Die Geschichtenwandler − Magische Tinte - Kristen Perrin - E-Book

Die Geschichtenwandler − Magische Tinte E-Book

Kristen Perrin

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Beschreibung

Wer ein Buch verändert, verändert die ganze Welt! Der erste Band einer neuen magischen Trilogie über das Wunder der Inspiration und die Bedeutung, die Geschichten für unser Leben haben In der Buchhandlung ihrer Mum traut Enna ihren Augen nicht: Ein Mann kritzelt mit einem ollen Federkiel im teuersten Buch des Ladens herum! Der seltsame Kerl mit dem verrückten grünen Zylinder hat das Ende des Buches umgeschrieben! Und dann fällt Enna eine Karte mit grün-schimmernden Buchstaben in die Hände: eine Einladung zur Aufnahmeprüfung in die Geheimgesellschaft »Emerald Ink«. Bald steckt Enna mitten in einem Abenteuer rund um smaragdgrüne Tinte und die Magie, die aus Geschichten entsteht. Kann sie die gefährliche Wirkung dieser Magie auf die reale Welt verhindern? Phantastisch, magisch, rasant und voller Überraschungen – diese Geschichte verwandelt alles! Besonders schön ausgestattes Hardcover mit einer Karte von London im Vorsatz, magischen Illustrationen von Helge Vogt und durchgehend dunkelgrün gedruckt – einfach magisch! Alle Bände der Trilogie Die Geschichtenwandler: Band 1: Magische Tinte Band 2: (In Vorbereitung) Band 3: (In Vorbereitung)

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Seitenzahl: 313

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Ähnliche


Kristen Perrin

Die Geschichtenwandler

Magische Tinte

Band 1

 

Aus dem Englischen von Fabienne Pfeiffer

 

Über dieses Buch

 

 

Wer ein Buch verändert, verändert die ganze Welt

In der Buchhandlung ihrer Mum traut Enna ihren Augen nicht: Hat dieser seltsame Mann mit dem Zylinder wirklich gerade mit seinem ollen Federkiel etwas in die teuerste Erstausgabe im ganzen Laden gekritzelt? Tatsächlich! Er hat nicht nur etwas hineingeschrieben, er hat das Ende umgeschrieben! Enna kommt der geheimnisumwobenen “Emerald Ink”-Gesellschaft auf die Spur. Und entdeckt, dass mit der magischen Tinte nicht nur Geschichten verwandelt werden, sondern auch die ganze Welt, wie wir sie kennen. Kann Attie mit nur einem Stift und einer vagen Vorstellung von Buchmagie die Gesellschaft der grünen Tinte davon abhalten, die Welt und die Menschen, die sie liebt, für immer zu verändern?

 

Der erste Band einer neuen magischen Trilogie über das Wunder der Inspiration und die Bedeutung, die Geschichten für unser Leben haben

 

Alle Bände der Trilogie Die Geschichtenwandler:

Band 1: Magische Tinte

Band 2: erscheint voraussichtlich im Herbst 2023

Band 3: erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2024

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Kristen Perrin stammt ursprünglich aus Seattle, USA, wo sie viele Jahre als Kinderbuchhändlerin tätig war. Sie interessiert sich leidenschaftlich für Kinderliteratur und arbeitet gleichzeitig an Projekten für verschiedene Altersgruppen, von Bilderbüchern bis hin zu Jugendbüchern – alles, was lustig, magisch oder mysteriös zu sein könnte. Sie lebt mit ihrer Familie in Surrey im Süden Englands, wo sie gerne in Antiquariaten stöbert, mit ihren beiden Kindern im Schlamm herumstampft und zu viele Pflanzen sammelt. »Die Geschichtenwandler – Magische Tinte« ist ihr Debüt.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

KAPITEL 1

Dies ist eine Geschichte über das Schreiben in Bücher. Nicht über das Schreiben von Büchern – Geschichten darüber gibt es schon so einige, und wer sich dafür interessiert, dem kann ich gern zeigen, wo man sie bei uns im Regal findet. Abteilung Biographien, rechte Ladenseite, hinter der eisernen Wendeltreppe, die hinauf in das gemütliche Dachgeschoss führt, in dem wir die Kinderbücher untergebracht haben.

An jenem Tag, als ich ihn zum ersten Mal sah, stand er mit hochgezogenen Schultern da und kritzelte eifrig in eine seltene Erstausgabe von Große Erwartungen, die mehr wert war als das Auto meiner Mum. Ich hatte bereits einen reichlich merkwürdigen Morgen hinter mir, und dabei war es noch nicht einmal zehn Uhr vormittags. Es war der Tag, an dem Mum mir zum ersten Mal erlaubte, im Laden ans Telefon zu gehen – was damit endete, dass ich mir selbst den Hörer ins Gesicht schlug. Zu meiner Verteidigung: Wir reden hier von einem altmodischen Schrottapparat, und der Hörer allein wiegt mehr als ich. Das ganze Ding steht neben der antiken Kasse und wirkt wie ihr etwas unkomplizierterer Cousin.

Es war außerdem der Tag, an dem ich mit einem angebissenen Bagel beworfen wurde, während ich in der Vorlesestunde aus einem Buch mit dem Titel Doktor Proktors Pupspulver vorlas. Ich verdiene mir mein Taschengeld damit, dass ich Aufgaben wie das Einsortieren von Büchern erledige oder eben den kleinen Kindern vorlese, und Mum sagt, die Kids fühlen sich ohnehin wohler mit jemandem, der erst zwölf ist, als mit einem fremden Erwachsenen. Jetzt habe ich einen halben Bagel, der das Gegenteil beweist.

Und zu guter Letzt war es auch noch einer jener Tage, an denen meine Großmutter in den Laden kam. Ihr Anblick löste in mir das plötzliche Bedürfnis aus, sofort nach dem Telefonhörer zu greifen, auf die unwahrscheinliche Chance hin, dass ich mich noch einmal selbst damit beinahe bewusstlos schlagen könnte.

Jedenfalls war ich in das neueste Buch von Renée Romanov vertieft, und sobald man mit einem davon anfängt, verfliegen die Stunden nur so, und man spürt kaum etwas davon. Alle sind Mordgeschichten, die im London zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielen, mit einer siebzehnjährigen angehenden Krankenschwester als Hauptfigur, die in Wirklichkeit eine Spionin ist. Als ich hochschaute und Grams’ Gesicht sah, das sich gegen die trübe Scheibe des Schaufensters presste, hätte ich beinahe aufgeschrien, und das Buch glitt mir aus den Händen. Grams hat ein Talent dafür, stumm und doch überfallartig aufzutauchen, ganz wie in diesen mit unheilvoller Musik unterlegten Horrorfilmszenen, in denen jemand einem tadellos ordentlichen Zimmer den Rücken zuwendet, nur um sich Sekunden später wieder umzudrehen und völliges Chaos vorzufinden.

Dazu kommt noch, dass sie auch keineswegs die typische herzige alte Dame ist. Sie hat breite Schultern und trägt einen grauen Pferdeschwanz, aus dem sich immer wieder einzelne Strähnen lösen und um ihr Gesicht streichen. Ich liebe sie von ganzem Herzen. Und zwar ohne jedes Aber! Sie verkörpert eine Million Dinge, die anderen Menschen unsympathisch sind, und für mich fühlt sich das wie Geborgenheit an. Wie ein Zuhause. Sie schreit und flucht und regt sich furchtbar über belanglose Dinge auf, zum Beispiel über die automatischen Ansagen in der U-Bahn oder kleine Ketchuptütchen aus Plastik. Meinen Freunden sind ihre Familien oft peinlich, aber ganz gleich, was meine Großmutter sagt oder tut, ich schäme mich nie für sie. Es gibt eine Menge Sachen, die ich an mir selbst nicht mag, aber was mich nie stören wird, ist, wie leicht es mir fällt, sie liebzuhaben.

Trotzdem weckt sie in mir manchmal den Drang, mir einen Telefonhörer ins Gesicht zu klatschen. Und vielleicht habe ich deshalb den Fremden mit der irren Schreibfeder erst bemerkt, als es bereits zu spät war. Gut möglich, dass das wütende Gezeter meiner Großmutter von draußen die Saiten meines dummen, überfürsorglichen Herzens zum Schwingen gebracht hat und ich deshalb blind war für das, was direkt vor mir passierte.

Bis Grams im Laden war, hatte ihr Geschimpfe sich in ein regelrechtes Wehklagen verwandelt, und ich wartete darauf, dass sie mir eröffnen würde, der Weltuntergang stehe kurz bevor.

»Was ist es heute, Grams?«, fragte ich ruhig, mit einem Stapel Zeitschriften im Arm, den ich in den Drehständer bei der Tür einsortieren wollte. Ich könnte Mum ein paar Pfund zusätzlich aus der Tasche leiern dafür, dass ich sie einräume, aber in Wirklichkeit tue ich gern so, als wäre es mein Buchladen und ich träfe hier alle Entscheidungen.

Ein neues Grüppchen Kunden brachte den Duft der geschäftigen Camden Street herein. Obwohl es noch früh am Tag war, herrschte eine mittsommerliche Hitzewelle, deshalb war es im Laden drückend heiß, und es stank nach muffigem Kebab. Was vermutlich auch daran lag, dass meine Mum versteckt in unserem kleinen Lagerraum einen muffigen Kebab zum Frühstück aß.

»Grams?« Ich zog eine Augenbraue hoch, gespannt auf ihr heutiges Problem: ob ihr der Klettverschluss zu kratzig war oder es um etwas Übleres ging. Meeresfrüchte, zum Beispiel.

»Die Farbe Rot«, sagte Grams, und ihre raue Stimme bebte. Ihr heiseres Organ verdankt sie dem jahrelangen Rauchen. »Es gibt einfach zu viel davon. Bald wird sie überall sein.«

»Nicht schon wieder die Ketchuptütchen«, seufzte ich, nahm sie am Ellenbogen und bugsierte sie in einen der Stühle, die bei uns im Laden stehen – einen rostroten Sessel aus den sechziger Jahren, auf dem sie dann thronte wie die Königin all der schrägen Ideen, die man besser schnell wieder vergisst.

»Mehr als nur die, Enna!«, sagte sie, sprang wieder auf und rüttelte an meinem Arm. »Früher waren sie nie rot! Weiß, sie waren immer weiß. Mit einer kleinen Abbildung einer roten Tomate darauf.« Sie kniff vor mir in der Luft die Finger zusammen, als könnte dazwischen jeden Moment eine winzige Tomate erscheinen.

»Das haben wir doch schon besprochen. Wahrscheinlich hat die Herstellerfirma einfach das Design verändert.«

»Nein, hat sie nicht. Der Ketchup hat die Verpackung verändert.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass Ketchup keinerlei derartigen Kräfte besitzt, Grams. Nicht einmal wenn er von einer total verwirrten radioaktiven Spinne gebissen wurde.«

»Warte nur ab, bald wird alles rot sein, zu viel Rot … warum nicht Blau? Grau ist auch hübsch …« Ihre Stimme verlor sich in einem Murmeln, und sie schüttelte den Kopf, als könnten Farben einem einfach den letzten Nerv rauben.

Ich machte mich daran, die Zeitschriften in den Ständer zu sortieren, und behielt sie dabei mit einem Auge halb im Blick. Selbst an guten Tagen war sie ein bisschen versponnen, doch das hier ging über ihre üblichen Anwandlungen hinaus. Mum hockte mit ihrem höchst ungesunden Frühstück noch immer im Lagerraum und kümmerte sich vermutlich um die Buchhaltung. Würde ich aber rufen, käme sie sofort herausgerauscht, um Grams zu helfen.

»Grams, vielleicht können wir die Ketchuptütchen einfach unter ›Dinge, die dich in letzter Zeit aufregen‹ ablegen? Du weißt schon, zusammen mit all den anderen Sachen, die offenbar nur dir auffallen?«

Sie warf mir einen entnervten Blick zu, sank aber wieder in die Sesselpolster.

»Schau mal!« Ich zog einen Comic aus dem Stapel Zeitschriften, den ich noch im Arm hielt. »Einer der Comics ist hier hineingerutscht …« Ich wedelte damit vor ihrer Nase, ließ den dünnen Band hüpfen und flattern, als wäre er lebendig und wollte unbedingt und um jeden Preis gelesen werden. »Du liebst doch Batman.«

»Oooh, Batman liebe ich wirklich«, meinte sie langsam und nahm ihn mir aus der Hand. Sie wirkte noch immer ein wenig verschnupft, aber ich konnte beobachten, wie ihr Ärger verflog, während die Geschichte sie in ihren Bann zog. Ab und an zuckte ihr Gesicht glücklich beim Lesen, als erinnerte sie sich gerade an etwas. Ich lächelte ebenfalls und wandte mich wieder den restlichen Magazinen zu.

Und in diesem Moment fiel mir der dunkelgrüne Seidenzylinder auf dem Fußboden ins Auge. Er war abgenutzt, als stammte er geradewegs aus einem Roman von Charles Dickens. Nicht dass ich einen davon gelesen hätte. In Oliver Twist habe ich einmal hineingeblättert und dabei festgestellt, dass auf den ersten dreihundert Seiten kaum etwas passiert. So viel Geduld besitze ich nicht. Bei meinem aktuellen Buch von Renée Romanov springt einem der Mordfall auf der ersten Seite ins Gesicht, und ehe man sich’s versieht, hat man die nächsten fünfzig Seiten und gut zwölf überraschende Wendungen durchpflügt. Wer aber seine Kindheit in einem Buchladen verbringt, dem gehen die charakteristischen Motive bestimmter Autoren automatisch in Fleisch und Blut über.

Zuerst dachte ich mir nicht viel dabei, denn ein solcher Hut würde auch auf dem Kopf eines Hipsters aus Camden nicht sonderlich fehl am Platz wirken. Doch als ich eine dunkelgrüne Feder etwa in Hüfthöhe hinter einem Regal hervorragen sah und ein merkwürdiges kratzendes Geräusch hörte, das zu ihren seltsamen geschwungenen Bewegungen zu gehören schien, legte ich die Zeitschriften ab und marschierte darauf zu.

Eine kleine weiße Karte klemmte unter dem Zylinderband, ganz im Stil des verrückten Hutmachers aus Alice im Wunderland, und ich wäre einfach daran vorbeigelaufen, hätte nicht etwas meine Aufmerksamkeit erregt: Auf der Karte prangte eine Aufschrift in geschwungenen grünen Buchstaben, und im Licht glitzerte sie beinahe hypnotisierend.

Ich habe keine Ahnung, was mich ritt, aber ich streckte die Hand aus und pflückte die Karte aus ihrem Schlupfwinkel, ehe ich um die Regalecke linste. Ich stopfte sie in meine Hosentasche, gerade als eine andere Kundin sich an mir vorbeischob – ein rothaariges Mädchen etwa in meinem Alter, dessen Miene wie zu einem spöttischen Dauergrinsen gefroren wirkte. Zum Glück ging sie einfach weiter, ohne etwas zu bemerken. Ich hatte ein ungutes Gefühl wegen der Karte, doch irgendetwas hielt mich zugleich davon ab, sie zurückzustecken.

Ich wagte zwei weitere leise Schritte Richtung Feder, wurde dabei jedoch von einer Lichtspiegelung aus unserer Glasvitrine mit den seltenen Büchern abgelenkt. Mir fiel die Kinnlade herunter, als ich mich umdrehte und feststellte, dass sie irgendwie aufgeschlossen und geöffnet worden war. Ich wirbelte wieder herum und erspähte endlich den Besitzer des Zylinders – einen schlaksigen Mann, der vornübergebeugt dastand und mit fliegender Hand etwas in unsere kostbare Erstausgabe von Große Erwartungen krakelte. Ebendie Ausgabe, von der ich mit Sicherheit wusste, dass sie aufgrund ihrer Seltenheit gut zweitausend Pfund wert war. Die Erscheinung des Mannes war jedoch derart absonderlich, dass ich für eine Sekunde kein Wort herausbrachte und ihn einfach nur stocksteif und blinzelnd anstarrte und mich fragte, ob er wirklich da war.

Auf dem Boden neben seinen Füßen entdeckte ich ein mundgeblasenes gläsernes Tintenfässchen (von der Art, wie ich sie schon auf dem Markt in der Portobello Road gesehen habe, wo Mum das Telefon und die antike Kasse gefunden hat), und der Anblick fesselte mich sofort, weil ein überwältigendes grünes Glitzern von ihm ausging. Das gleiche Glitzern wie von der Karte in meiner Tasche. Ein Glitzern, das mich unwillkürlich denken ließ: Okay … vielleicht treibt sich hier irgendwo doch eine radioaktive Spinne herum.

Sein Schreibgerät war phantastisch, mit einer edlen Metallspitze, die von der Tinte feucht funkelte, und einer wippenden und schwingenden Feder, die die winzigste Bewegung aufnahm. Zuerst sah er mich nicht, sondern schrieb einfach weiter. Schrapp, schrapp. Ich konnte praktisch hören, wie das einhundertfünfzig Jahre alte Papier gequält aufschrie.

Der Mann wirkte etwa so alt wie Mum, doch sein Gesicht war derart wettergegerbt, dass ich mir nicht sicher sein konnte. Er trug einen zu seinem ramponierten Zylinder passenden Anzug und sein langes schwarzes Haar in einem ordentlichen Pferdeschwanz – nicht zu vergleichen mit dem chaotischen Wirrwarr an Grams’ Hinterkopf. Der vernünftige Teil meines Gehirns meldete sich endlich energisch zurück, als mir klarwurde, dass ich ernsthaft Ärger bekommen würde dafür, Mum nicht augenblicklich alarmiert zu haben, sobald ich die Gewissheit hatte, dass ein merkwürdiger Mann tatsächlich in unsere Bücher kritzelte. Gleichzeitig ging mir auf, dass es vermutlich höchst unklug wäre, jemanden, der auf jeden auch nur annähernd klar denkenden Menschen wie ein kompletter Irrer wirkte, direkt mit einem solchen Vorwurf zu konfrontieren.

Ich tat einen vorsichtigen Schritt zurück, mit der vagen Absicht, Mum zu holen. Schon möglich, dass es in Camden von wohlmeinenden Spinnern nur so wimmelte, aber ich hatte nicht vor, das Risiko einzugehen und auf gut Glück zu hoffen, dieser Typ hier sei ebenfalls harmlos. Also trat ich meinen extrem linkischen Rückzug an, doch der Fußboden knarzte, und er blickte für den Bruchteil einer Sekunde zu mir auf.

Eine flüchtige Regung huschte über sein Gesicht. Im nächsten Moment lächelte er, als wären wir alte Bekannte, obwohl ich ihn mit Sicherheit nie zuvor getroffen hatte. Und dann schnellte seine Hand nach unten, um das Tintenglas aufzuklauben, während er gleichzeitig die Feder in sein Jackett schob. Er kam einen Schritt auf mich zu, das Buch noch immer in der anderen Hand.

Jeder Instinkt in mir schrie in diesem Augenblick LAUF! – aber genau wie in diesen dummen Träumen, in denen die Beine quasi am Boden festwurzeln, sowie man denkt, dass man sich jetzt besser schleunigst vom Acker machen sollte, schienen auch meine jetzt das Laufen verlernt zu haben.

Also stand ich da wie eine Idiotin, und er versuchte, sich an mir vorbeizuzwängen. Dabei strauchelte er ein wenig und griff nach dem nächstbesten Bücherregal, um sich festzuhalten, doch seine Hand erwischte stattdessen meine Schulter. Und da wurde die ganze Sache erst so richtig schräg.

Ich spürte eine Art Elektroschock durch meinen Körper rasen. Für Sekundenbruchteile wurde mir grellgrün vor Augen, und dann fühlte ich mich … erstaunlich gut. Wobei ich nach wie vor das Bedürfnis verspürte, mich nach einer radioaktiven Spinne umzusehen. Sollte dieser Kerl eine auf mich angesetzt haben, hatte er das falsche Mädchen zur Superheldin auserkoren.

Plötzlich ließ er das Buch fallen und stürzte davon.

»HEY!«, brüllte ich, doch der einzige Mensch, der sich außer mir noch im Laden befand, war Grams, nach wie vor vollkommen versunken in ihren Batman-Comic. Als ich unsere schwere Eingangstür aufzog, lugte ihr Kopf endlich über den Seitenrand.

»Was zu erledigen?«, fragte sie mit hochgezogener Augenbraue.

»Jaaa … hast du Hunger?«, erwiderte ich etwas zu hastig. Ich drängte mich bereits halb durch die Tür; in Gedanken war ich schon draußen. »Ich hole uns schnell ein paar Smoothies.«

Und weg war ich.

Ich habe keinen blassen Schimmer, was mich dazu trieb, ihm nachzurennen (und mal ernsthaft, liebe Beine, jetzt beschließt ihr, doch eure Arbeit zu tun? Um mir dabei zu helfen, dem Verrückten hinterherzulaufen statt von ihm fort?). Eine klassisch dumme Reaktion. Aber ich schätze, irgendwo in den Tiefen meines Gehirns stellte ich mir vor, dass ich ihn bloß in einiger Entfernung eine Weile verfolgen würde, um später der Polizei, die wir gewiss rufen würden, zumindest ansatzweise sagen zu können, wohin er geflohen war.

In der Ferne erhaschte ich das Wippen seines dunkelgrünen Zylinders, und ich stolperte zwischen einigen Schaufensterpuppen an der Straßenecke hindurch, deren nietenbesetzte Lederjacken für zwanzig Pfund im Doppelpack angepriesen wurden. Weil ja offenbar jeder unbedingt zwei nietenbesetzte Lederjacken braucht. Ich mühte mich, solche albernen Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen und stattdessen meine Konzentration auf den schrumpfenden Hut weit vor mir zu fokussieren.

Am Laden mit der riesigen Glitzerbühne vor der Tür schwenkte der Zylinder nach links, vorbei an dem Fahrradständer voller trauriger Rahmen, denen die Räder geklaut worden waren.

Im Vorüberrennen winkte ich eilig Uri zu, die gerade dabei war, vor ihrem Geschäft einen Tisch mit alten Teekannen neu zu arrangieren. In Uris Lagerraum habe ich mehr Sommernachmittage verbracht, als ich zählen kann, während Mum in unserem Laden beschäftigt war. Nicht viele Kids können von sich behaupten, dass ihre Babysitterin sie mit dem gesamten Arsenal eines Secondhandladens Verkleiden hat spielen lassen. Ich halte den Rekord für die meisten stolperfrei getragenen Federboas. Selbst Uri hat nur zehn geschafft, ehe sie sich um ihre Fesseln gewickelt haben, und niemand konnte bisher meine siebzehn toppen. Nicht einmal meine beste Freundin Delia, die die Statur einer Gazelle hat.

Ich heftete meine Augen fest auf den Hut, während ich am Neonschild des Tattoostudios vorbeistürmte. Die flackernden Umrisse eines übergroßen Herzens, das von einem Schwert durchbohrt wurde, summten im Schaufenster zur Straße hin und bescherten mir im Vorübersprinten einen Energieschub. Wem auch immer dieser Zylinder gehören mochte: Das hier war mein Revier. Hier entkam mir niemand.

Sowie ich jedoch um die Ecke bog, hinter der sich der Taxistand befand, beschlich mich die Ahnung, dass der sonderbare Fremde sogleich von einem der am Straßenrand parkenden Wagen verschluckt würde.

Am Stand herrschte Gedränge, und eine Reihe identisch aussehender Autos wartete im Leerlauf auf die nächsten Kunden. Um sie herum waberte ein dunstiger Abgasnebel, der mir dichter als gewöhnlich erschien. Die Luft fühlte sich erstickend und olivfarben an. Ich hielt inne, als ich sah, wie der grüne Zylinder in das Taxi am vorderen Ende der Schlange abtauchte, doch meine Augen klebten nicht länger an dem Mann. Sondern am Wagen.

Seine abgerundeten Kanten und die geschwungene Form waren wie immer, eine Hommage an die kultigen Oldtimer aus den 1950er Jahren. Ich war heute Morgen auf dem Weg zum Laden mit Mum bereits an mehreren davon vorbeigekommen, und ich wusste – jeder wusste –, dass sie schwarz waren. Immer waren sie schwarz gewesen. Wenn sie wie hier aufgereiht ihrer Kundschaft harren, wirken sie wie eine glänzende schwarze Käferparade.

Jetzt aber waren sie rot. Mein Blick schweifte von der wartenden Schlange vor mir ab und über die Straßen ringsum, und ich entdeckte ein weiteres Londoner Taxi, und dann noch eins.

Jedes einzelne Taxi vor, hinter und neben mir leuchtete in einem grellen, feurigen Rot.

KAPITEL 2

Normalerweise bin ich ein ziemlich logisch denkender Mensch, obwohl ich durchaus ein paar Jahre lang an Feen geglaubt habe. Außerdem muss ich immer am Ersten jedes Monats dreimal schnell hintereinander rabbit sagen, weil das Unglück fernhält. Und wo ich gerade darüber nachdenke: Ich würde niemals bei rückläufigem Merkur eine wichtige Entscheidung treffen, aber das beeinträchtigt mein Leben nicht allzu sehr. Zum Beispiel war die größte Entscheidung, die ich in letzter Zeit fällen musste, ob eine Kunstlederjacke eine gute Idee wäre (und ich habe mich dafür entschieden, womit mein Taschengeld eines gesamten Monats für eine Modesünde draufgegangen ist, die mir bei jedem Tragen das Gefühl gibt, meine Arme wären an meinen Oberkörper geklebt).

Als ich nun aber kehrtmachte, um zu unserem Laden zurückzulaufen, nachdem ich einen merkwürdigen Mann in ein ketchuprotes Londoner Taxi hatte steigen sehen, begann ich an meinem Verstand zu zweifeln.

Und sowie mir einfiel, dass ich das vermutlich allerwertvollsteBuch in unserem Besitz dort einfach auf dem Boden hatte liegen lassen, begann mein Herz so laut zu pochen, dass es mir in den Ohren hämmerte. Ein weiteres rotes Taxi brauste die High Street entlang, und ich fing an zu rennen. Ich musste schleunigst in den Laden.

Ich wetzte an Uri vorbei, die noch immer Teekannen stapelte, und ein Geistesblitz schoss mir durch den Kopf: Ich könnte sie nach dem sonderbaren Farbwechsel der Taxis fragen. Uri würde mir offen und ehrlich sagen, ob ich noch alle Tassen im Schrank hatte. Schlitternd kam ich zum Stehen. Der alte Mann, der hinter mir gegangen war, konnte nicht rechtzeitig anhalten und prallte gegen mich. Die fadenscheinige Plastiktüte, die er getragen hatte, riss auf, und ein Berg Teetassen schepperte zu Boden. Zum Glück waren sie allesamt ebenfalls aus Plastik.

»Tut mir leid«, sagte ich und sammelte die Tassen ein, ehe sie auf die Straße kullerten. Bestimmt hatte er sie gerade von Uri gekauft – ich erkannte die goldenen Sternenaufkleber, mit denen sie alle Artikel für unter fünfzig Pence markiert. In der Hoffnung, eher harmlos als geistig umnachtet zu wirken, räusperte ich mich: »Ich war nur gerade von den Taxis abgelenkt … plötzlich sind sie alle rot. Mein ganzes Leben lang waren sie schwarz – habe ich irgendeine großangelegte neue Taxikampagne verpasst? Malen wir jetzt die ganze Stadt rot an oder so?«

Der alte Mann starrte mich an, als hätte ich eine Schraube locker, während ich die Plastikteetassen in seine Arme schichtete. »Taxis sind seit jeher rot«, sagte er mit schroffer, ungeduldiger Stimme. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht zu erwidern: Na, so alt, wie Sie sind, müssen Sie es ja wissen.

»Nein«, widersprach ich behutsam. Verrückter alter Knacker mit seinen blöden Teetassen. Für so etwas hatte ich gerade wirklich keine Zeit. »Sind sie nicht.« Langsam machte ich ein paar Schritte rückwärts. Uri brauchte ich nun nicht mehr nach den Taxis zu fragen; der alte Mann hatte mir Auskunft genug gegeben. Ich wirbelte wieder herum und flitzte erneut los.

Dabei spukte mir in einem fort Grams’ Gejammer über die Farbe Rot durch den Kopf. Am liebsten hätte ich ein paar der Wahrzeichen unseres Stadtbezirks abgeklappert, um zu überprüfen, ob sich sonst noch etwas verändert hatte, aber Camden wechselt ständig seine Farben. Nur etwas, das schlagartig stumm und einfarbig wäre, würde in diesem Teil Londons hervorstechen.

Ich machte dennoch im Sprint über die Kanalbrücke und anschließend die High Street hinauf eine schnelle Bestandsaufnahme: Kanalboote, die sich nie von der Stelle bewegten? Check. Der Laden mit der lauten Musik und den Robotern vor der Tür? Check. Der riesige chinesische Drache, der eingerollt vor meinem Lieblingsrestaurant kauert? Check.

Der Gedanke daran, was passieren würde, sollte jemand beschließen, das Buch zu stehlen, das nun dort auf dem Fußboden des Ladens mit seinem Preisschild praktisch Hey! Ich bin einen Haufen Geld wert! Steck mich in die Tasche und verhökere mich bei eBay! schrie, befeuerte meine Schritte noch mehr.

Als ich endlich – nach Luft japsend wie ein Pterodaktylus und entsetzt darüber, wie schlecht meine Kondition war – durch die Tür stürzte, war Grams verschwunden. So ist sie: Sie kommt und geht, wie es ihr gefällt. Ihr Platz im Sessel war jetzt von Derrida, unserem Ladenkater, besetzt. Ich würde ja behaupten, er gehört uns, aber wann immer wir versuchen, ihn in unsere Wohnung ein Stück weit die Straße hinauf mitzunehmen, entwischt er jedes Mal wieder hierher. Also haben wir ihm einfach einen Schlafplatz eingerichtet und bewahren ein wenig Futter im Laden auf, und er hält für uns Wache.

Das Buch lag noch immer auf dem Boden, genau dort, wo der Fremde es hatte fallen lassen. Ich hob es auf und strich Derrida zerstreut über den rabenschwarzen Kopf. Mein Blick schnellte dabei ruckartig zu dem Retroposter von Piccadilly Circus, das an der Rückwand unseres Verkaufsraums hing, umgeben von Postkarten, die London im Verlauf der Jahrzehnte zeigten. Manche davon waren schwarz-weiß, die meisten aber quietschbunt, wobei die Farben unter der Sonne und zu viel Staub gelitten hatten. Bei dem Poster handelte es sich um ein Foto aus den Sechzigern, das bereits so lange dort prangte, dass ich mich an keine Zeit erinnern konnte, in der es nicht da gewesen war. Vermutlich existierte es seit den echten Sechzigern. Ein Farbfleck in der rechten unteren Ecke sprang mir praktisch ins Gesicht.

Ein Taxi, das die Farbe der Deckflügel eines Marienkäfers hatte. Im Jahr 1965.

Taxis sind seit jeher rot. Die Worte des alten Mannes hatten so normal geklungen, doch von Minute zu Minute spürte ich, wie die Dinge immer stärker einem Normal entglitten und sich stetig in Richtung eines Unmöglich bewegten.

Mum hatte den Lagerraum inzwischen verlassen und starrte nun auf einen Haufen Bücher hinunter, den sie offenbar zu einer Pyramide stapeln wollte. Sie fuhr sich mit einer Hand durch ihren zerzausten Pixie Cut, und ihre türkisfarbenen Ringe blitzten und funkelten im Licht der grellen Vormittagssonne.

»Hast du Smoothies mitgebracht?«, fragte sie, ohne den Blick von den Büchern zu wenden. Sie zog einen dicken Wälzer aus ihrem halbfertigen Arrangement und atmete dabei ganz vorsichtig ein, als könnte sie so die restlichen Bände vor dem Einsturz bewahren. »Grams meinte, das hattest du vor.«

»Oh, ähm …« Ich versteckte das Buch unauffällig hinter meinem Rücken und schob mich langsam hinüber zu der Metalltreppe im hinteren Ladenbereich. »Die Schlange war zu lang.«

»Deshalb esse ich zum Frühstück immer Reste vom Vortag«, meinte sie und drehte sich doch noch zu mir um. »Hinten liegt noch eine Hälfte meines Kebabs – greif zu, wenn du Hunger hast.«

»Nein, danke – igitt!« Ich tastete mich die erste Stufe hinauf, sorgsam darauf bedacht, möglichst unauffällig ein Buch im Wert von zweitausend Pfund in den Bund meiner Hose zu stopfen. »Den hast du gestern gekauft, und nun gammelt er schon den ganzen Morgen da herum. Hätte ich zum Frühstück Appetit auf Salmonellen gehabt, wäre ich zu dem Schnellimbiss gegangen, vor dem nie jemand ansteht.«

Mum lachte und legte wohlwissend den Kopf schief. »Ach ja, da geh bitte nicht hin.« Sie fügte ihrer wackeligen Pyramide ein weiteres Buch hinzu und stieß erleichtert die Luft aus, als die Konstruktion hielt. Ich schlug mein Top über die Ecke von Große Erwartungen, die noch hinten aus meiner Hose ragte, und hastete dann zwei Stufen auf einmal nehmend die klapprige Treppe hinauf.

Durch ein Eisengeländer kann man von der Kinderbuchabteilung aus den ganzen Laden überblicken – entsprechend sieht man von unten eine Explosion bunter Buchrücken und Lichterketten, sowie man einen Fuß über die Schwelle setzt und nach oben schaut. Eine Ecke des Bereichs nimmt ein lächerlicher Aufbau mit Prinzessinnenzeptern und Krönchen ein, den Mum sich hat einfallen lassen und der vom Erdgeschoss betrachtet ein wenig so wirkt, als wären Frühlingsfeen zu uns hereingeschwebt und hätten Sternchen erbrochen. Der Wendeltreppe, die sich hier heraufwindet, verdankt unser Laden neunzig Prozent seiner einnehmenden Atmosphäre und einhundert Prozent seiner Unfälle.

Ich hockte mich hinter all den Tüll und die künstlichen Sterne des Aufstellers mit den Prinzessinnenkronen – das ist mein Platz. Niemand sieht mich hier, aber ich habe den kompletten Verkaufsraum im Blick, wenn ich nur an der richtigen Stelle durch einen Spalt schiele.

Ich zerrte das Buch wieder aus meinem Hosenbund, um mich bequemer hinsetzen zu können, und hielt es vorsichtig in beiden Händen. Noch wagte ich nicht, es zu öffnen. Dass ich es mit hier hinaufgenommen hatte, statt es Mum zu geben, bescherte mir leise Gewissensbisse, doch schließlich war es nicht meine Schuld, wenn ein dickensfanatischer Spinner beschloss, eine wertvolle Erstausgabe zu verschandeln. Und dafür, dass ich ihn nicht daran gehindert hatte, würde ich keinen Ärger bekommen, weil Mum niemals von mir erwarten würde, einen solchen Mann zu konfrontieren. »Wann immer du irgendetwas Unrechtes bemerkst, komm und hol uns«, war ihr Mantra. »Du weißt nie, wie jemand reagiert.« Trotzdem hatte ich das Gefühl, meine Entdeckung sollte geheim bleiben. Ich wollte von niemandem hören, dass die glimmende Tinte und die sonderbaren Stromschläge allein meiner Phantasie entsprungen waren.

Wieder kam mir Grams’ kuriose Besessenheit mit der Farbe Rot heute früh im Laden in den Sinn. Und dann der plötzliche Farbwechsel der Taxis … zu Rot. Ich wünschte mir, dass es sich dabei um einen Zufall handelte, doch allein beim Nachdenken darüber wurde mir mulmig zumute. Tatsächlich war ich bereits sicher, dass alles irgendwie mit dem merkwürdigen Mann in unserem Laden zusammenhing.

Ich holte tief Luft und schlug endlich die antike Ausgabe von Große Erwartungen auf. Ohne eine konkrete Vorstellung, wonach ich suchte, durchblätterte ich die Seiten und biss mir dabei in die Innenseite meiner Wange. Es dauerte nicht lange, da wurde ich fündig.

Dort, ganz hinten im Buch, standen Wörter, die leuchteten wie Katzenaugen im Licht eines Autoscheinwerfers. Und zwar nicht die Wörter, die eigentlich den Schluss des Textes bildeten – ich kannte das Ende genau dieses Buchs, weil Mum mir eines Tages einmal sämtliche Finessen der seltenen Erstausgaben gezeigt hatte, und es war ein anderes als das, was nun da stand. Vor allem aber war das grüne Glühen unübersehbar.

Er hatte seine Leuchttinte dazu genutzt, das Ende eines richtig berühmten Buchs umzuschreiben. Wieso bloß?

Nur, um ganz sicherzugehen, stand ich auf und schnappte mir zwei andere Ausgaben von Große Erwartungen aus der Kinderbuchabteilung. Beide enthielten gekürzte und vereinfachte Fassungen mit Illustrationen und stammten aus unserem Regal mit den Klassikern für Leseanfänger.

Die letzten Seiten dieser Versionen stimmten tadellos mit der Erstausgabe überein, in die der Fremde gekritzelt hatte, und auch sie schimmerten, als wären sie soeben von einer leuchtstabwedelnden Tinker Bell abgestaubt worden. Offenbar hatte seine magische Tinte nicht bloß das Ende einer, sondern sämtlicher Ausgaben von Große Erwartungen verändert.

Das grüne Schimmern aus dem Buch erinnerte mich an die Schrift, die mir auf der Karte vom Zylinder des Mannes aufgefallen war, und ich fingerte sie eilig aus der Hosentasche und drehte sie um. Kaum hatte mein Blick die Fläche erfasst, da zuckte ein grüner Blitz darüber wie der Funke eines Smaragdfeuers. Ein Widerhall des Stromstoßes, den ich einige Stunden zuvor verspürt hatte, sauste durch meinen Arm, und alle Luft wich mir aus den Lungen, als mir klarwurde, womit ich es unleugbar zu tun hatte. Das Papier in meiner Hand pulsierte und knisterte vor Magie.

Und dann war es, als wäre mein Glaube an diese Magie – zusammen mit der Erinnerung an den elektrischen Schlag – der Schlüsselreiz gewesen, denn mit einem Mal fühlte sich das, was ich zwischen den Fingern hielt, wie ein ganzer Zettelstapel an. Ich rieb die Fingerkuppen zusammen, merkte, wie Seiten übereinanderraschelten, und ehe ich mich’s versah, hatte ich ein winziges Buch in der Hand.

Die Karte war in Wirklichkeit ein wunderhübsches kleines Büchlein, über dessen Einband sich geschwungene glitzernde grüne Buchstaben zogen. Buchstaben, die eine Minute zuvor noch nicht da gewesen waren.

Aufnahme in die Emerald Ink Society … stand dort.

Ich blätterte eine winzige Seite um, und meine Augen schärften sich vor Spannung. Die grüne Schrift lief weiter, und ich konnte ihr zusehen, wie sie neue Schlingen und Windungen formte. Die magische Energie kribbelte auf meiner Haut, als fände in meiner Handfläche eine Party im Miniaturformat statt und ich wäre der Ehrengast.

Werter Nachfahr der Emerald Ink Society,

hiermit hältst du die offizielle Einladung zum Antritt deines Erbes in der Hand – deine Chance, dir deinen Platz unter unseren hochgeschätzten Mitgliedern der Gesellschaft der grünen Tinte zu verdienen. Der Wettbewerb um einen unserer begehrten fünf Stühle wird am 31. Juli um Punkt 12 Uhr mittags beginnen. Zeige diese Einladung an Henry’s Bookstall im Hyde Park vor als Beweis dafür, dass du dich zur Teilnahme entschlossen hast, und erhalte so deine Anweisungen für die erste Aufgabe.

Sofern es dir gelingt, diese zu bewältigen, verdienst du dir den ersten Teil deines persönlichen Schlüssels zur Emerald Ink Society. Solltest du versagen, wird dein Name im Dunkel der Geschichte verschwinden.

Darunter prangte ein kunstvolles Symbol – Linien, die sich zu den Umrissen einer Art alter Landkarte oder Schriftrolle vereinigten, in deren Innerem wiederum ein kleines Tintenfass abgebildet war. Es glich haargenau jenem, das ich den Mann heute Morgen in unserem Laden hatte benutzen sehen, und während ich es nun betrachtete, sprudelte die Tinte darin empor. Sämtliche leuchtenden grünen Wörter der Einladung wurden in das winzige Gefäß gesogen, und zurück blieb nur das Bild der schimmernden grünen Flüssigkeit, die glomm wie ein Leuchtfeuer. Und darunter die Unterschrift.

Hochachtungsvoll

Quillon Fable

Beim Lesen des Namens überkam mich die merkwürdige Gewissheit, dass er zu dem Mann gehörte, den ich beim Verschandeln des Buchs beobachtet hatte. Meinen Augen blieben nur Sekunden, um ihn mir einzuprägen, ehe er ebenfalls in dem winzigen Tintenfässchen zerfloss. Ich verfolgte, wie die Buchstaben hineinglitten wie Neonrauch – wie ein Dschinn, der in seine Lampe zurückkehrt.

»Quillon Fable«, murmelte ich vor mich hin und ließ den Namen über meine Zunge rollen. »Ein Mann, der mit Leuchttinte in Bücher schreibt und Einladungen zu einem geheimen Wettstreit an seinem Hut herumträgt.«

Gedankenverloren rieb ich die Seiten des Miniaturbüchleins zwischen meinen Fingern; in meinem Gehirn hüpften Ideen umher wie eine Wagenladung Flummis.

»Die Emerald Ink Society«, flüsterte ich den staubigen Regalen ringsum zu. Der einunddreißigste Juli war heute. Ich schielte auf meine Armbanduhr hinunter. 10.37 Uhr.

Ein höchst leichtsinniger und waghalsiger Einfall begann hinter meiner Stirn Form anzunehmen – einer, der gehörig nach Abenteuer roch. Sofern ich diese Gelegenheit, mehr in Erfahrung zu bringen, nicht nutzte, würde ich es mein Leben lang bereuen.

»Mum!«, rief ich über das Geländer. »Es soll heute richtig heiß werden. Darf ich Delia anrufen und fragen, ob sie Lust hat, im Hyde Park schwimmen zu gehen? Wenn wir uns jetzt auf den Weg machen, sind wir zur Mittagszeit dort.«

KAPITEL 3

Delia trommelte mit ihren Nägeln auf die Ladentischplatte, und der dezente Glitzerlack, den sie aufgemalt hatte, blitzte in der Sonne auf und bescherte mir beinahe einen Herzinfarkt – denn ich hielt inzwischen überall nach magischen grünen Lichtfunken Ausschau.

Sie hatte ihr blondes Haar zu einem Knoten hochgebunden, der sie um Jahre älter wirken ließ, was sie wusste. Für gewöhnlich widerstehe ich dem Drang, meine eigenen Haare oder mein meist eher knittriges Top zu glätten, sobald ich Delia sehe, aber in letzter Zeit fällt es mir schwerer, mich in ihrer Gegenwart nicht wie der weniger glänzende Penny zu fühlen. Sie behauptet, ihr sei das egal, bietet mir zugleich aber ständig Lipgloss und die Glitzerhaargummis an, die sie als Gratisbeigaben von Zeitschriften bekommt, ganz so, als wäre ich in Sachen Mode ihr Wohltätigkeitsprojekt.

»Also, ich gehe gern mit dir zum Schwimmen ins Lido im Hyde Park«, meinte sie fröhlich, »aber … können wir uns bitte einfach einen entspannten Nachmittag zusammen machen? Keine Eskapaden? Keine Kapriolen?«

»Beeindruckendes Vokabular.« Ich wackelte mit den Augenbrauen. »Und dir sollte klar sein, dass es für Ausflüge mit mir nie eine garantierte Kapriolenfreiheit gibt.«

Sie verdrehte die Augen, schmunzelte jedoch. »Jep, Grams hat einen ernstlich schlechten Einfluss auf dich … aber wirklich, nach der Sache im Telefonladen letzte Woche habe ich den Knoblauchgeruch tagelang nicht aus meinen Haaren gekriegt – diese Knoblauchketten haben gestunken!«

»Okay, aber dieser superblasse Verkäufer ist total nervös geworden, als wir damit hereinkamen, was meine Theorie, dass er ein Vampir ist, zu einhundert Prozent beweist.«

»Er ist vor uns zurückgewichen, weil wir wie Irre ausgesehen haben – und gerochen wie ein italienisches Restaurant!«

Ich beugte mich über den Ladentisch und flüsterte theatralisch: »Vampir!«

Delia hob beide Hände, als wollte sie sich ergeben, und lachte. »Okay, okay.«

»Und gib es zu: So heftig haben wir noch nie im Leben gelacht. Nur dank der Knoblauchketten und meiner Kapriolenkompetenz.«

»Kannst du dieses Wort jetzt mal wieder wegpacken? Ich bereue schon, dass ich es benutzt habe.«

»Ich höre auf damit, wenn du eingestehst, dass du Spaß mit der Knoblauchkette hattest.«

Ein gereiztes Hüsteln ertönte in unserem Rücken, und Delias ältere Schwester Angeline warf uns beiden einen müden Blick zu. Sie ist sechzehn und quasi die zukünftige Version von Delia. Die zwei sehen sich nicht nur ähnlich; Angeline lebt auch ungezügelt all die Dinge aus, an denen Delia sich gerade ein wenig versucht – Make-up, Mode, Mädchentheater. Ich hatte meine Haare geflochten, um sie mir aus dem Gesicht zu halten, und wünschte mit einem Mal, ich hätte die Zeit in eine stylischere Frisur investiert.

Weiß der Himmel, wieso sie zugestimmt hatte, uns heute zu begleiten. (Wobei ich ahne, dass ihre Mutter sie dafür bezahlt.)

Meine Mum trat unterdessen umsichtig hinter der Bücherpyramide hervor, die inzwischen fertig und ziemlich beeindruckend war.

»Hi, Ellie«, grüßte Angeline höflich.

Delia legte den Kopf schief, begutachtete die Pyramide und meinte dann: »Was passiert, wenn jemand ein Buch von ganz unten will?«

»Oh.« Mum betrachtete ihr Werk und brach dann in lautes, bellendes Gelächter aus, das uns alle zusammenzucken ließ. »Ich habe mich so darin verrannt, wie es aussehen sollte, dass ich daran überhaupt nicht mehr gedacht habe! Hoffen wir einfach, so weit kommt es nicht.«

Ich angelte meine schäbige Segeltuchtasche hinter dem Ladentisch hervor. Sie begleitet mich einfach überallhin, und ich war zuvor bereits schnell in unsere Wohnung gelaufen, um mein ausgeblichenes Strandtuch und meine gefälschte Designersonnenbrille hineinzustopfen, damit das angebliche Schwimmengehen sich weniger nach einer Lüge anfühlte.

Mum drückte einen Hebel an der klobigen Kasse, und die Schublade sprang knarzend auf. Ich wand mich innerlich, denn ich wusste, was jetzt kam. Das Bargeld in der Kasse wirkte ein wenig zu ordentlich und übersichtlich, weil so wenig davon da war. Mum zog einige Fünf-Pfund-Noten heraus, biss sich dann auf die Lippe und legte zwei wieder zurück. Angeline und Delia wandten angestrengt den Blick ab und taten, als bemerkten sie ihre sorgenvolle Miene nicht.

»Viel Spaß!«, sagte Mum schließlich und reichte mir einen Geldschein. Dafür würde ich nicht einmal etwas zu trinken und ein paar Pommes bekommen, von einem Sandwich ganz zu schweigen. Dennoch rang ich mir mein breitestes Lächeln ab und schob den Fünfer in die Tasche.

»Danke, Mum«, erwiderte ich leise und gab ihr einen Kuss auf die Wange, ehe wir uns verabschiedeten.