Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim - Sophie von La Roche - E-Book

Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim E-Book

Sophie Von La Roche

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Beschreibung

Ein empfindsamer Briefroman über eine junge Frau: Sophie von Sternheim verliert früh ihre Eltern und wird von ihrem Onkel angehalten, als 19-Jährige die Mätresse des Fürsten zu werden, was ihr jedoch widerstrebt. Trotz einiger Verwirrungen und Täuschungen, denen sie ausgeliefert ist, schafft sie es, sich der höfisch-intriganten Gesellschaft zu widersetzen!-

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Sophie von La Roche

Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim

Saga

Die Geschichte des Fräuleins von SternheimCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1771, 2020 Sophie von La Roche und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726540185

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

— a part of Egmont www.egmont.com

Erster Teil

Sie sollen mir nicht danken, meine Freundin, dass ich so viel für Sie abschreibe. Sie wissen, dass ich das Glück hatte, mit der vortrefflichen Dame erzogen zu werden, aus deren Lebensbeschreibung ich Ihnen Auszüge und Abschriften von den Briefen mitteile, welche Mylord Seymour von seinen englischen Freunden und meiner Emilia sammelte. Glauben Sie, es ist ein Vergnügen für mein Herz, wenn ich mich mit etwas beschäftigen kann, wodurch das geheiligte Andenken der Tugend und Güte einer Person, welche unserm Geschlechte und der Menschheit Ehre gemacht, in mir erneuert wird.

Der Vater meiner geliebten Lady Sidney war der Oberste von Sternheim, einziger Sohn eines Professors in W., von welchem er die sorgfältigste Erziehung genoss. Edelmut, Grösse des Geistes, Güte des Herzens waren die Grundzüge seines Charakters. Auf der Universität L. verband ihn die Freundschaft mit dem jüngern Baron von P. so sehr, dass er nicht nur alle Reisen mit ihm machte, sondern auch aus Liebe zu ihm mit in Kriegsdienste trat. Durch seinen Umgang und durch sein Beispiel wurde der vorher unbändige Geist des Barons so biegsam und wohldenkend, dass die ganze Familie dem jungen Manne dankte, der ihren geliebten Sohn auf die Wege des Guten gebracht hatte. Ein Zufall trennte sie. Der Baron musste nach dem Tode seines ältern Bruders die Kriegsdienste verlassen und sich zur Übernehmung der Güter und Verwaltung derselben geschickt machen. Sternheim, der von Offizieren und Gemeinen auf das vollkommenste geehrt und geliebt wurde, blieb im Dienste und erhielt darin von dem Fürsten die Stelle eines Obersten und den Adelstand. „Ihr Verdienst, nicht das Glück hat sie erhoben“, sagte der General, als er ihm im Namen des Fürsten in Gegenwart vieler Personen das Oberstenpatent und den Adelsbrief überreichte; und nach dem allgemeinen Zeugnisse waren alle Feldzüge Gelegenheiten, wo er Grossmut, Menschenliebe und Tapferkeit in vollem Mass ausübte.

Bei Herstellung des Friedens war sein erster Wunsch, seinen Freund zu sehen, mit welchem er immer Briefe gewechselt hatte. Sein Herz kannte keine andere Verbindung. Schon lange hatte er seinen Vater verloren; und da dieser selbst ein Fremdling in W. gewesen war, so blieben seinem Sohne keine nahe Verwandte von ihm übrig. Der Oberste von Sternheim ging also nach P., um daselbst das ruhige Vergnügen der Freundschaft zu geniessen. Der Baron P., sein Freund, war mit einer liebenswürdigen Dame vermählt und lebte mit seiner Mutter und zwoen Schwestern auf den schönen Gütern, die ihm sein Vater zurückgelassen, sehr glücklich. Die Familie von P., als eine der angesehensten in der Gegend, wurde von dem zahlreichen benachbarten Adel öfters besucht. Der Baron P. gab wechselsweise Gesellschaft und kleine Feste; die einsamen Tage wurden mit Lesung guter Bücher, mit Bemühungen für die gute Verwaltung der Herrschaft und mit edler anständiger Führung des Hauses zugebracht.

Zuweilen wurden auch kleine Konzerte gehalten, weil die jüngere Fräulein das Klavier, die ältere aber die Laute spielte und schön sang, wobei sie von ihrem Bruder mit etlichen von seinen Leuten akkompagniert wurde. Der Gemütszustand des ältern Fräuleins störte dieses ruhige Glück. Sie war das einzige Kind, welches der Baron P. mit seiner ersten Gemahlin, einer Lady Watson, die er auf einer Gesandtschaft in England geheuratet, erzeugt hatte. Dieses Fräulein schien zu aller sanften Liebenswürdigkeit einer Engländerin auch den melancholischen Charakter, der diese Nation bezeichnet, von ihrer Mutter geerbt zu haben. Ein stiller Gram war auf ihrem Gesichte verbreitet. Sie liebte die Einsamkeit, verwendete sie aber allein auf fleissiges Lesen der besten Bücher; ohne gleichwohl die Gelegenheiten zu versäumen, wo sie, ohne fremde Gesellschaft, mit den Personen ihrer Familie allein sein konnte.

Der Baron, ihr Bruder, der sie zärtlich liebte, machte sich Kummer für ihre Gesundheit, er gab sich alle Mühe, sie zu zerstreuen und die Ursache ihrer rührenden Traurigkeit zu erfahren.

Etlichemal bat er sie, ihr Herz einem treuen, zärtlichen Bruder zu entdecken. Sie sah ihn bedenklich an, dankte ihm für seine Sorge und bat ihn mit tränenden Augen, ihr ihr Geheimnis zu lassen und sie zu lieben. Dieses machte ihn unruhig. Er besorgte, irgendein begangener Fehler möchte die Grundlage dieser Betrübnis sein; beobachtete sie in allem auf das genaueste, konnte aber keine Spur entdecken, die ihn zu der geringsten Bestärkung einer solchen Besorgnis hätte leiten können.

Immer war sie unter seinen oder ihrer Mutter Augen, redete mit niemand im Hause und vermied alle Arten von Umgang. Einige Zeit überwand sie sich und blieb in Gesellschaft; und eine ruhige Munterkeit machte Hoffnung, dass der melancholische Anfall vorüber wäre.

Zu diesem Vergnügen der Familie kam die unvermutete Ankunft des Obersten von Sternheim, von welchem diese ganze Familie so viel reden gehört und in seinen Briefen die Vortrefflichkeit seines Geistes und Herzens bewundert hatte. Er überraschte sie abends in ihrem Garten; die Entzückung des Barons, und die neugierige Aufmerksamkeit der übrigen, ist nicht zu beschreiben. Es währte auch nicht lange, so flösste sein edles, liebreiches Betragen dem ganzen Hause eine gleiche Freude ein.

Der Oberst wurde als ein besonderer Freund des Hauses bei allen Bekannten vom Adel aufgeführt und kam in alle ihre Gesellschaften.

In dem Hause des Barons machte er die Erzählung seines Lebens, worin er ohne Weitläuftigkeit das Merkwürdige und Nützliche, was er gesehen, mit vieler Anmut und mit dem männlichen Tone, der den weisen Mann und den Menschenfreund bezeichnet, vortrug. Ihm wurde hingegen das Gemälde vom Landleben gemacht, wobei bald der Baron von den Vorteilen, welche die Gegenwart des Herrn den Untertanen verschafft, bald die alte Dame von demjenigen Teil der ländlichen Wirtschaft, der die Familienmutter angeht, bald die beiden Fräulein von den angenehmen Ergötzlichkeiten sprachen, die das Landleben in jeder Jahreszeit anbietet. Auf diese Abschilderung folgte diese Frage:

„Mein Freund, wollten Sie nicht die übrigen Tage Ihres Lebens auf dem Lande zubringen?“

„Ja, lieber Baron! Aber es müsste auf meinen eignen Gütern und in der Nachbarschaft der Ihrigen sein.“

„Das kann leicht geschehen, denn es ist eine kleine Meile von hier ein artiges Gut zu kaufen; ich habe die Erlaubnis, hinzugeben, wenn ich will; wir wollen es morgen besehen.“

Den Tag darauf ritten die beiden Herren dahin, in Begleitung des Pfarrers von P., eines sehr würdigen Mannes, von welchem die Damen die Beschreibung des rührenden Auftritts erhielten, der zwischen den beiden Freunden vorgefallen war.

Der Baron hatte dem Obersten das ganze Gut gewiesen und führte ihn auch in das Haus, welches gleich an dem Garten und sehr artig gelegen war. Hier nahmen sie das Frühstück ein.

Der Oberste bezeugte seine Zufriedenheit über alles, was er gesehen, und fragte den Baron: ob es wahr sei, dass man dieses Gut kaufen könne?

„Ja, mein Freund; gefällt es Ihnen?“

„Vollkommen; es würde mich von nichts entfernen, was ich liebe.“

„O wie glücklich bin ich, teurer Freund“, sagte der Baron, da er ihn umarmte; „ich habe das Gut schon vor drei Jahren gekauft, um es Ihnen anzubieten; ich habe das Haus ausgebessert und oft in diesem Kabinette für Ihre Erhaltung gebetet. Nun werde ich den Führer meiner Jugend zum Zeugen meines Lebens haben.“

Der Oberste wurde ausserordentlich gerührt; er konnte seinen Dank und seine Freude über das edle Herz seines Freundes nicht genug ausdrücken; er versicherte ihn, dass er sein Leben in diesem Hause zubringen würde; aber zugleich verlangte er zu wissen, was das Gut gekostet habe. Der Baron musste es sagen und es auch durch die Kaufbriefe beweisen. Der Ertrag belief sich höher, als es nach dem Ankaufsschilling sein sollte. Der Baron versicherte aber, dass er nichts als seine eigne Auslage annehmen würde.

„Mein Freund“, sagte er, „ich habe nichts getan, als seit drei Jahren alle Einkünfte des Guts auf die Verbesserung und Verschönerung desselben verwendet. Das Vergnügen des Gedankens: du arbeitest für die Ruhetage des Besten der Menschen; hier wirst du ihn sehen und in seiner Gesellschaft die glücklichen Zeiten deiner Jugend erneuern; sein Rat, sein Beispiel wird zu der Zufriedenheit deiner Seele und dem Besten deiner Angehörigen beitragen. — Diese Gedanken haben mich belohnt.“

Wie sie nach Hause kamen, stellte der Baron den Obersten als einen neuen Nachbar seiner Frau Mutter und seiner Schwester vor. Alle wurden sehr froh über die Versicherung, seinen angenehmen Umgang auf immer zu geniessen.

Er bezog sein Haus sogleich, als er Besitz von der kleinen Herrschaft genommen hatte, die nur auf zweien Dörfern bestund. Er gab auch ein Festin für die kleine Nachbarschaft, fing gleich darauf an zu bauen, setzte noch zween schöne Flügel an beide Seiten des Hauses, pflanzte Alleen und einen artigen Lustwald, alles im englischen Geschmack. Er betrieb diesen Bau mit dem grössten Eifer. Gleichwohl hatte er von Zeit zu Zeit eine düstre Miene, die der Baron wahrnahm, ohne anfangs davon etwas merken zu lassen, bis er in dem folgenden Herbst einer Gemütsveränderung des Obersten überzeugt zu sein glaubte, bei welcher er nicht länger ruhig sein konnte. Sternheim kam nicht mehr so oft, redete weniger und ging bald wieder weg. Seine Leute bedauerten die ungewöhnliche Melancholie, die ihren Herrn befallen hatte.

Der Baron wurde um so viel mehr bekümmert, als sein Herz von der zurückgefallnen Traurigkeit seiner ältern Schwester beklemmt war. Er ging zum Obersten, fand ihn allein und nachdenkend, umarmte ihn mit zärtlicher Wehmut und rief aus: „O mein Freund! Wie nichtig sind auch die edelsten, die lautersten Freuden unsers Herzens! — Lange fehlte mir nichts als Ihre Gegenwart; nun seh’ ich Sie; itzt habe ich Sie in meinen Armen und sehe Sie traurig! Ihr Herz, Ihr Vertrauen ist nicht mehr für mich; haben Sie vielleicht der Freundschaft zu viel nachgegeben, indem Sie hier einen Wohnsitz nehmen? — Liebster, bester Freund! quälen Sie sich nicht; Ihr Vergnügen ist mir teurer als mein eignes, ich nehme das Gut wieder an; es wird mir wert sein, weil es mir Ihr schätzbares Andenken und Ihr Bild an allen Orten erneuern wird.“

Hier hielt er inne; Tränen füllten sein Auge, welches auf dem Gesicht seines Freundes geheftet war. — Er sah die grösste Bewegung der Seele in demselben ausgedrückt.

Der Oberste stund auf und umfasste den Baron. „Edler P., glauben Sie ja nicht, dass meine Freundschaft, mein Vertrauen gegen Sie vermindert sei; noch weniger denken Sie, dass mich die Entschliessung gereue, meine Tage in Ihrer Nachbarschaft hinzubringen. — O Ihre Nachbarschaft ist mir lieber, als Sie sich vorstellen können! — Ich habe eine Leidenschaft zu bekämpfen, die mein Herz zum erstenmal angefallen hat. Ich hoffte, vernünftig und edelmütig zu sein; aber ich bin es noch nicht in aller der Stärke, welche der Zustand meiner Seele erfordert. Doch ist es nicht möglich, dass ich mit Ihnen davon spreche; mein Herz und die Einsamkeit sind die einzigen Vertrauten, die ich haben kann.“

Der Baron drückte ihn an seine Brust; „ich weiss“, sagte er, „dass Sie in allem wahrhaft sind, ich zweifle also nicht an den Versicherungen Ihrer alten Freundschaft. Aber warum kommen Sie so selten zu mir? Warum eilen Sie so kalt wieder aus meinem Hause?“

,,Kalt, mein Freund! Kalt eile ich aus Ihrem Hause? O P., wenn Sie das brennende Verlangen kennten, das mich zu Ihnen führt; das mich stundenlang an meinem Fenster hält, wo ich das geliebte Haus sehe, in welchem alle mein Wünschen, all mein Vergnügen wohnt. Ach P.!“ —

Der Baron P. wurde unruhig, weil ihm auf einige Augenblicke der Gedanke kam, sein Freund möchte vielleicht seine Gemahlin lieben, und meide deswegen sein Haus, weil er sich zu bestreiten suche. Er beschloss, achtsam und zurückhaltend zu sein. Der Oberste hatte still gesessen, und der Baron war auch aus seiner Fassung. Endlich fing der letztere an: ,,Mein Freund, Ihr Geheimnis ist mir heilig; ich will es nicht aus ihrer Brust erpressen. Aber Sie haben mir Ursache gegeben, zu denken, dass ein Teil dieses Geheimnisses mein Haus angehe: Darf ich nicht nach diesem Teile fragen?“

„Nein! Nein, fragen Sie nichts, und überlassen Sie mich mir selbst.“ — Der Baron schwieg und reiste traurig und tiefsinnig fort.

Den andern Tag kam der Oberste, bat den Baron um Vergebung, dass er ihn gestern so trocken heimreisen lassen, und sagte, dass es ihn den ganzen Abend gequält hätte. „Lieber Baron“, setzte er hinzu, „Ehre und Edelmut binden meine Zunge! Zweifeln Sie nicht an meinem Herzen und lieben Sie mich!“

Er blieb den ganzen Tag in P., — Fräulein Sophie und Fräulein Charlotte wurden von ihrem Bruder gebeten, alles zu Ermunterung seines Freundes beizutragen. Der Oberst hielt sich aber meistens um die alte Dame und die Gemahlin des Barons auf. Abends spielte Fräulein Charlotte die Laute, der Baron und zween Bediente akkompagnierten sie, und Fräulein Sophie wurde so inständig gebeten, zu singen, dass sie endlich nachgab.

Der Oberste stellte sich in ein Fenster, wo er bei halb zugezogenem Vorhang das kleine Familienkonzert anhörte und so eingenommen wurde, nicht wahrzunehmen, dass die Gemahlin seines Freundes nahe genug bei ihm stund, um ihn sagen zu hören: „O Sophie, warum bist du die Schwester meines Freundes? Warum bestreiten die Vorzüge deiner Geburt die edle, die zärtliche Neigung meines Herzens!“ —

Die Dame wurde bestürzt; und um die Verwirrung zu vermeiden, in die er geraten sein würde, wenn er hätte denken können, sie habe ihn gehört, entfernte sie sich; froh, ihrem Gemahl die Sorge benehmen zu können, die ihn wegen der Schwermut des Obersten plagte. — Sobald alles schlafen gegangen war, redete sie mit ihm von dieser Entdeckung. Der Baron verstund nun, was ihm der Oberste sagen wollte, da er sich wegen des vermeinten Kaltsinns verteidigte, dessen er beschuldigt wurde. „Wäre Ihnen der Oberste als Schwager ebenso lieb, wie er es Ihnen als mein Freund ist?“ fragte er seine Gemahlin.

„Gewiss, mein Liebster! Sollte denn das Verdienst des rechtschaffnen Mannes nicht soviel Wert haben, als die Vorzüge des Namens und der Geburt!“

„Werte, edle Hälfte meines Lebens“, rief der Baron, „so helfen Sie mir die Vorurteile bei meiner Mama und bei Sophien überwinden —“

„Ich fürchte die Vorurteile nicht so sehr als eine vorgefasste Neigung, die unsre liebe Sophie in ihrem Herzen nährt. Ich kenne den Gegenstand nicht, aber sie liebt, und liebt schon lange. Kleine Aufsätze von Betrachtungen, von Klagen gegen das Schicksal, gegen Trennung — die ich in ihrem Schreibetische gefunden habe, überzeugten mich davon. Ich habe sie beobachtet, aber weiter nichts entdecken können.“ — „Ich will mit ihr reden“, sagte der Baron, „und sehen, ob ihr Herz nicht durch irgendeine Lücke auszuspähen ist.“

Den Morgen darauf ging der Baron zu Fräulein Sophie, und nach vielen freundlichen Fragen um ihre Gesundheit nahm er ihre Hände in die seinigen. „Liebe, teure Sophie“, sprach er, ,,du gibst mir Versicherung deines Wohlseins; aber warum bleibt dir die leidende Miene? warum der Ton des Schmerzens; warum der Hang zur Einsamkeit! warum entfliehen diesem edeln, gütigen Herzen so viele Seufzer? — O wenn du wüsstest; wie sehr du mich diese lange Zeit deiner Melancholie durch bekümmert hast; du würdest mir dein Herz nicht verschlossen haben!“

Hier wurde ihre Zärtlichkeit überwältiget. — Sie zog ihre Hände nicht weg, sie drückte ihres Bruders seine an ihre Brust, und ihr Kopf sank auf seine Schulter. „Bruder, du brichst mein Herz! Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dir Kummer gemacht zu haben! Ich liebe dich wie mein Leben; ich bin glücklich, ertrage mich, und rede mir niemals vom Heiraten.“

„Warum das, mein Kind? Du würdest einen rechtschaffenen Mann so glücklich machen!“

„Ja, ein rechtschaffener Mann würde auch mich glücklich machen; aber ich kenne —“ Tränen hinderten sie, mehr zu sagen. —

„O Sophie — hemme die aufrichtige Bewegung deiner Seele nicht; schütte ihre Empfindungen in den treuen Busen deines Bruders aus — Kind! ich glaube, es gibt einen Mann, den du liebst, mit dem dein Herz ein Bündnis hat.“ —

„Nein, Bruder! Mein Herz hat kein Bündnis —“

„Ist dieses wahr, meine Sophie?“

„Ja, mein Bruder, ja —“

Hier schloss sie der Baron in seine Arme. — ,,Ach, wenn du die entschlossne, die wohltätige Seele deiner Mutter hättest!“ —

Sie erstaunte. „Warum, mein Bruder? Was willst du damit? Bin ich übeltätig gewesen?“

„Niemals, meine Liebe, niemals — aber du könntest es werden, wenn Vorurteile mehr als Tugend und Vernunft bei dir gälten.“

„Bruder, du verwirrest mich! In was für einem Falle sollte ich der Tugend und Vernunft entsagen?“

„Du musst es nicht so nehmen! Der Fall, den ich denke, ist nicht wider Tugend und Vernunft, und doch könnten beide ihre Ansprüche bei dir verlieren?“ —

„Bruder, rede deutlich; ich bin entschlossen, nach meinen geheimsten Empfindungen zu antworten.“ —

„Sophie, die Versicherung, dass dein Herz ohne Bündnis sei, erlaubt mir, dich zu fragen: was du tun würdest, wenn ein Mann, voll Weisheit und Tugend, dich liebte, um deine Hand bäte, aber nicht von altem Adel wäre?“ —

Sie geriet bei diesem letzten Wort in Schrecken, sie zitterte und wusste sich nicht zu fassen. Der Baron wollte ihr Herz nicht lange quälen, sondern fuhr fort: „Wenn dieser Mann der Freund wäre, dem dein Bruder die Güte und Glückseligkeit seines Herzens zu danken hätte —, Sophie; was würdest du tun?“

Sie redete nicht, sondern ward nachdenkend und wechselsweise rot und blass.

„Ich beunruhige dich, meine Schwester; der Oberste liebt dich. Diese Leidenschaft macht seine Schwermut; denn er zweifelt, ob er werde angenommen werden. Ich bekenne dir freimütig, dass ich wünschte, alle seine mir erwiesne Wohltaten durch dich zu vergelten. Aber wenn dein Herz darwider ist, so vergiss alles, was ich dir sagte.“

Das Fräulein bemühete sich, einen Mut zu fassen; schwieg, aber eine gute Weile; endlich fragte sie den Baron: ,,Bruder, ist es gewiss, dass der Oberste mich liebt?“ — Der Baron erklärte ihr hierauf alles, was er durch seine Unterredungen mit dem Obersten, und endlich durch die Wünsche, welche seine Gemahlin gehört hatte, von seiner Liebe wusste.

„Mein Bruder“, sprach Sophie, „ich bin freimütig, und du verdienst alle mein Vertrauen so sehr, dass ich nicht lange warten werde, dir zu sagen, dass der Oberste der einzige Mann auf Erden ist, dessen Gemahlin ich zu werden wünsche.“

„Der Unterschied der Geburt ist dir also nicht anstössig?“

„Gar nicht; sein edles Herz, seine Wissenschaft, und seine Freundschaft für dich ersetzen bei mir den Mangel der Ahnen.“

„Edelmütiges Mädchen! Du machst mich glücklich durch deine Entschliessung, liebeste Sophie! — Aber warum batest du mich, dir nichts vom Heiraten zu sagen?“

„Weil ich fürchtete, du redest von einem andern“, sagte sie mit leisem Ton, indem ihr glühendes Gesicht auf der Schulter ihres Bruders lag. —

Er umarmte sie, küsste ihre Hand; „diese Hand“, sagte er, „wird ein Segen für meinen Freund sein! von mir wird er sie erhalten! Aber, mein Kind, die Mama und Charlotte werden dich bestreiten; wirst du standhaft bleiben?“

„Bruder, du sollst sehen, dass ich ein engländisches Herz habe. — Aber da ich alle deine Fragen beantwortete, so muss ich auch eine machen: Was dachtest du von meiner Traurigkeit, weil du mich so oft fragtest?“ —

„Ich dachte, eine heimliche Liebe, und ich fürchtete mich vor dem Gegenstand, weil du so verborgen warest.“

„Mein Bruder glaubte also nicht, dass die Briefe seines Freundes, die er uns vorlas, und alles übrige, was er von dem teuren Mann erzählte, einen Eindruck auf mein Herz machen könnte?“

„Liebe Sophie, es war also das Verdienst meines Freundes, was dich so beunruhigte? — Glücklicher Mann, den ein edles Mädchen wegen seiner Tugend liebt! — Gott segne meine Schwester für ihre Aufrichtigkeit! nun kann ich das Herz meines Freundes von seinem nagenden Kummer heilen.“

„Tu alles, mein Bruder, was ihn befriedigen kann; nur schone meiner dabei! du weisst, dass ein Mädchen nicht ungebeten lieben darf.“

„Sei ruhig, mein Kind; deine Ehre ist die meinige.“

Hier verliess er sie, ging zu seiner Gemahlin und teilte ihr das Vergnügen dieser Entdeckung mit. Sodann eilte er zum Obersten, welchen er traurig und ernsthaft fand. — Mancherlei Unterredungen, die er anfing, wurden kurz beantwortet. Eine tödliche Unruhe war in allen seinen Gebärden. — „Habe ich Sie gestört, Herr Oberster?“ sagte der Baron mit der Stimme der zärtlichsten Freundschaft eines jungen Mannes gegen seinen Führer, indem er den Obersten zugleich bei der Hand fasste.

„Ja, lieber Baron, Sie haben mich in der Entschliessung gestört, auf einige Zeit wegzureisen.“

„Wegzureisen? Und — allein?“ —

„Lieber P., ich bin in einer Gemütsverfassung, die meinen Umgang unangenehm macht; ich will sehen, was die Zerstreuung tun kann.“

,,Mein bester Freund! Darf ich nicht mehr in Ihr Herz sehen? Kann ich nicht zu Ihrer Ruhe beitragen?“

„Sie haben genug für mich getan! Sie sind die Freude meines Lebens. — Was mir itzt mangelt, muss die Klugheit und die Zeit bessern.“

„Sternheim, Sie sagten letzt von einer zu bekämpfenden Leidenschaft. — Ich kenne Sie; Ihr Herz kann keine unanständige, keine böse Leidenschaft nähren; es muss Liebe sein, was die Qual Ihrer Tage macht!“

„Niemals P., niemals sollen Sie wissen, was meinen itzigen Kummer verursacht.“

„Rechtschaffner Freund, ich will Sie nicht länger täuschen; ich kenne den Gegenstand Ihrer Liebe; Ihre Zärtlichkeit hat einen Zeugen gefunden; ich bin glücklich: Sie lieben meine Sophie!“ — Der Baron hielt den Obersten, der ganz ausser sich war, umarmt; er wollte sich loswinden; es war ihm bange.

„P., was sagen Sie? Was wollen Sie von mir wissen?“

„Ich will wissen, ob die Hand meiner Schwester ein gewünschtes Glück für Sie wäre?“

„Unmöglich, denn es wäre für Sie alle ein Unglück.“

„Ich habe also Ihr Geständnis; aber wo soll das Unglück sein?“

„Ja, Sie haben mein Geständnis; Ihre Fräulein Schwester ist das erste Frauenzimmer, welches die beste Neigung meiner Seele hat; aber ich will sie überwinden; man soll Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie Ihrer Freundschaft die schuldige Achtung für Ihre Voreltern aufgeopfert haben. Fräulein Sophie soll durch mich keinen Anspruch an Glück und Vorzug verlieren. Schwören Sie mir, kein Wort mit ihr davon zu reden; oder Sie sehen mich heute zum letztenmal!“

„Sie denken edel, mein Freund; aber Sie sollen nicht ungerecht werden. Ihre Abreise würde nicht allein mich, sondern Sophien und meine Gemahlin betrüben. Sie sollen mein Bruder sein!“ —

„P., Sie martern mich mit diesem Zuspruch mehr, als mich die Unmöglichkeit marterte, die meinen Wünschen entgegen ist.“

„Freund! Sie haben die freiwillige, die zärtliche Zusage meiner Schwester — Sie haben die Wünsche meiner Gemahlin und die meinige. Wir haben alles bedacht, was Sie bedenken können — soll ich Sie bitten, der Gemahl von Sophien von P. zu werden?“ —

„O Gott, wie hart beurteilen Sie mein Herz! Sie glauben also, dass es eigensinniger Stolz sei, der mich unschlüssig macht?“

„Ich antworte nichts, umarmen Sie mich und nennen Sie mich Ihren Bruder! morgen sollen Sie es sein! Sophie ist die Ihrige. Sehen Sie sie nicht als das Fräulein von P., sondern als ein liebenswürdiges und tugendhaftes Frauenzimmer an, dessen Besitz alle Ihre künftigen Tage beglücken wird; und nehmen Sie diesen Segen von der Hand Ihres treuen Freundes mit Vergnügen an!“

„Sophie mein? mit einer freiwilligen Zärtlichkeit mein? Es ist genug; Sie geben alles; ich kann nichts tun, als auf alles freiwillig entsagen?“

„Entsagen? — nach der Versicherung, dass Sie geliebt sind? — O meine Schwester, wie übel bin ich mit deinem vortrefflichen Herzen umgegangen!“ —

„P., was sagen Sie! Und wie können Sie mein Herz durch einen solchen Vorwurf zerreissen? Wenn Sie edelmütig sind: soll ich es nicht auch sein? Soll ich die Augen über die Mienen des benachbarten Adels zuschliessen?“

„Sie sollen es, wenn die Frage von Ihrer Freude und Ihrem Glück ist.“

„Was wollen Sie dann, dass ich tun soll?“

,,Dass Sie mich mit dem Auftrage zurückreisen lassen, mit meiner Mutter von meinem Wunsche zu sprechen, und dass Sie zu uns kommen wollen, wenn ich Ihnen ein Billet schicke.“

Der Oberste konnte nicht mehr reden; er umarmte den Baron. Dieser ging zurück, gerade zu seiner Frau Mutter, bei welcher die beiden Fräulein und seine Gemahlin waren. Er führte die ältere Fräulein in ihr Zimmer, weil er ihr den Bericht von seinem Besuch allein machen wollte, und bat sie, ihn eine Zeitlang bei der Frau Mutter und Charlotten zu lassen. Hier tat er einen förmlichen Antrag für seinen Freund. Die alte Dame wurde betroffen; er sah es und sagte: ,,Teure Frau Mutter! alle Ihre Bedenklichkeiten sind gegründet. Der Adel soll durch adelige Verbindungen fortgeführt werden. Aber die Tugenden des Sternheim sind die Grundlagen aller grossen Familien gewesen. Man hatte nicht unrecht zu denken, dass grosse Eigenschaften der Seele bei Töchtern und Söhnen erblich sein könnten, und dass also jeder Vater für einen edlen Sohn eine edle Tochter suchen sollte. Auch wollt’ ich der Einführung der Heiraten ausser Stand nicht gerne das Wort reden. Aber hier ist ein besonderer Fall; ein Fall, der sehr selten erscheinen wird: Sternheims Verdienste, mit dem Charakter eines wirklichen Obersten, der schon als adelig anzusehen ist, rechtfertigen die Hoffnung, die ich ihm gemacht habe.“

„In Wahrheit, mein Sohn, ich habe Bedenklichkeiten. Aber der Mann hat meine ganze Hochachtung erworben. Ich würde ihn gern glücklich sehen.“

„Meine Gemahlin: Was sagen Sie?“

„Dass bei einem Mann, wie dieser ist, eine gerechte Ausnahme zu machen sei. Ich werde ihn gerne Bruder nennen.“

„Ich nicht“, sagte Fräulein Charlotte. —

„Warum, meine Liebe?“

„Weil diese schöne Verbindung auf Unkosten meines Glücks gemacht wird.“

,,Wie das, Charlotte?“

„Wer wird denn unser Haus zu einer Vermählung suchen, wenn die ältere Tochter so verschleudert ist?“

„Verschleudert? bei einem Mann von Tugenden und Ehre, bei dem Freunde deines Bruders?“

„Vielleicht hast du noch einen Universitätsfreund von dieser Tugend, der sich um mich melden wird, um seiner aufkeimenden Ehre eine Stütze zu geben, und da wirst du auch Ursachen zu deiner Einwilligung bereit haben?“

„Charlotte, meine Tochter: was für eine Sprache?“

„Ich muss sie führen, weil in der ganzen Familie niemand auf mich und seine Voreltern denkt.“

„So, Charlotte; und wenn man an die Voreltern denkt; muss man den Bruder und einen edelmütigen Mann beleidigen?“ sagte die junge Frau von P.

„Ich habe Ihre Ausnahme schon gehört, die Sie für den edelmütigen Mann machen. Andre Familien werden auch Ausnahmen haben, wenn ihr Sohn Charlotten zur Gemahlin haben wollte.“

„Charlotte, wer dich um Sternheims willen verlässt, ist deiner Hand und einer Verbindung mit mir nicht wert. Du siehst, dass ich auf die böse jüngere Schwester noch stolz bin, wenn ich schon die gute ältere an einen Universitätsfreund verschleudere.“

„Freilich muss die jüngere Schwester böse sein, wenn sie sich nicht zum Schuldenabtrag will gebrauchen lassen!“

„Wie unvernünftig boshaft meine Schwester sein kann! Du hast nichts von meinen Anträgen zu besorgen. Ich werde für niemand als einen Sternheim reden, und für diesen ist ein Gemütscharakter, wie der deinige, nicht edel genug, wenn du auch eine Fürstin wärest.“

„Gnädige Mama; Sie hören zu, wie ich wegen des elenden Kerls misshandelt werde?“

„Du hast die Geduld deines Bruders missbraucht. Kannst du deine Einwendungen nicht ruhiger vorbringen?“

Sie wollte eben reden; aber der Bruder fiel ihr ins Wort: ,,Charlotte, rede nicht mehr; der Ausdruck elender Kerl hat dir deinen Bruder genommen! Die Sachen meines Hauses gehen dich nichts mehr an. Dein Herz entehrt die Ahnen, auf deren Namen du stolz bist! O wie klein würde die Anzahl des Adels werden, wenn sich nur die dazu rechnen dürften, die ihre Ansprüche durch die Tugenden der edlen Seele des Stifters ihres Hauses beweisen könnten!“

„Lieber Sohn, werde nicht zu eifrig, es wäre wirklich nicht gut, wenn unsre Töchter so leichte geneigt wären, ausser Stand zu heiraten.“

„Das ist nicht zu befürchten. Es gibt selten eine Sophie, die einen Mann nur wegen seiner Klugheit und Grossmut liebt.“

Fräulein Charlotte entfernte sich.

„Hast du aber nicht selbst einmal deine dir so lieben Engländer angeführt, welche die Heirat ausser Stande den Töchtern viel weniger vergeben als den Söhnen, weil die Tochter ihren Namen aufgeben und den von ihrem Manne tragen muss, folglich sich erniedriget?“

„Dies bleibt alles wahr, aber in England würde mein Freund tausendmal von diesem Grundsatz ausgenommen werden, und das Mädchen, das ihn liebte, würde den Ruhm eines edeldenkenden Frauenzimmers erhalten.“

„Ich sehe wohl, mein Sohn, dass diese Verbindung eine schon beschlossene Sache ist. Aber hast du auch überlegt, dass man sagen wird, du opferst deine Schwester einer übertriebenen Freundschaft auf, und ich handle als Stiefmutter, da ich meine Einwilligung gebe?“

„Liebe Mama! lassen Sie es immer geschehen, unser Beweggrund wird uns beruhigen, und das Glück meiner Schwester wird, neben den Verdiensten meines Freundes, allein so deutlich in die Augen glänzen, dass man aufhören wird, übel zu denken.“

Hierauf wurde Fräulein Sophie von ihrem Bruder geholt. Sie warf sich ihrer Frau Mutter zu Füssen; die gute Dame umarmte sie: ,,Liebe Fräulein Tochter“, sprach sie, „Ihr Bruder hat mich versichert, dass dieses Band nach Ihren Wünschen wäre, sonst hätte ich nicht eingewilliget. Es ist wahr, es fehlt dem Manne nichts als eine edle Geburt. Aber, Gott segne Sie beide!“

Indessen war der Baron fort, er holte den Obersten, welcher halb ausser sich in das Zimmer trat, aber gleich zu der alten Dame ging, ihr mit gebognem Knie die Hände küsste und mit männlichem Anstand sagte:

„Gnädige Frau! glauben Sie immer, dass ich Ihre Einwilligung als eine herablassende Güte ansehe; bleiben Sie aber auch versichert, dass ich dieser Güte niemals unwürdig sein werde.“

Sie war so liebreich, zu sagen: „Es erfreuet mich, Herr Oberster, dass Ihre Verdienste in meinem Hause eine Belohnung gefunden haben. Er küsste hierauf die Hände der Gemahlin seines Freundes; „wieviel Dank und Verehrung“, rief er aus, „bin ich der grossmütigen Vorsprecherin der Angelegenheiten meines Herzens schuldig?“

,,Nichts, Herr Oberster! Ich bin stolz, zu dem Glück Ihres Herzens etwas beizutragen; Ihre brüderliche Freundschaft soll meine Belohnung sein.“

Er wollte mit seinem Freunde reden; aber dieser wies ihn an Fräulein Sophie. Bei dieser kniete er stillschweigend, und endlich sprach der edle Mann: ,,Gnädiges Fräulein! mein Herz ist zu Verehrung der Tugend geboren; wie war es möglich, eine vortreffliche Seele wie die Ihrige mit allen äusserlichen Annehmlichkeiten begleitet zu sehen, ohne dass meine Empfindungen lebhaft genug wurden, Wünsche zu machen? Ich hätte diese Wünsche erstickt; aber die treue Freundschaft Ihres Bruders hat mir Mut gegeben, um Ihre Zuneigung zu bitten. Sie haben mich nicht verworfen. Gott belohne Ihr liebreiches Herz und lasse mich die Tugend niemals verlieren, die mir Ihre Achtung erworben hat!“ —

Fräulein Sophie antwortete nur mit einer Verbeugung und reichte ihm die Hand mit dem Zeichen aufzustehen; darauf näherte sich der Baron und führte beide an seinen Händen zu seiner Frau Mutter.

„Gnädige Mama“, sagte er, „die Natur hat Ihnen an mir einen Sohn gegeben, von welchem Sie auf das vollkommenste geehrt und geliebt werden; das Schicksal gibt Ihnen an meinem Freunde einen zweiten Sohn, der aller Ihrer Achtung und Güte würdig ist. — Sie haben oft gewünscht, dass unsre Sophie glücklich sein möge. Ihre Verbindung mit dem geistvollen, rechtschaffenen Mann wird diesen mütterlichen Wunsch erfüllen. Legen Sie Ihre Hand auf die Hände Ihrer Kinder; ich weiss, dass der mütterliche Segen Ihren Herzen heilig und schätzbar ist.“

Die Dame legte ihre Hand auf und sagte: „Meine Kinder! Wenn euch Gott soviel Gutes und Vergnügen schenkt, als ich von ihm für euch erbitten werde, so wird euch nichts mangeln.“ Und nun umarmte der Baron den Obersten als seinen Bruder und auch die glückliche Braut, welcher er für die Gesinnungen, die sie gegen seinen Freund bezeugt hatte, zärtlich dankte. Der Oberste speiste mit ihnen. Fräulein Charlotte kam nicht zur Tafel. Die Trauung geschah ohne vieles Gepränge.

Etliche Tage nach der Hochzeit schrieb

Frau von Sternheim an ihre Frau Mutter

Da mich das schlimme Wetter und eine kleine Unpässlichkeit abhalten, meiner gnädigen Mama selbst aufzuwarten, so will ich doch meinem Herzen das edle Vergnügen nicht versagen, mich schriftlich mit Ihnen zu unterhalten.

Die Gesellschaft meines teuren Gemahls und die Überdenkung der Pflichten, welche mir in dem neuen Kreise meines Lebens angewiesen sind, halten mich in Wahrheit für alle andre Zeitvertreibe und Vergnügungen schadlos; aber sie erneuern auch mit Lebhaftigkeit alle übrigen edlen Empfindungen, die mein Herz jemals genährt hat. Unter diese gehört auch die dankvolle Liebe, welche Ihre Güte seit so vielen Jahren von mir verdient hat, da ich in Ihrer vortrefflichen Seele alle treue und zärtliche Sorgfalt gefunden habe, die ich nur immer von meiner wahren Mutter hätte geniessen können. Und doch muss ich bekennen, dass Ihre gnädige Einwilligung in mein Bündnis mit Sternheim die grösste Wohltat ist, die Sie mir erzeigt haben. Dadurch ist das ganze Glück meines Lebens befestiget worden; welches ich in nichts anderm suche noch erkenne, als in Umständen zu sein, worin man nach seinem eignen Charakter und nach seinen Neigungen leben kann. Dieses war mein Wunsch, und diesen hab’ ich von der Vorsehung erhalten. — Einen nach seinem Geist und Herzen aller meiner Verehrung würdigen Mann; und mittelmässiges, aber unabhängiges Vermögen, dessen Grösse und Ertrag hinreichend ist, unser Haus in einer edlen Genügsamkeit und standesgemäss zu erhalten, dabei aber auch unsern Herzen die Freude gibt, viele Familien des arbeitsamen Landmanns durch Hülfe zu erquicken oder durch kleine Gaben aufzumuntern.

Erlauben Sie, dass ich eine Unterredung wiederhole, welche der teure Mann mit mir gehalten, dessen Namen ich trage.

Nachdem meine gnädige Mama, mein Bruder, meine Schwester und meine Schwägerin abgereiset waren, empfand ich sozusagen das erstemal die ganze Wichtigkeit meiner Verbindung.

Die Veränderung meines Namens zeigte mir zugleich die Veränderung meiner Pflichten, die ich alle in einer Reihe vor mir sah. Diese Betrachtungen, welche meine ganze Seele beschäftigten, wurden, denke ich, durch die äusserlichen Gegenstände lebhafter. Ein anderer Wohnplatz; alle, mit denen ich von Jugend auf gelebt, von mir entfernt; die erste Bewegung über ihre Abreise usw.

Alles dieses gab mir, ich weiss nicht welch ein ernsthaftes Ansehen, das dem Auge meines Gemahls merklich wurde.

Er kam mit dem Ausdruck einer sanften Freudigkeit zu mir in mein Kabinett, wo ich gedankenvoll sass; blieb in der Mitte des Zimmers stehen, betrachtete mich mit zärtlicher Unruhe und sagte:

„Sie sind nachdenklich, liebste Gemahlin! Darf ich Sie stören?“

Ich konnte nicht antworten, reichte ihm aber meine Hand. Er küsste sie, und nachdem er sich einen Stuhl zu mir gerückt hatte, fing er an:

„Ich verehre Ihre ganze Familie; doch muss ich sagen, dass mir der Tag lieb ist, wo alle Gesinnungen meines Herzens allein meiner Gemahlin gewidmet sein können. Gönnen Sie mir Ihr Vertrauen, so wie Sie mir Ihre Hochachtung geschenkt haben; und glauben Sie, dass Sie mit dem Mann, den Sie andern so edelmütig vorgezogen haben, nicht unglücklich sein werden. Ihr väterlich Haus ist nicht weit von uns entfernt, und in diesem hier wird Ihr wohlgesinntes Herz sein Vergnügen finden, mich, meine und Ihre Bediente, meine und Ihre Untertanen glücklich zu machen. Ich weiss, dass Sie seit vielen Jahren bei Ihrer Frau Mutter die Stelle einer Hauswirtin versehen haben. Ich werde Sie bitten, dieses Amt, mit allem, was dazu gehört, auch in diesem Hause zu führen. Sie werden mich dadurch sehr verbinden; indem ich gesinnet bin, alle meine Musse für das Beste unsrer kleinen Herrschaft zu verwenden. Ich setze dieses nicht allein darin, Güte und Gerechtigkeit auszuüben, sondern auch in der Untersuchung; ob nicht die Umstände meiner Untertanen in andrer Austeilung der Güter, in Besorgung der Schulen, des Feldbaues und der Viehzucht zu verbessern seien? Ich habe mir von allen diesen Teilen einige Kenntnis erworben; denn in dem glücklichen Mittelstande der menschlichen Gesellschaft, worin ich geboren wurde, sieht man die Anbauung des Geistes, und die Ausübung der meisten Tugenden nicht nur als Pflichten, sondern auch als den Grund unsers Wohlergehens an; und ich werde mich dieser Vorteile allezeit dankbarlich erinnern, weil ich Ihnen das unschätzbare Glück Ihrer Liebe schuldig bin. Wäre ich mit dem Rang und Vermögen geboren worden, die ich itzt besitze, so wäre vielleicht mein Eifer, mir einen Namen zu machen, nicht so gross gewesen. Was ich aber in dem Schicksal meiner verflossnen Jahre am meisten liebe, ist der Vater, den es mir gab; weil ich gewiss in andern Umständen keinen so treuen und weisen Führer meiner Jugend gehabt hätte, als er für mich war. Er verbarg mir aus weiser Übelegung und Kenntnis meines Gemüts (vielleicht des ganzen menschlichen Herzens überhaupt), den grössten Teil seines Reichtums; einmal um der Nachlässigkeit vorzubeugen, mit welcher einzige und reiche Söhne den Wissenschaften obliegen; und dann die Verführung zu vermeiden, denen diese Art junger Leut ausgesetzt ist; und weil er dachte, wann ich einmal die Kräfte meiner Seele für mich und andere wohl zu gebrauchen gelernt hätte, so würde ich einst auch von den Glücksgütern einen klugen und edeln Gebrauch zu machen wissen. Daher suchte mich mein Vater zuerst durch Tugend und Kenntnisse moralisch gut und glücklich zu machen, ehe er mir die Mittel in die Hände gab, durch welche man alle Gattungen von sinnlichem Wohlstand und Vergnügen für sich und andre erlangen und austeilen kann. Die Liebe und Übung der Tugend und der Wissenschaften, sagte er, geben ihrem Besitzer eine von Schicksal und Menschen unabhängige Glückseligkeit und machen ihn zugleich durch das Beispiel, das seine edle und gute Handlungen geben, durch den Nutzen und das Vergnügen, das sein Rat und Umgang schaffen, zu einem moralischen Wohltäter an seinen Nebenmenschen. Durch solche Grundsätze und eine darauf gegründete Erziehung machte er mich zu einem würdigen Freund Ihres Bruders; und wie ich mir schmeichle, zu dem nicht unwürdigen Besitzer Ihres Herzens. Die Hälfte meines Lebens ist vorbei. Gott sei Dank, dass sie weder mit sonderbaren Unglücksfällen noch Vergehungen wider meine Pflichten bezeichnet ist! — Der gesegnete Augenblick, wo das edle gütige Herz der Sophie P. zu meinem Besten gerührt war, ist der Zeitpunkt, in welchem der Plan für das wahre Glück meiner übrigen Tage vollführt wurde. Zärtliche Dankbarkeit und Verehrung wird die stete Gesinnung meiner Seele für Sie sein.“

Hier hielt er inne, küsste meine beiden Hände und bat mich um Vergebung, dass er so viel geredet hätte.

Ich konnte nichts anders, als ihn versichern, dass ich mit Vergnügen zugehört und ihn bäte, fortzufahren, weil ich glaubte, er hätte mir noch mehr zu sagen.

„Ich möchte Sie nicht gerne ermüden, liebste Gemahlin; aber ich wünsche, dass Sie mein ganzes Herz sehen könnten. — Ich will also, weil Sie es zu wünschen scheinen, nur noch einige Punkte berühren.

Ich habe mir angewöhnt, in allen Stufen, die ich in Erlernung der Wissenschaften oder in meinen Militär-Diensten zu ersteigen hatte, mich sorgfältig nach allen Pflichten umzusehen, die ich darin in Absicht auf mich selbst, meine Obern und die übrigen zu erfüllen verbunden war. Nach dieser Kenntnis teilte ich meine Aufmerksamkeit und meine Zeit ab. Mein Ehrgeiz trieb mich, alles, was ich zu tun schuldig war, ohne Aufschub und auf das Vollkommenste zu verrichten. War es geschehen, so dachte ich auch an die Vergnügungen, die meiner Gemütsart die gemässesten waren. Gleiche Überlegungen habe ich über meine itzigen Umstände gemacht; und da finde ich mich mit vierfachen Pflichten beladen. Die erste, gegen meine liebenswürdige Gemahlin, welche mir leicht ist, weil immer mein ganzes Herz zu ihrer Ausübung bereit sein wird. — Die zwote gegen Ihre Familie und den übrigen Adel, denen ich, ohne jemals schmeichlerisch und unterwürfig zu sein, durch alle meine Handlungen den Beweis zu geben suchen werde, dass ich der Hand von Sophien P. und der Aufnahme in die freiherrliche Klasse nicht unwürdig war. Die dritte Pflicht geht die Personen von demjenigen Stande an, aus welchem ich herausgezogen bin. Diese will ich niemals zu denken veranlassen, dass ich meinen Ursprung vergessen habe. Sie sollen weder Stolz noch niederträchtige Demut bei mir sehen. Viertens treten die Pflichten gegen meine Untergebene ein, für deren Bestes ich auf alle Weise sorgen werde, um ihrem Herzen die Unterwürfigkeit, in welche sie das Schicksal gesetzt hat, nicht nur erträglich, sondern angenehm zu machen, und mich so zu bezeugen, dass sie mir den Unterschied, welchen zeitliches Glück zwischen mir und ihnen gemacht hat, gerne gönnen sollen.

Der rechtschaffene Pfarrer in P. will mir einen wackern jungen Mann zum Seelsorger in meinem Kirchspiele schaffen, mit welchen ich gar gerne einen schon lang gemachten Wunsch für einige Abänderungen in der gewöhnlichen Art, das Volk zu unterrichten, veranstalten möchte. Ich habe mich gründlich von der Güte und dem Nutzen der grossen Wahrheiten unsrer Religion überzeugt; aber die wenige Wirkung, die ihr Vortrag auf die Herzen der grössten Anzahl der Zuhöre macht, gab mir eher einen Zweifel in die Lehrart, als den Gedanken ein, dass das menschliche Herz durchaus so sehr zum Bösen geneigt sei, als manche glauben. Wie oft kam ich von Anhörung der Kanzelrede eines berühmten Mannes zurück, und wenn ich dem moralischen Nutzen nachdachte, den ich daraus gezogen, und dem, welchen der gemeine Mann darin gefunden haben könnte, so fand ich in Wahrheit viel Leeres für den letztern dabei; und derjenige Teil, welchen der Prediger dem Ruhme der Gelehrsamkeit oder dem ausführlichen, aber nicht allzuverständlichen Vortrag mancher spekulativer Sätze gewidmet hatte, war für die Besserung der meisten verloren, und das gewiss nicht aus bösem Willen der letztern.

Denn wenn ich, der von Jugend auf meine Verstandskräfte geübt hatte, und mit abstrakten Ideen bekannt war, Mühe hatte, nützliche Anwendungen davon zu machen, wie sollte der Handwerksmann und seine Kinder damit zurechte kommen? Da ich nun weit von dem unfreundlichen Stolz entfernt bin, der unter Personen von Glück und Rang den Satz erdacht hat, ,man müsse dem gemeinen Mann weder aufgeklärte Religionsbegriffe geben, noch seinen Verstand erweitern‘, so wünsche ich, dass mein Pfarrer, aus wahrer Güte gegen seinen Nächsten, und aus Empfindung des ganzen Umfangs seiner Obliegenheiten, zuerst bedacht wäre, seiner anvertrauten Gemeine das Mass von Erkenntnis beizubringen, welches ihnen zu freudiger und eifriger Erfüllung ihrer Pflichten gegen Gott, ihre Obrigkeit, ihren Nächsten und sich selbst nötig ist. Der geringe Mann ist mit der nämlichen Begierde zu Glück und Vergnügen geboren wie der grössere und wird, wie dieser, von den Begierden oft auf Abwege geführt. Daher möchte ich ihnen auch richtige Begriffe von Glück und Vergnügen geben lassen. Den Weg zu ihren Herzen, glaube ich, könne man am ehesten durch Betrachtungen über die physikalische Welt finden, von der sie am ersten gerührt werden, weil jeder Blick ihrer Augen, jeder Schritt ihrer Füsse sie dahin leitet. — Wären erst ihre Herzen durch Erkenntnis der wohltätigen Hand ihres Schöpfers geöffnet, und durch historische Vergleichungen von ihrem Wohnplatz und ihren Umständen mit dem Aufenthalt und den Umständen andrer Menschen, die ebenso wie sie Geschöpfe Gottes sind, zufriedengestellt, so zeigte man ihnen auch die moralische Seite der Welt, und die Verbindlichkeiten, welche sie darin zu einem ruhigen Leben für sich selbst, zum Besten der Ihrigen und zur Versicherung eines ewigen Wohlstands zu erfüllen haben. Wenn mein Pfarrer nur mit dem guten Bezeugen der letzten Lebenstage seiner Pfarrkinder zufrieden ist, so werde ich sehr unzufrieden mit ihm sein. Und wenn er die Besserung der Gemüter nur durch sogenannte Gesetz- und Strafpredigten erhalten will, ohne den Verstand zu öffnen und zu überzeugen, so wird er auch nicht mein Pfarrer sein. — Wenn er aufmerksamer auf den Fleiss im Kirchengehen ist als auf die Handlungen des täglichen Lebens, so werde ich ihn für keinen wahren Menschenfreund und für keinen guten Seelsorger halten.

Auf die Schule, die gute Einrichtung derselben und die angemessene Belohnung des Schulmeisters werde ich alle Sorge tragen, mit der nötigen Nachsicht verbunden, welche die Schwachheit des kindlichen Alters erfordert. Es soll darin ein doppelter Katechismus gelehrt werden; nämlich der von den Christenpflichten, wie er eingeführt ist, und bei jedem Hauptstück eine deutliche, einfache Anwendung dieser Grundsätze auf ihr tägliches Leben; und dann ein Katechismus von gründlicher Kenntnis des Feld- und Gartenbaues, der Viehzucht, der Besorgung der Gehölze und Waldungen und dergleichen, als Pflichten des Berufs und der Wohltätigkeit gegen die Nachkommenschaft. Überhaupt wünsche ich, meine Untertanen erst gut gegen ihren Nächsten zu sehen, ehe sie einen Anspruch an das Lob der Frömmigkeit machen.

Dem Beamten, den ich hier angetroffen, werde ich seinen Gehalt und die Besorgung der Rechnung lassen; aber zur Justizverwaltung und Aufsicht auf die Befolgung der Gesetze und auf Polizei und Arbeitsamkeit werde ich den wackern jungen Mann gebrauchen, dessen Bekanntschaft ich in P. gemacht habe. Diesem, und mir selbst, will ich suchen, das Vertrauen meiner Untertanen zu erwerben, um alle ihre Umstände zu erfahren und als wahrer Vater und Vormünder ihre Angelegenheiten besorgen zu können. Guter Rat, freundliche Ermahnung, auf Besserung, nicht auf Unterdrückung abzielende Strafen sollen die Hülfsmittel dazu sein; und mein Herz müsste sich in seiner liebreichen Hoffnung sehr traurig betrogen finden, wenn die sorgfältige Ausübung der Pflichten des Herrn auf meiner, und eine gleiche Bemühung des Pfarrers und der Beamten auf ihrer Seite nebst dem Beispiel der Güte und Wohltätigkeit, nicht einen heilsamen Einfluss auf die Gemüter meiner Untergebenen hätte.“

Hier hörte er auf und bat mich um Vergebung, so viel und so lange geredet zu haben.

„Sie müssen müde worden sein, teure Sophie“, sagte er, indem er einen seiner Arme um mich schlang.

Was blieb mir in der vollen Regung meines Herzens übrig zu tun, als ihn mit Freudentränen zu umarmen? —

„Müde, mein liebster Gemahl? Wie könnte ich müde werden über die glückliche Aussicht in meine künftigen Tage, die von Ihrer Tugend und Menschenliebe bezeichnet sein werden?“ —

Geliebte Frau Mutter, wie gesegnet ist mein Los? Gott erhalte Sie noch lange, um ein Zeuge davon zu sein.

Niemand war glücklicher als Sternheim und seine Gemahlin, deren Fussstapfen von ihren Untertanen verehrt wurden. Gerechtigkeit und Wohltätigkeit wurde in dem kleinen Umkreis ihrer Herrschaft in gleichem Masse ausgeübt. Alle Proben von Landbau-Verbesserung wurden auf herrschaftlichen Gütern zuerst gemacht; alsdann den Untertanen gelehrt und dem Armen, der sich am ersten willig zur Veränderung zeigte, der nötige Aufwand umsonst dazu gereicht; — weil Herr von Sternheim wohl einsah, dass der Landmann auch das Nützlichste, wenn es Geldauslagen, und die Missung eines Stücks Erdreichs erforderte, ohne solche Aufmunterungen niemals eingehen werde. Aber was ich ihnen anfangs gebe, sagte er, trägt mir mit der Zeit der vermehrte Zehnte ein, und die guten Leute werden durch die Erfahrung am besten überzeugt, dass es wohl mit ihnen gemeint war.

Ich kann nicht umhin (ungeachtet es mich von dem Hauptgegenstand meiner Erzählung noch länger entfernt), Ihnen zu einer Probe der gemeinnützlichen und wohltätigen Veranstaltungen, in deren Erfindung und Ausführung dieses vortreffliche Paar einen Teil seiner Glückseligkeit setzte, einige Nachricht von dem Armenhause zu S. zu geben, welches nach meinem Begriff ein Muster guter Einrichtung ist; und ich kann es nicht besser tun, als indem ich Ihnen einen Auszug eines Schreibens des Baron von P. an seine Frau Mutter über diesen Gegenstand mitteile.

Wie getreu erfüllt mein Freund das Versprechen, welches ich Ihnen für das Glück unsrer Sophie gemacht habe! — Wie angenehm ist der Eintritt in dieses Haus, worin die edelste Einfalt und ungezwungenste Ordnung der ganzen Einrichtung ein Ansehn von Grösse geben! Die Bedienten mit freudiger Ehrerbietung und Emsigkeit auf Ausübung ihrer Pflichten bedacht! — Der Herr und die Frau mit dem Ausdruck der Glückseligkeit, die aus Güte und Klugheit entspringt; beide mich für meine entschlossene Verwendung für ihr Bündnis segnend! Und wie sehr unterscheiden sich die zwei kleinen Dörfer meines Bruders von allen grössern und volkreichern, die ich bei meiner Zurückreise von Hofe gesehen habe! Beide gleichen durch die muntere und emsige Arbeitsamkeit ihrer Einwohner zween wohlangelegten Bienenstöcken, und Sternheim ist reichlich für die Mühe belohnt, die er sich gegeben, eine schicklichere Einteilung der Güter zu machen, durch welche jeder von den Untertanen just so viel bekommen hat, als er Kräfte und Vermögen hatte anzubauen. Aber die Verwendung des neu erkauften Hofguts von dem Grafen A., welches gerade zwischen den zweien Dörfern liegt, dies wird ein segensvoller Gedanke in der Ausführung sein!

Es ist zu einem Armenhause für seine Untertanen zugerichtet worden. Auf einer Seite, unten, die Wohnung für einen wackern Schulmeister, der zu alt geworden, dem Unterricht der Kinder noch nützlich vorzustehen, und nun zum Oberaufseher über Ordnung und Arbeit bestellt wird; oben, die Wohnung des Arztes, welcher für die Kranken des Armenhauses und der beiden Dörfer sorgen muss. Arbeiten sollen alle nach Kräften zur Sommerszeit in einer nahe daran angelegten Sämerei und einem dazu gehörigen Gemüsgarten. Beider Ertrag ist für die Armen bestimmt. An Regenund Wintertagen sollen die Weibsleute Flachs, und die dazu taugliche Männer Wolle spinnen, welche auch für ihr und anderer Notleidenden Leinen und Kleidung verwandt wird. Sie bekommen gut gekochtes gesundes Essen. Der Hausmeister betet morgens und abends mit ihnen. Die Weibspersonen arbeiten in einer und die Mannspersonen in der andern Stube, welche beide durch einen Ofen erwärmt werden. In der von den Weibsleuten isst man; denn weil diese den Tisch decken und für die Näharbeit und die Wäsche sorgen müssen, so ist ihre Stube grösser. Diejenige arme Witwe oder alte ledige Weibsperson, welche das beste Zeugnis von Fleiss und gutem Wandel in den Dörfern hatte, wird Oberaufseherin und Anordnerin, so wie es der arme Mann, der ein solches Zeugnis hat, unter den Männern ist. Zu ihrem Schlafplatz ist der obere Teil des Hauses in zween verschiedne Gänge durch eine volle Mauer geteilt, auf deren jedem fünf Zimmer sind, jedes mit zween Betten und allen Notdürftigkeiten für jedes insbesondere; auf einer Seite gegen den Garten, die Männer; und auf der gegen das Dorf, die Weiber; je zwei in einem Gemach, damit, wenn einem was zustösst, das andere Hülfe leisten oder suchen kann. Von der Mitte des Fensters an geht eine hölzerne Schiedwand von der Decke bis auf den Boden, etliche Schuh lang über die Länge der Bettstellen, so dass beide auf eine gewisse Art allein sein können, und auch, wenn eines krank wird, das andre seinen Teil gesunde Luft besser erhalten kann. Auf diese zween Gänge führen zwo verschiedne Stiegen, damit keine Unordnung entstehen möge.

Unter dem guten Hausmeister stehen auch die Knechte, die den Bau des Feldguts besorgen müssen; und da ihnen ein besserer Lohn als sonstwo bestimmt ist, so nimmt man auch die besten und des Feldbaues verständigsten Arbeiter, wobei zugleich auf solche, die einen guten Ruf haben, vorzüglich gesehen wird.

Fremden Armen soll ein mässiges Almosen abgereicht und dabei Arbeit angeboten werden, wofür sie Taglohn bekommen und eine Stunde früher aufhören dürfen, um das nächste fremde Dorf, so fünfviertel Stunden davon liegt, noch bei Tag erreichen zu können. Sternheim hat auf seine Kosten einen schnurgeraden Weg mit Bäumen umpflanzt dahin machen lasser: so wie er auch von dem einen seiner Dörfer zum andern getan hat. Nachts müssen die bestellten Wächter der beiden Ortschaften wechselsweise bis ans Armenhaus gehen und die Stunden ausrufen. Meine Schwester will ein klein Findelhaus für arme Waisen dabei stiften, um Segen für das Kind zu sammeln, welches sie unter ihrem liebreichen, wohltätigen Herzen trägt. Mein Gedanke, gnädige Mama, ist, in meiner grössern und weitläuftigern Herrschaft auch eine solche Armenanstalt zu machen, und womöglich mehrere Edelleute, ein gleiches zu tun, zu überreden.

Fremde und einheimische Bettler bekommen bei keinem Bauern nichts. Diese geben bloss nach Vermögen und freiem Willen, nach jeder Ernte ein Almosen in das Haus, und so werden alle Armen menschlich und ohne Missbrauch der Wohltäter versorgt. Auf Säufer, Spieler, Ruchlose und Müssiggänger ist eine Strafe teils an Fronarbeit, teils an Geld gelegt, welches zum Nutzen des Armenhauses bestimmt ist. — Künftigen Monat werden vier Manns- und fünf Weibspersonen das Haus beziehen, meine Schwester fährt alle Tage hin, um die völlige Einrichtung zu machen. In der Sonntagspredigt wird der Pfarrer über die Materie von wahrem Almosen und von würdigen Armen eine Rede halten und der ganzen Gemeinde die Stiftung und die Pflichten derer, welche darin aufgenommen werden, vorlesen. Sodann ruft er die Aufgenommenen mit ihrem Namen vor den Altar und redet ihnen insbesondere zu über die rechte Anwendung dieser Wohltat und ihr Verhalten in den letzten und ruhigen Tagen ihres Lebens gegen Gott und ihren Nächsten; dem Hausmeister, dem Arzt und der Hausmeisterin desgleichen über ihre obliegenden Pflichten. Zu diesem Vorgang werden wir alle von P. aus kommen, ich bin’s gewiss.

Der benachbarte Adel ehrte und liebte den Obersten Sternheim so sehr, dass man ihn bat, auf einige Zeit junge Edelleute in sein Haus zu nehmen, welche von ihren Reisen zurückgekommen waren und nun vermählt werden sollten, um den Stamm fortzuführen. Da wollte man sie die wahre Landwirtschaft eines Edelmanns einsehen und lernen lassen. Unter diesen war der junge Graf Löbau, welcher in diesem Hause die Gelegenheit hatte, das endlich ruhig gewordene Fräulein Charlotte P. kennenzulernen und sich mit ihr zu verbinden.

Herr von Sternheim nahm die edle Beschäftigung, diesen jungen Herren richtige Begriffe von der Regierung der Untertanen zu geben, recht gerne auf sich. Seine Menschenliebe erleichterte ihm diese Mühe durch den Gedanken: vielleicht gebe ich ihnen den so nötigen Teil von Mitleiden gegen Geringe und Unglückliche, deren hartes und mühseliges Leben durch die Unbarmherzigkeit und den Stolz der Grossen so oft erschwert und verbittert wird. Überzeugt, dass das Beispiel mehr wirkt als weitläuftige Gespräche, nahm er seine junge Leute überall mit sich, und wie es der Anlass forderte, handelte er vor ihnen. Er machte ihnen die Ursachen begreiflich, warum er dieses verordnet, jenes verboten, oder diese oder jene andere Entscheidung gegeben; und je nach der Kenntnis, die er von den Gütern eines jeden hatte, fügte er kleine Anwendungen für sie selbst hinzu. Sie waren Zeugen von allen seinen Beschäftigungen und nahmen Anteil an seinen Ergötzlichkeiten; bei Gelegenheit der letztern bat er sie oft inständig, die Ihrigen ja niemals auf Unkosten ihrer armen Untertanen zu suchen; wozu vornehmlich die Jagd einen grossen Anlass gebe. Er nannte sie ein anständiges Vergnügen, welches aber ein liebreicher, menschlicher Herr allezeit mit dem Besten seiner Untertanen zu verbinden suche. Auch die Liebe zum Lesen war eine von den Neigungen, die er ihnen zu geben suchte, und besonders gab ihm die Geschichte Gelegenheit von der moralischen Welt, ihren Übeln und Veränderungen zu reden, die Pflichten der Hof- und Kriegsdienste auszulegen und ihren Geist in der Überlegung und Beurteilung zu üben. Die Geschichte der moralischen Welt, sagte er, macht uns geschickt, mit den Menschen umzugehen, sie zu bessern, zu tragen und mit unserm Schicksal zufrieden zu sein; aber die Beobachtung der physikalischen Welt macht uns zu guten Geschöpfen in Absicht auf unsern Urheber. Indem sie uns unsre Unmacht zeigt, hingegen seine Grösse, Güte und Weisheit bewundern lehrt, lernen wir ihn auf eine edle Art lieben und verehren; ausser dem, dass uns diese Betrachtungen sehr glücklich über mancherlei Kummer und Verdriesslichkeiten trösten und zerstreuen, die in der moralischen Welt über dem Haupte des Grossen und Reichen oft in grösserer Menge gehäuft sind als in der Hütte des Bauren, den nicht viel mehr Sorgen als die für seine Nahrung drücken.

So wechselte er mit Unterredungen und Beispiel ab. In seinem Hause sahen sie, wie glücklich die Vereinigung eines rechtschaffenen Mannes mit einer tugendhaften Frau seie. Zärtliche, edle Achtung war in ihrem Bezeugen; und die Dienerschaft ehrfurchtsvoll und bereit, ihr Leben für die ebenso gnädige als ernstliche Herrschaft zu lassen.

Sternheim hatte auch die Freude, dass alle diese junge Herren erkenntliche und ergebene Freunde von ihm wurden, welche in ihrem Briefwechsel sich immer bei ihm Rats erholten. Der Umgang mit dem verehrungswürdigen Baron P., der ihnen öfters kleine Feste gab, hatte viel zu ihrer Vollkommenheit beigetragen.

Seine Gemahlin hatte ihm eine Tochter gegeben, welche sehr artig heranwuchs und von ihrem neunten Jahr an (da Sternheim das Unglück hatte, ihre Mutter in einem Wochenbette zugleich mit dem neugebornen Sohne zu verlieren) der Trost ihres Vaters und seine einzige Freude auf Erden war, nachdem auch der Baron P. durch einen Sturz vom Pferde in so schlechte Gesundheitsumstände geraten, dass er wenige Monate darauf ohne Erben verstorben war. Dieser hatte in seinem Testamente nicht nur seine vortreffliche Frau wohl bedacht, sondern nach den Landesrechten die Gräfin von Löbau, seine jüngere Schwester und die junge Sophie von Sternheim, als die Tochter der älteren Schwester, zu Haupterben eingesetzt; welches zwar dem Grafen und der Gräfin als unrecht vorkam, aber dennoch Bestand hatte.

Die alte Frau von P., von Kummer über den frühen Tod ihres Sohnes beinahe ganz niedergedrückt, nahm ihren Wohnplatz bei dem Herrn von Sternheim und diente der jungen Fräulein zur Aufsicht. Der Oberste machte ihr durch seine ehrerbietige Liebe und sein Beispiel der geduldigsten Unterwerfung viele Erleichterung in ihrem Gemüte. Der edeldenkende Pfarrer und seine Töchter waren beinahe die einzige Gesellschaft, in welcher sie Vergnügen fanden. Gleichwohl genoss das Fräulein von Sternheim die vortrefflichste Erziehung für ihren Geist und für ihr Herz. Eine Tochter des Pfarrers, die mit ihr gleiches Alter hatte, wurde ihr zugegeben, teils einen Wetteifer im Lernen zu erregen, teils zu verhindern, dass die junge Dame nicht in ihrer ersten Jugend lauter düstre Eindrücke sammeln möchte, welches bei ihrer Grossmutter und ihrem Vater leicht hätte geschehen können. Denn beide weinten oft über ihren Verlust, und dann führte Herr von Sternheim das zwölfjährige Fräulein bei der Hand zu dem Bildnis ihrer Mutter und sprach von ihrer Tugend und Güte des Herzens mit solcher Rührung, dass das junge Fräulein knieend bei ihm schluchzte und oft zu sterben wünschte, um bei ihrer Frau Mutter zu sein. Dieses machte den Obersten fürchten, dass ihre empfindungsvolle Seele einen zu starken Hang zu melancholischer Zärtlichkeit bekommen und durch eine allzusehr vermehrte Reizbarkeit der Nerven unfähig werden möchte, Schmerzen und Kummer zu ertragen. Daher suchte er sich selbst zu bemeistern und seiner Tochter zu zeigen, wie man das Unglück tragen müsse, welches die Besten am empfindlichsten rührt, und weil das Fräulein eine grosse Anlage von Verstand zeigte, beschäftigte er diesen mit der Philosophie nach allen ihren Teilen, mit der Geschichte und den Sprachen, von denen sie die englische zur Vollkommenheit lernte. In der Musik brachte sie es auf der Laute und im Singen zur Vollkommenheit. Das Tanzen, soviel eine Dame davon wissen soll, war eine Kunst, welche eher von ihr eine Vollkommenheit erhielt, als dass sie dem Fräulein welche hätte geben sollen; denn nach dem Ausspruch aller Leute gab die unbeschreibliche Anmut, welche die junge Dame in allen ihren Bewegungen hatte, ihrem Tanzen einen Vorzug, den der höchste Grad der Kunst nicht erreichen konnte.

Neben diesen täglichen Übungen erlernte sie mit ungemeiner Leichtigkeit alle Frauenzimmerarbeiten, und von ihrem sechszehnten Jahre an bekam sie auch die Führung des ganzen Hauses, wobei ihr die Tag- und Rechnungsbücher ihrer Frau Mutter zum Muster gegeben wurden. Angeborne Liebe zur Ordnung und zum tätigen Leben, erhöht durch eine enthusiastische Anhänglichkeit für das Andenken ihrer Mutter, deren Bild sie in sich erneuern wollte, brachten sie auch in diesem Stücke zu der äussersten Vollkommenheit. Wenn man ihr von ihrem Fleiss und von ihren Kenntnissen sprach, war ihre bescheidene Antwort: willige Fähigkeiten, gute Beispiele und liebreiche Anführung haben mich so gut gemacht, als tausend andre auch sein könnten, wenn sich alle Umstände so zu ihrem Besten vereinigt hätten wie bei mir. —

Übrigens war zu allem, was Engländisch hiess, ein vorzüglicher Hang in ihrer Seele, und ihr einziger Wunsch war, dass ihr Herr Vater einmal eine Reise dahin machen und sie den Verwandten ihrer Grossmutter zeigen möchte.

So blühte das Fräulein von Sternheim bis nach ihrem neunzehnten Jahre fort, da sie das Unglück hatte, ihren würdigen Vater an einer auszehrenden Krankheit zu verlieren, der mit kummervollem Herzen seine Tochter dem Grafen Löbau und dem vortrefflichen Pfarrer in S. als Vormündern empfahl. An den letztern hat er einige Wochen vor seinem Tode folgenden Brief geschrieben.

Herr von St. anden Pfarrer zu S**.