Die Gesichter der Wahrheit - Donal Ryan - E-Book

Die Gesichter der Wahrheit E-Book

Donal Ryan

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Beschreibung

Es begann mit Wohlstand und satter Zufriedenheit und endet mit Entführung und Mord. Was dazwischen liegt, sind einundzwanzig Leben, einundzwanzigmal Hoffen und Träumen, Lieben und Leiden – einundzwanzig Menschen, die im Strudel der irischen Finanzkrise ihre Wahrheit erzählen – und das Geschick eines ganzen Landes.

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Seitenzahl: 245

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Donal Ryan

Die Gesichter der Wahrheit

Roman

Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll

Diogenes

Dieses Buch ist dem Andenken an Dan Murphy gewidmet

{5}1Bobby

Mein Vater lebt immer noch die Straße runter und am Wehr vorbei in dem Häuschen, in dem ich aufgewachsen bin. Ich gehe jeden Tag hin, um zu sehen, ob er tot ist, und jeden Tag enttäuscht er mich. Es ist noch kein Tag vergangen, an dem er mich nicht enttäuscht hat. Er grinst mich an; dieses ekelhafte Grinsen. Er weiß, dass ich komme, um nachzusehen, ob er tot ist. Er weiß, dass ich weiß, dass er es weiß. Er grinst sein schiefes Grinsen. Ich frage ihn, ob er alles hat, was er braucht, und er lacht nur. Wir schauen uns eine Weile lang an, und wenn ich seinen Gestank nicht mehr ertrage, gehe ich. Viel Glück, sage ich, wir sehen uns morgen. So ist es, gibt er zurück. Ich weiß, dass es so sein wird.

In dem niedrigen Tor im Vorgarten dreht sich ein rotes Metallherz an einer Achse. Der Lack blättert inzwischen ab; das Rot ist fast verschwunden. Es muss abgebürstet, geschliffen, lackiert und geölt werden. Aber es dreht sich noch im Wind. Ich kann es quietsch, quietsch, quietschen hören, während {6}ich weggehe. Ein blätterndes, quietschendes, rotierendes Herz.

Wenn er stirbt, gehören mir das Haus und der Hektar Land, der noch übrig ist. Er hat Großvaters Hof schon vor Jahren versoffen. Sobald ich ihn unter die Erde gebracht habe, fackel ich das Haus ab und pisse auf die Asche, und den Hektar Land verkaufe ich an den Meistbietenden. Jeder Tag, den er noch lebt, senkt den Preis, den ich verlangen kann. Das weiß er genau; er lebt aus reiner Bosheit weiter. Sein Herz ist verkrustet, seine Lunge ist schwarz und verkümmert, und trotzdem schafft er es, Luft zu holen und sie dann ächzend und hustend wieder auszuspucken. Ich wurde vor zwei Monaten entlassen, das war die beste Medizin für ihn. Das hat ihm bestimmt noch mal ein halbes Jahr verschafft. Wenn er je rausfindet, wie Pokey Burke mich aufs Kreuz gelegt hat, wird ihn das vollends genesen lassen. Burke könnte sich seligsprechen lassen, nachdem er so ein Wunder bewerkstelligt hat.

Aus welchem Grund hätte ich Pokey Burke nicht trauen sollen? Er war jung, als ich angefangen habe, für ihn zu arbeiten – drei Jahre jünger als ich –, aber jeder in der Gemeinde hatte schon für seinen alten Herrn gearbeitet, und abgesehen von den üblichen Lästereien verlor niemand ein schlechtes Wort über ihn. Pokey Burke war nach dem Papst benannt: {7}Seán Pól hatten seine Eltern ihn getauft. Aber sein Bruder Eamonn war noch keine zwei Jahre alt, als seine Eltern das neue Baby nach Hause brachten, und er nannte das neue Baby Pokey, und alle machten mit, und so blieb der Name Pokey zeit seines Lebens an dem kleinen Seán Pól haften. Und das wird er wohl auch darüber hinaus, falls er jemanden hinterlässt, der sich an ihn erinnert oder von ihm redet, wenn er tot ist.

 

Ich hätte wissen müssen, dass was nicht stimmt, als Mickey Briars letztes Jahr ankam und nach seiner Betriebsrente fragte. Jungs, wusstet ihr, dass wir alle Anspruch auf ’ne Betriebsrente haben? Wussten wir nich, Mickey. Is so, bei ’nem Verein namens SIF. So ’ne richtige Betriebsrente, nich nur die von Vater Staat. Die is extra. Mickey hatte die linke Hand ausgestreckt. Sie hielt das unsichtbare Gewicht dessen, was er nicht bekommen hatte, obwohl es ihm zustand. Er zählte die Liste der Dinge ab, die ihm verwehrt worden waren, ein knochiger Finger auf sonnengegerbtem, kalkverbranntem Fleisch. In seinen gelben Augen standen die Tränen. Er war aufs Kreuz gelegt worden. Ausgeraubt. Und das nicht mal von einem Mann, sondern von einem kleinen Wichser. Das war es, worüber er nicht hinwegkam.

{8}Er ging rüber und fing an, so lange auf die Fertigtür einzudreschen, bis Pokey Burke sie einen Spaltbreit öffnete, ihm einen Umschlag hinwarf und die Tür wieder zuschmiss, gerade als Mickey den Kopf senkte und ihn wie ein Ziegenbock rammen wollte. Mickeys harter alter Schädel brachte das Holz zum Splittern, und die Tür hätte tatsächlich fast nachgegeben. Pokey Burke muss sich da drinnen eingeschissen haben vor Angst. Ich will meine scheiß Rente, du kleiner Wichser, brüllte Mickey immer wieder. Ich will meine scheiß Rente und meine restlichen Marken. Komm da raus, du Dreckskerl, ich bring dich um. Am Ende fing er richtig an zu randalieren, er warf Schubkarren um, riss Schalungen auseinander, und als er eine Schaufel in die Hand nahm und anfing, sie zu schwingen, gingen wir alle in Deckung. Bis auf den armen, naiven Timmy Hanrahan: Der stand nur da und grinste bis über beide Ohren, der Hornochse.

Der gute Mickey Briars hatte Timmy Hanrahan schon links und rechts eins über seinen naiven jungen Schädel gezogen, ehe wir ihn überwältigen konnten. Wir sperrten Mickey hinten in Seanie Schnösels Hiace, bis er wieder genießbar war. Dann ließen wir ihn raus, schleppten den heulenden, blutenden Timmy die Straße rauf in Ciss Briens Pub und versorgten ihn den ganzen Abend lang mit {9}Pints. Mickey Briars verdünnte seinen Jameson mit Tränen und sagte zu Timmy, es täte ihm leid, er hätte ihn immer gerngehabt, er wäre ein guter Junge, wirklich, aber er hätte geglaubt, er lachte ihn aus. Aber ich würde dich doch nie auslachen, Mickey, sagte Timmy. Ich weiß, mein Sohn. Das weiß ich doch.

Pokey Burke hatte uns hinterhergebrüllt, die erste Runde ginge auf seinen Deckel. Den ganzen Abend hat nicht einer von uns auf seine eigenen Kosten getrunken. Der arme Timmy kotzte sich schon kurz nach Beginn des Gelages die Seele aus dem Leib, und wir zogen ihn damit auf – gutgemeint natürlich –, und er lachte durch den Rotz und die Tränen, und die Wunden an seinem Kopf hörten auf zu bluten und die dünne Kruste ging in einem ab, bevor wir ihn mit einer Tüte Pommes, drei Würstchen im Teigmantel und einer Gehirnerschütterung, die sich gewaschen hatte und die ihn ohne weiteres hätte umbringen können, auf den Nachhauseweg schickten.

Bis heute reagiert eines seiner Augen ein bisschen schleppend, als könnte es nicht mit seinem Kameraden Schritt halten. Aber für Tim macht es keinen Unterschied; wenn er überhaupt einen Spiegel zu Hause hat, guckt er da wohl eh nicht rein. Und ob er jetzt blöder ist als vorher, wer weiß das {10}schon? Und wen interessiert’s? Man braucht nicht viel Hirn, um Scheiße zu schaufeln und Steine zu schleppen und Befehle von rattengesichtigen kleinen Männern auszuführen, die einen den ganzen Tag lang ausbeuten und abends noch auslachen und die Marken nicht einreichen.

Das war das Schlimmste an der ganzen Sache. Wir wollten unsere Marken abholen, und die lachten uns nur aus. Marken? Was für Marken? Für keinen von uns gab es auch nur eine einzige Marke, geschweige denn eine Meldung ans Finanzamt. Ich zeigte der kleinen blonden Frau hinter der Scheibe meine letzte Gehaltsabrechnung. Darauf stand eindeutig, was abgezogen worden war: Sozialversicherung, Lohnsteuer, Betriebsrentenbeitrag. Sie hielt es sich mit krausgezogener Nase vors Gesicht, als hätte ich mir damit gerade die Achseln trockengewischt. Und?, fragte ich. Und was? Was ist da passiert? Woher soll ich wissen, was da passiert ist, Sir? Ich saß nicht bei Pokey Burke oder irgendjemand anderem am Computer. Haben Sie denn nie eine Verdienstbescheinigung von Ihrem Arbeitgeber bekommen? Eine was? Du bist vielleicht ein Trottel, sagten ihre Augen. Ich weiß, sagten meine roten Wangen. Ich glaube, das war der Augenblick, in dem sie Mitleid mit mir bekam. Aber als sie die Schlange von Hornochsen hinter mir sah – Seanie {11}Schnösel, der naive Timmy, der fette Rory Slattery und der Rest der Jungs, alle mit ihren dreckigen Gehaltsabrechnungen in der Hand –, bekam sie eher Mitleid mit sich selbst.

 

Triona tut so, als würde sie es mir nicht verübeln, dass ich mich habe zum Narren halten lassen. Na, warum hättest du das auch prüfen sollen, Schatz? Du warst ja nicht der Einzige. Er hat alle zum Narren gehalten. Meine liebste, liebste Triona, sie hat mit mir ganz schön herabgeheiratet. Sie hätte bei jedem von den klugen Jungs landen können, die das dicke Geld mit dem Boom gemacht haben: den Architekten, Anwälten, Auktionatoren. Die waren alle hinter ihr her. Aber sie wollte unbedingt mich, als hätte sie denen eins auswischen wollen. Eines Abends in der Stadt legte sie ihre Hand in meine, und damit hatte sich die Sache; sie ließ mich nie mehr los. Sie sah Dinge in mir, von denen ich nicht wusste, dass sie da waren. Sie hat mich zu dem gemacht, was ich bin, wirklich. Sie hat sogar meinen Vater erweicht. Wie hast du die denn rumgekriegt?, wollte er wissen. Die wird nicht bei dir bleiben. Die ist zu gut für dich. Du bist ihre wilde Phase, sagte er. Die machen alle Frauen durch. Tja, dachte ich, genau wie meine Mutter, nur dass die Phase bei ihr nicht vorbei war, bis sie starb, {12}verbogen und innerlich zerfressen, verbraucht, erschöpft, ausgebrannt vom Leben mit ihm.

Und jetzt kann ich nicht mal mehr die Einkäufe bezahlen. Verdammte Hacke. Ein paar Jahre lang bin ich ganz schön rumstolziert und hab mich für was Besonderes gehalten. Vorarbeiter war ich, mit ’nem Tausender pro Woche. Hatte ausgesorgt. Häuser würden immer gebaut werden müssen. Ich sah, wie unten im Dorf Babys im Kinderwagen herumgeschoben wurden, wie unser eigenes, und dachte: Super, unsere Arbeitsplätze sind gesichert, die werden auch alle irgendwann Häuser brauchen. Wir wussten, dass Pokey Burke ein Wichser war, aber das kümmerte uns nicht. War doch egal, was er für ein Typ war, solange die Bank ihm Geld gab, damit er immer mehr bauen konnte. Seit sie den Jungen von den Cunlif‌fes vor Jahren beerdigt hatten und sein altes Tantchen sich das Land unter den Nagel gerissen und unter den Bonzen aufgeteilt hatte, hielten wir uns alle für die beschissenen Auserkorenen.

Der arme Junge hat mehr Ahnung gehabt als wir alle zusammen. Ich erinnere mich noch dran, wie er oben auf die Anhöhe gebracht wurde, wie die Penroses den einbeinigen Eugene auf die Straße rollten, als der junge Cunlif‌fe zu seiner letzten Ruhestätte zwischen Mutter und Vater gefahren wurde, {13}und Eugene auf den Leichenwagen spuckte und der fette, widerliche Rotz am Seitenfenster runterrutschte. Er konnte den Jungen nicht mal im Tod in Ruhe lassen. Ich erinnere mich gut an Cunlif‌fe. Er wurde überall nur rumgeschubst, und ich habe immer nur dagestanden und gelacht. Er war der stillste Junge, den man sich vorstellen kann, er hat nie Quatsch gemacht oder ein böses Wort gesagt, und am Ende wurde er wie ein tollwütiger Hund erschossen. Und es waren auch noch alle froh drum. Wir haben ihn gehasst. Wir haben alle den Zeitungen geglaubt, mehr als unseren eigenen Augen und Ohren und obwohl wir ein Leben lang ganz andere Erfahrungen gemacht hatten. Wir wollten ihn hassen. Er hatte keine Chance.

 

Ich war genauso schlau wie die Nobelsöhnchen in der Schule. Ich konnte Englisch und Erdkunde und Geschichte. Die ganzen Gleichungen in Physik und Mathe ergaben für mich Sinn. Aber ich durf‌te nie durchblicken lassen, dass ich irgendwas konnte, das wäre in meinem Freundeskreis Selbstmord gewesen. In Mathe bin ich nur knapp durchgekommen, dabei hätte ich mit Auszeichnung bestehen können. In Englisch habe ich den Mund kein einziges Mal aufgemacht. Einer aus dem Dorf hat mal einen Aufsatz geschrieben, und Pawsy Rogers hat {14}ihn in den höchsten Tönen gelobt; er meinte, der Aufsatz zeige großes Talent und unheimliche Vorstellungskraft. Den ganzen Weg zurück ins Dorf steckte er dafür Tritte ein.

Ich hatte die King-Lear-Nummer von Anfang an kapiert. Lange bevor der Lehrer alles haarklein für die Deppen aufgedröselt hatte: Er war ein blöder Wichtigtuer. Er hatte alles und wollte noch mehr, die ganze Welt sollte ihm die Füße küssen. Ich wusste sofort, dass Goneril und Regan Miststücke waren, und ich wusste, dass Cordelia diejenige war, die ihn wirklich liebte. Sie hat ihn nicht angelogen, sosehr er es auch wollte. Du bist ein Mann und nicht mehr, hat sie gesagt, du bist nicht perfekt, aber ich liebe dich. Cordelia hatte ein gutes Herz. Es gibt nicht viele Cordelias auf der Welt. Triona ist eine von ihnen. Ich hatte Angst davor, Josie Burke gegenüberzutreten, und wusste es nicht mal, aber sie hat es mir klargemacht. Das muss man sich mal vorstellen, ich hatte Angst, obwohl ich im Recht war.

Pokey Burke hat es seinem Vater und seiner Mutter überlassen, hinter ihm aufzuräumen. Der Alte sagt, er wüsste nicht, wo sein Sohn ist, aber ich weiß, er lügt. Er schuldet mir Geld, Josie, sagte ich. Ach? Hat er dir nicht ein anständiges Gehalt bezahlt? Er stand drei Stufen über mir vor seiner {15}Haustür und blickte auf mich herab. Ich hätte genauso gut eine Mütze in der Hand haben und ihn Sir nennen können. Meine Marken. Meine Betriebsrente. Meine Kündigung. Ich konnte meine Stimme zittern hören. Der Staat kümmert sich doch um diesen ganzen Kram, wenn einer pleitegeht, sagte er. Geh in die Stadt zum Arbeitsamt. Mehr sagte er nicht, blickte nur auf mich herab, von seinem hohen Ross. Na, dann. Na, dann mach ich das. Ich sagte nicht, dass ich da schon gewesen war, wir alle, und sich rausgestellt hatte, dass Pokey Burke uns so richtig in die Scheiße geritten hatte. Ich hätte sagen sollen, dass ich schon beim Finanzamt und der Gewerbeaufsicht und der Gewerkschaft gewesen war und dass die ihm das Handwerk schon legen würden, aber das stimmte nicht, und so sagte ich es auch nicht, und ich spürte einen Stich im Herzen, als ich an den Mann dachte, für den ich mich einmal gehalten hatte.

Triona sagte, kümmere dich nicht um die, Schatz, denk einfach nicht drüber nach, die Burkes waren schon immer Sklaventreiber und Gauner, die so tun, als wären sie das Salz der Erde. Jetzt haben alle ihr wahres Gesicht gesehen. Das ganze Dorf weiß, was sie angerichtet haben. Du arbeitest hart, und das wissen alle. Die Leute sehen zu dir auf. Sie werden sich um dich reißen, sobald es hier wieder {16}etwas bergauf geht. Jeder in der Gegend weiß, dass du der Einzige bist, der diesen irren Haufen im Zaum halten kann. Wer wäre denn sonst imstande, Vorarbeiter für die Jungs hier zu sein? Wer sonst könnte dem dicken Rory Slattery einen ganzen Tag Arbeit aus den Rippen leiern. Oder Seanie Schnösel dazu bringen, die Hände aus der Unterhose zu nehmen? Da musste ich lachen, durch meine unsichtbaren Tränen hindurch. Ich ertrug mich selbst nicht. Ich ertrug es nicht, dass sie über ihre Angst hinweglächelte und dass sie mich aus meinem Elend herausschmeicheln musste wie ein zu groß geratenes, schmollendes Kind. Ich wünsche mir bei Gott, ich könnte mit ihr so reden, wie sie es sich wünscht, und müsste sie nicht immer raten lassen, was ich denke. Warum finde ich denn keine Worte?

Na dann, na dann, na dann. Das musste man sich mal vorstellen, ein solcher Feigling zu sein und es nicht mal mitzukriegen. Plötzlich so überflüssig zu sein.

 

Ich habe gestern den ganzen Tag darüber nachgedacht, meinen Vater umzubringen. Es gibt Mittel und Wege, einen Mann umzubringen, ohne dass es nach Mord aussieht, besonders einen alten, gebrechlichen. Es wäre sowieso kein Mord, ich würde der Natur nur ein bisschen auf die Sprünge helfen. Es {17}ist die pure Bosheit, die ihn am Leben hält. Ich könnte ihm zum Beispiel ein Kissen auf Mund und Nase drücken. Er würde natürlich wild um sich schlagen, aber ich würde seine Hände einfach sanft hinunterdrücken. Es würde keine Spuren hinterlassen. Er ist lange nicht mehr so stark wie früher. Ich würde seine Augen nicht sehen wollen, während ich ihn töte; er würde mir ins Gesicht lachen, das weiß ich genau. Sogar im Sterben würde er mir noch zeigen, dass ich für ihn nur ein nichtsnutziger Schlappschwanz bin, ein Schwächling, eine Schande. Er würde nicht um Gnade betteln, er würde mich nur mit seinen gelben Augen auslachen.

Als ich jünger war, war ich immer neidisch auf Seanie Schnösel. Egal wann ich Seanie besuchte, ich konnte die Familie schon lachen hören, wenn ich in die Kurve vor dem Haus einbog. Dann brüllten sie alle vor Lachen über irgendeinen Unsinn, den der Vater machte, und die Mutter stand am Herd und sagte, sie sollten bloß mit dem Quatsch aufhören, aber sie musste dabei selbst lachen. Hin und wieder blieb ich zum Essen, und Seanie und seine Brüder und seine Schwester brauchten Ewigkeiten, bis sie aufgegessen hatten, weil sie die ganze Zeit lachten. Ihr Vater war drahtig und sah so nett aus. Er hatte ein wunderbares Lächeln. Davon wurde einem {18}ganz warm ums Herz. Man wusste, er konnte keiner Fliege was zuleide tun, die reine Gutmütigkeit. Er hatte einen dicken Stapel alter Ireland’s-Own-Hefte, die er hervorholte, wenn sie mit dem Essen fertig waren. Die brauchte er für die Liedtexte. Alle verdrehten die Augen und taten so, als hätten sie keine Lust, aber dann klatschten und sangen sie doch mit, während er ein Lied nach dem anderen spielte: The Rathlin Bog und The Rising of the Moon und Come Out Ye Black and Tans. Es tat mir in der Seele weh, die Freude in diesem Haus, die Herzenswärme und das Gelächter; ich hielt es kaum aus, dort zu sein und immer im Hinterkopf zu haben, wie kalt und düster die Stimmung und wie undurchdringlich die Stille in unserem Cottage war. Ich hasste Seanie Schnösel dafür, dass er so einen Vater hatte und nicht mal wusste, was das für ein Glück war.

 

Mein Vater trank nie auch nur einen einzigen Tropfen, bis zu dem Tag, an dem Großvaters Testament vollstreckt wurde. Paulie Jackman schickte noch am gleichen Tag einen Scheck ans Finanzamt, für die Erbschaftssteuer. Großvaters Ersparnisse zahlte er meinem Vater in bar aus. Dann ging mein Vater in Ciss Briens Pub und bestellte einen Jameson und ein Pint, trank beides und kotzte es wieder aus, {19}und Ciss selbst, die damals noch gut in Form war, gab ihm mit ihrer erfahrenen Faust eins auf die Glocke. Er brauchte Monate, um sich das Trinken beizubringen. Aber er verlor sein Ziel nie aus den Augen. Er erhörte kein Bitten und kein Betteln. Die alte Garde an Ciss Briens Theke lachte ihn aus, redete über ihn und beäugte ihn verwundert; da war ein Mann, den sie immer gekannt und doch kaum wirklich gekannt hatten, der stille Sohn eines Kleinbauern, der nie für Zügellosigkeit oder seine große Klappe bekannt gewesen war, ein gerissener Hund, hatten sie immer gedacht, und dann versoff er eine Farm. Sie liebten ihn, oder sie liebten die Vorstellung – das, wofür sie ihn hielten: einen Mann, der ohne weiteres ein gutes Leben hätte haben können und stattdessen ihr Leben gewählt hatte: Bosheit und Bitterkeit und altersblinde Gläser mit wässrigem Whisky in dunklen Dorfkneipen voller Spinnweben, scheißeverschmierter Klos, Blut im Urin und einen frühen Tod. Er hätte es anders haben können. Sie konnten es sich nicht anders aussuchen und liebten ihn dafür, dass er noch schlimmer war als sie. Er war der König der Nichtsnutze. Er gab Männern Runden aus, die er nicht leiden konnte, und hörte sich ihre Hirngespinste und alkoholgetränkten Geschichten an. Er warf Frauen, die er für gewöhnliche Huren hielt, düstere {20}Blicke zu, die sie als Begehren interpretieren konnten. Am Tag, an dem er den letzten Penny ausgegeben hatte, den er für das Land bekommen hatte, hörte er auf zu trinken. Er hatte fast fünf Jahre gebraucht, um die Farm zu versaufen, und als es vollbracht war, trank er nie wieder auch nur einen einzigen Schluck. Er war eben wirklich kein Trinker. Die alte Garde war untröstlich. Sie verstanden nur noch Bahnhof; und er würdigte sie nie wieder eines Blickes.

Er versoff die Farm, um seinem Vater eins auszuwischen. Das war die eine Sache, von der mein Großvater glaubte, dass mein Vater sie mit Sicherheit nicht tun würde, also tat mein Vater genau das. Wenigstens kann ich sicher sein, dass er die Farm nicht versäuft, sagte Großvater oft. Ich glaube, es war das »wenigstens«, das meinen Vater so ärgerte. Es hieß alles und nichts: Großvater sagte damit, er wäre zu nichts nutze, alles Schlechte wäre bei ihm im Rahmen des Möglichen, aber er trank nicht und hatte auch noch nie getrunken, also gab es wenigstens eine Sache, nur diese eine Sache, die fast als gute Sache durchging. Mein Vater bewies ihm das Gegenteil. Ich begleitete ihn von seinem letzten Abend in der Kneipe nach Hause. Jetzt hab ich keinen Pfennig mehr, sagte er, und wenn wir jetzt zum Grab meines Vaters gehen und ihn ausbuddeln {21}würden, würde er mit dem Gesicht nach unten im Sarg liegen. Und er lachte und hustete und lachte und pisste sich ins Hosenbein und fiel durch die Haustür und wachte am nächsten Morgen nüchtern auf und war nicht einen einzigen Tag seines Lebens mehr betrunken.

Ich kann ihm verzeihen, dass er stapelweise Geld zu Pisse gemacht hat und dass er meine Mutter ihrer heiligen Hölle überließ, die so gedemütigt war, dass sie sich nur noch in die letzte Reihe in der Kirche traute; die nur noch hastig und mit gesenktem Kopf durchs Dorf huschte, sich auf Zehenspitzen fortbewegte, aus Angst, mit jemandem reden zu müssen; die mit durchgebrannter Kupplung und dampfendem Motor und einem schreienden Kind auf dem Rücksitz draußen hinter Coolcappa in einer Rostlaube von Auto saß und Tränen der Frustration weinte, während er in aller Ruhe austrank, was sie sich vom Leben erhofft hatte. Was ich ihm nie verzeihen werde, ist das Schmollen und seine tödlich scharfe Zunge. Damit ruinierte er jeden Tag unseres Lebens. Betrunken grinste er bösartig, war still und schlief meistens. Nüchtern war er ganz scharfer Beobachter, ein Alptraum von einem Mann, dem nichts entging und der alles kommentierte. Nie konnte man ihm irgendetwas recht machen, nichts war je richtig gekocht oder richtig {22}gesagt oder richtig gekauft oder ihm richtig gereicht oder glatt genug gebügelt oder überhaupt richtig gemacht. Wir konnten nicht einmal richtig atmen, wenn wir mit ihm im selben Raum waren. Wir konnten nicht frei oder unbeschwert sprechen. Wir waren vernarrt ineinander, meine Mutter und ich, aber seinetwegen trauten wir uns kaum noch, einander anzusehen, aus Angst, er würde wieder fragen, ob wir uns gegen ihn verschwören wollten. Am Ende hörten wir ganz auf, uns anzusehen, und ein paar Jahre später hörten wir auch auf, miteinander zu reden, und am Tag ihrer Beerdigung wäre ich am liebsten in das Grab gesprungen und hätte sie da rausgezogen und sie angeschrien, sie solle zurückkommen, komm zurück, wir gehen einkaufen, und ich halte deine Hand, und Daddy ist uns egal, und ich pflücke einen Strauß Blumen und stelle ihn dir auf deinen Nachttisch, und wenn er mich ein Weichei nennt, sagen wir ihm, er soll sich bloß verziehen, und wir vergessen einfach all die Jahre des Alterns und des Sterbens und des dummen, dummen Schweigens und sind wieder Mammy und Bobby, zwei richtig dicke Freunde.

 

Ich wusste immer, dass Pokey Burke ein bisschen Schiss vor mir hatte. Triona sagt, ich hätte eine bedrohliche Ausstrahlung gehabt, als sie mich {23}kennenlernte. Sie fand immer die richtigen Worte. Sie hatte niemand davon abhalten können, Englisch mit Auszeichnung zu bestehen. Sie sagt, ich hätte in der Disko in der Stadt an der Bar gestanden und sie angestarrt. Ihre Freundin sagte, Was guckt der Freak denn so?, aber Triona wusste, dass ihre Freundin nur sauer war, weil ich nicht sie anstarrte. Um Himmels willen, guck bloß nicht zurück, sagte die Freundin, der kommt aus einer ganz schlimmen Familie, die wohnen in einer totalen Bruchbude, der Vater ist ein Spinner, und die Mutter macht den Mund nie auf – aber Triona guckte trotzdem zurück, und als ich das Gesicht mürrisch verzog, wusste sie, dass ich versuchte zu lächeln, und als ich auf dem Weg nach Hause kaum mit ihr sprach, wusste sie tief drinnen, dass ich von ihrer Leichtigkeit und ihrer Schönheit eingeschüchtert war, und als sie fragte, Knutschen wir jetzt endlich, oder was?, glaubte ich, ich würde mich nie wieder von der Stelle bewegen können.

Pokey Burke war hinter ihr her gewesen; ein paar Wochen vorher hatte sie mit ihm geknutscht, aber er war grob gewesen, hatte ihr in die Lippe gebissen und sich an ihrem BH zu schaffen gemacht, und ich würde ihm nie verzeihen, dass er sie angefasst hatte. Selbst als er mich zum Vorarbeiter machte und mir jede Woche einen Umschlag mit {24}zwanzig Fünfzigern gab, hatte er Angst vor mir, und ich hatte Angst, dass ich ihn umbringen würde. Aber trotzdem, er brauchte mich, und ich warf ihm eben böse Blicke zu, und wir alle nannten ihn einen Wichser. Aber jetzt ist er irgendwo im Ausland, sonnt sich Gott weiß wo, versteckt sich vor der Bank und dem Finanzamt und versucht wahrscheinlich auch noch, ausländische Weiber ins Bett zu kriegen. Und ich stehe da wie ein Waisenkind, das nichts mehr hat, und laufe voll mit Angst, wie ein Boot mit Wasser vollläuft.

 

Eine Frau zu haben ist wunderbar. Seiner Frau kann man Sachen sagen, von denen man nicht mal wusste, dass man sie denkt. Es kommt einfach raus, wenn der Mensch, mit dem man redet, wie ein Teil von einem selbst ist. Einmal sind wir ins Theater in der Stadt gegangen; ich weiß nicht mehr, wie das Stück hieß. So was kann man ohne Frau zum Beispiel nicht machen. Stell dir vor, das findet einer raus, dass du ins Theater gegangen bist – alleine! Mit einer Frau hat man für alle möglichen unmännlichen Sachen eine Entschuldigung. In dem Stück ging es um einen Mann und seine Frau; sie saßen einfach auf der Bühne, an einem Tisch einander gegenüber, sahen ins Publikum und redeten übereinander. Der Typ war wie mein Vater, nur {25}nicht so schlimm. Die Frau war liebenswürdig; sie hatte die Nase gestrichen voll davon, wie selbstsüchtig ihr Mann war, aber sie blieb trotz allem bei ihm. Er saß da und trank ein Glas Whisky, das in Wirklichkeit rote Limo war, und rauchte eine Zigarette nach der andern, und grinste bis über beide Ohren, während sie sich beim Publikum über ihn ausließ. Er hatte auf jede Kritik eine ganz schlaue Antwort. Die beiden alterten auf der Bühne, während sie sprachen. Ich weiß nicht, wie das funktionierte. Zum Schluss waren sie beide alt, und ihre Leben waren fast vorbei, und ganz am Ende drehte sich der Mann um und gestand ihr, dass sie das Größte für ihn war; er hatte sie immer geliebt. Er legte ihr die Hand auf die Wange und sah sie an und weinte. Mann, dieser Typ war vielleicht ein Schauspieler. Im Auto auf dem Weg nach Hause liefen mir die Tränen übers Gesicht. Triona sagte nur, Ach Schatz, ach Schatz.

{26}2Josie

Ich liebe meinen Erstgeborenen mehr als meinen Zweitgeborenen. Ich denke oft darüber nach, deswegen zur Beichte zu gehen. Aber ist es überhaupt eine Sünde, ein Kind mehr zu lieben als das andere? Natürlich ist es falsch, das weiß ich. Um das wettzumachen, habe ich meinem zweiten Sohn alles gegeben: meine Firma, Jahre meines Lebens, in denen er von mir gelernt hat, genug Mittel, wenn mal Pfusch passieren sollte. Der arme Eamonn kriegte kaum genug Geld, um seine Studentenbude oben in Dublin zu bezahlen, als er aufs Trinity ging. Aber keiner von beiden war so begriffsstutzig, nicht genau zu wissen, wer wo stand. Ich war absolut vernarrt in Eamonn. Ich verstand nicht, warum ich nie das Gleiche für meinen zweiten Sohn empfand. Ich habe sogar zugelassen, dass Eamonn ihm seinen Namen wegnahm. Pokey, sagte er und zeigte mit seinem kleinen, dicken Kinderfinger auf das neue Baby, und wir lachten alle und lobten ihn, und Seán Pól war für immer verloren. Er hatte nie eine Chance, der arme kleine süße Junge.

{27}Ich hätte von der Treppe runterkommen sollen, als Bobby Mahon vor kurzem hier war und wissen wollte, wo Pokey ist und was wegen der Marken und der Entlassungen und so weiter passieren würde. Statt ihn anzublaffen, hätte ich seine Hand nehmen und sie schütteln und ihm sagen sollen, wie sehr es mir leidtat, dass das alles den Bach runtergegangen war; ich hätte mich bei dem Mann im Namen meines Sohnes entschuldigen sollen. Ich habe ihn angeblafft, weil ich so sauer auf mich selbst war. Ich habe mich so geschämt, dass ich dem Mann nicht mal in die Augen sehen konnte; Bobby Mahon, der nicht einen Tag bei der Arbeit gefehlt hat, bei dem ich immer so froh war, dass er Vorarbeiter war, nachdem Pokey übernommen hatte – ich habe Gott gedankt, dass es einen Mann gab, der ihn daran hinderte, völlig größenwahnsinnig zu werden. Mein Sohn hatte nicht nur ein bisschen Angst vor Bobby Mahon. Ich glaube, er wollte Bobby Mahon sein. Wahrscheinlich hat er sich vor jeder Entscheidung gefragt, was Bobby Mahon wohl davon halten würde. Nur schade, dass er niemandem erzählte, dass er für den Bau einer letzten, riesigen Siedlung, in der niemand ein Haus kaufen würde, und Anteile an irgendeiner Monstrosität drüben in Dubai auf alles eine Hypothek aufnahm. Ich hätte Bobby Mahons Hand schütteln, mich bei ihm {28}bedanken und mich entschuldigen sollen, statt ihn gehen zu lassen, den Kopf rot vor Wut und Enttäuschung.