20,99 €
Fünf Jahre war Moll Gladney verschwunden. Fünf Jahre, in denen ihre Eltern versucht haben, die Trümmer ihres Lebens zusammenzuhalten. Doch plötzlich ist ihre Tochter wieder da, 25 inzwischen. Ohne ein Wort, wo sie gewesen ist, einen Hinweis, warum sie sich nie gemeldet hat. Gerade als sich die Wogen aus Klatsch und Tratsch in der kleinen irischen Gemeinde beinahe wieder gelegt haben, klopft die Polizei an die Tür der Gladneys – mit unfassbaren Neuigkeiten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 312
Donal Ryan
Roman
Aus dem irischen Englisch von Anna-Nina Kroll
Diogenes
Im Roman, der in den 70er-Jahren in Irland spielt, berichtet eine der Figuren von rassistischen Zuschreibungen, die einer sensiblen Sprache nicht angemessen sind, die aber dazu benutzt werden, die Wahrnehmung und den Sprachgebrauch sowie die Haltung Einzelner in dieser Zeit zu beschreiben und bloßzustellen. Sie können in der deutschen Übersetzung weder ersetzt noch abgeschwächt werden, ohne diese Intention ad absurdum zu führen.
In Gedenken an Sophie Christopher,
deren Tod ein unermesslicher Verlust für die Welt ist.
Alles Licht wich aus Paddy Gladneys Augen, als seine Tochter verschwand; alle Freude verflüchtigte sich aus seinem Herzen. Seine Tage waren immer so friedlich gewesen. Bevor Moll ging, war er morgens mit der Post durch den Ort geradelt und hatte nachmittags auf dem Hof, auf dem er als Knecht arbeitete, das Vieh gehegt und gefüttert, war die Zäune abgeschritten und hatte Durchlässe und Tore überprüft, seine Frau Kit hatte in ihrem kleinen, ordentlichen Cottage den Haushalt und für ein paar Kaufleute aus der Gegend die Buchhaltung gemacht, und seine Tochter, sein einziges Kind, war zur Schule gegangen und hatte etwas gelernt, und jeden Abend vor dem Schlafengehen hatten sie sich zum Rosenkranz hingekniet, alle drei. Sie besaßen ein Radio und ein Küchenbüfett und einen Hof voller Hühner, und um sie herum ergoss sich das fruchtbare Grün in alle Himmelsrichtungen: über die Arra Mountains in ihrem Rücken und durch das flache Tal hinter der Kuppe des Ton Tenna, das sich bis zu den Silvermines Mountains zog, die sich so weit erstreckten, wie das Auge reichte, an schönen Tagen, schien es, bis zum Ende der Welt. Unterhalb ihres Häuschens, am Ende des Feldwegs, lagen die Hauptstraße und das Dorf und darunter wiederum die weichen, saftigen Auen des Shannon, durch die der Fluss zum See floss, der stets am niedrigen Horizont glitzerte, ganz egal, wie das Licht stand.
Doch mit Molls Verschwinden wurde die Welt kalt, war das Licht von Schatten durchsetzt. Sie hinterließ keinen Abschiedsbrief, machte nur ihr Bett, packte ein paar Sachen in die alte lederne Reisetasche ihrer Mutter, ging lautlos zur Tür hinaus, über den Hof und den Feldweg hinunter ins Dorf und nahm dort den ersten Bus des Tages nach Nenagh und dann den Zug nach Dublin. In der Vorwoche hatte sie das bisschen Geld abgehoben, das auf ihrem Postsparbuch lag. Das war alles, was sie herausfinden konnten. Frankie Welsh, der Busfahrer, sagte, sie habe während der kurzen Fahrt auf der Esker Line einigermaßen zufrieden gewirkt. Still sei sie gewesen, wie immer. Sie habe ihn beim Einsteigen gegrüßt, er habe gesagt, es werde wohl ein schöner Tag, und sie habe ihm beigepflichtet, und das sei eigentlich auch schon alles gewesen. Sie sei als Einzige im Dorf eingestiegen, sagte Frankie, es habe ihn überrascht, anhalten zu müssen. Beinahe wäre er an ihr vorbeigefahren, so klein sei sie. Die übrigen Passagiere an jenem Morgen seien die Fabrikarbeiter aus Portroe gewesen. Sie habe sich vorn hingesetzt, direkt hinter ihn, weit weg von den Jungs, aber er habe sie im Spiegel nicht sehen können und drehe sich während der Fahrt nicht gern um, sagte er, und außerdem frage er Leute nicht gern aus. Er habe sich natürlich über die Reisetasche und die nachtschlafende Uhrzeit gewundert, aber das seien Gedanken, die man als Busfahrer eben für sich behalte, das seien die nicht gestellten Fragen seines Alltags.
Es sprach sich schnell im Dorf herum. Niemand wusste so recht, was zu tun oder zu sagen sei. Und doch wurden Kit und Paddy in jenen ersten Tagen ziemlich auf Trab gehalten. Die Leute kamen zu zweit oder zu dritt den Feldweg heraufgekraxelt oder durch die Felder von Jamestown und Bunnacree herab, um ihnen ihr Beileid auszusprechen, Mutmaßungen anzustellen und sie zu beruhigen. Es wurden kleine Aufmerksamkeiten von fernen Hügeln herab- oder vom Seeufer zu ihnen heraufgetragen und vor die Tür gelegt; es wurden Novenen gewidmet und Umschläge mit handgeschriebenen Bittschriften an Jesus Christus und diverse Heilige auf der Anrichte hinterlassen, mit genauen Anweisungen zu Zeitpunkt und Häufigkeit des Aufsagens, an Flaschen oder Geschirr gelehnt, damit sie auch ja gesehen würden. HAT NOCH NIE VERSAGT, stand in Großbuchstaben auf einem der Umschläge, und genau den steckte Kit sich in die Schürze und fühlte von Zeit zu Zeit, ob er noch da war.
Heutzutage sei ja alles anders, hieß es immer wieder; die Welt sei nicht mehr dieselbe. Alles gehe den Bach runter. Dieses ganze neumodische Gewäsch verdrehe den Leuten Kopf und Herz; und wie sie sich jetzt anzögen und diese grässliche Musik. Und überall Krieg. In Vietnam und im Nahen Osten und sogar gleich nebenan im gottverlassenen Norden. Die jungen Leute bildeten sich neuerdings sonst was ein, und die Welt gehe wirklich vor die Hunde. Paare lebten zusammen und bekämen Kinder, bevor sie heirateten, und Eheleute schrien nach Scheidung und Empfängnisverhütung, was auch immer das sein solle, und allem nur erdenklichen und unerdenklichen Trara. Aber Moll sei vernünftig. Sie werde wieder auftauchen, so sicher wie das Amen in der Kirche. Jederzeit könne sie wieder in der Tür stehen. Und Paddy und Kit behielten bei all dem Gerede und dem bleiernen Schweigen die Fassung, und sie stellten sich taub für das Flüstern, das nicht für ihre Ohren bestimmt war, und waren den Nachbarn dankbar für die Unterstützung.
Kit hatte eine nach Dublin verheiratete Cousine, der sie schrieb, ob Moll sich vielleicht bei ihr gemeldet habe, doch der Brief, der zurückkam, enthielt nur Fragen und Mitgefühl, aber nichts zu Moll oder ihrem Aufenthaltsort. Niemand hatte Moll gesehen. Und falls doch, dann war sie nicht aufgefallen, ein gewöhnliches Mädchen vom Land mit brauner Reisetasche und schlichter Kleidung. Was konnte man da tun? Gar nichts, schien es. Es wurden Gebete versprochen und eine Messe gehalten, zumindest spielte Pfarrer Coyne in einer kurzen Predigt indirekt und verschämt auf Molls Verschwinden an und rief die Heiligen Antonius und Judas Thaddäus an, die Schutzheiligen verlorener Gegenstände und hoffnungsloser Fälle, und dieses kleine Drama reihte sich schnell in die anderen kleinen Dramen des Dorfes ein, etwas, das einem hin und wieder einfiel, woran man zurückdachte, was man beseufzte. Moll Gladney und wo sie wohl hin war. Das wusste nur Gott allein.
Paddy drehte weiterhin seine morgendliche Runde, weil er nichts anderes tun konnte, als weiterzumachen. Und nachmittags und abends hegte und fütterte und zählte er die Rinder und Schafe der Jackmans und schritt die Zäune des Hofs ab und erledigte seine Aufgaben, wie er sie immer erledigt hatte, und jeden Freitag ging er zu ihrem Haus, um sich seinen Umschlag abzuholen, und Ellen Jackman sagte: Gott schütze dich, Paddy, wie sie es immer getan hatte, nur jetzt mit mehr Nachdruck. Und die Leute machten den gleichen Small Talk wie immer, wobei in den Wochen nach Molls Verschwinden etwas Seltsames in der Luft lag, eine Anspannung, ein Zögern. Was sollte man auch sagen, abgesehen von leerem Gerede, auf das man die Antwort bereits kannte? Fragen wie: Immer noch nichts? Kein Lebenszeichen von Moll? Man wollte auch nicht zu viel Mitleid zeigen, damit Paddy nicht meinte, man würde das Naheliegendste denken: dass Moll Gladney entweder tot oder schwanger war. Und was davon schlimmer gewesen wäre, das wusste man nicht.
Kit Gladney fühlte sich von Jesus betrogen, doch sie verdrängte ihre Wut. Sie brauchte ihn jetzt mehr denn je, und ebenso, wenn nicht sogar mehr, brauchte sie die Muttergottes, und so tat sie ihr Möglichstes, um sich mit beiden gut zu stellen. Jeden Abend ging sie den Feldweg hinunter zur Hauptstraße durchs Dorf, bog ab auf den langen Hügel, auf dessen Kuppe stolz und schutzlos die Maria Magdalena gewidmete Kirche stand, und kniete stumm flehend und beteuernd und beschwörend an jeder der Stationen des Kreuzwegs nieder, die Lippen in steter Bewegung, doch es kam kein Ton heraus, und die Tränen sparte sie sich für die Nacht auf, wenn sie bis zur letzten Stunde vor Sonnenaufgang wach lag und dann endlich in einen unruhigen Schlaf fiel und träumte, sie wäre wieder jung und hielte ein Kind an der Brust und dieses Kind würde voller Liebe zu ihr aufschauen.
Sie verfluchte sich dafür, nicht mehr von der Welt zu verstehen. Ihres Wissens passierte so etwas öfter. Sie hatte natürlich Geschichten gehört von Leuten, die in die Welt hinauszogen und von denen man nie wieder etwas hörte, aber wenn man ein bisschen tiefer grub, stellte sich normalerweise heraus, dass es irgendwelche Streitigkeiten um Land oder Geld oder Immobilien oder irgendeine Erbschaft gegeben oder der oder die Verschwundene ein unerfülltes Bedürfnis in sich getragen oder schon immer ein Problem mit den Nerven gehabt hatte. Kit glaubte nicht, dass Moll ein unerfülltes Bedürfnis in sich trug, und sie hatte keinerlei Grund zu der Annahme, dass es an Molls Nerven lag: Sie hatte immer freiheraus gesprochen, beim Gebet den Kopf gesenkt, mitgesungen, wenn es gesellig wurde, und über das Getue und das laute Geschwätz derer gelacht, die von den Feldern oberhalb kamen und auf ihrem Weg zur Hauptstraße am Cottage haltmachten. Sie war liebenswürdig, charmant, zurückhaltend, anständig und bescheiden gewesen, ein wirklich braves, kleines Mädchen.
Kit fragte sich, ob bei der Geburt etwas mit Moll schiefgelaufen war, ob da vielleicht ein Problem gesät worden war, das jetzt erst zur Blüte kam. Sie hatte schon damals ihre Vermutungen gehabt, doch hinterher waren alle ihre Fragen abgeschmettert worden, und es hatte Gereiztheit in den Antworten mitgeschwungen. Niemand, der auf der Saint-Bridget’s-Entbindungsstation des Kreiskrankenhauses arbeitete, hätte sich von der Ehefrau eines Hofknechts ins Kreuzverhör nehmen lassen. Sie hatte zu Hause schon lange in den Wehen gelegen, ehe die Hebamme endlich aus Glencrue heruntergeradelt kam, und kurz nach ihrer Ankunft fragte sie Paddy, ob er ein Auto habe, und natürlich besaßen sie damals noch keins, aber Paddy sagte, er könne sich ohne Probleme eins ausleihen, und sie hatte ihn angeblafft, dass er das dann doch gefälligst machen und nicht weiter tatenlos herumstehen solle. Er ging querfeldein durchs obere Feld zu den Jackmans, und mit deren Auto fuhren die drei dann ins Kreiskrankenhaus, wo ein Arzt und eine Krankenschwester auf sie warteten, und Kit litt unmenschliche Schmerzen und schaute dem gekreuzigten Jesus in die unheilverkündenden, wissenden Augen, und nicht einmal dort fand sie in diesem Moment Trost. Molls erster Atemzug ließ lange auf sich warten, und als sie ihn schließlich doch tat, war der Schrei, der darauf folgte, leise und schwach, beinahe entschuldigend, als wüsste sie, welche Unannehmlichkeiten sie verursacht hatte, und wolle nicht noch mehr Umstände machen. Na, Misses Gladney, sagte die Hebamme, als sie das immer noch rot angelaufene Würmchen an Kits nackte Brust legte. Da ist unsere Hochwohlgeborene ja endlich. Hat sich gehörig Zeit gelassen, was? Uns ganz schön auf Trab gehalten, nicht?
Und dann wurde Moll ihr wieder weggenommen, und Kit rutschte ins Dunkel, und ihr gerissener Damm entzündete sich, und plötzlich wurde sie aus der Dunkelheit und dem Kreiskrankenhaus gerissen und stand an einem Gartentor, mit der Hand auf dem sonnenwarmen Holz des oberen Holms, und sie wollte es gerade aufdrücken und einen weichen, grasbewachsenen, baumgesäumten Pfad betreten, doch in den Bäumen rauschte eine Brise, eine Stimme, die leise seufzend sagte: Geh zurück, geh zurück, du musst dich um dein Baby kümmern, und da wachte sie schweißgebadet auf, und ihre Wunden brannten, und ihre Sicht war verschwommen, aber sie erkannte Paddy am anderen Ende des kleinen Zimmers, die Mütze verwrungen in den Händen und das Gesicht ganz blass, und ihre Mutter mit Gebetsperlen in den verkrampften Fingern, und sie sagte: Gott steh uns bei, da ist sie wieder, ach, Dank sei Gott!
Doch sie wusste nicht, ob irgendetwas davon mit diesem neuen Problem zu tun hatte. Es kam ihr unglaubwürdig vor, dass ein Mädchen, das gerade erst dem Teenageralter entwachsen war und kaum einen Piep von sich gegeben hatte, seit sie der Wiege entstiegen war, auf einmal Hals über Kopf abhauen sollte, ohne dass es eine Ursache dafür gab, ob nun gut oder schlecht. Die Nachbarn und Verwandten, die zu Besuch kamen, waren diesbezüglich keine Hilfe: Manche der Vermisstengeschichten fingen schlimm an und endeten noch schlimmer, mit Leichen, die aus Mooren gezogen oder an schlammigen Flussufern im Schilf oder im Wasser von Gräben und Seen gefunden wurden. Warum die Leute meinten, das in ihrer Gegenwart ausbreiten zu müssen, wollte ihr nicht in den Kopf. Vielleicht, um sie auf das Schlimmste vorzubereiten, auf den Tag, an dem der Polizeisergeant und der Pfarrer mit der Schreckensnachricht die Boreen hinaufgefahren kämen. Sie ging auf die sechzig zu, die Paddy bereits hinter sich gelassen hatte, und Moll war das Wunder in ihrer Lebensmitte gewesen, ihr Lächeln von Gott, und jetzt war Moll weg, und auf ihren Schultern spürten sie das schreckliche Gewicht all der Dinge, die sie über die Welt nicht wussten.
Einmal nahmen sie den Zug nach Dublin. Ein paar Wochen nach Molls Verschwinden. Paddy wollte wie Moll den ersten Bus vom Dorf nach Nenagh nehmen, um jeden ihrer Schritte nachzuverfolgen, doch Kit fand, das sei Blödsinn. Auf diese Weise würden sie bloß am Bahnhof stranden, wenn sie abends zurückkamen. Dann müssten sie jemanden anrufen, der sie abholte, und man könne anderen nicht derart zur Last fallen. Was sollte es außerdem bringen, frühmorgens im Bus zu sitzen und sich von den Fabrikarbeitern anstarren zu lassen? Einen schönen Anblick würden sie abgeben, sie beide. Jeder geflüsterte Spott und in die Rippen gestoßene Ellbogen ginge auf ihre Kosten. Also seufzte Paddy und begab sich hinaus in den Schuppen, um nachzusehen, ob das Auto sich für die morgendliche Fahrt würde starten lassen, doch natürlich hustete es nur und wollte nicht für Geld und gute Worte anspringen.
Er ging zu Fuß zur Tankstelle, füllte einen Kanister mit Sprit und kippte ihn in den Wagen, aber er hatte keinen Trichter gefunden, sodass die Hälfte des Benzins an der Verkleidung unter dem Tankdeckel hinabschlabberte, weil es dunkel und eng war im Schuppen, in dem das Auto seit Mitte Januar stand. Und natürlich wollte es auch dann noch nicht anspringen, und er überlegte, ob vielleicht die Zündkerzen feucht geworden seien, also nahm er sie heraus und trocknete sie am Feuer und setzte sie korrekt wieder zusammen und schraubte sie wieder ein, doch der eingeschnappte Austin wollte noch immer nicht anspringen, worauf er einmal fest mit dem Hammer auf die Kraftstoffpumpe haute, und das brachte ihn zum Laufen. Paddy zerrte den neuen Kompressor der Jackmans zur Schuppentür, um die Reifen aufzupumpen, und er füllte das Öl nach und schmierte die Radlager und wischte einmal ordentlich über die Fenster und klopfte die Sitze aus. Er entdeckte ein Spinnennetz, das sich vom Rückspiegel hinunter zum Schaltknüppel und von dort bis zur Hutablage zog, und die Sonne, die durch die Lücken zwischen den Holzlatten in den Schuppen schien, strahlte die dünnen Spinnfäden an, sodass sie in diesem Abendlichtstreifen seidig glänzten, und die schiere Größe und der Detailreichtum und wie es sich so perfekt von seinem Mittelpunkt aus aufspannte, jagten ihm einen Schauer der Freude und des Staunens über den Rücken, und es brach ihm fast das Herz, die ganze harte Arbeit der Spinne mit einer einzigen Handbewegung zu zerstören.
Der Tag in Dublin war lang und Furcht einflößend. Sie hatten ihn sehr schlecht geplant. Was brachte es, Straßen abzulaufen, die sie nicht kannten, und sich dabei krampfhaft den Weg zu merken, damit sie auch wieder zurückfanden? Vom Bahnhof am Fluss entlang und vorbei an den Four Courts ging es noch: Das Wetter war gut, die Meeresbrise sanft und salzig, und die riesigen Möwen mit den gebogenen Schnäbeln boten einen herrlichen Anblick, wenn sie sich um Essensreste zankten, durch die Luft segelten, herabstürzten und auf dem Fluss und von den Dächern schrien. Doch als sie an der O’Connell Bridge ankamen und die Massen vom Flussufer hinüber auf die breite Hauptstraße strömen sahen, während der große Befreier überheblich und düster auf sie herabschaute, die Mordhand unter dem steinernen Mantel versteckt, wussten sie, dass alle Mühe vergeblich war. Selbst wenn Moll sich unter diesen Leuten befand, wenn sie irgendwo hier zwischen den Bussen und den gehetzten Menschen, den Tauben, den Möwen, den Abgasen und dem Flussgestank war, würden sie sie niemals finden; sie würden niemals die gesamte öde Fläche dieses fremden Orts absuchen können.
Sie hatten eine Adresse, die Mädchen vom Land manchmal aufsuchten, wenn sie in Schwierigkeiten waren, wie Kits Cousine in ihrem Brief berichtet hatte. Kit war beleidigt gewesen, als sie die Formulierung in Schwierigkeiten gelesen hatte, weil sie ihre Tochter kannte und wusste, dass das niemals infrage käme, aber vielleicht, überlegte sie, hatte ihre Cousine den Ausdruck auch in einem weiteren Sinne benutzt, und selbst wenn nicht, war jetzt nicht auch schon egal, was irgendwer dachte? Sie fragten einen Portier, der mit Zylinder und grauem Frack vor dem Eingang des Gresham Hotels stand, wie sie am besten zur Granby Row kämen, und er machte ein großes Aufhebens und erklärte es ihnen mit dröhnender Stimme und starkem Dubliner Akzent, und seine weißen Handschuhe beschrieben in der Luft Bögen und Winkel, sodass man seinen Erklärungen kaum folgen konnte, weil es so herrlich war, ihm zuzuhören. Sie hielten einander an der Hand, als sie am Ambassador Cinema und dem Garden of Remembrance vorbeikamen, und bogen erst links ab und dann rechts auf die Granby Row, gingen an schmalen grauen Reihenhäusern mit blinden Fenstern und zugezogenen Vorhängen entlang und fanden das Haus aus dem Brief von Kits Cousine, das genauso aussah wie der Rest. Paddy hob den Ring des Türklopfers an und ließ ihn schwer auf die Schlagplatte fallen, und bei dem lauten Knall trat er vor Schreck einen Schritt zurück. Eine Frau kam an die Tür, und sie hatte ein liebes Gesicht und war ungefähr im gleichen Alter wie Kit und vom selben Typ, und sie hatte einen ländlichen Akzent, wenn auch aus einem anderen Teil des Landes, und sie nahm das Foto nicht, sondern legte die Hand hinter die von Kit und hielt sie dort, während sie es anschaute, ehe sie langsam den Kopf schüttelte und sagte: Nein, das Mädchen habe sie nicht gesehen, aber wenn sie eine Telefonnummer oder Postadresse hinterließen, könnten sie sich darauf verlassen, dass sie die Augen offen halten und ihnen sofort Bescheid geben würde, falls sie Moll Gladney aus Tipperary je begegnen sollte, und sie wünschte ihnen jeden nur erdenklichen Segen Gottes.
Der zweite Teil ihres schlechten Plans beinhaltete, Passanten an belebten Orten anzusprechen. Keiner von beiden wusste, wie sie das anstellen sollten, wie sie sich dazu durchringen sollten, ganz unverschämt auf Fremde zuzugehen, um zu fragen, ob ihnen ein Mädchen namens Moll Gladney begegnet sei, zwanzig Jahre alt, braune Haare und blaue Augen, und hier noch ein Foto von ihr, das sei von vor einem Jahr, und ihre Haare seien inzwischen ein bisschen länger. Doch sie wappneten sich und gingen von der Granby Row aus wieder zurück, stellten sich zwischen die mächtigen Säulen des General Post Office und baten Leute, sich das Foto anzuschauen, das Paddy im vergangenen Sommer mit der Brownie-Boxkamera vor dem Cottage gemacht hatte, die Mauer hinter Moll war frisch getüncht, die Haare hatte sie sich aus dem Gesicht gestrichen, und die Sonne beschien sie und ihr weißes Kleid. Anfangs waren sie schüchtern und trauten sich nicht, die Leute anzuhalten: Alle schienen in Eile zu sein und ein Ziel und einen Plan zu haben, waren geschmackvoll gekleidet und trugen Aktenkoffer, Handtaschen und Regenschirme, obwohl es überhaupt nicht nach Regen aussah.
Doch nach einer Weile wurden sie mutiger und trauten sich, unter dem hohen Portikus des Postgebäudes hervorzutreten und die Leute, die stehen blieben, zu fragen, ob sie das Mädchen auf dem Bild gesehen hätten, und manche hielten kurz inne, kniffen die Augen zusammen und hielten sich das Foto näher vors Gesicht. Kit und Paddy machten sich dann kurz Hoffnungen, doch jedes Mal wurde das Foto mit einem Kopfschütteln, einer Entschuldigung, ein paar mitleidigen Worten oder Blicken zurückgereicht, ehe die Person weitereilte. Ein großer Mann mit Jeans, Lederjacke, lila spiegelnder runder Brille und seltsam hoher Stimme interessierte sich sehr für ihre Geschichte und fragte sie alles Mögliche über Moll, aber Paddy war gar nicht glücklich darüber, wie der Mann auf ihr Bild herabgrinste und an manchen Stellen ihrer Erzählung lachte, und der Mann empfahl ihnen, den Dreiundfünfziger zum Hafen zu nehmen und dort herumzufragen, unter den Sicherheitsleuten und Ticketverkäufern, man wisse ja nie, und sie bedankten sich und sagten, das würden sie machen, sie seien ihm sehr verbunden für seine Zeit und seinen guten Rat. Doch in Wirklichkeit hatten sie keine Kraft mehr und auch nicht den Mumm, also gingen sie am grünen Fluss entlang zurück zum Bahnhof und setzten sich auf eine Bank unter einer riesengroßen Uhr, die an Ketten von der gewölbten Decke hing, bis es Zeit war, in den Zug nach Hause zu steigen.
Paddy verkraftete den Ausflug nach Dublin nicht gut. Zum ersten Mal in seinem Leben hütete er das Bett. Genauer gesagt weigerte er sich aufzustehen. Nichts, was Kit tat oder sagte, konnte ihn auf die Füße bringen. Es war ganz seltsam – seltsamer noch als Molls Abwesenheit, weil eine Abwesenheit zumindest nicht sichtbar ist, nicht greifbar, und dadurch makellos und unzerstörbar, fast heilig –, einen Mann, vor allem einen so großen wie Paddy, im Bett liegen zu sehen, während die Spätmorgensonne durchs Fenster schien und die unverteilte Post unten im Dorf wartete und die Rinder und Schafe sich wunderten, wo er blieb, und alle möglichen kleinen Arbeiten im Haus und auf dem Hof und im Schuppen der Jackmans der Erledigung harrten. Kit band sich das Kopftuch fest unterm Kinn zu und ging zur Post, um Bescheid zu sagen, dass Paddy unpässlich sei, aber am nächsten Tag ganz sicher wieder da sein werde, und Bride Maher sagte, das sei in Ordnung, überhaupt kein Problem, sie seien wunderbar zurechtgekommen, als Paddy und Kit in Dublin gewesen waren, und würden noch einen weiteren Tag wunderbar zurechtkommen, und er habe sich bestimmt irgendwas eingefangen, das dort oben grassiere, oder? So viele fremde Hände und Münder. So viele Menschen. Aber keine Spur von Moll? Nein, sagte Kit und zog die Tür so fest hinter sich zu, dass die Glasscheibe darin schepperte und die Glocke wild schaukelte.
Dann ging sie den Feldweg zügig wieder hinauf zum Haus, in dem Paddy lag, trat durch die Halbtür, verriegelte sie unten und oben, warf einen gründlichen Blick durchs hintere Fenster, um sicherzugehen, dass kein Nachbar den Berg herunterspaziert kam, schaute durchs vordere Fenster, um ganz sicherzugehen, dass kein Nachbar den Berg heraufspaziert kam, und dann ging sie ins Schlafzimmer und erhob zum ersten Mal in ihrer gesamten Ehe die Stimme vor Wut, und zwar so sehr, wie es ihr nur möglich war. REISS DICH ZUSAMMEN, REISS DICH ZUSAMMEN IN DREIGOTTES NAMEN, ICH DULDE DAS NICHT, ICH DULDE DAS NICHT, ICH DULDE ES NICHT, DASS DU MICH SO VORFÜHRST, HÖR JETZT SOFORT AUF MIT DIESEM QUATSCH. Und Paddy Gladney drehte sich erschrocken von der Wand herum, stützte sich mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf den Ellbogen, schwang erst den einen Fuß auf den kalten Boden und dann den anderen, stand auf, stellte sich gerade hin und schaute seine rot angelaufene Frau an, die mit hochgezogenen Schultern, zusammengebissenen Zähnen und erhobenem Kinn dastand wie ein Mann kurz vor einer Schlägerei, und er wagte kaum, sich zu strecken oder zu kratzen, bis sie langsam auf dem Absatz kehrtmachte und hinausging. Und Paddy war erschrocken über und dankbar für die Wut seiner Frau, für den fremden, unvertrauten Klang ihrer geschrienen Worte, und er war froh, dass sie das nun zwischen sich hatten, dieses Wissen, bis wohin seine Trauer gehen durfte, wie lange sie seine Albernheiten tolerierte, und Paddy nahm sich vor, dass dies das letzte Mal wäre, dass sie sich seinetwegen derart verausgaben musste.
In jenem ersten Sommer ohne Moll bestellten die Jackmans vier Reihen geschnittenen Torf im Annaholty-Moor und baten Paddy, ihn aufzustellen, zu stapeln und zu wenden, dafür dürfe er dann von den vier Reihen, die sie reserviert hatten, eine ganze behalten. Paddy sagte zu: Es sei etliche Jahre her, dass er solche Arbeit gemacht habe, aber die Moorluft sei ja bekannt für ihre gesundheitsfördernde Wirkung. Und so fuhr er jeden Morgen, wenn er seine Postrunde beendet und das Rad abgestellt hatte, mit dem Auto die Mühlstraße hinunter und an Grallagh vorbei nach Kilcolman, auf die Limerick Road und bog in Kilmastulla auf die Moorstraße ab, wo er in einer breiten Toreinfahrt an einer leeren Weide parkte und die letzten ein, zwei Kilometer zu Fuß ging, hinab zu den weichen Torflagen, der uralten schwarzen Erde des Moors, und er staunte, wie gerade und sauber geschnitten die gefrästen Soden waren.
Zu Anfang seines Tagwerks machte er immer mit dem Handschuh ein kleines Loch in den schwammigen Boden, um sein Mittagessen kühl zu vergraben, so würde seine Milch in der Sonne nicht sauer und sein Brot an der trockenen Luft nicht hart, und er arbeitete gebückt, hob die feuchten Soden heraus und stapelte sie über Kreuz zu ordentlichen Türmchen, sodass die Luft hindurchstreichen und sie trocknen konnte. Es waren auch andere auf dem Moor während dieser zwei Hochsommerwochen, doch die Parzellen lagen weit auseinander, daher winkte er nur jeden Tag, wenn er ankam, einmal über die ebene Fläche und dann noch einmal, wenn er ging, und die anderen winkten immer zurück, weil niemand ohne Pause Torf stapelte: Ein zum Torfstapeln gebeugter Rücken musste alle paar Minuten gestreckt werden, und dabei konnte man ein paar tiefe Atemzüge der süßen, mineralienreichen Luft nehmen, den Blick über die anderen Arbeiter, den Slieve Felim und den Gipfel des Keeper Hill schweifen lassen, der dahinter hervorlugte, und über den verborgenen Fluss zu den Clare Hills und den Arra Mountains am diesseitigen Ufer. Ihm gefiel der Gedanke, dass Kit nur ein paar Kilometer Luftlinie östlich von ihm entfernt war, auf der anderen Seite dieser Berge, und wahrscheinlich gerade backte oder die Hühner fütterte oder mit krummem Rücken und Brille auf der Nase hoch konzentriert über den Rechnungs- und Kassenbüchern aus dem Dorfladen saß. Und es gefiel ihm noch besser, dass die Möglichkeit bestand, dass immer die Möglichkeit bestand, dass Moll vor ihm zu Hause war. Und da kam ein kleines bisschen der Freude, die aus seinem Herzen gewichen war, zurückgekrochen.
Dann standen der letzte Silageschnitt und die letzten beiden Heuernten an, und als das erledigt war, war der Torf getrocknet und fertig zum Einpacken und Abtransportieren per Traktor und Anhänger. Andrew, der einzige Sohn der Jackmans, wurde mit Paddy zum Verladen geschickt. Paddy hatte ihn immer für einen netten Jungen und einen ganz guten Hurlingspieler gehalten, doch in letzter Zeit war er oft ein bisschen vorlaut, war ihm aufgefallen, ein kleiner Maulheld. Als Paddy in der Vorwoche geklopft und nach der Drahtrolle gefragt hatte, die für den oberen Zaun des Heuplatzes gekauft worden war, hatte er ihn angeblafft, er solle gefälligst selbst danach suchen. Paddy war auch nicht gerade angetan von der Spuckerei des Jungen, der Länge seiner Haare oder davon, wie er ins Führerhaus des Traktors sprang, den Gang reinwürgte und die Reihe zu schnell und zu weit hinauffuhr, sodass Paddy immer ein paar Schritte hintendran war und pro Hand einen Düngersack voll Torf hinterherschleppen musste. Das strapazierte seine Arme und Beine unnötig, ganz abgesehen davon, dass es ziemlich dreist war, sich ohne Aufforderung ans Steuer des Traktors zu setzen, so groß und weit entwickelt er für sein Alter auch war.
Also rief er dem Jungen zu, er solle mit dem Unsinn aufhören, die Finger vom Traktor lassen und nichts tun, das ihm nicht aufgetragen worden sei. Andrew stand mittlerweile auf der Ladefläche des Anhängers und schaute auf ihn herab, und da tat es Paddy leid, dass er ihn so scharf angegangen hatte, weil ein gekränkter Ausdruck über das Gesicht des Jungen huschte, der jedoch bald von einem dunklen Wutschatten verdrängt wurde. Der Junge sprang von der Ladefläche und ging langsam auf ihn zu, kam ihm ganz nah und sagte: Leck mich, Paddy, und vor Schreck wurde Paddys Mund ganz trocken, und der Junge fletschte wütend die Zähne, und seine Augen blitzten voller Zorn, und Paddy kamen die Laute und der Geruch und das Maul mit der heraushängenden Zunge und den spitzen Zähnen eines jungen Collies in den Sinn, und in diesem Augenblick verstand er, was es hieß, ein Herdentier zu sein, angebellt und umrundet zu werden, sich belämmert und saublöd zu fühlen. Der Wechselbalg sprach wieder, und sein Gesicht war Paddys immer noch ganz nah, und in der Ferne stand einer der Männer, die Paddy in diesem schönen Hochsommer mittels stummem Nicken und Winken und wissenden Blicken kennengelernt hatte, und bog den Rücken zur Entspannung durch. Paddy beneidete den Mann in diesem Moment für sein Alleinsein, seine Herrschaft über die Leere um ihn herum, sein eigenes kleines Reich, weil der Junge, der vor ihm stand, der langhaarige, picklige Heranwachsende, den er kannte, seit er ein Baby war, sagte: Du bist ein Knecht, Paddy, mehr nicht, du bist nicht viel mehr als ein Bettelmann, und meine Eltern könnten dich jederzeit von unserem Land jagen, und ich fahre meinen Traktor wann und so weit ich will. Und dann spuckte er auf den Boden neben Paddys Fuß, drehte sich um, schnappte sich einen vollen Sack, hievte ihn hoch, warf ihn schlampig auf die Ladefläche des Anhängers und hielt inne und drehte sich noch einmal halb um und sagte: Kein Wunder, dass Moll sich verpisst hat. Und Paddy stand reglos und schweigend da, bis sein Herz sich beruhigte und er keine Silbersternchen mehr vor Augen hatte, und auf seinem geschundenen Rücken spürte er einen kalten Hauch in der Brise, die vom Meer in der Ferne hereinkam und den Mother Mountain hinab übers Moor wehte.
Auf dem langen, mühsamen Weg nach Hause saß der Junge überheblich und stolz auf dem inneren Radkasten, die Hand locker am Haltegriff, und sang irgendein Lied, immer wieder den gleichen Text. Er hatte keine Singstimme, Paddy kannte das Lied nicht, und das krächzende Näseln biss sich mit dem öligen Dröhnen des Traktors, doch Paddy war auf der Hut: Er war immer noch sprachlos vor Schreck über die plötzliche Gehässigkeit des Jungen, und er hatte Angst; zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst vor einem anderen Menschen. Er kam sich zur Winzigkeit geschrumpft vor, und er sah den Tag schon kommen, an dem die weitläufige Hofstatt der Jackmans an diesen knurrenden Welpen weitergegeben würde, und Kit und er würden verstoßen und ihr Cottage abgerissen und die Fundamentsteine einer nach dem anderen aus dem Boden gezogen und die Erde, auf der es gestanden hatte, planiert und eingesät und von ahnungslosen Tieren begrast und von Menschen beschritten, die nie erfahren würden, dass es sie gegeben hatte. Er sah Moll oben am Feldweg stehen, zu einem Zuhause zurückgekehrt, das es nicht mehr gab, und sich fragen, ob sie wirklich am richtigen Ort war, und er sah sie hinab zur Hauptstraße laufen und wieder weggehen, für alle Ewigkeit.
Paddy Gladney spürte jeden Tag seiner einundsechzig Lebensjahre und noch mehr: Er kam sich uralt und abgewrackt und kraftlos und tot vor, als hätten er und sein Leben keinen Sinn mehr, als wäre er ein bloßer Fleischsack voller alter Knochen und Knorpel und Muskeln, die aus der Erinnerung heraus arbeiteten und nicht aus seinem Willen; als machte es für die Welt und jedwedes Lebewesen darin keinen Unterschied, ob er lebte oder starb; als gäbe es Dutzende, Hunderte, Tausende, Millionen von Geschöpfen, die ein Rad fahren und Briefumschläge übergeben oder sie in Briefkästen werfen und morgens und abends die Ländereien abgehen und das Vieh zählen und füttern und hier und da einen Zaun flicken konnten, und wozu taugte er, wenn nicht zum Vater, und wie konnte er sich noch Vater nennen, wo doch das einzige Kind, das er gezeugt hatte, fort war, nicht mehr bei ihm, spurlos verschwunden, weggegangen, weg, weg, weg?
Doch die Zeit ist rücksichts- und herzlos, und sie besteht auf ihrem Fortlaufen, der schrecklichen Wiederholung ihrer selbst, Augenblick für Augenblick für Augenblick. Und ebenso erbarmungslos sind die Dinge, mit denen sie angefüllt ist, alle Einzelheiten, die zusammengenommen eine Existenz, ein Leben bilden, all die großen Dinge, die den meisten Platz im Hirn belegen, und all die kleinen Dinge, die im Hinterkopf warten, Dinge, die nicht ignoriert werden oder unerledigt bleiben dürfen: Briefe und Päckchen und Lämmer und Kälber und Zäune und Pfähle und Hühner und Hecken und Messen und Beichten und vermisste Töchter und zornige kleine Söhne und Erben von Landbesitzern und was nicht noch alles, und kalte, schattige Ecken auf dem Friedhof in Youghalarra und die mulchige Erde dort, die mit den Jahren und dem gefallenen Laub immer schwärzer und dicker wird, auf den rechten Augenblick wartet, um umgegraben und aufgebrochen zu werden, zu empfangen.
Nachdem ihre geliebte Moll von ihnen gegangen war, den Bus nach Nenagh und den Zug nach Dublin genommen hatte, lebten Paddy und Kit Gladney jahrelang ein stilles Halbleben, das gefüllt war mit Arbeit und Gebet und schwindender Hoffnung, und die Erde drehte sich weiter, und der Mond durchlief seine Phasen, und der Regen fiel, und die Sonne schien, und ihre Herzen wurden immer schwerer vor Trauer. Fünf ganze Jahre und mehr zogen ins Land, doch eines Freitags im Frühjahr, als eine kühle Brise vom See den Hügel hinaufwehte, die Sonne hoch und weiß am Himmel stand und Paddy Gladney seine Stiefel gerade an dem Schuhkratzer neben der Halbtür abstreifte, hörte er das Tor am Ende des Feldwegs klirren, und da drehte er sich um und sah seine Tochter, die das Tor hinter sich schloss wie ein braves Mädchen, wie sie es ihr immer wieder eingebläut hatten, und er machte die Augen zu und machte sie wieder auf und sah die grünende Hecke am Wegesrand und die Dornsträucher und die aufspringenden Knospen darin und die frischen Lämmer, klein und weiß auf dem Heuplatz, und den stolzierenden Hahn und die erbost gackernden Hennen und den matschigen Weg, der von der Halbtür, an der er stand, zum Tor am Feldweg führte, wo seine Tochter stand, die ihn schüchtern wie ein Kind anlächelte.
Kit fürchtete zunächst, sie sei eine Erscheinung. Nicht die leibhaftige Moll, sondern ihr Geist. Sie streckte die Hand langsam nach dem vertrauten Gesicht aus, spürte Wärme in Molls Wangen und die Nässe ihrer Tränen, und als sie die Hand wieder ans eigene Gesicht zurückzog, schmeckte sie das Salz der Tränen deutlich an den Fingern und sah, dass ihre Tochter mittlerweile Fältchen um die Augen hatte und die Haut über den Wangenknochen spannte. Wie Thomas, der die Auferstehung Jesu anzweifelt, nahm sie Molls Hände noch einmal, drehte sie um und schaute sie an, als wollte sie die Stigmata begutachten, ihre Leidensmale, und als sie keine fand, legte sie die Hände dieses kostbaren Wesens in die ihres Mannes, und Tochter und Vater hielten einander, und niemand sprach ein Wort in diesen ersten Minuten, und Paddys Schreie von eben schienen noch immer vom Schuppengiebel die sanft abfallenden Hänge zum Dorf hinunter und den Hügel wieder herauf zu hallen: Kit, Kit, komm raus, komm raus hier, sie ist wieder da, sie ist wieder da, sie ist wieder da! Und was sollte man in diesem Augenblick auch Sinnvolleres sagen? Sie war zurück und auf den ersten Blick unversehrt, und die Welt war wieder warm und voller Leben und Licht.
Jene ersten Minuten und Stunden verbrachten sie beinahe andächtig, erfüllt von himmlischer Ehrfurcht angesichts dieses Wunders, konnten noch nicht recht glauben, dass sie echt war. Sie stellten ihr Essen hin und Wasser und Milch und Brandy und Tee, denn was tranken Mädchen, die ein halbes Jahrzehnt lang verschwunden gewesen waren? Woher sollte man das wissen? Und sie nahmen sie in ihre Mitte und schauten ihr beim Essen zu, und dabei fielen ihnen die nun schärferen Kanten ihres Kiefers auf, die Piercinglöcher in ihren Ohren, die Dicke und Länge ihrer Haare, die Welle, die sie früher nicht gehabt hatten, die gedeckte Farbe und Kürze des Kleides, das ihren Schoß im Sitzen beinahe gänzlich entblößte. Und der Ring an ihrer linken Hand, nicht am Ringfinger, sondern am Mittelfinger daneben, ein Goldring mit zwei Händen, die ein goldenes Herz in der Mitte umfasst hielten. Beide weinten unaufhörlich und wischten sich gedankenverloren die Tränen ab, während sich in ihrem Bewusstsein Fragen nach vorn schoben, unregelmäßige, rempelnde Schlangen bildeten und eine nach der anderen verworfen wurden, ehe sie ausgesprochen werden konnten; keine Frage war Frage genug, und keine Antwort konnte etwas an der Wahrheit des Augenblicks ändern, dass dieses Mädchen an ihrem Tisch saß und nicht ertrunken oder ermordet oder irgendwo eingesperrt war, sondern brav schweigend aß, und dass ihre Geschichte erzählt werden oder in ihrem Innern verbleiben mochte: Beides würden sie überleben.
Paddy wäre am liebsten in den Glockenturm gestiegen und weiter auf das Dach der Church of Mary Magdalene und auf das Kreuz an der Turmspitze, um sich daranzuhängen und dem Dorf und dem Tal und den Hügeln und