Die Sache mit dem Dezember - Donal Ryan - E-Book

Die Sache mit dem Dezember E-Book

Donal Ryan

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Beschreibung

Der seltsame und stille Johnsey Cunliffe, der kaum je ein Wort sagt, erbt die Farm seiner kürzlich verstorbenen Eltern. Das Land soll das Kernstück eines millionenschweren Bauprojektes sein. Gerade als sich Johnsey das Glück zuwendet, wird er von allen Seiten unter Druck gesetzt. Er soll verkaufen. Doch genau das will er nicht.

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Seitenzahl: 334

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Donal Ryan

Die Sache mitdem Dezember

Roman

Aus dem Englischen vonAnna-Nina Kroll

Titel der 2013 bei Doubleday Ireland, Dublin,

erschienenen Originalausgabe: ›The Thing About December‹

Copyright © 2013 by Donal Ryan

Die deutsche Erstausgabe erschien 2015 im Diogenes Verlag

Covermotiv: David Hockney, ›Untitled, 5July 2009, No. 6‹

iPhone Drawing

Copyright © David Hockney

Für Anne Marie,

in Liebe

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24378 9 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60461 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]Januar

Mutter sagte immer, der Januar ist ein schöner Monat. Alles fängt im neuen Jahr von vorne an. Die Besucher sind weg, und mit Gottes Hilfe wird man bis zum nächsten Weihnachtsfest nichts mehr hören und sehen von ihnen. Im Handumdrehen werden die Tage länger. Im Januar geht das Kalben los, und mit jedem neuen Leben, das in den Kuhstall plumpst, wird man ein bisschen reicher. Und das ist auch gut so – schließlich muss man das Geld wieder reinholen, das man im Dezember für Schund aus dem Fenster geworfen hat, den eigentlich gar keiner haben wollte. Der Frost tötet alles Schlechte. So ist das mit dem Januar: Er macht die Welt wieder frisch. Das hatte Mutter jedenfalls immer gesagt, damals, als sie noch sehr viel mehr zu sagen gehabt hatte.

Eugene Penrose und seine Kumpane saßen auf der niedrigen Mauer vor dem IRA-Denkmal. War es nicht eine Gottschande, dass ein Mann nicht an einem einzigen Tag nach Hause gehen konnte, ohne von solchen Krawallmachern drangsaliert zu werden? In letzter Zeit hatte Eugene sich darauf verlegt, ihm in die Hacken zu treten, so dass er gestolpert und jedes Mal fast hingefallen war. Wie konnten diese Typen überhaupt immer da sein? Sozialhilfe ist wirklich toll, [6]sagte Mutter. Dank ihr können solche Flegel leben wie kleine Lords. Und er, warum konnte er kein richtiger Mann sein, warum musste er mit hochrotem Kopf an ihnen vorbeischleichen wie ein Kind, das sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet und dem vor Scham die Tränen in den Augen brennen? Daddy hätte das nicht mit sich machen lassen, so viel stand fest.

Vor Johnseys Vater hatten die Leute Respekt gehabt. Er war niemandem ausgewichen. Für eine kleine Rauferei war er immer zu haben gewesen, wenn es um das letzte Hurling-Spiel oder den Verkaufspreis eines Tieres ging oder worüber Männer sonst noch so stritten. Aber für seine Herzlichkeit war er genauso bekannt gewesen wie für sein Aufbrausen. Dabei wurde diese Herzlichkeit nie mit Schwäche verwechselt: Daddy war ein zäher Knochen gewesen. Beim Hurling hatte er so manchen Forward mit der Schulter in die Mitte der nächsten Woche befördert; das und Ähnliches hatte Johnsey oft sagen hören. Einmal hatte er in einem waschechten Wutanfall einem Burschen seinen Hurley dermaßen über den Schädel gezogen, dass der danach nie wieder ganz richtig im Kopf wurde. Das hatte Johnsey nur einmal gehört, und als der Mann, der das gesagt hatte, Johnsey bemerkte, blickte er betroffen in sein Whiskeyglas und lief rot an.

Wenn er an etwas anderes dachte, während er die etwas mehr als hundert Schritte vom Anfang der niedrigen Mauer bis zum Ende des Kirchhofs ging, gelang es ihm beinahe sich einzureden, dass sie gar nicht da waren, ihn nicht kommen sahen, voller Vorfreude darauf, ihn runterzumachen. Zum Beispiel an die tiefe Gumpe im Fluss, in der Daddy und [7]er immer baden gegangen waren, vorbei an der Trauerweide auf der Flusswiese, hinter der die Flussauen des Shannon begannen. Manchmal fragte sich Johnsey, wie es wohl sein würde, dort unter Wasser zu liegen und, wenn alle Luft in seiner Lunge aufgebraucht wäre, einfach unten zu bleiben und Wasser statt Luft einzuatmen. Vielleicht würde ja ein Wunder geschehen, so wie vor Jahren in Cork, wo die Marienstatue zum Leben erwacht war, hallo in die Runde gesagt und Tränen aus Blut über den Zustand der Welt vergossen hatte. Mutter sagte, es wäre der Zustand der Hirnverbrannten gewesen, die sie so blöde angeglotzt hatten, über den sie hätte weinen müssen. Da müsste doch jeder weinen, wenn einem Tag und Nacht der Rosenkranz entgegengebrabbelt würde. Vielleicht würde er auch gar nicht ertrinken, sondern stattdessen feststellen, dass er Superkräfte hatte, dass er unter Wasser atmen und die Bäche und Flüsse und das Meer und alles, was darin lebte, beherrschen und dass er selbst dort leben konnte und ein König sein mit einem riesigen, tödlich scharfen Dreizack und einem Haufen hübscher Meerjungfrauen, die ohne BH herumschwammen und ihm Abendessen machten und ihn küssten.

Vielleicht hatte Mutter ja einen Kuchen für nach dem Essen gebacken und holte ihn gerade aus dem Ofen, wenn er nach Hause kam. Dann würde er ein mächtiges Stück davon verdrücken, und sie würde mit einer großen Tasse Tee (nur ein Tröpfchen Milch, sonst ist er hin, sagte sie immer) hinter ihm stehen und ihm erzählen, dass die Äpfel vor nicht einmal einer Stunde noch draußen am Baum gehangen hätten. Er würde ihr Essen loben, und sie würde sagen, Hat es dir geschmeckt, Schätzchen? Das hoffe ich doch, du brauchst [8]schließlich ein ordentliches Essen nach deinem harten Tag. In letzter Zeit stand sein Essen jedoch meistens im Ofen und war entweder kochend heiß oder eiskalt; dann war der Ofen zu hoch eingestellt, oder sie hatte vergessen, ihn überhaupt anzumachen, und sie selbst war oben auf der Anhöhe, wo Daddy begraben lag, und betete und fluchte über das Unkraut. Bei all den Gebeten, die sie für ihn aufsagte, käme er da oben im Himmel sicher gar nicht zur Ruhe. Pfarrer Cotter hatte bei Daddys Beerdigung gesagt, da oben stünde ein schönes Haus für ihn bereit, und er würde wahrscheinlich mit den Engeln einen Streit über dessen Bauweise vom Zaun brechen und es abreißen und nach seinen eigenen Anweisungen neu bauen lassen wollen. Die Nachbarn lachten alle darüber. Manche sahen einander wissend an und lächelten; bei dem alten Teufel hatte immer alles ganz exakt sein müssen, nie hatte man es ihm recht machen können.

Mutter war nicht zu Hause. Im Ofen stand Sheperd’s Pie bei richtiger Temperatur, der Tisch war gedeckt. Er aß schnell und spülte alles mit einem Glas Milch herunter. Um sieben kam im Fernsehen diese Urlaubssendung mit der blonden Frau. Manchmal, wenn es still genug war, wenn Mutter gerade nicht da war und keine Katze am Fenster kratzte und miaute, konnte er sich ausmalen, dass sie nur mit ihm sprach, dass sie seine Freundin war und an einem heißen Ort unter Palmen darauf wartete, dass er ihr dorthin folgte, sobald die Villa fertig war, die er für sie beide baute. Sie redeten über ein Telefon mit großem Bildschirm. Sie beschrieb ihm den Ort, an dem sie Urlaub machen würden. Beim Essen konnte man ihr nicht gut zugucken, da musste man immer wieder auf den Teller sehen und verpasste dabei [9]ganze Sekunden, in denen sie mit ihren glänzenden blonden Haaren dastand, in Kleidern, die gerade das Nötigste bedeckten, und manchmal sogar in klarem blauen Wasser, das in glücklichen kleinen Wellen um ihren Po herumschwappte.

Als die Sendung gerade zu Ende war, Gott sei Dank, kam Mutter nach Hause. Sie wollte wissen, ob unten viel los gewesen wäre, wie Packies Laune gewesen wäre, ob es Neuigkeiten von der schottischen Lady gäbe? Packies älteste Tochter war angeblich mit einem Ausländer nach Schottland durchgebrannt und wurde nur noch »die schottische Lady« genannt. So wie jeder, der ein oder zwei Jahre in Amerika gearbeitet hatte, für alle Zeiten als Yank bezeichnet wurde. Samstags hatte Packies Tochter meistens im Co-op herumgelungert und so getan, als würde sie mithelfen. Aber Johnsey sah immer nur, wie sie ihre Fingernägel inspizierte, Kaugummi kaute und Knöpfe auf ihrem Handy drückte. Sie sah ihn nie an, wechselte kein Wort mit ihm, außer einmal, da hatte sie ihm ein Rolo angeboten, und er hatte okay gesagt (warum denn okay, du Hirni?), und sie hatte ihm die Packung hingehalten, aber das verfluchte Rolo hatte nicht aus der Packung kommen wollen, und seine Hand hatte wie verrückt gezittert, und das Rolo war halb geschmolzen, ehe er es endlich herausgefummelt hatte, und seine Wangen fingen jetzt noch an zu glühen, wenn er daran dachte.

Packie hatte schon vor der großen Tochterflucht nichts für Ausländer übriggehabt, aber nun hatte er einen besonderen Hass auf sie. Man konnte beinahe spüren, wie er heiß in ihm brannte. Manchmal sah man sie durch den Ort fahren, Leute mit braunen Gesichtern oder sogar richtige Schwarze, [10]laut Packie unterwegs, um das System auszunutzen, wirklich ein tolles Land. Wenn Johnsey und er dann gerade vor dem Co-op standen, weil sie eine Lieferung bekommen hatten oder so, stieß Packie ihn mit dem Ellbogen an und deutete mit dem Kopf zu ihnen rüber. Dann funkelten seine Augen bösartig, und in diesen Momenten konnte man die Hitze fast körperlich spüren, als würde seine Seele für die Sünden, die er gerade in Gedanken beging, schon jetzt im ewigen Höllenfeuer schmoren. Die Ausländer guckten vielleicht zurück, aber man konnte ihren Blicken nicht entnehmen, was sie dachten. Das sind bestimmt Huhtus, Johnsey, sagte Packie. Er spuckte die Worte aus wie etwas, das man ausgehustet hatte. Wahrscheinlich haben sie einen Haufen Tut-sie’s um die Ecke gebracht und verstecken sich jetzt hier bei uns. Johnsey lachte und pflichtete ihm bei, aber vor seinem inneren Auge sah er die Schmarotzerjungs über Eugene Penroses blöde Witze lachen und war traurig und schämte sich für sich selbst. Was in Gottes Namen waren überhaupt Huhtus und Tut-sie’s?

Sie hielten nie an. Sie kamen nicht in den Co-op. Warum hätten sie auch sollen? Vielleicht war der Spar unten ausländertechnisch besser aufgestellt.

Mutter hörte gar nicht mehr richtig hin, wenn er ihre Fragesalven beantwortete. Selbst ihre eigenen Fragen hörte sie kaum noch. Sie hakte sie einfach nach der Reihe ab, was Johnsey daran erinnerte, wie die ganze Klasse damals in der Schule den Stundenplan hatte herunterbeten müssen. Er hätte sagen können, Es war ein ganz toller Tag, Mutter, ich habe Packie eine Axt ins Hirn gerammt, das ganze Co-op-Geld [11]und den Jeep genommen und Eugene Penrose und seine Schmarotzerjungs überfahren, hab sie alle mausetot gemacht, und jetzt, wo ich mit dem Essen fertig bin, fahre ich in die Stadt und tu so, als wäre ich eine ganz große Nummer und schleppe Mädels ab. Sie würde wahrscheinlich einfach weiter Wäsche falten und aufräumen und nicken und nichts sehen und nichts hören. Zum Glück.

Er ging nach draußen, um fahren zu üben. Mutters alter Fiesta tat es noch, und sie ließ ihn damit auf dem Hof hin und her fahren. Aber versichern wollte sie ihn nicht. Die Versicherung für Burschen wie dich kostet heutzutage ungefähr zwanzigtausend Pfund, Johnsey. Zwanzigtausend? Wussten die etwa, dass er nicht so helle war? Wäre das eine der Fragen? Ja, MrCunliffe, hmm… Ich sehe hier, dass Sie ziemlich zurückgeblieben sind… (man würde ungeduldige Seufzer und das Geklapper von Computertasten hören)…Das wären dann zwanzigtausend Millionenmilliarden Pfund in der Basisversicherung mit dieser abgewrackten Klapperkiste. Also bleiben Sie doch lieber bei Ihren Runden auf dem Hof, ja? Alles klar, Sie fetter Hornochse? Klick.

Vielleicht ließ er das mit der Fahrstunde doch lieber sein. Mutter hatte sich neulich erst über den Benzinpreis beschwert, und er würde sich ohnehin nur darüber ärgern, nicht durch das Tor fahren und auf der Straße davonrauschen zu können. Er überlegte, ob er einen Spaziergang zum Fluss machen sollte, über den langen Acker und die Flusswiese. Das knirschende Geräusch der Stiefel, wenn man durch das frostverzierte Gras lief, war irgendwie befriedigend. Es gab einen Platz unter der Trauerweide, auf der kleinen Anhöhe über der Matschbucht, die das durstige Vieh ausgetreten hatte, wo [12]man umgeben von hellgrünen Zweigen sitzen und nicht gesehen werden konnte. Wenn man ganz still saß, konnte man sich fast einbilden, selbst ein Baum zu sein. Niemand würde auf die Idee kommen, einen Baum Hirni zu nennen oder ihm in die Hacken zu treten oder einen Aufstand zu machen, weil irgendetwas falsch gestapelt war. Daddy hatte gesagt, alles Leben hängt von den Bäumen ab. Sie machen die Luft, die wir atmen.

Er war schon fast über den Zaunüberstieg, als ihm Dermot McDermott einfiel und er es sich anders überlegte. Dermot hatte das Land nur von den Cunliffes gepachtet, aber wie er sich immer aufspielte, hätte man schwören können, ihm gehöre das alles hier. Wenn Johnsey ihn auf dem Feld traf, kam es ihm jedes Mal vor, als wäre er der Eindringling. Dermot fragte dann, wo Johnsey denn hinwolle, aber er nannte ihn nie Johnsey, sondern immer nur John. Für die alten Peata-Namen war er zu cool. Und jedes Mal musterte er Johnsey mit zusammengekniffenen Augen und hämischem Grinsen von oben bis unten. Wahrscheinlich dachte er dabei, Was für ein Affe, da stirbt sein Vater und er kommt mit dem bisschen Hof nicht zurecht, das der ihm hinterlassen hat! Jetzt fahre ich mit meinem Supertraktor über sein Erbe! Was für ein Versager!

Mutter sagte immer, Leute, die ihren Kindern Namen geben wie Dermot McDermott, haben nicht alle Latten am Zaun. Als müssten sie allen zeigen, Wir sind die echten McDermotts, und unser Junge hier ist Dermot, Sohn von Dermot, in direkter Linie mit den Hochkönigen verwandt. Sie denken, sie stünden zwei Stufen über dem gemeinen Volk und mindestens eine Stufe über ihren Nachbarn. Mutter sagte, [13]das gemeine Volk wohnt in den Sozialwohnungen außerhalb des Dorfes, am Ende der Ashdown Road. Da haben fast alle Bastardhunde und einen Haufen Kinder. Oder einen Haufen Hunde und Bastardkinder? Johnsey war sich nicht sicher, was Mutter gesagt hatte, und wusste auch nicht, warum die Leute dort immer so gemein waren.

Das Schloss an der Tür zum Kuhstall war kaputt, und das Holz hatte sich durch Feuchtigkeit und Fäule so verzogen, dass die Tür immer halb offen stand. Nach drei Jahren war es immer noch komisch, dass der Kuhstall im Januar leer war. Die Kühe hatten sich dort jeden Winter ihr Bett gemacht; eng aneinandergedrängt benutzten sie sich gegenseitig als große Heizkörper, hatten es gemütlich und warm und waren vor Kälte, Regen und dem beißenden Frost geschützt. Der Kuhdung floss den ganzen Winter lang durch eine Rinne in einen unterirdischen Tank, aus dem er später wieder herausgesaugt und auf die Felder aufgebracht wurde, um das Gras zu düngen, das die Kühe dann fressen und wiederum in Milch und Dung verwandeln würden. Wenn es in der Schule um die Geburt Christi ging, stellte sich Johnsey den Stall von Bethlehem immer wie diesen Kuhstall vor, der den Vorderhof vom großen hinteren Hof trennte, und die drei Weisen waren Daddy, Paddy Rourke und Mister Unthank. Das kleine Jesuskind hätte es darin gut und warm und sicher gehabt.

Es fiel genug Licht hinein, dass Johnsey den dicken Querbalken erkennen konnte, der das Dach in zwei Hälften teilte. Würde er sein Gewicht halten? Damals wurde noch ordentlich gebaut, hatte Daddy immer gesagt. Aber Johnsey war [14]auch sehr dick. Was, wenn er es nicht auf die Reihe bekam, auf den Hintern fiel und sich ein Bein brach? Und Dermot McDermott würde ihn finden! Und Mutter rufen. Und die Feuerwehr. Und Pfarrer Cotter. Und dann würden Eugene Penrose und der Rest der Schmarotzerjungs auftauchen, weil sie gesehen hatten, wie die Feuerwehr ausrückte. Am Ende würde das ganze Dorf auf dem Hof Schlange stehen, um einen Blick durch die Tür auf den fetten Idioten zu werfen, der mit gebrochenem und komisch verdrehtem Bein im Kuhstall auf dem Boden lag und mit hochrotem Kopf und verquollenem Gesicht heulte wie ein Kleinkind, die Schlinge noch immer um den Hals, und dann würden sie mit dem Finger auf ihn zeigen und den Kopf schütteln und die Augen verdrehen, bis endlich jemand Nettes kam und der Sache ein Ende bereitete und die Leute wegschob und ihm zu helfen versuchte, und diese Nettigkeit würde ihn noch tiefer treffen als das Gelächter der anderen, weil er sie nicht verdient hatte, und das wusste derjenige auch und war trotzdem nett.

Pfarrer Cotter war so jemand, und die Unthanks. Packie Collins nicht. Er erinnerte Johnsey jeden Tag daran, dass er ihn nur aus Respekt für seinen Vater, der Herr erbarme sich seiner, im Co-op arbeiten ließ. Er wäre eine Bürde. Johnsey hörte oft, wie Packie den Kunden Dinge über ihn zuraunte, die sich dann grinsend nach ihm umdrehten, und wenn er ihren Blicken begegnete, grüßten sie, aber irgendwie zu freundlich, so falsch wie der Kuchen im Schaufenster des Hochzeitsladens in der Stadt. So falsch wie ein Drei-Pfund-Schein, sagte Mutter immer. Es war Pfarrer Cotters Job, nett zu Leuten zu sein; er arbeitete schließlich für Gott, und der [15]verlangte von allen, lieb und nett zu sein. Und Mister Unthank war Daddys guter alter Freund; sie hatten schon als kleine Jungs miteinander gespielt. Er hatte im Beerdigungsinstitut ewig lange mit der Hand an Daddys Sarg gestanden, den Kopf geschüttelt und ganz leise Jack, Jack, Jackie gesagt und missbilligend mit der Zunge geschnalzt, wie Daddy es getan hatte, wenn etwas verschwendet wurde oder wenn ein Unrecht geschah, und Johnsey hatte gesehen, wie eine Träne von Mister Unthanks Kinn gefallen und auf Daddys Wange gelandet war, und das hatte ausgesehen, als würde Daddy selbst weinen.

Daddy hatte immer gesagt, man müsse ehrlich sein. Daddy konnte kein bisschen lügen. Einmal, vor Jahren, hatte eine alte Glucke aus dem Dorf angerufen und wissen wollen, ob Mutter auf die Schnelle zwanzig Kuchen für die ICA-Schau backen könne, und Daddy hatte gesagt, sie solle dranbleiben, den Hörer neben die Gabel gelegt und war raus zum Hühnerstall auf dem Heuplatz gegangen, um Mutter zu fragen, und sie hatte geantwortet, er solle der alten Schachtel sagen, sie könne ihren Kuchen selber backen, nein, besser noch, sie wäre in der Stadt und nicht vor neun zurück, aber Daddy sagte, Nein, Sarah. Du weißt, dass ich nicht lügen kann. Er sagte es so, wie der Priester und das Wort ward Fleisch sagte: Es war ein Fakt, eine Tatsache; da gab es nichts zu deuteln. Mutter stampfte in den Flur, stinksauer, und musste ihre Lüge selbst erzählen. Dann sagte sie zu Daddy, jetzt hätte er sie so weit, dass sie sich schlecht fühle, und am Ende musste sie wirklich in die Stadt fahren, um die Lüge wahr zu machen, und bis neun Uhr dort bleiben, um [16]wirklich sicherzugehen, dass an diesem Tag nichts als die Wahrheit gesprochen worden war. So war das mit Daddy: Er war so rechtschaffen, dass man ein schlechtes Gewissen bekam und einfach versuchen musste, mit ihm mitzuhalten.

Johnsey konnte draußen auf dem Hof und im Haus nicht richtig denken, nicht einmal im Dunkel des Kuhstalls. Überall roch es nach Daddy. Immer wenn er über den Hof blickte, erwartete Johnsey, ihn auf sich zukommen und mit seinem Stock grüßen zu sehen, immer mit ein paar Neuigkeiten auf den Lippen, selbst wenn es keine Neuigkeiten gab. Alles auf dem Hof schien mit ihm gestorben zu sein, als hätte es nur wegen ihm existiert. Alles war immer noch von seinem Gewicht geformt und von seiner Berührung abgenutzt, so dass niemand anders richtig hineinpasste: der Trampelpfad über den Hof, den er Tag für Tag auf seinen immer gleichen Runden ausgetreten hatte und den Besucher oft gar nicht wahrnahmen, bis sie darüber stolperten; die glänzenden, abgegriffenen Klinken an den Türen zum Kuhstall, zum Melkstand und zum Werkstattschuppen, die er jahrelang jeden Tag auf- und zugemacht hatte; die Sitze vom Traktor und vom Jeep, in die er eine Mulde hineingesessen hatte; selbst die Wände der Gebäude schienen nur noch zu stehen, um das Andenken an seine Kraft zu ehren.

Es war nicht gesund, so wie es im Haus jetzt war. Selbst ein Hornochse wie er erkannte das. Traurigkeit plus Traurigkeit ergibt mehr Traurigkeit. Traurigkeit erzeugt Traurigkeit. Dass der Hof und die Gebäude ausgestorben waren, machte die Luft zäher und schwerer zu durchschreiten. Dermot McDermott hatte seinen eigenen Hof, er hatte nur die Felder gepachtet. Es hätte Johnsey das Herz gebrochen, wenn [17]er diesen lockenköpfigen Arsch jeden Tag mit seinem tollen großen John Deere über Daddys Hof hätte tuckern sehen müssen, mit dem er alles kaputtmachte, ohne den geringsten Respekt vor Daddys Welt. Es wäre einer Invasion gleichgekommen. Lieber die totenstille Einsamkeit, die jetzt herrschte, als die lärmende Ignoranz dieses Blödmanns mit seinem schicken Maschinenpark. Daddy hätte das genauso gesehen, da war Johnsey sicher.

Einmal hatte Daddy, als er dachte, Johnsey könnte sie nicht hören, zu Mutter gesagt, er sei eben ein sehr stiller Junge. Mutter musste wieder darüber geschimpft haben, dass er so ein Hornochse war, und Daddy verteidigte ihn. Er hatte die Zärtlichkeit in Daddys Stimme gehört. Aber Zärtlichkeit konnte man auch für eine Missgeburt von einer Promenadenmischung empfinden, die man am besten direkt nach der Geburt ertränkt hätte. So einer konnte nur fressen und kacken und einen Haufen Arbeit machen, aber man streichelte ihn trotz allem hin und wieder und gab ihm ein Leckerchen, und man war fast immer nett zu ihm, weil er ja nichts dafür konnte, dass er ein sabbernder Trottel von einem Köter war. Aber man würde ganz sicher nicht vor anderen Leuten mit ihm prahlen, so viel stand fest.

Sein Zimmer war der beste Ort zum Nachdenken. Zu viel Denken konnte einen richtig dösig machen. Das Gehirn funktionierte dann wie ein Videorekorder und führte einem die eigene Dämlichkeit vor Augen. Am schlimmsten war es, wenn er mit anderen Leuten sprechen musste, zum Beispiel, wenn eine der alten Glucken ihn auf dem Nachhauseweg oder in der Bäckerei über seine Mutter ausfragte, oder ihn jemand auf der Straße anhielt und fragte, wie es ihm gehe, [18]wie es seiner Tante Theresa ginge und ob Klein-Frank jetzt mit seinen blöden Prüfungen durch sei, dann stand er nämlich mit glühenden Wangen da und tat sein Bestes, um die richtigen Antworten zu finden und zu klingen wie ein normaler Mensch, aber Wörter konnten einen blitzschnell als Idioten dastehen lassen. Wozu war Reden überhaupt gut? Was hatte man jemals mit Worten erreicht?

In seinem Zimmer dachte Johnsey oft an Mädchen. Er hatte ein Schmutzheftchen, das einmal Anthony Dwyer gehört hatte, der nicht ganz so dämlich war wie Johnsey, aber dafür war er ein richtiger Krüppel, sein eines Bein war kürzer als das andere. Wenn er sich Dwyers Heftchen ansah, hatte er oft sündige Gedanken, und die Gedanken allein machten ihm dieses Gefühl, das er manchmal hatte, wenn er zur Kommunion nach vorn gehen wollte und die Moran-Schwestern mit ihren kurzen Röcken dort saßen: Er spürte, wie sein Herz vor aller Augen hämmerte und hüpfte und um sich trat, als wollte es ihm durch die Kehle und aus dem Mund herausspringen und ihm eine Ohrfeige geben, ehe es auf seinen dicken, roten Beinchen davonlaufen und eine Blutspur hinter sich herziehen würde, wobei es Viel Glück noch, du Fettarsch, du brauchst mich doch eh nicht! rufen würde. Er sah aus dem Fenster über den Hof. Nichts rührte sich draußen. Warum auch?

Er stellte sich Dermot McDermott vor mit einem schönen Mädchen mit kurzem Rock, von diesem Mistkerl bedrängt, in der Falle, und Dermot würde zu ihr sagen, Mach weiter, los, mach schon, und versuchen sie sich zu Willen zu machen, und sie würde es gar nicht wollen und versuchen sich zu befreien. Dann stellte er sich vor, er, Johnsey, würde [19]auf Dermot McDermott zugehen, und der würde sich umdrehen, und Johnsey würde ihm eine verpassen, voll auf die Zwölf, und das schöne Mädchen würde Danke, Danke! rufen, und Johnsey würde den Arm um sie legen, und plötzlich würde ihr einfallen, dass sie doch die schmutzigen Dinge tun wollte, zu denen Dermot McDermott sie hatte zwingen wollen, nur mit Johnsey, und nicht mit dem lockenköpfigen Arsch, der jetzt mit dem Gesicht nach unten im Matsch lag.

Johnsey hatte noch nie wirklich mit einem Mädchen gesprochen, nur mit seiner Mutter und den Tantchen und den alten Glucken, und das waren natürlich keine richtigen Mädchen, wie die in der Stadt oder vor dem Molloy’s, wo sie in ihren Frosthöschen, wie Mutter sie nannte, Zigaretten rauchten. Ein paar Hallos und Aufwiedersehens und Guts und Jabittes und Dankesehrs zu Packies Tochter und ganz selten mal einer Kundin im Co-op; das war schon alles.

Seine Eltern hatten ihn einmal überredet, eine Disko zu besuchen. Er wusste nicht, warum sie so wild darauf waren, dass er hinging. Die Disko war nur für Jugendliche und fand in einem Pfarrsaal fünfzehn Meilen entfernt statt. Es sollte ein Bus vom Dorf aus dort hinfahren, mit fünfundzwanzig Plätzen, aber manche würden stehen müssen. Allein der Gedanke an diesen Bus und einen Saal voller Mädchen und Eugene Penrose und die ganzen coolen Jungs, die ihn auslachen und ihn ansehen würden, als wollten sie sagen, Wo will der denn hin? Der gehört doch nicht zu uns. Und dann die Gefahr, reden oder gar tanzen zu müssen; Johnsey wusste nicht, warum seine Eltern ihm das antaten. Warum konnte er nicht einfach mit ihnen zu Hause bleiben wie [20]sonst auch und die Late Late Show gucken und Tee trinken und süße Brötchen oder Rosinenkuchen essen?

Johnsey war damals dreizehn gewesen, sein dickes schwarzes Haar hatte ihm nicht gehorchen wollen, sein Gesicht war rot, die Hände zu groß, die Füße machten, was sie wollten, die Stimme brach in der Kehle und kam entweder zu hoch oder zu tief heraus, und sein Kopf wackelte, wenn er gezwungen war zu sprechen, das war doch bei Gott zu viel Elend für einen einzigen Jungen.

Mutter hatte ihm extra eine neue Hose – sie sollte generell für wichtige Anlässe sein, jedenfalls sollte sie nicht nur das eine Mal getragen werden–, ein Hemd und einen Pullover mitgebracht. Der Pullover war richtig teuer gewesen und hatte einen winzigen Golfer auf der Brust, so wie bei den coolen Jungs. Dazu trug er Doc Martens. Daddy hatte sie ihm in einem Karton mitgebracht, auf dem »Air Wair« stand. Aber die, die er gekauft hatte, waren zu klein, also musste er sie zurück in die Stadt bringen und größere kaufen, aber das machte ihm nichts aus, er wäre ja selbst schuld gewesen, sagte er – er hätte vorher fragen sollen.

Als er abends aus dem Haus ging, fuhr ihm Mutter mit der Hand durchs Haar, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte, Mein Kleiner auf dem Weg zu seinem ersten Tanzabend. Und Daddy brachte ihn mit dem Jeep ins Dorf, so dass er sich wie ein richtiger Mann fühlte, als er von dem hohen Sitz sprang und Daddy ihm zuzwinkerte und sagte, Lass es ruhig angehen, lass den anderen noch ein paar Mädels übrig! Johnsey war nicht sicher, was Daddy damit meinte, aber es hörte sich männlich und lustig an, und er lachte mit und sagte, Hals- und Beinbruch, danke, Dad – gerade noch [21]rechtzeitig hatte er daran gedacht, nicht Daddy zu sagen, schließlich bestand die Möglichkeit, dass die coolen Jungs es mitbekamen. Daddy hatte ihm unterwegs einen ganzen Fünfer zugesteckt, der jetzt warm in seiner Hand lag. Der Bus war bereits bezahlt, und zwei Pfund kostete der Eintritt, drei Pfund von diesem Fünfer konnte er also ausgeben, wie er wollte. Was gab es wohl in Diskos zu kaufen? Johnsey hatte keinen Schimmer. Aber mit Sicherheit gab es Coca-Cola. Trotz der Nervosität freute er sich jetzt fast.

Er hatte gehofft, Dwyer würde ebenfalls am Denkmal auf den Bus warten, damit er einen Spastikerkollegen hatte. Er konnte Daddys Jeep noch hören und die Abgase riechen, als auch schon Eugene Penrose auf ihn zugeschlendert kam, flankiert von Mickey Farrell und einem blonden Jungen aus der Elften, der sich einmal mit einem Burschen aus der Jugendmannschaft geprügelt und dabei erschreckend blutrote Treffer gelandet und die Prügelei gewonnen hatte, und der Bursche aus der Jugendmannschaft, der schon achtzehn gewesen war, hatte angefangen zu weinen, und das Blut war ihm dabei nur so aus der Nase gespritzt.

Wo willst du denn hin? Eugene Penrose hatte einen Pony, und sein ansonsten langes Haar fiel ihm glatt über die Ohren. Er sah aus wie eine richtige Dumpfbacke, hätte Daddy gesagt. Ein hässlicher Hinterwäldler!

In die Disko, erwiderte Johnsey.

Ach, echt? Dann komm her, komm hier rüber und stell dich zu uns, der alte Paddy Bumssack fährt den Bus, es wird also noch eine halbe Ewigkeit dauern, bis er hier ist. Er sitzt wahrscheinlich noch zu Hause und pult sich die Klabusterbeeren aus dem Arsch.

[22]Johnsey wusste nicht, was er tun sollte. Eugene Penrose hatte schon früher nett getan, aber es hatte immer böse geendet. Einmal hatte es einen ganzen Tag lang angehalten, doch dann hatte er ihm vor dem Kirchentor den Rucksack vom Rücken gerissen und ihn am Zaun aufgehängt, und als Johnsey sich danach ausgestreckt hatte, hatte Eugene Penrose ihm die Hose heruntergezogen, ihm eine große Handvoll Matsch in die Unterhose gefeuert, alles mit einem Tritt festgesetzt und angefangen herumzubrüllen, dass Johnsey sich in die Hose geschissen hätte, und der ganze Schulbus hatte ihn mit dem Matsch am Arsch und in den Kniekehlen gesehen, und hinterher war er den Spitznamen Kackarsch Cunliffe beinahe ein Jahr lang nicht mehr losgeworden.

Trotzdem ging Johnsey mit Eugene Penrose und dem kleinen Mickey Farrell mit den Schlitzaugen (Mutter hatte Daddy an einem Sonntag nach der Kirche gefragt, Ist der Kleine von den Farrells eigentlich mongoloid? Und Daddy hatte gelacht und gesagt, Nein, er ist bloß eine Ratte wie sein Vater) hinüber zum Denkmal, wo alle coolen Jungs standen und ein paar Mädchen so taten, als wären sie angewidert von den coolen Jungs, aber man konnte sehen, dass es nicht so war, und ein paar nervös wirkende Hirnis standen daneben, wie alte, zerkochte Brokkoli-Röschen neben einem Teller mit Steak und Pommes.

Hey, Jungs, rief Penrose und zog Johnsey am Arm, um ihn den anderen zu präsentieren, seht euch mal Cunliffes Pulli an – ich würd sagen, den hat seine Mutter gestrickt und dann einen Golfer draufgeklebt!

Ich würd sagen, den hat sein Vater bei den Zigeunern gekauft, schlug jemand anderes vor. Johnsey sah seine Hirni-[23]Kollegen schallend mit den coolen Jungs lachen, weil sie sich eine Minute lang sicher außerhalb des Fokus glaubten und versuchten Boden gutzumachen, solange sie Gelegenheit dazu hatten.

Hey, Johnsey Sackmief, heute machst du dir hoffentlich nicht in die Hose, der Bus ist nicht so groß!

Dann schmeißen wir den Penner in den Kofferraum!

Jemand packte ihn am Kragen, zog das Etikett heraus und brüllte, Penneys!

Johnsey wusste, dass seine Mutter den Pullover nicht bei Penneys gekauft hatte; sie war in einen richtig teuren Laden in der Stadt gegangen. Das wusste er, weil er gehört hatte, wie sie Daddy erzählte, dass er schrecklich teuer gewesen sei, und Daddy hatte gesagt, Tja, was soll’s?, und sie hatte gesagt, Stimmt, was soll’s? Dann hörte er ein Reißen, und die zwei Schulterknöpfe landeten auf dem Boden. Er bückte sich, um sie aufzuheben, aber derjenige hinter ihm hatte ihn noch immer im Griff, und er hörte es wieder reißen. Jetzt fühlte sich der Kragen des Pullovers zu weit an, und er rutschte ihm über die Schulter, und Johnsey fragte sich, wie er Mutter und Daddy erklären sollte, dass sein neuer Pullover, der schrecklich teuer gewesen war, jetzt kaputt war.

Da kam Paddy Bumssack, und Johnseys Martyrium war fürs Erste beendet. Bei Gott, er würde ja wohl in einem Bus in Ruhe gelassen werden, der von einem Erwachsenen gefahren wurde. Er setzte sich ganz nach vorne, so nah zum Fahrer wie möglich. Die anderen zwei harmlosen Jungs setzten sich ihm gegenüber. Sie wirkten ein wenig beschämt.

Aber sein Zufluchtsort war gar keiner: Eugene Penrose ließ sich neben ihn auf den Sitz fallen und legte ihm den Arm [24]so richtig mar-dhea-kumpelhaft um die Schultern, und Johnsey musste rutschen, und die kleine Ratte Mickey Farrell und der blonde Typ ließen sich auf die Plätze hinter ihm fallen, und als sie wieder anfingen ihn zu drangsalieren und versuchten, ihm den Pullover vom Leib zu reißen, drehte der alte Paddy Bumssack nur leicht den Kopf und rief, He, Ruhe da hinten, und grinste schief, und dabei sah Johnsey, dass er nur drei Zähne in seinem blöden alten Maul hatte, und er ächzte und hustete genauso wie der Bus, und dann rammte er den ersten Gang rein und fuhr los.

Irgendwo im hinteren Teil des Busses zündete sich jemand eine Zigarette an! Selbst Eugene Penrose überraschte das ein bisschen. Aber er konnte es nicht auf sich sitzen lassen, dass einer noch dreister war als er. Er schnorrte sich eine von dem rauchenden Typen, kam mit der brennenden Zigarette zurück und fuchtelte Johnsey damit im Gesicht herum, so dass er sich jedes Mal den Kopf am Busfenster stieß, wenn er zurückzuckte. Nu lasst aber mal gut sein, rief Paddy Bumssack und lachte und hustete. Johnsey spürte die heiße Glut der Zigarette. Er malte sich aus, wie Mutter und Daddy ihn fragten, woher er die Brandwunden hätte, wer das gewesen wäre, und wie Daddy dann mit dem Jeep zu Eugene Penrose nach Hause rasen und dessen Vater zur Rede stellen würde, und dann gäbe es ein riesiges Tamtam, und Eugene Penrose würde ihn den ganzen Montag lang Scheißbabypetze nennen und ihm dazu wahrscheinlich die Seele aus dem Leib prügeln.

Aber statt ein Loch in Johnseys Gesicht zu brennen, brannte Eugene Penrose ein Loch in den neuen Pullover. Direkt vorne drauf, und die Stelle, an der er den Stoff mit der Zigarette [25]berührt hatte, fing sogar eine Sekunde lang Feuer, das brachte Lacher von allen Seiten; es wurde vor Vergnügen gekreischt und gejauchzt, und als Johnsey aufsprang und sich auf die Brust schlug, um die kleine Flamme zu löschen, rutschte ihm der Fünfer aus der Tasche seiner neuen Kordhose und flatterte davon, und Eugene Penrose hob ihn auf und behauptete, es wäre seiner. Irgendjemand sagte, Meine Fresse, jetzt gib ihm das Geld doch zurück, aber Eugene Penrose sagte, Sonst was? Und damit war die Sache erledigt.

Johnsey stellte sich vor, wie Mutter im Laden stand, um ihm den Pullover zu kaufen, und wahrscheinlich den Menschen, der dort arbeitete, fragte, ob dieser Pullover wohl gerade cool wäre und ob alle jungen Leute das jetzt so tragen würden, und es brach ihm das Herz, dass sie sich so viele Gedanken um ihn machte und dass sie so glücklich gewesen war, als er losgezogen war, so herausgeputzt, wie ein normaler Junge.

Als sie endlich am Pfarrsaal angekommen waren, in dem die Disko stattfinden sollte, stahl sich Johnsey aus der Schlange. Einer der anderen harmlosen Jungs fragte, wo er hinwolle. Er antwortete nicht. Er strebte auf die Dunkelheit hinter dem Saal zu, in ein kleines Wäldchen mit dickastigen Bäumen. Dort blieb er für den ganzen Rest des Abends, bis die Disko vorbei war und er Paddy Bumssack den Hügel heraufscheppern hörte. Ein paarmal hatte er sich weiter ins Dunkel der Bäume zurückziehen müssen, weil Jungen mit Mädchen an der Hand herausgekommen waren und zwischen den Bäumen herumknutschten, und Johnsey hatte versucht, die Luft anzuhalten und mit der Dunkelheit zu verschmelzen, denn er konnte sich vorstellen, wie das Mädchen kreischen würde, [26]wenn sie ihn entdeckten, und wie der Junge ihn wahrscheinlich einen Perversling nennen und ihm eine verpassen würde.

Er hörte Bon Jovi Livin’ on a Prayer singen, seinen Lieblingsrocksong, und alle sangen mit, und der DJ drehte beim Refrain die Musik ab, und da sangen nur noch die Jungen und Mädchen in der Disko und waren beinahe lauter, als die Musik vorher gewesen war. Dann hörte er die Nationalhymne, und danach strömten alle nach draußen und in den Bus. An diesem Abend hatte er nicht mit Mädchen sprechen müssen und keine Cola an der Bar getrunken wie ein richtiger Mann. Seinen angesengten Pullover warf er ins Dunkel zwischen die Bäume. Auf dem Rückweg interessierte sich niemand für ihn, sie brüllten nur durch den Bus, wer wem an den Hintern gegrapscht hatte und wer geknutscht hatte und wer nicht, und einer der anderen Hirnis flüsterte, Wo warst du den ganzen Abend? Aber Johnsey sagte nur, er solle sich verpissen.

Dwyer hatte ihm das Schmutzheftchen geliehen, als sie noch dicke miteinander gewesen waren, vor Jahren. Johnsey hatte es viel länger behalten, als es vorgesehen war. Am Ende war Dwyer ein bisschen sauer geworden, aber nicht allzu sehr. Ein Kerl in Dwyers Lage konnte sich nicht erlauben, zu nervös zu werden – es hieß, sein Herz wäre in noch schlechterem Zustand als sein verkrüppeltes Bein. Er starb, bevor Johnsey ihm das Heft zurückgeben konnte. Eines Nachts im Schlaf hörte sein Herz einfach auf zu schlagen.

Seine Mutter und sein Vater waren verrückt nach ihm gewesen. Und warum hätten sie auch nicht verrückt sein sollen nach ihrem kleinen Wicht?, hatte Mutter zu Molly Kinsella an dem Tag gesagt, an dem Dwyer gestorben war und [27]ein paar der ICA-Glucken sich in der Küche von Johnseys Mutter versammelt hatten, um die Tragödie auseinanderzurupfen wie Krähen eine weggeworfene Imbissverpackung. Ja, warum nicht, sagte Molly Kinsella, aber dabei ließ sie ihre alten, buschigen Augenbrauen und ihr Hexenkinn gen Himmel schnellen, als wollte sie sagen, man könne einen solchen Jungen nicht genauso lieben wie einen, der gesund und groß und gutaussehend war, wie Dermot McDermott, und Hurling spielte und die Mädchen dazu brachte, sich in kichernden Trauben auf der winzigen Tribüne zusammenzudrängen und sich nach ihm zu verzehren.

Johnsey hatte einmal gesehen, wie Dermot McDermott seinen eigenen Hund getreten hatte, oben auf der Anhöhe, wo der große Hof der McDermotts an Daddys kleinen grenzte. Johnsey war für die Fütterung dort oben gewesen, aber er hatte den Traktor auf dem Feld stehenlassen und eine Gabelvoll zu Fuß hinaufgebracht. Er hatte Geschrei gehört, eine Frauenstimme, die jemanden einen Scheißkerl nannte, aber als Johnsey endlich freien Blick über das obere Feld der McDermotts hatte, war Dermot McDermott allein mit dem alten Border Collie der Familie. Ein Collie war ein Hund, der seinen Besitzer ohne Wenn und Aber liebte. Johnsey sah, wie Dermot McDermott dieser guten alten Hundedame einen Tritt in die Seite verpasste, dass sie beinahe umgefallen wäre, und sie humpelte winselnd davon. Er stellte sich eine junge Frau vor, die davongestürmt war, nachdem sie mit Dermot McDermott gestritten hatte, vorbei am Haus der Familie, und während sie über den Hof lief, wurde sie von drinnen von seinen Leuten ausgelacht, und Dermot schüttelte nur den Kopf und kümmerte sich weiter um seine [28]tollen Spezialzüchtungen, zu denen ihm alle im Co-op gratulierten und ihm Fragen stellten und sich einig waren, was für ein toller Hecht er doch wäre. Gingen Frauen und Männer heutzutage so miteinander um?

Mutter und Daddy jedenfalls nicht, bei ihnen gab es nur ganz selten ein hartes Wort, und dann auch nur wegen alberner Dinge, zum Beispiel wegen dem Matsch, der ins Haus getragen wurde, und selbst dann konnte Daddy Mutter besänftigen, indem er sie zum Lachen brachte, und Johnsey lachte dann auch über Daddys Kasperei und tat so, als wisse er nichts über den Dreck und als würde er gleich die Polizei rufen, weil dann ja ein Einbrecher im Haus sein müsse, und am Ende war es, als hätte der Streit ihre kleine Welt sogar ein bisschen besser gemacht. Und die Unthanks, Er und Sie, wie Mutter und Daddy sie immer nannten, hatten eine ganz leise Art miteinander umzugehen; wie verrückt sie nacheinander waren, merkte man schon daran, dass sie über die Dinge lachten, die der andere sagte, und dass sie zuhörten, wenn der andere sprach, und dass sie sich gegenseitig immer Liebling nannten.

Aber Johnsey hatte junge Paare vor Ciss Brien’s Pub gesehen, und die waren ganz sicher nicht nett zueinander. Eines Freitagabends hatte Johnsey bei der Pumpe an der Ecke vor dem Pub stehenbleiben müssen, weil weiter die Straße hinauf Gebrüll und Geschrei zu hören war, und das machte ihn nervös. Eine Frau schrie einen Mann lauter an, als er es je gehört hatte – Johnsey versuchte, nicht hinzuhören, aber im Wesentlichen ging es darum, dass sie Kinder hatten und sie irgendwohin musste und er auf die Kinder aufpassen sollte und es versprochen hatte, und jetzt versoff er stattdessen [29]jeden Penny, den er hatte, und dabei war das doch ihr Geld für das Brautschuhschwein.