviert sie wie oben beschrieben. Man kann die Maccheroni auch, nachdem man sie mit einer der besagten Saucen gemischt und auf Teller oder in eine Schüssel gegeben hat, im sehr heißen Ofen etwas Farbe annehmen lassen und sofort servieren. 22
Auch wenn Dutzende Rezepte für Nudeln mit Butter existieren, ist schwer zu sagen, wie das Gericht genau aussah, wenn es auf den Tisch kam, da genaue Mengenangaben für die Zutaten fehlen.
Eine der seltenen Beschreibungen eines Nudelgerichts im 18. Jahrhundert verdanken wir ausgerechnet Giacomo Casanova. Sie ist in der Schilderung seiner waghalsigen Flucht aus den Bleikammern, dem berüchtigten Staatsgefängnis Venedigs, enthalten.
Der berühmte Abenteurer landete 1755 in jenem Kerker, aus dem er entfloh, indem er mithilfe eines spitzen Riegels ein Loch in die Decke seiner Zelle bohrte. Als er fast fertig damit war, sollte er in eine andere Zelle verlegt werden, was seine Bemühungen zunichtegemacht hätte.
Es gelang ihm jedoch, den Mönch, der seine Zelle bekam, in seinen Plan und in die Flucht einzubeziehen. Für einen Erfolg war es nötig, das Werkzeug an jenen Mönch weiterzugeben, und der Einzige, der es – unwissentlich – überbringen konnte, war Gefängniswärter Lorenzo. Zuerst spielte Casanova mit dem Gedanken, den Riegel in einer Bibel zu verstecken, doch weil er daraus hervorragte, beschloss Casanova, das Buch mit dem Riegel als eine Art Tablett unter einem großen Teller Nudeln mit Butter zu verwenden, den er dem Mönch zukommen lassen wollte. Diese eigenwillige List lenkte den Wärter von dem hervorstehenden Riegel ab, denn er musste achtgeben, dass die Butter die Bibel darunter nicht befleckte.
Lorenzo erschien frühmorgens mit einem großen Topf, in dem die Makkaroni kochten; zuerst tat ich die Butter auf die Kochplatte, um sie zu zerlassen, und bereitete meine mit Käse bestreuten Teller vor. Ich nahm einen Streulöffel und begann, die Teller zu füllen; auf jede Handvoll Nudeln tat ich Butter und Käse; so fuhr ich fort, bis der große Teller, der für den Mönch bestimmt war, nichts mehr fassen konnte. Die zerlassene Butter reichte bis an seinen äußersten Rand; sein Durchmesser war etwa zweimal die Breite der Bibel. Ich nahm den Teller und stellte ihn auf das große Buch, das an der Tür meiner Zelle lag, und hob es mit den Händen hoch, den Buchrücken gegen Lorenzo gekehrt. Ich sagte ihm, er solle die Arme strecken und die Finger ausbreiten. Darauf legte ich meine Bibel, ganz vorsichtig, damit sie nicht von der Butter betropft wurde. 23
Zugegeben, die Situation ist vorsichtig ausgedrückt außergewöhnlich und lässt sich nicht verallgemeinern, doch Nudeln, die im wahrsten Sinne des Wortes im Fett schwimmen, ohne den Gefängniswärter misstrauisch zu machen, lassen zumindest vermuten, dass dies zu jener Zeit nicht ungewöhnlich war.
Nudeln und Gewürze
Kehren wir kurz nach Rom zurück. Wenn man von Rom und von Nudeln mit Käse spricht, fällt einem natürlich sofort eine enge Verwandte von Alfredos Erfindung ein, nämlich Cacio e pepe, ein weiteres besonderes Gericht, das heute wie Carbonara, Amatriciana und Gricia mit vollem Recht zu den Spezialitäten der Hauptstadt zählt.
Die Ursprünge von Fettuccine Alfredo und Cacio e pepe sind genau genommen die gleichen und mischen sich in den mittelalterlichen Pastagerichten, die nur Käse enthielten – mit dem Unterschied, dass in Cacio e pepe die Erinnerung an eine Basiszutat einer vielseitigen, schmackhaften Küche erhalten geblieben ist: Gewürze. Während des Mittelalters und mindestens bis zum Ende des 17. Jahrhunderts waren diese Pulver allerdings ein höchst kostbares Gut und somit für die große Mehrheit schlicht unbezahlbar.
Es mag allgemein bekannt sein, doch man kann tatsächlich behaupten, dass der Gewürzhandel sowohl ganz entscheidend zum Glanz Venedigs (dessen Handelsflotte als erste des alten Kontinents in Kontakt mit dem Orient kam) als auch zur europäischen Expansion in Richtung indische und amerikanische Küste beigetragen hat.
Als die Portugiesen unter dem Kommando Vasco da Gamas nach der Umsegelung Afrikas 1498 in Calicut, dem heutigen Kozhikode in Kerala, landeten, wurden sie von ein paar ungläubigen Indern empfangen, die wissen wollten, was sie in einem so fernen Hafen suchten. Die Antwort war durchaus vielsagend: »Christen und Gewürze.« Christen fanden sie zwar nicht, aber an Pfeffer herrschte kein Mangel. Vom Ende des 15. Jahrhunderts an suchten alle Entdecker nach einer alternativen Route nach Indien, von woher viele exotische Handelsgüter stammten, vor allem auch Gewürze, die in Europa nicht wuchsen. Die Reise durch den asiatischen Kontinent entlang der Karawanenwege war lang und gefährlich, und der Zwischenhandel erhöhte die Preise ganz ungemein. Dank der Entwicklung neuer ozeantauglicher Schiffe starteten viele Expeditionen in der Hoffnung, andere sichere Routen zu entdecken, die Europa kontinuierlich und preisgünstig mit Gewürzen und anderen hochwertigen Gütern versorgen sollten. Auch Kolumbus wurde bei seiner Suche nach einem neuen Kurs im Westen jenseits des Atlantiks von den gleichen Zielen (und Waren) getrieben wie die Portugiesen. Die einschneidenden Konsequenzen für die Geschichte Amerikas sind also zum Teil auch auf diese wirkungsvollen Geschmacksverstärker zurückzuführen.
In der Folge verloren die Gewürze durch den einfacheren Zugang an Wert, und zwar nicht nur in ökonomischer, sondern auch in ideeller Hinsicht. Im Verlauf weniger Jahrhunderte wurde aus einem Luxusgut, das man mit Gold hatte aufwiegen müssen, auch dank neuer Plantagen eine relativ bezahlbare Ware, die somit die Rolle eines Statussymbols der Eliten verlor. Im 19. Jahrhundert war der Pfefferpreis endgültig im Keller, und das Gewürz tauchte nun auch in den Gerichten der Ärmsten auf. Unter den vielen Belegen für diese Entwertung sind insbesondere die Beobachtungen eines jungen Arztes interessant, der sich um 1830 in der Gegend um Radicofani, einer kleinen Ortschaft im Val d’Orcia bei Siena, um die an Pellagra erkrankten Bauern kümmerte. Diese gehörten zur niedrigsten Gesellschaftsschicht, konnten sich kaum Brot und noch weniger Nudeln leisten und ernährten sich fast ausschließlich von Maisbrei, den sie allerdings üppig mit Käse und Pfeffer würzten. 24 Eine alte und inzwischen bescheidene Form der Würzung, die für vielerlei Zubereitungen von der Suppe bis zu Nudeln taugte und tagtäglich zum Einsatz kam, obwohl sie keinen Eingang in die Kochbücher fand. Ein »Nichtrezept«, das meiner Einschätzung nach extrem verbreitet war und geografisch schwer einzugrenzen ist.
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, wurde Cacio e pepe nie zu den traditionell römischen Gerichten gezählt. Das beweist unter anderem die Nicht-erwähnung in den drei ersten Kochbüchern, die Ordnung in die regionalen Spezialitäten Italiens bringen wollten. 25 Erst in den 1930er-Jahren bezeichnet die Guida gastronomica d’Italia »Spaghetti a Cacio e pepe, also üppig mit Pfeffer und Pecorino gemischt« 26 als römische Spezialität. Von da an macht das Gericht als typischer Repräsentant der Hauptstadtküche eine zweite Karriere.
Ein bisschen geriebener Parmesan
Will man das breite historische Panorama auf den Punkt bringen, könnte man sagen, dass ganz Italien praktisch seit Jahrhunderten Fettuccine Alfredo isst. Nudeln mit Butter und Käse waren nicht nur irgendein Pastagericht, sie waren das Pastagericht. Doch wenn das der Normalfall war, warum sorgten dann die Fettuccine aus der Via della Scrofa für solches Aufsehen? Noch wichtiger: Warum in aller Welt ist erst vor etwa zwei Jahrhunderten jemand auf die Idee gekommen, dass man Nudeln auch mit etwas anderem kombinieren kann? Die Einführung von Nudelsaucen kann man grob auf das Ende des 18. Jahrhunderts datieren. Sie löste in der italienischen Küche eine wahre Revolution aus und verwandelte ein eher eintöniges Essen in eine kulinarische Gattung, die bis heute Hunderte Spezialitäten hervorgebracht hat.
Den ersten Schritt in diese Richtung machte man, indem man den Käse-Nudeln ein paar Löffel Fleischsauce gönnte, eine Entwicklung, die sich daraufhin extrem beschleunigte und dazu führte, dass sich bestimmte Rezepte ihren ganz eigenen Platz eroberten, wie Spaghetti mit Tomatensauce (dazu mehr in Kapitel 10) oder Tagliatelle mit Venusmuscheln, die Ippolito Cavalcanti bereits 1837 beschrieb. Heute sind wir daran gewöhnt, Nudeln auf verschiedenste Art zuzubereiten, traditionell oder kreativ, und finden es ganz normal, sie als eine neutrale Basis zu begreifen, die wir mit Zutaten ganz nach unserem Belieben kombinieren.
Wobei das nicht so ganz stimmt: Noch heute sind bestimmte Kombinationen aus kulinarischer Sicht inakzeptabel, und sieht man mal von einigen gewagten Experimenten ab, würde niemand Spaghetti mit Mayonnaise oder mit Schokolade servieren. Doch im Rückblick muss man konstatieren, dass wir in Italien jahrhundertelang nur pasta in bianca, Nudeln mit Butter und Käse, zu uns genommen haben, das Lieblingsgericht vieler Kinder, das man auch Genesenden oder gegen einen Kater serviert.
Doch so seltsam es scheinen mag, gab es auch innerhalb eines so einfachen Rezepts wie Nudeln mit Käse Grenzen oder zumindest Präferenzen, die insbesondere die Wahl des Käses betrafen. Schon in den allerersten Rezepten wird vor allem ein üblicherweise als piacentino (aus Piacenza) oder lodigiano (aus Lodi) bezeichneter Käsetyp genannt, der dem heutigen Parmesan oder Grana geähnelt haben muss. Kein beliebiger Hartkäse, sondern ein ganz bestimmtes Produkt, das nach wie vor zu den bevorzugten Sorten gehört, wenn es um geriebenen Käse zur Pasta geht.
Wir haben es dem italienischen Arzt Pantaleone da Confienza und seiner Summa lacticiniorum (Summe der Milchprodukte) von 1477 zu verdanken, dass wir eine sehr genaue Beschreibung davon besitzen, wie dieser Käse im ausgehenden Mittelalter ausgesehen haben muss. Der Arzt hat in dieser Schrift seine gesammelten Kenntnisse über Molkereiprodukte sowohl in Italien als auch im Ausland zusammengestellt und schätzte piacentinische Sorten ganz besonders.
Die piacentinischen Käsesorten werden von manchen auch Parmesan genannt, da in Parma ähnlicher Käse von vergleichbarer Qualität hergestellt wird. So auch im Gebiet von Mailand, Pavia, Novara und Vercelli […] aber offen gesagt übertreffen die aus Piacenza die anderen an Qualität. Sie sind dick und schwer und wiegen manchmal mehr als 100 Pfund, meist jedoch um die 50 Pfund […] Was ihre Güte betrifft, sind sie aromatisch und angenehm, vor allem, wenn sie im Frühjahr hergestellt wurden und die richtige Zeit reifen konnten, das heißt drei bis vier Jahre, je nach ihrer Größe, und wie oben bereits gesagt, werden die größeren länger aufbewahrt […] Diese Käse werden aus Kuhmilch gemacht und sind daher fett. Sie sind auch cremig, obwohl der Milch ein beachtlicher Teil Butter entzogen wird. 27
Laut Pantaleones Buch hatten die piacentinischen Käse ein durchschnittliches Gewicht von fünfzehn bis sechzehn Kilo, konnten aber auch dreißig Kilo übertreffen (was die untere Grenze für heutige Laibe darstellt). Genau wie heute wurden sie aus teilentrahmter Milch hergestellt, und die besten hatten einen drei- bis vierjährigen Reifeprozess hinter sich. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass sie sich nicht allzu stark von den uns bekannten Käsesorten unterschieden haben dürften, sieht man einmal von der Rinderrasse, ihrer Fütterung und den Aufzuchtmethoden ab.
Pantaleone da Confienza war der erste Autor, der ein ganzes Werk ausschließlich dem Käse widmete, damals (wie mehr oder weniger im gesamten Mittelalter) ein Lebensmittel für Arme und Menschen, die sich mit eher einfachen Speisen zufriedengaben. Nur langsam etablierte er sich im 15. Jahrhundert auch auf den Tischen der Adeligen. 28 Der Autor argumentiert auch ausdrücklich gegen den schlechten Ruf des Käses:
Es gibt keinen guten Grund, der mich zu dem Schluss brächte, alle Käse seien zu verachten, wie manche Autoren behaupten […] ich persönlich habe viele Könige gesehen, darunter den allerchristlichsten Ludwig von Frankreich, unzählige Herzöge, Grafen, Marquis, Barone, Soldaten, Adelige, Händler und gemeines Volk beiderlei Geschlechts, die alle sehr gern Käse zu sich nahmen. 29
Die Hochkultur nahm den Käse nun als lohnenswertes Lebensmittel von bisweilen hoher Qualität zur Kenntnis, auch wenn die Medizin ihm zu jener Zeit und auch in den folgenden Jahrhunderten noch die eine oder andere gesundheitsschädliche Eigenschaft zuschrieb.
Dennoch eroberte sich der Käse seinen endgültigen Rang zusammen mit der Nudel, die – ebenfalls alten medizinischen Überzeugungen zufolge – mehrere positive Eigenschaften hatte, von denen heute zumindest zwei nach wie vor anerkannt sind.
Erstens handelte es sich um eine Speise, die man auch in der Fastenzeit zu sich nehmen durfte, also an Tagen, an denen man sich, dem liturgischen Kalender folgend, des Fleisches enthalten sollte. 30 Genauer gesagt gab es zwei verschiedene Arten von Fastentagen: Im ersten und häufigeren Fall war es an bestimmten Wochentagen und zu bestimmten Zeiten des Jahres, beispielsweise am Heiligen Abend, verboten, Fleisch zu essen. Die eigentliche strenge Fastenzeit betraf die vierzig Tage vor Ostern, in denen das Verbot auf alle tierischen Produkte ausgedehnt wurde, also auch auf Milch, Milchprodukte und Eier. In beiden Fällen waren hingegen Fisch und bestimmte Amphibien (wie Frösche) erlaubt. Diese Ernährungsvorschriften folgten einem genauen Kalender, der bereits im 1. und 2. Jahrhundert nach Christus entstanden war und erheblichen Einfluss auf die Essgewohnheiten hatte: Pro Jahr konnten 150 bis 160 Fastentage zusammenkommen. Seit dem 18. Jahrhundert wurden die Regeln für die vierzigtägige Fastenzeit vor Ostern etwas aufgeweicht (nun waren auch Lebensmittel wie Butter erlaubt), bis sie sich irgendwann den Vorschriften für die normalen Fastentage anglichen. Trotzdem propagierten noch manche am Ende des 19. Jahrhunderts erschienene Kochbücher eine jahrhundertealte Ernährungsform, die man heute als Fisch-Veganismus bezeichnen könnte. 31
Zu Recht wurde immer wieder betont, dass einer der Gründe für den Siegeszug der pasta secca (der haltbaren getrockneten Nudeln ohne Ei) die Tatsache war, dass sie als rein pflanzliches Lebensmittel selbst in der strengen Fastenzeit erlaubt war. Denken wir beispielsweise an nur mit Käse und Gemüse gefüllte Nudeln oder traditionelle Saucen auf Basis von Gemüse oder Fisch (der immer erlaubt war) oder auch an das typischste aller italienischen Nudelgerichte: Spaghetti mit Tomatensauce.
Der zweite Grund ist rein ästhetischer Natur, wurde aber ebenfalls gründlich erforscht. Im Mittelalter und in der Renaissance wurden weiße und gelbe Gerichte besonders geschätzt, zwei Farben, die beim Essen für Reichtum und Luxus standen. Während man gelbe Farbtöne mithilfe spezieller Gewürze (allen voran Safran) erzeugte, war Weiß allein durch die geschickte Auswahl der Zutaten möglich. In den Kochbüchern dieser Zeit sind viele Passagen enthalten, die den Koch auf diesen Aspekt hinwiesen. Man denke nur an eine der ältesten und berühmtesten Spezialitäten, das Biancomangiare (dt. »Weißes essen«, ein Mandeldessert), bei dem der Name auf die Farbe verweist und nicht auf die Zutaten, die variieren konnten.
Schon im Mittelalter und in der Renaissance existierten Dutzende Saucen zur Begleitung von Speisen, vor allem Fleisch, die nach unserer heutigen Auffassung auch hervorragend mit Pasta kombiniert werden könnten, um neue Gerichte zu kreieren. Warum also wurden Nudeln ein halbes Jahrtausend lang nur mit Käse oder zusätzlich bestenfalls ein paar Gewürzen oder Zucker aufgetischt?
An diesem Punkt muss auf ein sehr wichtiges Prinzip hingewiesen werden: Die Prägung von Geschmack ist ein kulturelles Phänomen. Sie ist nicht nur abhängig von der Verfügbarkeit und dem Einsatz bestimmter Zutaten; zumindest genügt dieser Faktor nicht für die Erfindung eines neuen Rezepts. Geschmack und Wissen sind eng verbunden und werden uns beide von der Gesellschaft vermittelt, in der wir leben. Die Gesellschaft bringt uns bei, was gut oder schlecht, schön oder hässlich ist. 32
Die Handlungsfreiheit in der Kulinarik ist ebenso beschränkt wie in anderen menschlichen Kulturtechniken. Ich möchte einen Vergleich aus der Welt der Malerei ziehen: Im Prinzip hätte in jeder Epoche jeder Maler, der über einen Pinsel verfügte, genauso malen können wie Michelangelo, Gauguin oder Pollock. Aber das ist nicht passiert. Es müssen immer erst bestimmte Schranken fallen, damit neue Schöpfungen, neue Schulen, neue Gewohnheiten möglich werden – in der Küche wie in der Kunst.
Auch wenn Nudeln heute auf vielfältigste Weise serviert werden, haben wir sozusagen in unseren Genen noch die Erinnerung an alte Gewohnheiten gespeichert: Abgesehen davon, dass Käse möglicherweise den Geschmack verbessert, ist allein schon die Geste, geriebenen Parmesan (oder gesalzenen Ricotta oder Pecorino) auf die Nudeln niederregnen zu lassen, bevor man die Gabel hineinsteckt, eine Konstante aller traditionellen italienischen Pastagerichte von Nord bis Süd. Während früher die Pasta auf jeden Fall gründlich in Käse gewendet wurde und erst viel später die Saucen hinzukamen, hat sich heute einfach nur die Reihenfolge geändert. Eine alte Tradition, der wir unbewusst immer dann folgen, wenn wir vor einem dampfenden Teller Nudeln sitzen und gar nicht auf die Idee kämen, den geriebenen Käse auch mal wegzulassen.
Die meisten kennen die Situation, die durchaus erfreulich, aber, sagen wir es offen, zugleich ziemlich tückisch ist: Man lädt ein Dutzend oder mehr Freunde zu einem Nudelessen ein. Welche Variante, die wirklich alle zufriedenstellt, käme Ihnen da als Erstes in den Sinn? Ich persönlich würde ohne Zweifel für Spaghetti all’amatriciana optieren: weniger banal als Tomatensauce, mehr Substanz als die üblichen Aglio e olio, aus kochtechnischer Sicht einfacher als »Il cuoco piemontese ridotto all’ultimo gusto« – und viel, viel schneller zu machen als jedes Ragù oder Pesto (von Fertigsaucen mal abgesehen). Man braucht nur vier Zutaten: Guanciale, Tomaten, Peperoni und Pecorino.
Selbstverständlich gilt auch hier die Grundregel: Je weniger Zutaten, desto sorgfältiger sollte man sie auswählen. Ein gut abgehangener Guanciale, wenn möglich von Freilandschweinen, sorgt für ausgezeichneten Geschmack. Der Pecorino (mit schwarzer Rinde natürlich!) sollte von einer handwerklich arbeitenden Käserei aus dem Latium stammen (davon gibt es nicht viele, aber es lohnt sich definitiv, deren Produkte ausfindig zu machen).
Kommen wir zur Zubereitung: Der Guanciale wird in eher dicke Scheiben und dann in Streifen geschnitten und bei geringer Hitze in einer Eisenpfanne gebraten. Sobald er außen schön gebräunt, aber innen noch weich ist, gießt man einen Teil des ausgelassenen Fetts weg – aber nicht zu viel, denn auch das gibt den Nudeln Geschmack. Man nimmt den Speck aus der Pfanne und stellt ihn beiseite. Danach überbrüht man feste Fleischtomaten ein paar Sekunden mit kochendem Wasser, schält sie, entfernt die Kerne und schneidet sie in Stücke. Nun gibt man sie in die Pfanne mit dem restlichen Fett, dazu ein Stück Chilischote (bevorzugt frisch), und erhitzt das Ganze, bis die Tomaten langsam zerfallen. Zum Schluss kommt der Guanciale wieder dazu. Nach ein paar Minuten ist der Sugo fertig, und man kann die al dente gekochten Spaghetti (alternativ Mezze maniche) und eine großzügige Handvoll geriebenen Pecorino in die Pfanne geben. Die frischen Tomaten lassen sich durch geschälte Tomaten aus der Dose oder eine erstklassige Passata ersetzen, aber dasselbe ist das nicht, das versteht sich von selbst. Einen Tipp jedoch kann ich geben: Mit ein paar Löffeln aus der Dose zusätzlich zu den frischen Tomaten bekommt die Sauce genau die richtige Konsistenz. Ich persönlich nehme auf ein halbes Kilo Tomaten 200 bis 300 Gramm Guanciale, aber das ist nicht verbindlich, und auch beim Rest kann man nach Geschmack vorgehen.
Bis dahin klingt doch alles ganz harmlos und unproblematisch, oder? Und doch war das, was ich eben beschrieben habe, nicht etwa ein Rezept, sondern ein Schlachtfeld. Wie ich das meine? Schauen wir dazu nur wenige Jahre zurück.
Der 7. Februar 2015 ist für die meisten von Ihnen vermutlich kein besonderes Datum – Sie werden sich wohl kaum daran erinnern, wo Sie mit wem waren und was Sie gemacht haben. Und doch wurde an ebenjenem Tag ein besonders tragisches (oder je nach Standpunkt auch komisches) Kapitel der kulinarischen Chronik Italiens geschrieben. Der Koch Carlo Cracco, zu Gast in der Sendung C’èposta per te (Post für dich), verkündete öffentlich, in die Amatriciana gehöre eine ungeschälte Knoblauchzehe. Wohlgemerkt, Carlo Cracco ist nicht irgendein Koch, sondern Schüler von Gualtiero Marchesi, Alain Ducasse und Alain Senderens (also drei Kochpäpsten). Er wurde mit mehreren Sternen ausgezeichnet und fungiert als gestrenger Richter in diversen Fernsehkochshows. Doch ein Fehltritt in einer solchen Dimension konnte nicht unbemerkt bleiben, und in der Tat ließen die Reaktionen nicht lange auf sich warten. Die erste fand sich sogar auf der offiziellen Website der Gemeinde Amatrice, die Mühe hatte, ihre Erschütterung über das Geschehene zu verbergen:
Wir weisen darauf hin, dass die Zutaten für eine echte Amatriciana ausschließlich Guanciale, Pecorino, Weißwein, San-Marzano-Tomaten, Pfeffer und Chilischote sind. Um die Authentizität des Rezepts zu unterstreichen, verweisen wir auf die Einführung des Siegels DE.CO, das erst vor wenigen Wochen an erste Produkte aus kommunaler Herkunft (Denominazione Communale) verliehen wurde, darunter Guanciale und Pecorino aus Amatrice.
Wir sind sicher, dem renommierten Koch ist nur ein Lapsus unterlaufen – angesichts seines beruflichen Werdegangs und seiner Kompetenz in Sachen Selbstvermarktung, von der seine Werbung für eine bekannte Kartoffelchips-Marke zeugt.
Wir sind ausdrücklich davon überzeugt, dass der bekannte Koch im guten Glauben gehandelt hat, und selbstverständlich steht es ihm frei, für eine von ihm zubereitete Nudelsauce auch eine ungeschälte Knoblauchzehe zu verwenden. Ganz bestimmt schmeckt eine solche Sauce auch ausgezeichnet – nur kann man sie in diesem Fall nicht als Amatriciana bezeichnen.
Die Gemeinde Amatrice würde sich sehr freuen, Carlo Cracco dort willkommen zu heißen, wo das berühmteste Nudelgericht der Welt seinen Ursprung hat. 1
Schauen wir uns diese Stellungnahme genauer an. Die Administratoren der Gemeinde Amatrice stellen zuallererst einmal klar, welches die einzig zulässigen Zutaten des »echten« Rezepts sind, die sogar ein offizielles Siegel (DE.CO) vorweisen können, bevor sie einem Koch, der sich gegenüber einer Nudelsauce der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht hat (möglicherweise war es auch nur ein »Lapsus«), die Hand zur Versöhnung reichen – nicht ohne den Seitenhieb, er mache schließlich für eine bekannte Kartoffelchips-Marke Werbung. Als wollten sie sagen: Treib keinen Scherz mit heiligen Dingen! Die stärkste Botschaft (beziehungsweise Waffe) – und vielleicht auch die interessanteste, da sie in derlei Auseinandersetzungen immer auftaucht, lautet: Wenn der Cracco Knoblauch in seine Sauce tut, darf er sie nicht Amatriciana nennen.