Die Geschichte des Terrorismus - Tobias Hof - E-Book

Die Geschichte des Terrorismus E-Book

Tobias Hof

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Beschreibung

Gruppen wie der Ku-Klux-Klan, die Irish Republican Army, die Rote Armee Fraktion oder der Islamische Staat tragen damals wie heute dazu bei, dass das Thema Terrorismus und dessen Bekämpfung stets präsent sind. Tobias Hof gibt in seinem Lehrbuch einen historischen Überblick zum komplexen Phänomen des Terrorismus, dessen Varianten sowie dessen Bekämpfung. Er zieht dabei mithilfe anschaulicher Beispiele und aktueller Bezüge einen chronologischen Bogen vom Tyrannenmord in der Antike über die Entstehung des „modernen“ Terrorismus zur terroristischen Gewalt im Zeitalter der Weltkriege bis hin zum transnationalen Terrorismus im 21. Jahrhundert.

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Seitenzahl: 779

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Tobias Hof

Die Geschichte des Terrorismus

Von der Antike bis zur Gegenwart

UVK Verlag · München

Umschlagabbildung: Terroranschlag in der Wall Street, 1920. © https://commons. wikimedia.org/wiki/File:Wall_St._LCCN2014711361.jpg

 

© UVK Verlag 2022— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

ISBN 978-3-8252-5848-1 (Print)

ISBN 978-3-8463-5848-1 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Einführung1.1 Was ist Terrorismus?1.2 Spielarten des Terrorismus1.3 Anti-Terrorismus-Politik2 Die Vorläufer2.1 Der Tyrannenmord: Von der Antike bis zur Neuzeit2.2 Die Sikarier2.3 Die Assassinen3 Die Geburt des modernen Terrorismus3.1 Die Französische Revolution und das régime de la terreur3.2 Sozialrevolutionärer Terrorismus3.3 Die anarchistische Welle3.4 Die Anfänge des ethnisch-nationalistischen Terrorismus3.5 Rassistischer Terrorismus in den USA: Der Ku-Klux-Klan4 Terroristische Gewalt im Zeitalter der Weltkriege4.1 Die Organisation Consul: Rechtsterrorismus in der Weimarer Republik4.2 Rechtsterrorismus und Faschismus4.3 Die Auflösung des britischen Empire: Der Fall Palästina5 Terrorismus während des Kalten Kriegs5.1 Freiheitskämpfer oder Terroristen? Das Ende der Europäischen Kolonialreiche5.2 Internationalisierung des Terrorismus: Die PLO5.3 Sozialrevolutionärer Terrorismus der Neuen Linken5.4 Separatismus trifft Marxismus: Terrorismus und „Anti-Imperialistischer Befreiungskampf“5.5 Die „Schwarzen Jahrzehnte“: Rechtsterrorismus in den 1970er und 1980er Jahren5.6 Der Aufstieg des religiös motivierten Terrorismus5.7 Kalter Krieg und staatlich subventionierter Terrorismus in Südamerika6 Der transnationale Terrorismus im 21. Jahrhundert6.1 Al-Qaida, 9/11 und der „War on Terror“6.2 Das Phänomen IS6.3 Anders Breivik und der neue „Kreuzzug“ der Rechtsterroristen7 Fazit8 Chronologie9 Abkürzungsverzeichnis10 Literaturverzeichnis (Auswahl)RegisterAbbildungsverzeichnis

Vorwort

Ein komplexes und umfangreiches Thema wie die Geschichte des Terrorismus von seinen Anfängen bis zur Gegenwart mit einer guten Lesbarkeit und zugleich einem hohen wissenschaftlichen Anspruch zu verfassen, ist kein leichtes Unterfangen. Grundlegende Fragen gilt es zunächst zu klären: Welcher Zeithorizont soll behandelt werden? Inwieweit kann und soll das Phänomen „Terrorismus“ aus einer globalen Perspektive betrachtet werden? Sollen auch Anti-Terrorismus-Maßnahmen angesprochen werden? Und über all diesen Problemen steht die Kernfrage: Was ist eigentlich „Terrorismus“?

Zahlreiche Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen waren mir bei der Klärung dieser Fragen und der Konzeptualisierung des Lehrbuchs genauso hilfreich, wie bereits vorliegende Überblicksstudien zum Thema „Terrorismus“. Dabei habe ich mich vor allem an anglo-amerikanischen Studien orientiert, die im Gegensatz zur deutschsprachigen Literatur nicht nur in größerer Quantität vorliegen, sondern oftmals auch einen breiteren zeitlichen und geografischen Horizont abbilden. Zu nennen wären unter anderem die Arbeiten von Michael Burleigh, Martha Crenshaw, Bruce Hoffman und Randall Law. Besonders hilfreich waren auch die Beiträge im Oxford Handbook on the History of Terrorism, das von Carola Dietze und Claudia Verhoeven herausgegeben wurde, sowie im von Richard English herausgegebenen Band The Cambridge History of Terrorism.

Es ist mein Anliegen in diesem Lehrbuch die großen Entwicklungslinien des Phänomens „Terrorismus“ anhand ausgewählter Fallbeispiele nachzuzeichnen und in den historischen Kontext einzubetten. Ich habe mich bemüht, aussagekräftige Beispiele zu wählen, die einen bedeutenden Platz in der Geschichte des Terrorismus einnahmen und Terrorismus als ein transnationales Phänomen abbilden. Dabei war es nicht immer zu vermeiden, bestimmte Ereignisse und Gruppen teils sehr verkürzt und vereinfacht darzustellen oder gänzlich wegzugelassen. Letztlich bildet ein kompaktes Lehrbuch über die Geschichte des Terrorismus stets nur eine Geschichte des Terrorismus ab.

Schmerzliche Entscheidungen mussten getroffen werden und so mögen einige der Leserinnen und Leser manchen Aspekt, manch wichtige Ereignisse vermissen. So werden einige Spielarten des Terrorismus wie der Umweltterrorismus, der Incel-Terrorismus oder der Cyber-Terrorismus genauso wenig behandelt wie die Geschlechtergeschichte des Terrorismus oder die Perspektive der Opfer. Ferner wird die Anti-Terrorismus-Politik immer nur dann miteinbezogen, wenn sie die Entwicklung terroristischer Organisationen maßgeblich beeinflusste. Mit Hilfe der ausgewählten Dokumente und Bilder wurde dennoch versucht, der Anti-Terrorismus-Politik und den Opfern terroristischer Gewalt eine Stimme zu geben.

Der Anspruch dieses Buchs ist somit nicht, das Phänomen „Terrorismus“ von der Antike bis zur Gegenwart in seiner Vollständigkeit abzubilden – ein solcher Anspruch wäre in dem vorgegebenen Rahmen auch niemals zu erfüllen. Vielmehr soll das Buch eine Einführung in das Thema bieten, die eine erste Orientierung gibt und vor allem eine nützliche Basis für eine weitere Beschäftigung darstellt.

Das vorliegende Lehrbuch wäre ohne die Unterstützung und Hilfe von vielen Personen nicht entstanden, die sich mit dem Gesamtmanuskript oder einzelnen Abschnitten kritisch auseinandersetzten. All ihnen bin ich zu größtem Dank verpflichtet. Insbesondere möchte ich Bernhard Blumenau, Johannes Dafinger, Johannes Hürter, Klaus, Larres, Hanna Pfeifer und Thomas Riegler für die vielen Anregungen und ihre konstruktive Kritik danken.

Ein besonderer Dank geht an Marina Pantele, die mich im März 2020 als Lektorin des UVK-Verlags mit der Idee überraschte, ein Lehrbuch zur Geschichte des Terrorismus zu schreiben. Ohne ihre Initiative wäre dieses Buch niemals entstanden und meine Corona-bedingte Zeit in den eigenen vier Wänden wäre wesentlich unproduktiver verlaufen. Ebenso möchte ich mich herzlich bei Uta Preimesser für Ihre hervorragende Betreuung und die Endredaktion des Manuskripts bedanken.

Und schließlich gilt mein ganzer Dank all meinen Freunden im In- und Ausland und insbesondere meiner Familie. Ohne ihre Hilfe und moralische Unterstützung wäre dieses Buch niemals geschrieben worden.

München, im Februar 2022    Tobias Hof

1Einführung

1.1Was ist Terrorismus?

„Was ist Terrorismus?“ – eine scheinbar einfache Frage, auf die es aber offenbar keine einfache Antwort gibt. So hantieren Institutionen, die mit der Terrorismusbekämpfung betraut sind – seien dies Strafverfolgungsbehörden, Geheimdienste, Ministerien, der Gesetzgeber oder internationale Organisationen –, mit ganz unterschiedlichen Begriffsdefinitionen. Einer der Hauptgründe für diese Uneinheitlichkeit staatlicher Terrorismusdefinitionen ist, dass diese durch das Aufgabengebiet der jeweiligen Behörden und Ministerien geprägt wird. Während das amerikanische Außenministerium Gewalttaten gegen Diplomaten und Zivilisten als terroristische Aktionen einstuft, gelten für das US Department of Homeland Security auch jegliche Anschläge gegen die Infrastruktur als terroristisch. Zeigen diese beiden Beispiele, dass bereits innerhalb eines Landes unterschiedliche Definitionen existieren, so wird die Bandbreite an Begriffsbestimmungen umso heterogener und nahezu unüberschaubar, wenn man die Definitionsansätze unterschiedlicher Staaten in Betracht zieht und gegenüberstellt.1

Auch internationale und multilaterale Organisationen sind bislang gescheitert, sich auf eine allgemeingültige Terrorismusdefinition zu einigen, obwohl manche Versuche bis in das späte 19. Jahrhundert zurückreichen. Nach der Ermordung des jugoslawischen Königs Alexander I.Alexander I., König von Jugoslawien (1888–1934) und des französischen Außenministers Louis BarthouBarthou, Louis (1862–1934) im Jahr 1934 (Abb. 9) verabschiedete der VölkerbundVölkerbund drei Jahre später die „Konvention zur Verhütung und Bekämpfung des TerrorismusKonvention zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus“ (Dok. VII). Als terroristische Aktionen wurden Taten bezeichnet, „die gegen einen Staat gerichtet sind und das Ziel verfolgen, bestimmte Personen, eine Gruppe von Menschen oder die Allgemeinheit in einen Zustand der Angst zu versetzen.“2 Die Konvention wurde am Ende nur von Indien ratifiziert. Auch nachfolgenden Erklärungen wie der Resolution 1566 des UN-SicherheitsratsVereinte Nationen aus dem Jahr 2004 war ein ähnliches Schicksal vorherbestimmt. Zwar einigte sich das Gremium auf eine Konsensdefinition, aber auch sie blieb rechtlich unverbindlich und unter den Mitgliedstaaten umstritten. Bis heute ist es der UNVereinte Nationen nicht gelungen, eine umfassende, völkerrechtlich verbindliche Konvention gegen den Terrorismus zu erlassen. Entsprechende Verhandlungen laufen seit den 1970er Jahren und sind auch 2022 noch zu keinem konkreten Ergebnis gekommen.

Vereinzelt konnten sich multilaterale Organisationen auf eine gemeinsame Definition des Terrorismusbegriffs einigen, die am Ende auch von den Mitgliedstaaten angenommen wurde. So erließ die EU-Kommission nach den Anschlägen auf das World Trade CenterNew York CityWorld Trade Center, Anschlag auf (2001) Mitte Dezember 2001 folgende Definition, die 2002 vom Europäischen Rat angenommen wurde:

Straftaten werden als terroristisch eingestuft, „wenn sie mit dem Ziel begangen werden (a) die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern oder (b) öffentliche Stellen oder eine internationale Organisation rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder (c) die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören.“ (Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung (2002/475/JI))

Diese Definition wurde maßgeblich durch den institutionellen und zeitlichen Rahmen geprägt, in der sie entstand. Die Extra-Erwähnung von internationalen Organisationen resultiert daraus, dass die Erklärung von einer eben solchen verfasst wurde. Ferner werden Fragen nach den Akteuren und deren Motiven nicht näher thematisiert, was eine Abgrenzung zu benachbarten Gewaltformen wie dem Guerillakampf oder der organisierten Kriminalität erschwert. Letztlich war auch diese Begriffsbestimmung der EU-KommissionEuropäische Union nicht mehr als eine Absichtserklärung im Kampf gegen den Terrorismus und besaß nur begrenzte Auswirkungen auf die strafrechtliche Verfolgung terroristischer Gruppen.

Um dem Dilemma der Begriffsunschärfe zu entgehen, verfolgte die internationale Gemeinschaft oftmals einen sektorspezifischen Ansatz, das heißt es wurden Konventionen und Abkommen ausgearbeitet und verabschiedet, die sich mit einzelnen terroristischen Straftaten befassten. Diese engere – und damit oftmals konsensfähigere – Begriffsannäherung erlaubte es, spezifische Verbrechen als terroristisch einzustufen, die oft eine zentrale Bedeutung in der Strategie und Taktik terroristischer Organisationen besaßen. Dieser Ansatz, der sich unter anderem im Jahr 2005 in der „UN-Konvention zur Verhinderung atomarer terroristischer AkteUN-Konvention zur Verhinderung atomarer terroristischer Akte“ niederschlug, lässt sich bis ins Jahr 1963 zurückdatieren, als am 14. September die Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) das „Abkommen über strafbare und bestimmte andere an Bord von Luftfahrzeugen begangene Handlungen“ (Tokioter AbkommenTokioter Abkommen) verabschiedete. Im Jahr 1977 erließ auch der EuroparatEuroparat das „Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des TerrorismusEuropäisches Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus“, das zahlreiche als terroristisch eingestufte Straftaten aufführte, bei denen eine Auslieferung zwischen den einzelnen Staaten erleichtert werden sollte. Eine allgemeingültige Definition des Phänomens „Terrorismus“ war und ist nicht Ziel dieser Abkommen.

Diese kritischen Anmerkungen gegenüber internationalen Organisationen, Sicherheitsbehörden und Ministerien dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die akademische Literatur zum Thema „Terrorismus“ zahlreiche Probleme aufweist. Seit den 1990er Jahren ist zwar eine große Anzahl an Studien entstanden, die sich mit der terroristischen Bedrohung und den Reaktionen der Nationalstaaten und der internationalen Gemeinschaft beschäftigten. Doch trotz der wachsenden Zahl an Arbeiten über Terrorismus und Terrorismusbekämpfung, mangelte es mancher Publikation an einer kritischen, historischen Tiefenschärfe, einer breiten empirischen Basis und einer theoretischen Reflexion. Bereits im Jahr 2001 kam der Kriminologe Andrew Silke deshalb zu einer vernichtenden Einschätzung des Forschungsstandes. „Die Terrorismusforschung“, so Silke, „befindet sich in keinem gesunden Zustand. Sie ähnelt in ihrer Ausrichtung einer Art Fast-Food-Forschung: schnell, billig, griffbereit und mit fragwürdiger Qualität.“3 Silke kritisierte das unreflektierte Paraphrasieren vorhandener Sekundärliteratur und das Fehlen originärer Studien, die auf einer breiten Quellenbasis aufbauen.

Eine Sichtung der aktuellen Literatur zeigt, dass sich seit Silkes Aussage einiges getan hat. Inzwischen ist eine große Anzahl hervorragender, empirischer Studien erschienen, die sich den Themen Terrorismus und Terrorismusbekämpfung aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu nähern versuchen. Nach wie vor ist und bleibt das Thema hochaktuell und zieht einen breiten Leserkreis an, so dass es dieser Untersuchungsgegenstand Wissenschaftlern4 erlaubt, aus ihren akademischen „Elfenbeintürmen“ auszubrechen. Bei aller Freude über diese Entwicklung der Terrorismusforschung stellt das Interesse der Medien und der Öffentlichkeit – man könnte teils gar von einer Obsession sprechen – aber auch eine Gefahr dar. Sie verlockt manchen Wissenschaftler dazu, aktuelle Ereignisse, auch wenn diese teils nicht in das eigene Spezialgebiet fallen, rasch zu kommentieren. Das Ergebnis sind teils komplexreduzierende und pauschalisierende mit der vermeintlichen Aura empirischer Wissenschaftlichkeit.

Darüber hinaus hat die Forschung bisher keine allgemein gültige Definition des Terminus „Terrorismus“ gefunden, obwohl sich zahlreiche Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Disziplinen an einer solchen versucht haben. Mittlerweile sind weit über 150 verschiedene Ansätze im Umlauf, und eine allgemein akzeptierte Definition scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Der Terrorismusexperte Walter Laqueur verwarf sogar gänzlich die Hoffnung, jemals eine solche erarbeiten zu können. Das Phänomen sei in der Realität viel zu komplex, als dass es in einer einzigen theoretischen Definition erfasst werden könne.5

Möchte man jedoch eine Geschichte des Terrorismus schreiben, so kann man sich mit dieser fatalistischen Haltung nicht zufriedengeben. Also noch einmal die Frage: „Was ist Terrorismus?“ Um sich dieser Frage zu näher und eine für diese Studie sinnvolle Begriffsdefinition vorzulegen, soll im Folgenden zunächst geklärt werden, welche Ursachen dieser Unschärfe des Terrorismusbegriffs zugrunde liegen.

Einer der zentralen Faktoren, der es heute erschwert, Terrorismus zu definieren, ist der zeitliche Transformationsprozess des Phänomens und des Begriffs. Das Konzept „Terror“ tauchte bereits in assyrischen Texten über die Herrschaft von König Aššur-nâṣir-apli II.Aššur-nâṣir-apli II. (König von 883 v. Chr. bis 859 v. Chr.) und seinem Nachfolger Salmānu-ašarēd III.Salmānu-ašarēd III. (König von 858 v. Chr. bis 824 v. Chr.) auf. Es bezog sich auf die bewusste Anwendung und Androhung von Gewalt als politisches Mittel zur Unterdrückung und Einschüchterung der Gegner. Unser heutiges Wort „Terror“ stammt aus dem Lateinischen und ist das erste Mal im Französischen 1356 (terreur), im Englischen 1375 (terror) und im Spanischen im Jahr 1440 (terror) überliefert. „Terror“ als Bezeichnung psychologischer, physischer und politischer Gewaltanwendung war somit bereits im Hochmittelalter in etlichen europäischen Sprachen verbreitet.

Der eigentliche Begriff „Terrorismus“ stammte aus der Zeit nach der Französischen Revolution und geht auf den Journalisten und einstigen Revolutionär Jean Lambert TallienTallien, Jean Lambert (1767–1820) zurück, der diesen Neologismus verwendete, um die jakobinische Herrschaft und deren Regierungsmaxime, terreur als Waffe einzusetzen, als Despotismus zu diffamieren. Der französische Philosoph François Noël BabeufBabeuf, François Noël (1760–1797) bezeichnete im Jahr 1794 die JakobinerJakobiner erstmals als terroristes. War der Begriff terreur während der jakobinischen Herrschaft noch positiv konnotiert, so war er von nun an genauso wie die Neologismen terroriste und terrorisme negativ besetzt. Letztere wurden ins Englische, Deutsche, Italienische, Spanische und in weitere Sprachen übersetzt oder in den entsprechenden Ländern als Fremdwörter übernommen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Wort „Terrorismus“ zu einem Synonym für spektakuläre Attentate nichtstaatlicher Gruppen – ein Prozess, der dazu beitrug, dass dieses Jahrhundert oftmals mit der Erfindung des modernen Terrorismus assoziiert wird.

Diese kurze etymologische tour d’horizon zeigt den historischen Bedeutungswandel des Begriffs „Terrorismus“. Gleichzeitig veränderte sich auch das dahinterstehende Phänomen. Diese Umstände verdeutlichen, wie wichtig der historische Horizont und Bezugsrahmen ist, wenn das Thema „Terrorismus“ beschrieben wird. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich der Begriff stetig gewandelt und wurde für viele, ganz unterschiedliche Phänomene herangezogen – oftmals in der oben beschriebenen Absicht, (politische) Gegner als Terroristen zu bezeichnen, um deren Gewalt und deren Anliegen zu delegitimieren. Diesen historischen Wandel des Begriffsverständnisses sowie die Veränderungen der Gewaltpraktik Terrorismus seit der Antike nachzuzeichnen, stehen im Zentrum dieses Buches.

Kann aber ein moderner Begriff des späten 18. Jahrhunderts wie „Terrorismus“ überhaupt als analytisches Werkzeug verwendet werden, um Ereignisse und Gruppen seit der Antike zu beschreiben? Auch wenn die Forschungsmeinungen diesbezüglich weit auseinandergehen, so ist einerseits unbestritten, dass sich seit der Antike Dogmen, Erklärungs- und Legitimationsmuster sowie Taktiken und Strategien herausbildeten, die entweder indirekt den modernen Terrorismus beeinflussten oder die heute diesem sogar als zentrale Charakteristika zugeschrieben werden. Andererseits wäre es ahistorisch und irreführend anzunehmen, dass Ideen und Konzepte des Terrorismus des 18. Jahrhunderts in einem Vakuum entstanden wären.

Wenn dieses Buch somit in der Antike beginnt, dann geht es weniger darum, Gruppen, Personen und deren Handeln in dieser Zeit mit den Terroristen der Neuzeit gleichzusetzen. Vielmehr soll aufgezeigt werden, wie sich einzelne Charakteristika der Gewaltpraktik Terrorismus historisch herausbildeten, veränderten und anpassten. Es geht darum, Traditions- und Entwicklungslinien, die longue durée, herauszuarbeiten sowie mögliche Vorbilder und Vorläufer des modernen Terrorismus zu beschreiben. Denn auch wenn der Begriff als Neologismus im sozio-politischen Umfeld der Französischen RevolutionFranzösische Revolution geboren wurde, so entstand die Idee, mit der Verbreitung von „Terror“ politische Ziele zu erreichen – dies belegen unter anderem die erwähnten assyrischen Texte –, nicht aus dem Nichts. Dass diese Absicht nicht nur auf staatliche Gruppen beschränkt blieb – also im Sinne eines Staatsterrors von oben –, sondern dass wir seit der Antike auch Beispiele von Terrorismus von unten haben, sollte dabei wenig überraschen und wird in den nachfolgenden Kapiteln eingehend beschrieben.

Neben diesem historischen Wandel lässt sich für die Unschärfe des Begriffs noch ein weiterer zentraler Grund anführen: Aufgrund der negativen Konnotation des Begriffs „Terrorismus“ ist es weit verbreitetet, mit diesem Terminus bestimmte Ereignisse nicht einzuordnen, sondern zu stigmatisieren. Dieser Trend lässt sich insbesondere nach den verheerenden Terroranschlägen auf das World Trade CenterNew York CityWorld Trade Center, Anschlag auf (2001) in New York City am 11. September 2001 verstärkt in der Medienberichterstattung sowie in den politischen Debatten nachweisen.

Politiker verschiedenster Staaten und Ideologien etikettieren eine Vielzahl vollkommen unterschiedlicher Gewaltakte mit der Bezeichnung „Terrorismus“. Mag dies in vereinzelten Fällen aus Mangel an Beweisen oder wegen fehlender Hintergrundinformationen geschehen sein, so ist doch in den meisten Situationen nicht Unwissenheit, sondern politisches Kalkül für diese Wortwahl ausschlaggebend. Denn eine rasche und erfolgreiche Zuschreibung erlaubt es, eine bestimmte Gruppe – oftmals den politischen Gegner – zu diffamieren. Eine derartige politische Instrumentalisierung findet sich nicht nur bei der Kommentierung gewaltsamer Ereignisse oder bei der Diskreditierung oppositioneller Gruppen vor allem in autoritären Systemen, sondern auch in Debatten zwischen Politikern über die einzuschlagende Innen- und Außenpolitik ihres Landes.

So entschieden mitunter realpolitische und geostrategische Machtinteressen darüber, welche Personen oder Organisationen als terroristisch bezeichnet werden. So setzte im Januar 2021 die US-Regierung unter Donald TrumpTrump, Donald (geb. 1946) die jemenitischen HuthiHuthi auf die Liste terroristischer Organisationen. Dies führte international zu scharfer Kritik, da befürchtet wurde, dass eine solche Einstufung die humanitäre Hilfe in der Region gefährden würde. Die Nachfolgeregierung unter Joe BidenBiden, Joe (geb. 1942) machte TrumpsTrump, Donald (geb. 1946) Entscheidung wieder rückgängig.

Ähnliche Interessen werden beim Umgang der Weltgemeinschaft mit dem Volksstamm der UigurenUiguren deutlich. Um deren Unterdrückung und Zwangsassimilierung – manche Akteure sprechen von Genozid – zu rechtfertigen, setzte die chinesische Regierung die UigurenUiguren und insbesondere deren politische Partei, die Islamische Turkestan-ParteiIslamische Turkestan-Partei, mit Terroristen gleich. Im Sinne einer Entspannung der Beziehungen zwischen den USA und China und in der Hoffnung, die chinesische Unterstützung im Kampf gegen Al-QaidaAl-Qaida zu erhalten, setzte auch Washington die Partei 2002 auf ihre Liste terroristischer Gruppen. Ein Gericht in den USA urteilte indes, dass die Regierung in Washington die Beweise für einen derartigen Schritt schuldig blieb. Im Oktober 2020 strich die Trump-Regierung die Islamische Turkestan-ParteiIslamische Turkestan-Partei zum Ärger Chinas wieder von der Liste.

Eine ähnliche heikle Verwendung des Begriffs „Terrorismus“ lässt sich bei einigen Medien feststellen. Im Zeitalter von Social Media und des Internets sehen sich Medienkonzerne und Presseagenturen aufgrund des Konkurrenzdrucks genötigt, Meldungen schnell in die Öffentlichkeit zu bringen und dabei oftmals komplexe Ereignisse in kürzester Zeit oder auf engstem Raum darzustellen. Eingehende Analysen und aufwendige Recherchen können deswegen nicht immer gewährleistet werden. Dies resultiert in zwei scheinbar gegensätzlichen Arten der Berichterstattung, die aber letztlich beide zu einer Unschärfe des Terrorismusbegriffs führen: Auf der einen Seite wird der Begriff „Terrorismus“ für eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Verbrechen und Gewalttaten benutzt, auch wenn diese streng genommen keine terroristischen Taten sind. Auf der anderen Seite kann aber auch ein gewisser Unwille beziehungsweise eine Zurückhaltung ausgemacht werden, den Terminus zu verwenden, um dadurch eine augenscheinliche Neutralität zu suggerieren.

Diese willkürliche Benutzung des Begriffs ist im heutigen öffentlichen Diskurs deutlich greifbar. Während Gewalttaten mit vermeintlich islamistischem Hintergrund oftmals instinktiv und ohne Zögern mit Terrorismus gleichgesetzt werden, geschieht dies bei rechtsextremistischen Taten nur zögerlich oder gar nicht. Als David SonbolySonboly, David (1998–2016), ein Unterstützer der Alternative für DeutschlandAlternative für Deutschland und Bewunderer Adolf HitlersHitler, Adolf (1889–1945), 2016 in München neun Menschen und später sich selbst tötete, brachten einige Politiker dieses Ereignis schnell mit religiösen Terroranschlägen in Europa in Verbindung. Selbst als die Polizei jegliche Verbindung zwischen SonbolySonboly, David (1998–2016) und dem islamistischen Extremismus kategorisch ausschloss, kritisierte das TIME-MagazinTIME (Zeitschrift) die deutschen Strafverfolgungsbehörden für ihr angeblich voreiliges Urteil und brachte erneut die „islamistische Karte“ ins Spiel.6 Polizei und Verfassungsschutz stellten in ihrem Abschlussbericht letztlich fest, dass es sich um einen unpolitischen Amoklauf handelte, der von Mobbing, romantischer Ablehnung und der Besessenheit von anderen Massenerschießungen angetrieben wurde. Erst im Sommer 2019 revidierten sie ihre ursprüngliche Einschätzung und bezeichneten SonbolySonboly, David (1998–2016) als Rechtsterroristen.

SonbolySonboly, David (1998–2016) ist kein Einzelfall: Westliche Politiker, Sicherheitskräfte und Medien zögerten oftmals, Anschläge von Rechtsextremen als terroristische Akte zu bezeichnen. Selbst wenn die Beweise erdrückend waren, wurden rechtsradikale Terroristen häufig als psychisch gestörte, aber vollkommen unpolitische Personen eingestuft. Als der norwegische Rechtsterrorist Anders Behring BreivikBreivik, Anders Behring (geb. 1979) im Jahr 2012 vor Gericht stand, argumentierten Psychologen, dass er an einer psychischen Störung leide und dass politische Motive auszuschließen seien. Die Tat selbst wurde dadurch zu einem isolierten Vorfall, der seiner ideologischen und politischen Dimension beraubt wurde. Diese Art der Interpretation und Einordnung suggeriert, dass Terrorismus etwas „Fremdartiges“ sei, etwas, das scheinbar unvereinbar mit der westlichen Zivilisation sei. Nur die „Anderen“ – in heutiger Zeit genau genommen islamistische Extremisten – könnten eine derartig barbarische Gewalt anwenden. Dieses Narrativ symbolisiert rassistische Sinnzuschreibungen in Reinkultur: Es erlaubt eine klare Abgrenzung zwischen einer angeblich zivilisierten, christlichen, westlichen Welt und einer vermeintlich rückständigen, islamischen Welt, die von einer fundamentalistischen Religion dominiert werde.

Der politische, mediale und öffentliche Diskurs verdeutlicht, dass der Terrorismusbegriff aufgrund seiner negativen Konnotation in erster Linie als Fremdzuschreibung verwendet wird. Deshalb ist es besonders wichtig, die Motive zu ergründen, wann und weshalb der Terminus benutzt wird. Ob jemand als Terrorist bezeichnet wird, hängt oftmals damit zusammen, ob der von ihm begangene Gewaltakt von der Öffentlichkeit als (moralisch) legitim oder als illegitim wahrgenommen wird – zum Zeitpunkt der Tat oder zurückblickend. Was also letztlich als Terrorismus bezeichnet wird, hängt immer eng mit dem kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Rahmen zusammen, der sich zeitlich wandelt und von Region zu Region unterscheidet.

Um die Gefahr einer derart willkürlichen Verwendung des Begriffs „Terrorismus“ zu minimieren, soll im Folgenden auf Grundlage der akademischen Definitionsversuche der für dieses Lehrbuch leitende Terrorismusbegriff vorgestellt werden, anhand dessen die Geschichte des Terrorismus beschrieben und analysiert wird. Dabei verschleiert die Quantität der verschiedenen akademischen Ansätze die Tatsache, dass die unterschiedlichen Ansätze meist mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen. Dies belegten die Politologen Leonard B. Weinberg, Ami Pedahzur und Sivan Hirsch-Hoefler, als sie 2004 aus 73 Definitionen eine Konsensdefinition für den Terminus „Terrorismus“ synthetisierten7:

Terrorismus ist eine politisch motivierte Taktik der Androhung oder Anwendung von Gewalt, bei der das Streben nach Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spielt.

Diese Konsensdefinition mag nicht alle Besonderheiten jeder einzelnen, jemals existierenden terroristischen Gruppe erfassen, da in der Tat die Realität oftmals komplexer ist. Dies ist auch nicht die Absicht. Vielmehr können aus ihr vier Komponenten des Terrorismus herausgelesen werden, die – unabhängig des zuvor skizzierten historischen Wandels – im Sinne eines genealogischen Definitionsansatzes als Kerncharakteristik terroristischer Gewalt angesehen werden können: politische Motivation der Terroristen; angedrohte und/oder angewendete Gewalt; Terrorismus als ein Kommunikationsakt; sowie Terrorismus als Taktik und nicht als eine Ideologie.

Von diesen vier Kernpunkten ausgehend, kann der Terrorismus als Gewaltpraktik verstanden, werden und von anderen benachbarten Gewaltformen abgegrenzt beziehungsweise mit diesen in Beziehung gesetzt werden. Insbesondere zwischen terroristischen Gruppen und Guerillaorganisationen ist der Übergang teils fließend und die Begriffswahl hängt oftmals davon ab, welche Strategie die Gruppe im Auge des Betrachters bevorzugt einsetzt beziehungsweise welche Ziele sie angeblich verfolgt. Dennoch lässt sich ein wichtiger Unterschied feststellen: Guerillagruppen kontrollieren im Gegensatz zu Organisationen, die einzig auf terroristische Mittel zurückgreifen, vielfach größere Gebiete – meist auf dem Land – und scheuen, dank ihrer Ressourcen, auch eine direkte, militärische Auseinandersetzung mit der Staatsmacht nicht.

Als weiteres Unterscheidungsmerkmal wird die kommunikative Dimension des Terrorismus angeführt. Während Terroristen durch die Androhung oder Durchführung von Gewalt ein größtmögliches Maß an Öffentlichkeit erreichen wollen, ist die Gewaltanwendung von Guerillagruppen auch instrumental, das heißt sie dient dem Ziel der Verteidigung beziehungsweise der Eroberung von Territorium gegenüber der machthabenden Regierung. Trotz dieser – teils sehr theoretischen – Unterschiede kann eine gegenseitige Beeinflussung und Beziehung zwischen Guerillakämpfern und Terroristen immer wieder festgestellt werden. So greifen Guerillagruppen oftmals auf die Gewaltpraktik des Terrorismus zurück, vor allem wenn sie außerhalb ihres Territoriums operieren. Terroristische Gewaltpraktiken können somit in der Strategie einer Guerillagruppe eine wichtige Rolle einnehmen und zusätzlich zur Guerillataktik angewandt werden. Auf der anderen Seite beziehen sich Terroristen immer wieder auf die Guerilla, um ihrem Kampf mehr Legitimität zu verleihen und den negativ konnotierten Begriff „Terrorismus“ zu vermeiden. So bezeichnete sich die Rote Armee FraktionRote Armee Fraktion (RAF) in der Bundesrepublik Deutschland selbst als Stadtguerilla, um eine Verbindung zu anderen Guerillabewegungen weltweit sowie die Existenz einer breiten Unterstützerszene zu suggerieren.

Das Streben nach öffentlicher Aufmerksamkeit sowie die politische Motivation der Terroristen gelten als die wichtigsten Kriterien, um Terrorismus von der organisierten Kriminalität abzugrenzen. Im Gegensatz zu Terroristen stehen bei Kriminellen materielle und individuelle Motive im Vordergrund. Diese Unterscheidung schließt nicht aus, dass terroristische Organisationen immer wieder kriminelle Aktionen wie Banküberfälle durchführen, um ihre finanziellen und materiellen Ressourcen zu erweitern. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass einige Wissenschaftler wie Roland Crelinsten die italienische Mafia – sei dies die Cosa Nostra, Camorra oder auch die ’Ndrangheta – als terroristische Organisation einstufen. Sie argumentieren, dass auch ihre Gewalt kommunikativ sei und dazu diene, Staatsanwälte, Polizisten oder Journalisten vor weiteren Nachforschungen abzuschrecken.8

Und schließlich wird in diesem Buch Terrorismus als Gewaltpraktik verstanden, die von nichtstaatlichen Organisationen angewandt wird. Terrorismus gilt als „Waffe des Schwachen“ gegenüber einem übermächtigen Gegner und wird deshalb auch als zentrale Komponente einer asymmetrischen Kriegsführung angesehen. Ihm gegenüber steht eine systematische, repressive Gewaltanwendung als Instrument der Herrschenden zur Erhaltung eines Systems, indem oppositionelle Gruppen ausgeschaltet werden. Zur begrifflichen Differenzierung gegenüber dem nichtstaatlichen Terrorismus hat sich vor allem im deutschen und weniger im englischen Sprachgebrauch hierfür die Bezeichnung „Terror“ oder „Staatsterror“ eingebürgert.

1.2Spielarten des Terrorismus

Da es sich bei Terrorismus um keine Ideologie, sondern um eine Gewaltpraktik handelt, verwundert es nicht, dass sich im Laufe der Jahrhunderte ganz unterschiedliche Gruppen und Personen ihrer bedienten. Aus diesem Grund müsste genaugenommen auch von „Terrorismen“ und nicht nur von „Terrorismus“ gesprochen werden. Im Folgenden sollen die wichtigsten Spielarten behandelt sowie verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie diese Varianten in Kategorien gebündelt werden können. Welche Unterteilung Anwendung findet, orientiert sich dabei in erster Linie an der jeweiligen Fragestellung und dem eigenen Erkenntnisinteresse. Die beiden am weitesten verbreiteten Methoden, terroristische Gruppen einzuordnen, basieren auf den Kategorien „Ziele“ und „geografischer Wirkungskreis“.

Bei der erstgenannten Kategorie gibt es zunächst die Möglichkeit, zwischen revolutionärem und reaktionärem Terrorismus zu unterscheiden. Während revolutionäre Organisationen versuchen, mittels terroristischer Gewalt eine herrschende gesellschaftliche beziehungsweise politische Ordnung zu stürzen und ein neues System zu errichten, dessen Gestalt oftmals vage und unpräzise bleibt, wollen reaktionäre Gruppen meist den Status quo verteidigen oder zu einem als besser wahrgenommenen, früheren Zustand zurückkehren.

Eine differenziertere Analyse der Ziele und Absichten der Terroristen erlaubt aber auch eine wesentlich feinere Einteilung. Häufig wird beispielsweise zwischen ethnisch-nationalistischem, sozialrevolutionärem, rechtsradikalem sowie religiös motiviertem Terrorismus unterschieden. Auch finden sich immer wieder Versuche, diese Kategorien noch weiter zu verfeinern. So hat der israelische Politologe Ehud Sprinzak unter anderem den Rechtsterrorismus in noch fünf weitere Unterkategorien eingeteilt: revolutionärer, reaktiver und chiliastischer Terrorismus sowie Terrorismus als Akt der Selbstjustiz oder als Ausdruck einer jugendlichen Gegenkultur.1 Andere Spielformen, die in letzter Zeit diskutiert werden, sind der Umweltterrorismus und der Incel-Terrorismus. Dabei definiert die zugrundeliegende politische und/oder religiöse Weltanschauung nicht nur das Ziel, das diese Gruppen erreichen wollen, sondern sie dient auch als zentrales Argument, um die Anwendung von Gewalt zu legitimieren.

Immer wieder erfahren vor allem rechtsradikale, aber auch sozialrevolutionäre, ethnisch-nationalistische und religiöse Gruppen Unterstützung von staatlichen Akteuren. In diesem Fall wird von halbstaatlichem beziehungsweise staatlich subventioniertem Terrorismus gesprochen. Oftmals ist ein Nachweis dieser Beihilfe äußerst schwierig.

Betrachtet man den geografischen Wirkungskreis terroristischer Organisationen, so wird in der Literatur meist zwischen nationalem, internationalem und transnationalem Terrorismus unterschieden. Der nationale Terrorismus umfasst dabei alle Gewalt, die von Terroristen innerhalb ihres eigenen Landes gegen die eigenen Mitbürger ausgeübt wird. International operierende Gruppen agieren hingegen grenzüberschreitend, das heißt die Opfer sind entweder Bürger fremder Staaten oder solche mit Verbindungen zu fremden Staaten. Beim transnationalen Terrorismus spielt indes der Bezugspunkt Staat sowohl auf Opfer- wie auch auf Täterseite nur eine untergeordnete Rolle. Diese schematische Einteilung bildet aber nur grob das reale Geschehen ab. So verfügen national operierende Gruppen oftmals über transnationale Netzwerke. Ebenfalls ist es problematisch, rechtsterroristische Organisationen, die Attentate gegen Ausländer im eigenen Land ausüben, als international operierende Gruppen einzustufen.

Trotz dieser unterschiedlichen Spielformen des Terrorismus zeigt der Radikalisierungsprozess von Extremisten zu Terroristen egal welcher Couleur zahlreiche Gemeinsamkeiten auf, die im Folgenden in vereinfachter Form skizziert werden sollen. Viele Terroristen nehmen eine Entfremdung von der Gesellschaft wahr, in der sie aufgewachsen sind, sozialisiert wurden und in der sie leben. Diese Entfremdung kann sich auf das „Hier und Jetzt“ beziehen oder sie ist Ausdruck einer Zukunftsangst des Terroristen vor einer politischen und gesellschaftlichen Ordnung, in der seine Existenz angeblich bedroht sei. Dieses Gefühl der Entfremdung und Isolation kann ganz unterschiedliche Ursachen haben, wobei sich in den meisten Fällen strukturelle und individuelle Faktoren überlappen und gegenseitig bestärken. Zu diesen zählen soziale Isolation, wirtschaftliche Not, ideologische Indoktrination, Opposition gegen das herrschende politische System, Selbstzweifel und -mitleid, Minderwertigkeitskomplexe, hegemoniale Männlichkeitsfantasien, der Glaube an Verschwörungstheorien und/oder eine grundlegende Abneigung gegen einen kulturell-gesellschaftlichen Wertewandel.

Um dieser wahrgenommenen Marginalisierung im Jetzt oder in der Zukunft einen Sinn zu geben, um sie erklären zu können, suchen Terroristen oftmals Zuflucht in einem Weltbild, das sich in einer Schwarz-weiß-Dichotomie erschöpft. Als Folge stilisiert man sich selbst zu einem Opfer einer ungerechten und feindlichen Welt oder solidarisiert sich mit einer Gruppe, der tatsächliches – oder als solches wahrgenommenes – Unrecht widerfahren ist. Gefangen in diesem Opfernarrativ werden die eigenen Entscheidungen und die Anwendung von Gewalt nicht mehr hinterfragt. Vielmehr wird Gewalt zum einzig legitimen Mittel, um das Unrecht entweder rückgängig zu machen, sich zu verteidigen oder aber geschehenes Unrecht zu rächen. Dabei wird das Existenzrecht der Gegner in Frage gestellt und diese teils ihrer Menschlichkeit beraubt; sie werden dehumanisiert, was wiederum die Schwelle zur Gewaltanwendung gegen sie massiv senkt.

Diesem Weltbild vieler Terroristen liegt meist eine subjektiv-verzerrte Wahrnehmung der Unterdrückung, Marginalisierung und Fremdbestimmung zugrunde. Weist diese Perzeption auch einen starken realen Kern auf, dann fällt es Terroristen umso einfacher, weitere Rekruten anzuwerben und einen Kreis an Sympathisanten aufzubauen. Zugleich wird das Gefühl der Entfremdung durch den Gang in den Untergrund und der damit selbstgewählten Isolation weiter verstärkt. Abgeschnitten von der realen Welt wird das eigene Weltbild von den anderen Mitgliedern der terroristischen Gruppe bestätigt und potenziert. Dieser Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist, ist oftmals ausschlaggebend für die gewaltsame und bewaffnete Auflehnung gegen die Gesellschaft und/oder die staatlichen Institutionen.

Dabei ist die Beziehung der Terroristen zu ihren Unterstützern besonders wichtig für ihren Erfolg. Ein zahlenmäßig großes Netzwerk an Sympathisanten wird nicht nur als Bestätigung für die Legitimität der eigenen Anliegen verstanden, sondern erlaubt es den Terroristen auch – wie dies einst Mao ZedongZedong, Mao (1893–1976) über den Guerillakämpfer schrieb –, wie Fische im Wasser zu schwimmen. Die Erweiterung beziehungsweise der Verlust des Sympathisantenkreises ist somit mitentscheidend für Erfolg und Misserfolg der Terroristen. Aber können Terroristen überhaupt erfolgreich sein?

Dieses Thema wird immer wieder debattiert. Zahlreiche Wissenschaftler, die sich insbesondere mit den letzten Jahrzehnten beschäftigten, sprechen dem Terrorismus im Prinzip jegliche Chancen auf Erfolg ab. Bruce Hoffman kommt hingegen zu einem differenzierteren Urteil. Er betont, dass über den Erfolg einer terroristischen Gruppe in erster Linie deren Ziele entscheiden. Hoffmans These lässt sich, wie auch das vorliegende Buch aufzeigen wird, historisch belegen: So verfolgten ethnisch-nationalistische Gruppen konkrete Absichten, die sich in der realen Welt theoretisch verwirklichen ließen. In der Tat verzeichneten diese Organisationen immer wieder „Erfolge“, die von mehr Autonomie für ihre „Heimat“ bis hin zur Unabhängigkeit reichen konnten.2

An diesen Erfolgen entzündeten sich oftmals hitzige Kontroversen: Zum einen wurden derartige Gruppen vor allem in der nationalistischen Geschichtsschreibung als Freiheitskämpfer tituliert und die Bezeichnung Terrorismus scharf zurückgewiesen. Diese Meinungsverschiedenheiten führten zur einprägsamen Formel des „One man’s terrorist is another man’s freedom fighter.“3 Dabei wird oftmals verkannt, dass – anders als in der öffentlichen Debatte – die Wissenschaft den Terrorismusbegriff meist verwendet, um die eingesetzten Gewaltpraktiken zu beschreiben und nicht, um die Gruppe und deren Anliegen moralisch einzuordnen. Zum anderen wird darüber diskutiert, ob der Einsatz terroristischer Mittel wirklich entscheidend für den Erfolg ethnisch-nationalistischer Gruppen war oder ob auch gewaltloses Handeln das Gleiche erreicht hätte. Als scheinbar erwiesen gilt zumindest, dass Terroristen, die ein System stürzen wollen, um es durch eine politische oder religiöse Utopie zu ersetzen, amtierenden Regierungen und der internationalen Gemeinschaft keinen Spielraum für Kompromisse lassen. Die Chancen auf einen Erfolg gehen in diesen Fällen gegen Null.

Sind diese Gedankenspiele, die unzähligen Versuche, Terrorismus zu definieren und in verschiedene Spielarten einzuteilen, nicht angesichts der komplexen Realität vergebene Liebesmüh? Sind sie nicht typische Debatten, wie sie sich in einem akademischen Elfenbeinturm abspielen? Diese Fragen können eindeutig mit „Nein“ beantwortet werden. Sowohl die Definition von Terrorismus als auch die Unterteilung in verschiedene Kategorien dienen dazu, sich den Motiven der Terroristen zu nähern sowie die Mechanismen der Radikalisierung zu dechiffrieren. Dieses Wissen bildet eine der wichtigsten Grundlagen, um die Bedrohung durch den Terrorismus zu minimieren. Aber welche Möglichkeiten stehen einem demokratischen Staat zur Verfügung, um auf die Herausforderung durch terroristische Gruppen zu reagieren?

1.3Anti-Terrorismus-Politik

Zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen haben sich mit dieser Frage auseinandergesetzt und im Laufe der Zeit verschiedene Modelle aufgestellt, die es ermöglichen sollen, die staatliche Anti-Terrorismus-Politik in eine Skala einzuordnen und letztlich bewerten zu können. Als geläufigste Konzeptualisierung hat sich die Trennung in kommunikative und repressive Maßnahmen bewährt.1

Kommunikative Maßnahmen richten sich gegen die kommunikative Dimension des Terrorismus und umfassen eine Vielzahl ganz heterogener Werkzeuge. Sie beinhalten Reformen im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich, die den Terroristen den Nährboden der Unzufriedenheit in der Bevölkerung entziehen sollen („Ursachenbekämpfung“). Terrorismusexperten sprechen in diesem Fall auch immer wieder von De-Radikalisierungsmaßnahmen, um das zuvor beschriebene Gefühl der Entfremdung zu minimieren. Aber auch die „psychologische Kriegsführung“, Verhandlungen zwischen der Regierung und Terroristen sowie Gesetzesinitiativen zur Resozialisierung von Terroristen zählen zu diesen Maßnahmen. Letztere richten sich gegen die Symptome und weniger gegen die Ursachen des Terrorismus. Kommunikative Maßnahmen sollen ebenso dazu dienen, die staatliche Gewalt gegen die Terroristen – also die repressive Anti-Terrorismus-Politik – als legitim und zivilisiert darzustellen und sich gegen die Anschuldigungen der Terroristen zu wehren. Sie sind somit wichtiger Bestandteil im erbittert ausgetragenen Streit um Deutungshoheit zwischen Staat und Terroristen. Die Terroristen streben dabei an, dass die von ihnen eingesetzte Gewalt als legitim erachtet wird. Der Staat möchte umgekehrt das staatliche Gewaltmonopol und dessen Unterstützung durch die Bevölkerung erhalten.

In das Spektrum der repressiven Politik fallen unter anderem die Notstandsgesetzgebungen, der Aus- und Umbau der Sicherheitskräfte sowie deren Einsatz, die Errichtung von Hochsicherheitsgefängnissen und das Heranziehen militärischer Einheiten. Im Gegensatz zu den kommunikativen Maßnahmen richten sich repressive ausschließlich gegen die Symptome des Terrorismus. Je nach Repressionsgrad differenziert die Forschung diesen Bereich weiter in ein „Kriegszustand-Modell“ („war model“) und ein „Strafjustiz-Modell“ („criminal justice model“), zwischen denen die Maßnahmen fluktuieren können. Während Ersteres den Einsatz des Militärs und der Militärgerichtsbarkeit im Kampf gegen den Terrorismus umfasst, greift der Staat beim „Strafjustiz-Modell“ nur auf das gewöhnliche Strafrecht und die Strafverfolgungsbehörden zurück. Inwieweit eine derart statische Einteilung auch der Realität entspricht, hängt oftmals von den einzelnen Staaten und der Struktur des jeweiligen Sicherheitsapparats ab. So herrscht in Deutschland eine strikte Trennung zwischen dem Militär und der Polizei, wohingegen die CarabinieriCarabinieri in Italien eine Zwitterinstitution darstellen, die sowohl dem Verteidigungs- als auch dem Innenministerium unterstellt sind.

Dieser Katalog zeigt das Spektrum unterschiedlicher Instrumente auf, deren sich demokratische Regierungen bei der Terrorismusbekämpfung bedienen können. Nicht jede dieser Maßnahmen ist dabei zu jeder Zeit oder gegen jede Spielart des Terrorismus gleich erfolgreich. Deshalb greifen Staaten oftmals auf unterschiedliche Methoden aus den verschiedenen Kategorien zurück und orientieren sich an bestimmten Vorgaben, um eine möglichst passende Reaktion auf die terroristische Herausforderung zu erreichen. Demnach müssten die Maßnahmen glaubhaft sein, zeitlich und operativ begrenzt und stets unter parlamentarischer Kontrolle erfolgen. Der deutsche Soziologe Peter Waldmann setzte in seinen Überlegungen andere Schwerpunkte. Seiner Meinung nach sei es essenziell, jede potenzielle terroristische Bedrohung rasch zu unterdrücken und die Terroristen zu isolieren. Außerdem müsse den Terroristen die symbolische und propagandistische Bühne streitig gemacht werden. Und schließlich sei es ebenso wichtig, den Terroristen im Strafvollzug keinen Sonderstatus einzuräumen, diese zu isolieren und ihnen individuelle Möglichkeiten zum Ausstieg aufzuzeigen.2

Ziel all dieser Vorschläge und Richtlinien ist es, das Dilemma für rechtsstaatliche Demokratien bei der Suche nach einer Balance zwischen „Effizienz“ einerseits und „rechtsstaatlicher Akzeptanz“ andererseits zu minimieren. Da jedoch die Grundrechte jedes Einzelnen in einem Rechtsstaat per se nicht verhandelbar sind und nur unter außergewöhnlichen Umständen zeitlich begrenzt eingeschränkt werden dürfen, darf dieser „Balanceakt“ nicht als ein Nullsummenspiel missverstanden werden, nach dem bei erhöhter Gefahr zwangsweise die Bürger- und Menschenrechte eingeschränkt werden dürfen. Vielmehr muss stets die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen überprüft und deren Nutzen und Konsequenzen für den Rechtsstaat evaluiert werden. Erschwert wird die Suche nach einer Balance zusätzlich dadurch, dass der Begriff „Rechtsstaat“ – wie der Terrorismusbegriff – in der öffentlichen Diskussion zwar weit verbreitet, seine Verwendung jedoch oft ungenau und generell umstritten ist und sich zudem von Staat zu Staat unterscheidet. Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte folgende Definition:

Der Rechtsstaat richtet sich einem Grund-Sinn nach auf die Begrenzung und Eingrenzung staatlicher Macht und Herrschaft im Interesse der Freiheit des Einzelnen beziehungsweise der Verwirklichung materiellen Rechts, der Primat des Rechts gegenüber der Politik erscheint als immer wiederkehrendes Postulat rechtsstaatlichen Denkens.

Aus dieser Definition wird ersichtlich, dass die Rechtsstaatlichkeit zum einen die Handlungsstruktur des Staates und zum anderen das von ihm zu verfolgende Ziel bestimmt. Es wird deswegen zwischen einem formellen (Struktur) und einem materiellen (Ziel) Rechtsstaatsbegriff unterschieden. Eine zentrale Rolle kommt dabei den jeweiligen Verfassungen der Staaten zu, die teils der Exekutive und den von ihr kontrollierten Sicherheitskräften ganz unterschiedliche Machtbefugnisse einräumen. All dies muss beachtet werden, wenn die Rechtsstaatlichkeit der Anti-Terrorismus-Maßnahmen einzelner Staaten objektiv bewertet und verglichen wird.

In Zeiten terroristischer Herausforderungen – sei dies während der 1970er Jahre oder nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001New York CityWorld Trade Center, Anschlag auf (2001) – konstatierten viele Intellektuelle, einige Journalisten und mancher Politiker eine Einschränkung der freiheitlichen Rechte und befürchteten, dass der materielle und formelle Rechtsstaat einem Präventions- und Sicherheitsdenken geopfert würde. Außerdem prophezeiten sie einen besorgniserregenden Machtverfall der Parlamente gegenüber den Regierungen und damit den Niedergang des parlamentarischen Rechtsstaates. Angesichts eines perzipierten Notstands infolge terroristischer Gewalt verwandle sich der freiheitliche parlamentarische Rechtsstaat in einen Präventionsstaat Orwellschen Ausmaßes. Der Ausnahmezustand, so der italienische Philosoph Giorgio Agamben, werde so zum Paradigma des Regierens, in dessen Folge die Exekutive keiner Machtbeschränkung mehr unterworfen sei.3

Auch wenn Gefahren für die rechtsstaatliche Verfasstheit eines liberal-demokratischen Systems keinesfalls minimiert werden dürfen, so liegt solchen Deutungen oftmals das dualistische Bild einer klaren Gewaltenteilung von Parlament und Regierung nach John Stuart MillMill, John Stuart (1806-1873) zugrunde. Dieser machtstrukturelle Ansatz geht von einem Verfassungsverständnis aus, in dem eine bestimmte Kompetenzverteilung festgelegt ist. In modernen parlamentarischen Systemen wurde jedoch wegen der Parlamentarisierung der Regierungsverantwortung die traditionelle horizontale Gewaltenteilung von „Legislative“ und „Exekutive“ meist durch eine moderne Gewaltenverschränkung ersetzt.

Diese Verschränkung der Gewalten zeigt sich zum Beispiel auch an den parlamentarischen Kontrollgremien der Parlamente, die einerseits die Arbeit der Sicherheitsbehörden überwachen sollen, deren Einflussmöglichkeiten aber teils sehr beschränkt sind. Deshalb kommt der „Vierten Gewalt“ in liberal-demokratischen Systemen, also den öffentlichen Medien wie Presse, Rundfunk und Fernsehen, eine wichtige Funktion zu. Insbesondere dem investigativen Journalismus ist es zu verdanken, dass jüngste Fehlentwicklungen der staatlichen Anti-Terrorismus-Maßnahmen wie sie unter anderem im Zuge des „War on Terror“ auftraten – erinnert sei an die Entführungen und die Folterung vermeintlicher Terroristen sowie die geheimen CIA-Gefängnisse auf europäischem Boden – aufgedeckt wurden und werden.

Während autoritäre Regime sich nicht um diese rechtsstaatlichen Beschränkungen kümmern müssen, läuft ein demokratischer Staat bei einer willkürlichen und überzogenen, den Rechtsstaat verletzenden Reaktion Gefahr, seine eigene Legitimität zu untergraben und möglicherweise – wie dies unter anderem von sozialrevolutionären und ethnisch-nationalistischen terroristischen Gruppen beabsichtigt ist – eine weitere Radikalisierung politischer Gewalt zu provozieren sowie mehr Unterstützung für die Terroristen zu generieren. Diese Logik verweist auf einen wichtigen Punkt, den insbesondere der Historiker Martin A. Miller in seinen Arbeiten zum russischen Terrorismus des 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt: Die Geschichte des Terrorismus ist eng mit der staatlichen Anti-Terrorismus-Politik verflochten; terroristische Gruppen und der Staat reagieren aufeinander und sind aufeinander bezogen.4 Somit muss bei der Historisierung des Terrorismus auch stets ein Blick auf die staatlichen Gegenmaßnahmen geworfen werden, um bestimmte Dynamiken angemessen kontextualisieren und bewerten zu können.

2Die Vorläufer

2.1Der Tyrannenmord: Von der Antike bis zur Neuzeit

Besucht man das Archäologische Nationalmuseum in Neapel, so wird man neben dem Alexandermosaik auch ein weiteres weltberühmtes Exponat nicht versäumen wollen: die Skulpturengruppe der Tyrannenmörder, eine römische Marmorkopie von Bronzestatuen, die einst in Athen zu bestaunen waren (Abb. 1). Sie zeigt HarmodiosHarmodios und Aristogeiton,Aristogeiton wie sie HipparchosHipparchos im Jahr 514 v. Chr. ermordeten. Das eigentliche Ziel des Attentats war HippiasHippias, der Herrscher Athens und Bruder von HipparchosHipparchos. HarmodiosHarmodios wurde von Soldaten auf der Stelle getötet, AristogeitonAristogeiton später verhaftet, gefoltert und hingerichtet.

Die Herrschaft HippiasHippias stand am Ende einer etwa 150-jährigen Epoche (650 v. Chr. bis 510 v. Chr.), in der immer wieder Aristokraten mit Hilfe Getreuer die Alleinherrschaft in den griechischen Stadtstaaten (polis) an sich reißen konnten. Einmal an der Macht, versuchten sie diese mit allen Mitteln zu verteidigen. Für diese Herrscher bürgerte sich die Bezeichnung tyrannos ein – ein Begriff, der zunächst nicht pejorativ gebraucht wurde, sondern lediglich den Herrscher eines Stadtstaates bezeichnete. Erst allmählich wurde tyrannos zu einem Synonym für Machthaber, die nur zu ihrem persönlichen Wohl regierten und die eigenen Untertanen ausbeuteten und knechteten. Für den griechischen Philosophen PlatonPlaton (428–348 v. Chr.) stellte eine solche Tyrannis eine Krankheit des Gemeinwesens dar. Auch AristotelesAristoteles (384–322 v. Chr.) beschrieb die Tyrannei als die schlechteste Regierungsform, da sie gegen das Gemeinwohl verstoße und nur dem Alleinherrscher diene.

Zahlreiche Schriftsteller der Antike, von HerodotHerodot (490/480–430/420 v. Chr.) über ThukydidesThukydides (ca. 454 v. Chr.–399/396 v. Chr.) bis zu Plinius dem JüngerenPlinius der Jüngere (61–113), überlieferten die Tat von HarmodiosHarmodios und AristogeitonAristogeiton. Bereits diese Autoren setzen sich mit zentralen Fragen auseinander, die auch in den nächsten Jahrhunderten immer wieder gestellt wurden, wenn ein vermeintlicher Tyrann gestürzt wurde oder werden sollte: Was waren die Motive der Täter? Handelten diese nur altruistisch? Hat sich die Ermordung überhaupt gelohnt, sprich, verbesserte sich die Situation der Unterdrückten? Und handelte es sich bei dem Ermordeten wirklich um einen Tyrannen? (Dok. I)

Abb. 1:

Die Statuen von Harmodios und Aristogeiton im Archäologischen Nationalmuseum in Neapel. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Harmodio_Aristogeiton_Nápoles_06.jpg

Für die Befürworter der attischen Demokratie war der Streit um die Motive der beiden Attentäter AristogeitonHarmodios rasch entschieden: Sie hätten die größtmögliche Wohltat für die Öffentlichkeit und die Bevölkerung vollbracht und seien dementsprechend zu würdigen. Außerdem müsse ihr Handeln Vorbild sein, sich Tyrannen jederzeit entgegenzustellen. Diese Idealisierung der Tyrannenmörder diente dazu, eine noch junge und instabile Demokratie in Athen zu festigen und Angriffe gegen das demokratische Verfassungssystem im Keim zu ersticken. Die Demokratie, so lautete die Schlussfolgerung, könne nur ge- und beschützt werden, wenn ihre Bürger gewillt seien, wie HarmodiosHarmodios und AristogeitonAristogeiton zu handeln. Um diese Botschaft auch im öffentlichen Raum zu platzieren, wurden im Jahr 509 v. Chr. zu Ehren von HarmodiosHarmodios und AristogeitonAristogeiton die bereits erwähnten Bronzestatuen auf der Agora aufgestellt. Indem ihre Physiognomie stark an Götterskulpturen angelehnt war, wurde der Akt des Tyrannenmords einer göttlichen Heldentat gleichgesetzt.

Im 5. Jahrhundert v. Chr., der Blütezeit der attischen Demokratie, wurden Dekrete erlassen, die die Bewohner sogar dazu verpflichteten, einen vermeintlichen Tyrannen – und damit eine Person, der zumeist andere aus der Führungselite vorwarfen, die demokratische Ordnung und Verfassung zu beseitigen – zu töten. Selbst ausländische Personen wurden hierzu aufgefordert. Als eines der bekanntesten Beispiele gilt das Demophantos-DekretDemophantos-Dekret aus dem Jahr 410 v. Chr., dessen Authentizität aber heute umstritten ist. Demnach hätten alle Athener schwören müssen, wie HarmodiosHarmodios und AristogeitonAristogeiton zu handeln, sollte ein Despot die Demokratie gefährden.

Was als Schutzfunktion für die Bewahrung der attischen Demokratie gefeiert wurde, barg ein essenzielles Problem: Gemäß der Idealvorstellung sollte eine Tyrannis bereits vor ihrem Entstehen verhindert werden. Es sollte also eine vermeintliche Gefahr präventiv ausgeschaltet werden, die noch gar nicht eingetreten war. Dies konnte leicht zur Willkür führen, wer als Tyrann gebrandmarkt wurde und wer nicht. Ausschlaggebend waren oftmals mehr politische Rivalitäten oder persönliche Feindschaften, als dass stichhaltige Beweise für eine mögliche Alleinherrschaft vorgelegen hätten. Denn wenn es gelang, einen Rivalen als Tyrann zu diffamieren, so war jegliche Gewalt gegen diese Person legitimiert.

Dieses Problem veranlasste PlatonPlaton (428–348 v. Chr.), sich in seiner Schrift PoliteiaPoliteia (Platon) kritisch mit der Idee des Tyrannenmords auseinanderzusetzen. Er argumentierte, dass ein Herrscher Terror und Unterdrückung einsetze – und damit eine tyrannis errichte –, da er selbst Angst vor seiner Ermordung habe. PlatonsPlaton (428–348 v. Chr.) Begründung macht zwei Wirkungsebenen von Terror sichtbar: Zum einen nutzte der Tyrann Terror, um Angst zu verbreiten und dadurch mögliche Verschwörungen gegen ihn im Keim zu ersticken. Zum anderen war er aber auch Gefangener seiner eigenen Furcht. PlatonsPlaton (428–348 v. Chr.) Logik zeigt, dass nicht nur die Tat eines Tyrannenmörders, sondern bereits die Androhung von oder der Verdacht auf Gewalt gesellschaftliche Reaktionen und politisches Handeln beeinflussen konnten. Nach PlatonsPlaton (428–348 v. Chr.) Meinung stellte der Tyrannenmord der Antike – wie der heutige Terrorismus – bereits einen Kommunikationsakt dar.

Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen vermieden PlatonPlaton (428–348 v. Chr.) und AristotelesAristoteles (384–322 v. Chr.) eine moralische Überhöhung der Tyrannenmörder. Stattdessen stellten sie deren Motive in Frage. Da ihrer Ansicht nach ein Tyrannenmörder nur der gehobenen Schicht angehören durfte, mutmaßte vor allem AristotelesAristoteles (384–322 v. Chr.), dass solchen Taten oftmals eher eigene Machtinteressen als altruistische Motive zugrunde lagen. Dennoch sah er einen deutlichen Unterschied zwischen einem Tyrannenmörder und einem gewöhnlichen Mörder, der nur aus Eigennutz und niederen Motiven handle.

In der Römischen Republik erfreute sich die Idee des Tyrannenmords einer Renaissance. Gesetze und Erlasse erlaubten es, eine Person zu ermorden, der unterstellt wurde, die Verfassung der Republik außer Kraft setzen zu wollen. Der römische Geschichtsschreiber Titus LiviusTitus Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.) erwähnte in seinem Opus Ab urbe conditaAb urbe condita (Titus Livius) zwei Morde an Tyrannen aus dem Jahr 486 v. Chr. beziehungsweise dem Jahr 439 v. Chr. Einer der stärksten Verfechter des Tyrannenmords während der Römischen Republik war der Politiker und Schriftsteller Marcus Tullius CiceroCicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.). Geprägt von seinen Erfahrungen während des Bürgerkriegs zwischen Gaius Julius CaesarCaesar, Gaius Julius (100–44 v. Chr.) und Gnaeus Pompeius MagnusPompeius, Gnaeus (Magnus) (106–48 v. Chr.) und Caesars anschließender Alleinherrschaft bezeichnete er die Tötung eines Tyrannen als „noble“ Tat und als Akt der Selbstverteidigung, um die Republik wiederherzustellen. Er selbst, so brüstete er sich, würde sofort einen Tyrannen umbringen, auch wenn er dabei sein Leben lassen müsste. Im Gegensatz zu den Verfechtern des Tyrannenmords während der attischen Demokratie, tauchte bei CiceroCicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.) der präventive Aspekt nicht mehr dezidiert auf. CicerosCicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.) Verstrickungen in die politischen Wirren am Ende der Römischen Republik und seine leidenschaftlichen Plädoyers für den Tyrannenmord waren letztlich der Grund, weshalb er selbst den Tod fand. Nachdem er Marcus AntoniusAntonius, Marcus (83–30 v. Chr.) vorgeworfen hatte, eine tyrannis etablieren zu wollen, ließ dieser ihn auf eine Proskriptionsliste setzen. Am 7. Dezember 43 v. Chr. wurde CiceroCicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.) auf der Flucht erschlagen, sein zerstückelter Körper anschließend durch Rom geschleift, und sein Kopf und seine Hände wurden auf dem Forum Romanum präsentiert.

Im Frühmittelalter setzten sich zahlreiche Kirchenväter mit dem Herrschertypus des Tyrannen auseinander und mit der Frage, ob die Ermordung eines solchen legitim oder gar erstrebenswert wäre. In Anlehnung an CiceroCicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.) charakterisierte AugustinusAugustinus (354–430) den Tyrannen als einen „ungerechten Herrscher“, der durch sein Streben nach Macht pervertiert sei. Isidor von SevillaIsidor von Sevilla (560–636) führte diese Gedanken weiter, indem er dem „ungerechten“ Tyrannen den König als positives, gerechtes Gegenmodell gegenüberstellte. Es etablierte sich damit die Vorstellung der Tyrannis als der „schlimmsten Entartung“ der „besten“, da gottgewollten Monarchie. Sowohl die Bibel als auch die Frühgeschichte des Christentums boten zahlreiche Beispiele für einen ungerechten Herrscher, einen Tyrannen. Die Kirchenväter bezogen sich dabei unter anderem auf die römischen Kaiser NeroNero (37–68) und DomitianDomitian (51–96), unter deren Herrschaft es zu Christenverfolgungen gekommen war.

Die Trennung zwischen „gerechter“ und „ungerechter“ Herrschaft beeinflusste auch die Frage, wie mit Machtmissbrauch durch einen Herrscher umzugehen und ob in diesem Falle sogar Widerstand legitim sei. Grundsätzlich legten die Kirchenväter den Christen die Erduldung einer Tyrannenherrschaft bis zum Martyrium nahe. Lediglich wenn sich der Herrscher gegen das göttliche Gebot wende, sei Widerstand erlaubt – welche Form dieser annehmen könnte, blieb indes meist vage.

Zu Beginn des Hochmittelalters erfreuten sich die Texte und Reden von Marcus Tullius CiceroCicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.) bei führenden Theologen einer neuen Beliebtheit. Es mag somit wenig verwundern, dass auch seine Ausführungen zum Tyrannenmord wieder aufgegriffen wurden und dadurch auch der Widerstandsgedanke langsam an Popularität gewann. Einer der bedeutendsten Theologen, der sich diesbezüglich profilierte, war Johannes von SalisburyJohannes von Salisbury (1115–1180), Bischof von Chartres und enger Freund des Erzbischofs von Canterbury Thomas BecketBecket, Thomas (1118–1170). Er argumentierte in seinem Werk PolicraticusPolicraticus (Johannes von Salisbury) (1159), dass im Gegensatz zum König ein Tyrann die göttlichen Gesetze verletze. Während Ersterer ein Abbild Gottes und von diesem eingesetzt sei, sei der Tyrann ein Abbild des Teufels. Zwar vertrat auch Johannes von SalisburyJohannes von Salisbury (1115–1180) noch die Meinung, dass Beten die beste Waffe gegen Tyrannen sei. Dennoch schloss auch er einen Mord gegen einen ungerechten Herrscher als letztes Mittel nicht aus. Denn, so argumentierte erJohannes von Salisbury (1115–1180), wer das Schwert benutze, solle auch durch das Schwert umkommen. Jedoch blieben bei Johannes von SalisburyJohannes von Salisbury (1115–1180) zentrale Fragen nach Kompetenzen, Instanzen und Akteuren vage. Er legte lediglich fest, dass der Mörder ein sittliches oder gesellschaftliches Amt innehaben müsse und weder Gift einsetzen noch einen Eidbruch begehen dürfe.

Wie AristotelesAristoteles (384–322 v. Chr.) betonte auch Thomas von AquinThomas von Aquin (1225–1274), dass ein Tyrann lediglich sein eigenes und nicht das Gemeinwohl im Sinn habe. Deshalb sei ein Tyrannenmord auch grundsätzlich legitim, aber sollte nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Aber auch erThomas von Aquin (1225–1274) argumentierte in weit gefassten Kategorien, wenn es um die Frage ging, wer einen Tyrannen überhaupt beseitigen dürfe. Während jeder einen Usurpator – eine Person, die nach Thomas von AquinThomas von Aquin (1225–1274) widerrechtlich die Stellung eines Tyrannen ausübe – töten dürfe, so dürften Tyrannen – und damit meinte erThomas von Aquin (1225–1274) legitime, wenn auch ungerechte Machthaber – nur von Mitgliedern der obersten Schicht getötet werden. Bereits in seinen frühen Schriften warnte erThomas von Aquin (1225–1274) zudem davor, dass ein solcher Mord die göttliche Ordnung nicht verletzen dürfe. Wie die Kirchenväter des Frühmittelalters plädierte auch erThomas von Aquin (1225–1274) deshalb dafür, eine moderate tyrannische Herrschaft zu erdulden. Denn sowohl ein erfolgreicher wie auch ein gescheiterter Mord könnten unbekannte und schwerwiegende Folgen für die göttliche Ordnung und das Gemeinwohl haben.

CicerosCicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.) und Johannes von Salisburys ArgumenteJohannes von Salisbury (1115–1180) wurden im 14. und frühen 15. Jahrhundert immer wieder herangezogen, um die Tötung eines Tyrannen zu legitimieren. In Kirchenkreisen wurde das Thema kontrovers diskutiert. Dabei zeigte sich, wie dies die antiken Philosophen schon befürchtet hatten, dass der Begriff „Tyrann“ benutzt wurde, um politische oder religiöse Gegner zu delegitimieren – Parallelen zum späteren Gebrauch des Terrorismusbegriffs sind unverkennbar. Als der Burgunderherzog Johann OhnefurchtJohann Ohnefurcht (1371–1419) seinen Vetter, den Herzog Ludwig von OrléansLudwig von Orléans (1372–1407), im Jahr 1407 ermorden ließ, rechtfertigte der Theologe Jean PetitPetit, Jean (1360–1411) diese Tat als letztes Mittel, um eine ungerechte Herrschaft zu beenden. LudwigLudwig von Orléans (1372–1407) wurde in seiner Interpretation zum Teufel, der habe beseitigt werden müssen, um wiederum den französischen König Karl VI.Karl VI., König von Frankreich (1368–1422) – und damit das Abbild Gottes – vor falscher Einflussnahme und Manipulation zu schützen.

PetitsPetit, Jean (1360–1411) Argumente riefen scharfen Widerspruch hervor. Im Jahr 1414 beschäftigte sich auf einer Pariser Synode Johannes Carlerius GersonGerson, Johannes Carlerius (1363–1429), Kanzler der Universität Sorbonne, mit PetitsPetit, Jean (1360–1411) Thesen. GersonGerson, Johannes Carlerius (1363–1429) berief sich in seiner Erwiderung auf die gottgegebene Ordnung und argumentierte, dass nur eine Person mit entsprechender, von Gott gegebener Autorität einen Tyrannenmord durchführen dürfe. Jedoch müsse dem vermeintlichen Despoten die Möglichkeit zur Reue und Vergebung eingeräumt werden; ein geheimer Plan, um den Herrscher zu ermorden, oder eine Impulshandlung seien kategorisch zurückzuweisen. ErGerson, Johannes Carlerius (1363–1429) verwarf PetitsPetit, Jean (1360–1411) Argumente als Irrlehre und in Absprache mit dem Bischof von Paris und dem Großinquisitor ordnete er die Verbrennung von dessen Schriften an.

Einen Fürsprecher fand PetitPetit, Jean (1360–1411) in Johannes von FalkenbergFalkenberg, Johannes von (gest. um 1435), ein Mitglied des Dominikanerordens. Unter dem Eindruck der Niederlage des Deutschen OrdensDeutscher Orden bei der Schlacht von TannenbergTannenberg, Schlacht von (1410) (1410) ergriff er im Konflikt zwischen dem OrdenDeutscher Orden und dem polnischen König Władysław II. JagiełłoWładysław II. Jagiełło (1352/62–1434) Partei für den Ritterordern. In seinem Buch Liber de doctrinaLiber de doctrina (Falkenberg, Johannes von) (1416), in dem er sich auf PetitsPetit, Jean (1360–1411) These des Tyrannenmords bezog, argumentierte FalkenbergFalkenberg, Johannes von (gest. um 1435), dass es legitim sei, den polnischen KönigWładysław II. Jagiełło (1352/62–1434) und sogar dessen enge Vertraute zu ermorden. ErFalkenberg, Johannes von (gest. um 1435) warf dem HerrscherWładysław II. Jagiełło (1352/62–1434) vor, ein Ungläubiger und Götzenverehrer zu sein, was jeglichen Widerstand gegen ihnWładysław II. Jagiełło (1352/62–1434) und seine Entourage rechtfertige. Es deutete sich somit bereits bei Johannes von FalkenbergFalkenberg, Johannes von (gest. um 1435) eine erste, wenn auch noch zaghafte Erweiterung des Konzepts des Tyrannenmords an: Gewalt war für FalkenbergFalkenberg, Johannes von (gest. um 1435) nicht nur gegen den eigentlichen Machthaber legitimiert, sondern auch gegen seinen engeren Hofstaat.

Auch in den folgenden Jahrzehnten hielt der Streit über die Rechtmäßigkeit des Tyrannenmords an, wobei vielfach persönliche und religiöse Motive und Argumente sich gegenseitig bedingten und überlappten. Aber selbst die Befürworter wollten an einer Grundüberzeugung nicht rütteln: Nur Personen, die über eine entsprechende (göttliche) Autorität verfügten, durften einen Tyrannen umbringen. Auch die Reformation änderte an dieser Prämisse nichts. Während Martin LutherLuther, Martin (1483–1546) nur zögerlich einen Tyrannenmord als Akt der Selbstverteidigung der protestantischen Fürsten akzeptierte, stand Johannes CalvinCalvin, Johannes (1509–1564) einer solchen Tat von Anfang an aufgeschlossener gegenüber. Ausgangspunkt für beideLuther, Martin (1483–1546)Calvin, Johannes (1509–1564) war, dass sie die Verfolgung der Protestanten als Verstoß gegen die gottgewollte Ordnung interpretierten – ein Tyrannenmord war somit ein Mittel, um diese Ordnung zu wahren. Aber selbst der radikalere CalvinCalvin, Johannes (1509–1564) betonte, dass nur der Adel oder der Klerus zu einer solchen Tat berechtigt sei.

Erst Jahrzehnte später wurde auch an dieser Grundsäule gerüttelt: Der spanische Jesuit Juan de MarianaMariana, Juan de (1536–1624) legte in seiner Schrift De rege et regis institutioneDe rege et regis institutione (Mariana, Juan de) (1598) dar, dass jeder einen Tyrannen stürzen und töten dürfe. Mit diesem Argument wollte erMariana, Juan de (1536–1624) den Mord an Heinrich III.Heinrich III., König von Frankreich (1551–1589), König von Frankreich, durch den Dominikaner Jacques ClémentClément, Jacques (1567–1589) rechtfertigen. ClémentClément, Jacques (1567–1589) hatte Heinrich III.Heinrich III., König von Frankreich (1551–1589) getötet, nachdem dieser den Fürsten und Kardinal Heinrich von GuiseGuise, Heinrich von (1550–1588) hatte ermorden lassen. Juan de MarianaMariana, Juan de (1536–1624) war jedoch mit seiner Überzeugung ein Außenseiter innerhalb seines Ordens. Sein Landsmann und Ordensbruder Francisco SuárezSuárez, Francisco (1548–1617) kritisierte ihnMariana, Juan de (1536–1624) scharf und behauptete, dass es keinen rechtmäßigen Tyrannenmord geben könne. Ein solcher würde stets die gegebene Ordnung zerstören und immer im Chaos enden.

Trotz dieser Kritik stellten MarianasMariana, Juan de (1536–1624) Thesen einen wichtigen Meilenstein in der Geschichte des Tyrannenmords und damit auch des Terrorismus dar. Sie brachen nicht nur mit der bislang dominierenden Ansicht, dass nur die Obrigkeit eines Landes einen Tyrannen beseitigen dürfe; sondern seine Ideen inspirierten auch zahlreiche Nachahmer wie den Katholiken François RavaillacRavaillac, François (1577–1610), der Heinrich IV.Heinrich IV., König von Frankreich (1553–1610) von Navarra, König von Frankreich, tötete und danach hingerichtet wurde.

Ebenso bezog sich eine Gruppe englischer Katholiken um Robin CatesbyCatesby, Robin (1573–1605) und Guy FawkesFawkes, Guy (1570–1606) auf MarianasMariana, Juan de (1536–1624) Lehren, als sie den protestantischen König Jakob I.Jakob I., König von England (1566–1625) (1566–1625) sowie das englische Parlament durch einen Anschlag mit Schwarzpulver beseitigen wollten. Bis heute ist nur wenig über die Drahtzieher dieses sogenannten Gunpowder PlotsGunpowder Plot von 1605 bekannt, auch wenn der Film V for VendettaV for Vendetta (Film) (2005), der auf dem gleichnamigen Comic aus den 1980er Jahren basierte, Guy FawkesFawkes, Guy (1570–1606) und seinen angeblich ehrenhaften Motiven ein cineastisches Denkmal setzte. Offenbar wollten die Verschwörer durch ihre Aktion eine weitere Verschlechterung der Lage für Katholiken im Land verhindern. Kurz vor dem Anschlag warnten sie William ParkerParker, William, 4. Baron Monteagle (1575–1622), 4. Baron Monteagle, selbst Katholik und Schwager eines Mitverschwörers, an der Parlamentseröffnung teilzunehmen. ParkerParker, William, 4. Baron Monteagle (1575–1622) befürchtete jedoch, dass ein Attentat – erfolgreich oder nicht – den englischen Katholiken nur schaden werde. Bereits die antiken Philosophen und die Kirchenväter hatten bekanntlich vor einem derartigen Szenario gewarnt. ParkerParker, William, 4. Baron Monteagle (1575–1622) setzte deshalb die Regierung von den Plänen in Kenntnis. Als am Abend des 4. November 1605 die Kellerräume des Parlaments inspiziert wurden, konnte das dort in Fässern versteckte Schwarzpulver entdeckt werden. Zahlreiche Verschwörer – unter ihnen Guy FawkesFawkes, Guy (1570–1606) – wurden festgenommen oder sie starben beim Versuch der Festnahme. FawkesFawkes, Guy (1570–1606) und alle inhaftierten Mitverschwörer wurden im Januar 1606 hingerichtet.

Auch in den folgenden Jahrzehnten wurde immer wieder aus philosophischer und theologischer Sicht versucht, den Mord an einem Tyrannen zu rechtfertigen. Begleitet wurden diese Debatten stets von Rechtfertigungs- und Propagandakampagnen, die sowohl von den Befürwortern als auch den Gegnern initiiert und verbreitet wurden. Jede Seite wollte in diesem Streit die Deutungshoheit für sich beanspruchen und schreckte dabei auch vor beißender Polemik nicht zurück – ein Phänomen, das wir auch heute noch teilweise bei der Diskussion und Kommentierung von terroristischen Aktionen vorfinden. Einen Einfluss auf diese Debatte – wenn auch nur einen indirekten – hatte der Westfälische FriedenWestfälischer Frieden (1648) von 1648, mit dem der Dreißigjährige KriegDreißigjähriger Krieg (1618–1648) sein Ende fand. In dem Vertragswerk wurde unter anderem festgehalten, dass Staaten in ihren Territorien das alleinige Gewaltmonopol ausüben. Es war die Geburtsstunde eines neuen völkerrechtlichen Systems, in dem die gleichberechtigte Souveränität der einzelnen Nationalstaaten festgeschrieben war (Westfälische Staatensystem). Dies bedeutete aber auch, dass strenggenommen nur innerer Widerstand die Herrschaft eines Tyrannen beenden konnte. Diese Überlegung führte dazu, dass der im Mittelalter dominante theologische Schwerpunkt in der Debatte über einen legitimen Tyrannenmord langsam verblasste und durch philosophische und realpolitische Argumente überlagert wurde. Denn theologische Legitimierungsversuche zielten auf die ganze Gemeinschaft der Christen und hätten folglich die gerade durch den Westfälischen Frieden gestärkten nationalstaatlichen Grenzen transzendiert.

Dies zeigte sich in der Schrift Killing, No MurderKilling, No Murder (Sexby, Edward), die ein gewisser William Allen im Jahr 1657 verfasste und die in Großbritannien großes Aufsehen erregte. Heute wird angenommen, dass sich hinter diesem Pseudonym Edward SexbySexby, Edward (1616–1658), ein ehemaliger Gefolgsmann und späterer Gegner Oliver CromwellsCromwell, Oliver (1599–1658) verbarg. In seinem Pamphlet, das sich unter anderem auf PlatonPlaton (428–348 v. Chr.), AristotelesAristoteles (384–322 v. Chr.) und CiceroCicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.) bezog, plädierte SexbySexby, Edward (1616–1658) für die Ermordung CromwellsCromwell, Oliver (1599–1658). Er argumentiere, dass eine solche Tat ehrenhaft sei, da sich CromwellCromwell, Oliver (1599–1658) nur mit Gewalt an der Macht halte und sich somit im Krieg mit jedem einzelnen Menschen befinde. Mit diesem Argument bezog er sich auf den schottischen Philosophen George BuchananBuchanan, George (1506–1562)