Die Stille des Meeres - Donal Ryan - E-Book

Die Stille des Meeres E-Book

Donal Ryan

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Beschreibung

Farouks Leben ist am Ende, weil er verloren hat, was ihm am meisten bedeutete. Lampys Leben sollte gerade so richtig anfangen, doch dann ließ ihn seine große Liebe Chloé einfach stehen. John hat sein Leben lang andere betrogen und hofft nun verzweifelt auf Gottes Vergebung. In einer kleinen Stadt in Irland werden diese drei Männer sich auf unwahrscheinliche Weise begegnen. Mit fatalen Folgen.

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Donal Ryan

Die Stille des Meeres

Roman

Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll

Diogenes

Für meine liebe Schwester Mary,

meine allererste Freundin,

in Liebe.

Farouk

Ich erzähle dir etwas über Bäume. Sie sprechen miteinander. Was sie wohl sagen? Was könnte ein Baum einem anderen erzählen? Bestimmt eine Menge. Wahrscheinlich könnten sie sich stundenlang unterhalten. Einige sind Jahrhunderte alt. Was sie nicht alles zu sehen und zu hören bekommen, was nicht alles um sie herum passiert. Sie sprechen über unterirdische Gänge miteinander, die Pilze von ihren Wurzeln aus gebahnt haben, sie senden Zelle für Zelle ihre Nachrichten, und das mit einer Geduld, die wohl nur ein Lebewesen aufbringt, das sich nicht vom Fleck rühren kann. Das ist so, als würde ich dir eine Geschichte erzählen und nur ein Wort am Tag sagen. Immer beim Frühstück würde ich es dir sagen, das eine Wort für die Geschichte, dir dann einen Kuss geben und zur Arbeit gehen, und du würdest zur Schule gehen und hättest von der ganzen Geschichte jeden Tag nur dieses eine Wort, mehr würde ich dir bis zum nächsten Tag nicht verraten, egal wie sehr du bitten und betteln würdest. Da braucht man schon die Geduld eines Baums, würde ich sagen. Kannst du dir das vorstellen? Wenn ein Baum hungert, wird er von seinen Nachbarn mit Nahrung versorgt. Niemand weiß, wie das funktioniert, aber so ist es. Von den Wurzeln eines gesunden Baums wandern Nährstoffe durch die Pilzgänge zu seinem darbenden Nachbarn, selbst wenn er zu einer anderen Art gehört. Bäume sind lebendig wie du und ich, sie haben ein langes Leben und wissen so manches. Sie kennen das Gebot, das einzige, was wahr und einzuhalten ist. Welches? Na, das weißt du doch. Ich habe es dir schon so oft gesagt. Tu Gutes. Und jetzt schlaf, mein Schätzchen, morgen ist ein langer Tag.

Er blieb auf dem schmalen Treppenabsatz stehen und schaute durch die angelehnte Tür zu, wie sie es sich unter den Laken bequem machte. Er hörte Gewehrsalven aus dem Osten, hinter der Stadt, nahe der Front, und er fragte sich, ob es Freudenschüsse waren oder Vergeltungsschüsse oder Schüsse zu Ehren eines gefallenen Kämpfers. Er fragte sich, ob seine Tochter ihm die Lüge abkauf‌te – dass es eine große Maschine war, die diese Geräusche von sich gab, um die Vögel von den Äckern zu verscheuchen. Es sei nur zu deren eigenem Besten, hatte er ihr erklärt. Wenn man sie nur ließe, würden sie sich nämlich so lange den Bauch vollschlagen, bis sie platzten. Er hörte sie flüstern, an sich selbst oder ihre Teddys und Puppen gewandt, die aufgereiht am Bettrand saßen, zweifelnd: Kann das wirklich stimmen, was Papa gesagt hat? Dass Bäume mit anderen Bäumen sprechen? Bestimmt, sonst hätte er es mir doch nicht erzählt. Ob ich das meinen Freunden weitersage, weiß ich noch nicht. Vielleicht behalten wir das für uns. Also, gute Nacht, meine Kleinen. Und dann sagte sie leise der Reihe nach jeden Namen, fand im Halbdunkel die richtige Schlafposition, und schließlich waren nur noch das Zirpen der Zikaden und ihr Atem zu hören und in der Ferne die nächste Gewehrsalve, wie trockene Blätter, die unter den Fußsohlen knisternd zu Staub zerfallen. Und erneut versetzte ihm die Erinnerung einen Stich, so schmerzhaft diesmal, dass er beinahe laut aufgestöhnt hätte, die Erinnerung daran, wie er gehofft und zu Gott gebetet hatte, dass sie ein Junge werden würde. Der Mond schien durch das Dachfenster über dem Treppenabsatz, tauchte die Stufen in sein kränkliches Licht, und Farouk verspürte einen plötzlichen Hass auf dieses tote Ding, das flach und gezeitenhörig über der Erde kreiste, ohne jedes Gefühl.

Martha saß am Esstisch, die Unterarme auf der schweren Holzplatte ausgestreckt bis in die Fingerspitzen, vor sich eine Tasse, das Gesicht mit geschlossenen Augen in den aufsteigenden Dampf geneigt. Er dachte daran zurück, wie sie Wochen zuvor auf genau dem gleichen Platz gesessen und sich lebhaft mit einem fremden und gefährlichen Mann unterhalten, wie sie ihn angelächelt und über seine Worte gelacht hatte, ein kalkuliertes Lachen, um dem Mann zu schmeicheln, zu zeigen, dass sie ihm wohlgesonnen war, dass sie ihm abnahm, was er sagte, die Gründe für sein Handeln glaubte. Farouk hatte diese Unterhaltung durchs Fenster beobachtet, während er im Garten mit einem spindeldürren jungen Mann von vielleicht zwanzig Jahren rauchte, dem Begleiter des Mannes. Er hatte ungleichmäßige Haut unter dem spärlichen Bartwuchs, Narben von Pickeln, von Akne, die Male des Übergangs zum Mannesalter. Martha hatte mit dem Verantwortlichen sprechen wollen, um einen Eindruck von ihm zu bekommen, sich davon zu überzeugen, dass er über eine gewisse Glaubwürdigkeit verfügte, eine Gesetztheit. Farouk wusste, dass sie ihr Möglichstes gegen die Angst tat, damit sie nicht doch noch hierbleiben und versuchen würde, das Ganze auszusitzen, dieses bizarre Aufeinandertreffen unvereinbarer Überzeugungen, dieses kleine Armageddon. Der dürre junge Mann saß schweigend da, schaute hin und wieder hinein zu seinem Boss und der schönen Frau, mit der er sich unterhielt, und wieder zurück zu ihrem Ehemann, dann grinste er, zog die Brauen hoch und blies den Rauch seiner Zigarette in einem dünnen Strahl nach oben aus, nickte lächelnd, anerkennend vielleicht oder beruhigend, vielleicht auch einfach nur, um irgendetwas zu tun, die Peinlichkeit, das verkrampf‌te Schweigen zwischen ihnen erträglicher zu machen, es war unmöglich zu deuten.

In diesem Augenblick hatte Farouk seine Frau gehasst und konnte doch nicht genau sagen, weshalb. Vielleicht, weil es ihr so mühelos gelang, sich mit diesem undurchsichtigen Mann zu unterhalten, einem Mann, dessen Wort man nicht für bare Münze nehmen konnte, so viel war klar. Er empfand es als Demütigung, vor seinem eigenen Haus sitzen zu müssen, auf einem Hocker unter einem Olivenbaum, irgendeinem Idioten zuzunicken und faulen Tabak zu inhalieren, nur weil er ihm angeboten worden war und er nicht abweisend oder gleichgültig hatte wirken wollen. Er war kein selbstsicherer Mann. Er konnte nicht einmal geradeaus gehen, ohne sich Gedanken über seinen Gang zu machen, über das Selbstvertrauen in seinem Schritt, ob seine Haltung auch männlich genug, sein Händedruck fest genug war, aber nicht so fest, dass er auf die Fremden wie eine unausgesprochene Herausforderung wirkte. Er hatte darauf geachtet, nach der Begrüßung als Erster wegzuschauen, auf den Boden zwischen ihnen, und dieser winzige Akt hatte ihn kleingemacht, ihn unerträglich schrumpfen lassen.

Sie sollte mit gesenktem Blick vor ihm stehen und um Vergebung bitten, weil sie das von ihm angebahnte Geschäft abgeschlossen hatte, weil sie den Umschlag mit dem Geld vom Regal über dem Herd genommen und die Scheine in flachen Stapeln auf den Tisch gezählt hatte, während er mit einem Grimassen ziehenden Jungen, einem saftstrotzenden, vielsagend grinsenden Jugendlichen draußen sitzen und rauchen musste. Sie war zu weit gegangen. Sie hatte nur über das Boot sprechen, den Mann nach Modell und Herkunft, nach Größe und Erfahrung der Crew fragen sollen. Es war ausgemacht gewesen, dass er sie dazu allein ließ, damit sie sich gewisse Freiheiten herausnehmen konnte und er sie nicht hätte zurechtweisen müssen, weil sie den Mann so unumwunden und unverschämt ansprach – es war schließlich nicht abzuschätzen, wie empfindlich diese Leute waren, wie so etwas bei ihnen ankäme. Daher hatte er beim Händeschütteln zu dem Verantwortlichen gesagt: Meine Frau fürchtet sich vor der Überfahrt, vor dem Meer. Sie ist noch nie gesegelt, aber sie hat sich belesen. Vielleicht könnten Sie so freundlich sein und ihr ein paar Einzelheiten zum Boot und zur Route geben, ihr sagen, wie erfahren die Crew ist. Sie kennen das, sonst kommen wir nicht mal ohne Drama am Hafen an. Und der Mund wurde ihm beim Aussprechen dieser Worte trocken. Der beleibte Mann lachte leise, und in seinen Augen tanzte ein Funkeln, als er erwiderte: Aber sicher doch, mein Freund, ich kenne das.

Ihm stockte noch immer der Atem, als er nun auf der mondbeschienenen Treppe daran zurückdachte und dabei ganz langsam und so leise wie möglich nach unten ging. Seine Frau saß in der lauen Brise, die ihre Bluse aufblähte und wieder an die Haut schmiegte, und er spürte Millionen kleiner Nadelstiche auf der Stirn, die sich über Hals, Brust und Rücken und die Arme und Beine hinab in seine Hände und Füße ausbreiteten, und gleichzeitig beschleunigte sein Puls, schlug sein Herz im Takt der sich ballenden Fäuste.

Als er auf der untersten Stufe angelangte, regte sich seine Frau, drehte den Kopf und ließ das Kinn auf der Schulter ruhen, das Gesicht ihm zugewandt, aber ihr Blick schweif‌te irgendwo in die Ferne, und unwillkürlich suchte er nach Spuren von Tränen, bereits geweinten oder noch zu weinenden. Es hätte endlich eine Erosion ihrer übermenschlichen Kraft, des scheinbar unerschütterlichen Glaubens an die Richtigkeit ihres gemeinsamen Handelns bedeutet.

Der Krieg war allmählich gekommen, war um sie herum gewachsen und nicht plötzlich vor ihrer Tür ausgebrochen. Die Polizei war zur Miliz geworden. Die Stadt hatte sich mit bewaffneten Fremden gefüllt. Eines frühen Abends war eine ausgepeitschte Frau von der Ladefläche eines Lieferwagens auf die Straße vor dem Krankenhaus geworfen worden. Sie blutete stark, und ihre Kleider klebten vollgesogen und krustig in den Wunden auf ihrem Rücken. Sie trug ein Schild um den Hals, auf dem stand: EHEBRECHERIN. Sie war höchstens zwanzig, und eine der Krankenschwestern schien sie zu kennen, denn sie fing an zu weinen, als die halb bewusstlose Frau auf einem Laken ins Krankenhaus geschafft wurde, und versuchte, den Arm zu richten, der seltsam verdreht aus der improvisierten Trage hing, vielleicht beim Sturz von der hohen Ladefläche des Lieferwagens gebrochen, und die Krankenschwester rief: Ach, Cousine, Cousine, was hast du nur getan? Und einer der Männer stieg von der Ladefläche und wandte sich an die Leute, die vor dem Krankenhauseingang standen. Er sprach langsam und stockend Arabisch mit ausländischem Akzent und sagte: Das Leben dieser Frau wurde verschont, weil ihre Familie eine Strafe bezahlt hat. Sie darf von keinem Mann angefasst werden. Wenn es keine Ärztin gibt, darf eine Krankenschwester Anweisungen aus einem anderen Raum durch die geöffnete Tür entgegennehmen. Von heute an wird es zwei Krankenhäuser geben, eins für Männer und eins für Frauen. Das Frauenkrankenhaus wird in der Schule eingerichtet. Die Jungen werden anderswo unterrichtet. Mädchen bleiben zu Hause. Das Gesicht des Mannes war rot, wo es nicht käsig weiß war, er hatte speckige Backen, und die kleinen Augen quollen hinter runden Brillengläsern aus seinem Gesicht, er trug eine Kampfuniform, ein Gewehr über der Schulter und ein langes, geschwungenes Messer wie einen Krummsäbel an der Hüfte. Farouk nahm an, dass er Deutscher war. Er konnte den Blick nicht abwenden von diesem rotgesichtigen Exoten, diesem Konvertiten, der vor Rechtschaffenheit fast platzte, vor Begeisterung über seine neue Stellung, über diesen Traum, den er lebte. Der dicke Deutsche wandte sich ab, woraufhin zwei seiner Kameraden ihn an den Armen packten und zurück auf die Ladefläche zogen, und schon waren sie in einer Staubwolke verschwunden.

Die Frau hatte etwa ein Drittel ihres Bluts verloren, und die Vorräte gingen zur Neige. Ein Oberarzt riet dazu, ihre Wunden zu säubern, zu nähen und antibiotische Salbe aufzutragen und ihr ausreichend Flüssigkeit und Nahrung zu verabreichen, damit sie aus eigener Kraft neues Blut bilden könne, sie sei kein akuter Notfall. Die einzige Ärztin im Krankenhaus war fast siebzig und kannte sich mit solchen Wunden nicht aus; die Stadt war klein und wohlhabend, Gicht war ein Problem, und manche Krebsarten kamen häufiger vor, aber die meisten Menschen starben hier an Altersschwäche. Wir müssen wohl tun, was sie von uns verlangen, sagte sie an diesem Abend zu Farouk. Wir müssen uns im Schulgebäude einrichten, sofort. Die Patientin kann nicht hierbleiben, und fast alle anderen Frauen können entweder entlassen oder zu Fuß zum neuen Gebäude gebracht werden, wir müssen nur zu Gott beten, dass das Schlimmste an uns vorüberzieht. Wenn es zu schweren Verlusten kommt, sind wir hoffnungslos verloren. Die ausgepeitschte Frau stöhnte leise, und die verwandte Krankenschwester befeuchtete ihr mit einem Waschlappen Stirn und Lippen und sagte: Schhh, ruh dich aus, Cousine, und sei still. Bring uns nicht noch mehr Ärger ein. Deine Wunden sind schon beinahe verheilt.

Und so teilte das Krankenhaus Patienten und Angestellte auf, und Farouk und die anderen Ärzte erwarteten die Flut der Verwundeten, und wann immer es ihm möglich war, fuhr er zur Schule, um dorthin zu bringen, was erübrigt werden konnte. Das Frauenkrankenhaus war kahl, bis auf ein paar niedrige Liegen, die aus den Schulpulten zusammengezimmert worden waren. Die Ärztin und ihre zwei verängstigten, den Umständen trotzenden Krankenschwestern gaben ihm bei jedem Besuch eine Liste mit benötigten Medikamenten und Materialien mit, und er konnte immer nur sagen: Ich sehe, was ich tun kann. Vielleicht könnt ihr beim Roten Kreuz nachfragen. Aber die Gefechte hatten die Stadt noch nicht erreicht, nur hier und da gab es mal einen Flugeinsatz aus dem Süden; von hier aus starteten die Rebellen ihre Angriffe, hier formierten sie sich hinterher neu, und dann musste das Männerkrankenhaus die verwundeten Rebellen behandeln. Und an einem Abend war er zu seinem Auto zurückgekommen, an dem ein unbekannter, dunkeläugiger, stämmiger Mann lehnte, der sagte: Ich werde dich, deine Frau und deine Tochter nach Europa bringen. Die Fremden in dieser Stadt wissen, dass deine Frau sich nicht bedeckt. Ihre Mutter ist eine Christin aus dem Norden. Dein Vater war so etwas wie ein Glaubensabtrünniger. Du selbst praktizierst deinen Glauben nicht, dein Zuhause ist unrein und deine Tochter verwestlicht. Er wollte widersprechen, aber der Mann wiegelte ab und sagte: Mir persönlich ist das egal, mein Freund. Ich glaube nicht an Gott. Falls es ihn gibt, hat er mir nichts zu sagen und ich ihm genauso wenig. Und sollte ich ihm doch irgendwann mal gegenüberstehen, werde ich mit den Schultern zucken und sagen: Ich habe getan, was ich getan habe, jetzt tu du, was du tun musst. Mein Geschäft ist es, Menschen in Sicherheit zu bringen. Ich glaube ans Leben, und ich glaube ans Geldverdienen, damit ich meine Arbeit fortsetzen kann. Ich bin ein ehrlicher Mann. Wenn du hierbleibst, wird deine Tochter als Braut für einen der sogenannten Kämpfer entführt und vergewaltigt werden. Deine Frau wird vergewaltigt werden. Dich werden sie so lange benutzen, bis sie dich nicht mehr brauchen können, und dann wirst du umgebracht. Farouk war klar, dass der Mann Geschäfte mit der Angst machte, dass er den Menschen Geld abpresste und sich dabei noch als Retter ausgab, aber ebenso war ihm klar, welche Wahrheit hinter diesen Übertreibungen steckte.

Er fühlte sich dumm, wenn er jetzt daran zurückdachte, wie er das Gesicht und die Augen des Unbekannten abgesucht hatte, wie er herauszuhören versucht hatte, was dessen wahre Motivation war. Dass er eine kindliche Freude verspürt hatte, als der Schleuser sagte, wenn er je einen Sohn bekäme und der Junge zu einem Mann wie ihm heranwüchse, einem Arzt mit einer schönen Frau, dann habe sein Leben einen Sinn gehabt, dann könne er ohne Reue sterben. Er erinnerte sich, wie er die Anerkennung dieses stämmigen Unbekannten, dieses Fleischhändlers, genossen hatte, wie er sich von seiner leise schmeichelnden Stimme hatte einlullen und umwerben lassen, von der Vorstellung, dass die Welt ihn irgendwie nötiger bräuchte als andere Männer, dass seine Frau und seine Tochter irgendein Vorrecht auf Rettung hätten.

Sein Vater hatte Maria, die Mutter Jesu, über alle Maßen verehrt. Er huldigte ihr gemeinsam mit den Christen in einer ihr geweihten Kirche an einem Berghang westlich der Stadt. Er sprach mit leiser Stimme von ihr, voller Ehrerbietung und zärtlicher, eigensinniger Liebe. Sie vereint alle Mütter in sich, sagte er oft, alle Frauen, nur das Beste des weiblichen Wesens. Und das ist kein Konflikt – in unserer heiligen Schrift wird sie genauso verehrt. Manchmal kam Farouk diese Verehrung wie eine Krankheit vor, Symptom eines schweren Leidens, das heimtückisch in das Innerste vorgedrungen war, und erst spät im Leben seines Vaters begriff er. Für ihn symbolisierte die Jungfrau Maria die Liebe seiner Mutter, den Geist seiner verstorbenen Frau und die ungetrübtesten Erfahrungen seines Daseins. Unter den frommen christlichen Nachbarn in dieser winzigen Kirche hielt er Zwiesprache mit der Erinnerung an die Liebe. Und er war nicht allein mit seiner sonderbaren Verehrung, seiner unschuldigen Götzenanbetung. Viele Männer und Frauen ihres Glaubens besuchten Marienheiligtümer und sahen darin keinen Fehltritt, keinen Af‌front, keine Blasphemie. Die christlichen Freunde und Patienten seines Vaters schenkten ihm Marienbildnisse, bis die Regale in seinem Arbeitszimmer damit gefüllt waren, und er hatte Stunden damit zugebracht, sie zu betrachten, nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zu suchen, er bewunderte die unendlichen Farbschattierungen und Gestalten der heiligen Jungfrau, besonders die ihrer Augen, die fast immer zum Himmel erhoben waren, ihrer Hände, die stets zum Gebet gefaltet waren, und ihrer geschundenen Knie, in die sich die Steine unter dem Kreuz ihres Sohnes bohrten.

Du kannst einem Mann nicht ins Herz schauen, hatte sein Vater einmal gesagt. Da saßen sie in einer winzigen Steinkirche an einem Hang oberhalb des Heimatdorfs seiner Großmutter, das erste und einzige Mal, dass Farouk eine christliche Kirche betrat. Ein Priester in schwarzem Gewand leitete die Andacht, bei der die Männer und Frauen an den Stationen des Kreuzwegs innehielten. Er hob die Hand zum Gruß, als sie eintraten, und der leise Singsang der Gemeinde, der süßlich duftende Weihrauch und die geschnitzten Szenen der Passion Christi verschmolzen miteinander und ließen alles wie einen Wachtraum wirken. Die Angst, Gott mit ihrer Anwesenheit zu beleidigen, fiel von Farouk ab; entspannt saß er auf der hölzernen Kirchenbank und lauschte den geflüsterten Ratschlägen seines Vaters: Aber wenn du ganz genau hinschaust, dann wirst du irgendwann die Farbe einer Seele erkennen. Keine Seele ist strahlend weiß, nur die von Kleinkindern. Aber es gibt Männer auf dieser Welt, die ohne Unterlass Böses tun, die keine Gnade kennen. Dann wiederum gibt es Männer, die lieber sterben würden, als einem anderen Leid zuzufügen. Der Rest von uns liegt irgendwo dazwischen. In Acht nehmen musst du dich vor Verboten und Vorschriften, vor blindwütigem Glauben. Dies alles ist gefährlich, selbst so etwas Schönes wie das hier kann im Wahnsinn enden. Und er sprach weiter vom Universum und dass alle Menschen und alle Dinge eins seien, davon, dass sich die Natur im Menschen spiegle, er ihre Verkörperung sei. Und er ermahnte Farouk hinzuhören, hinzuschauen, sein Möglichstes zu tun, mehr als das bloße Gesagte zu begreifen, das Leuchten in den Augen seines Gegenübers zu deuten.

Der gekreuzigte Junge gab schließlich den Ausschlag. Bis dahin war Farouk unschlüssig gewesen, hatte die Entscheidung immer wieder aufgeschoben: Warten wir den nächsten Monat noch ab, ob es vorübergeht. Niemand würde wagen, uns ein Haar zu krümmen. Gekämpft wird weit weg, vielleicht zieht sich die Front sogar zurück, statt näherzukommen. Und dann die nackten Füße des gekreuzigten Jungen, dunkellila angeschwollen vom gestauten Blut, als könnten sie jeden Augenblick platzen wie überreife Beeren an der Rebe. Die bis zum Anschlag zugezogenen Kabelbinder an den Knöcheln. Seine seltsam blassen Hände, aus denen das Blut herausgelaufen war, weil sie über den Schultern hingen und der Junge bereits länger als eine Stunde tot war, als Farouk hinzukam. Nur wenige Besucher fanden sich an jenem Tag auf dem Marktplatz ein, ihre Füße wirbelten kaum Staub auf, niemand erhob die Stimme oder schaute die arme Kreatur am Kreuz auch nur zu lange an, den Jungen, dem man einen Sack über den Kopf gestülpt hatte. Er war wohl ein Spion gewesen, der geredet hatte, ohne gefragt worden zu sein, oder eine Nachricht mit seinem Handy verschickt oder jemandem eine E-Mail geschrieben oder sonst etwas Anstößiges getan hatte. Farouk war nicht mal sicher, ob er wirklich ein Junge war, aber die aufgeschürf‌ten Knie und der tiefsitzende Gürtel deuteten auf Kindheit oder die Zeit kurz nach deren Ende hin, in der es so gut wie unmöglich ist, sich an die Regeln erwachsener Männer zu halten, die Welt hinzunehmen, wie sie ist, ein Lachen an der falschen Stelle oder die Impulse zu unterdrücken, die unter der Haut auf‌flammen und brodeln. Ein Mann stand mit einem Gewehr in den fleischigen Armen unter dem Kreuz, beide Füße fest im Staub, ein schwarzes Tuch über Mund und Nase und eins um den Kopf gebunden, so dass man von seinem Gesicht nur noch die Augen sah, unergründbar, finster, tot.

Farouk, sagte seine Frau jetzt. Und dann nichts weiter. Das tat sie oft, als wollte sie sich seiner Anwesenheit, seiner Echtheit vergewissern. Früher hatte er dann Ja? oder Was denn? gesagt. Aber mit den Jahren hatte er gelernt zu schweigen, wenn er eine gewisse Stimmung, eine bestimmte bleierne Stille an ihr bemerkte. Sie hatten keine Angst mehr, hatten sie abgelegt, weggeworfen wie verschlissene Kleidung: Der Plan war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, jeder Abschnitt der Reise, alle Treffpunkte, Routen und Fahrzeuge. Geblieben war nur eine kühle Angespanntheit, eine Brüchigkeit, wenn sie einander tief in die Augen blickten, das Unausgesprochene zu hören versuchten. In einem Brief hatte Farouk Anweisungen für seinen engsten Freund hinterlassen, einen alleinstehenden Arzt, den er seit Kindheitstagen kannte, mit dem er auf der Universität ein Zimmer geteilt, der auf seiner Hochzeit eine Rede gehalten, seine neugeborene Tochter mit tränenerfüllten Augen angelächelt hatte. Sein Haus und alles darin und auch sein Auto könnten vom Krankenhaus genutzt werden, es tue ihm leid, dass es so weit habe kommen müssen. Er habe seine widerstreitenden Pfl‌ichten gründlich gegeneinander abgewogen, schrieb er seinem Freund, wieder und wieder habe er sie vermessen und den Zeiten nachgetrauert, in denen solcherlei Pflichten einander nicht widersprochen, sondern sämtlich zu einem guten Leben gehört und dasselbe Ziel gehabt hätten, aber so sei die Welt nun mal, und er habe keine andere Wahl mehr, als seine Tochter und seine Frau in Sicherheit zu bringen.

Die Familie seiner Frau versammelte sich am Vorabend bei ihnen zu Hause, und Marthas Schwestern, ein Jahr älter und ein Jahr jünger, klammerten sich an sie, bedeckten ihr Gesicht mit Küssen und weinten so ohrenbetäubend laut, dass Farouk schon fürchtete, Passanten könnten derartige Laute aus einem Haus, in dem es keinen Verlust zu betrauern gab, für verdächtig halten und daraus auf ihre bevorstehende Flucht schließen. Amira fragte, warum ihre Tanten weinten, und ihre Großmutter sagte, sie weinten Freudentränen, weil ihre Schwester und ihre Nichte so ein Abenteuer erleben dürf‌ten. Sie setzte sich Amira aufs Knie: Wenn ich dich wiedersehe, mein Schätzchen, dann bist du vielleicht schon in die Fußstapfen deiner Mutter getreten und arbeitest als Wissenschaftlerin oder in die deines Vaters und bist Ärztin, oder du kommst nach deinem Großvater und mir und wirst Bäckerin. Was und wo auch immer, solange du nur froh und glücklich bist, und denk immer daran, was für ein Schatz du für mich bist und wie sehr ich dich liebhabe. Amira lächelte und legte sich wie ein Baby in den Schoß ihrer Großmutter. Marthas Vater stand neben Farouk, und sie sahen den Abschied der Frauen schweigend mit an, bis der alte Mann flüsterte: Geh mit Gott, mein Sohn, ich wünsche dir ein langes Leben, und dann gab er Farouk die Hand, und sie zitterte entsetzlich.

Farouk, wiederholte seine Frau, und plötzlich spürte er den unbändigen Drang in sich aufsteigen, ihr ins Gesicht zu schlagen, zu schreien, dass sie an allem schuld sei, dass er bereue, ihr jemals von dem Schleuser und seinen Überredungskünsten erzählt zu haben. Er malte sich aus, wie er sich vor ihr aufbauen und fragen würde, was verdammt noch mal sie zu dem Mann gesagt habe, als sie an jenem Abend unbedingt mit ihm allein hatte reden wollen, welche Versprechungen sie ihm gemacht und was sie zu der Annahme verleitet habe, es wäre angemessen, ihn so anzulächeln, mit ihm zu flirten, mit der Hand vor dem Mund zu kichern wie eine kokette Halbwüchsige, während er draußen auf einem Hocker im Garten saß wie ein dummer Junge, wie ein Büßer, bewacht von einem pickligen Einfaltspinsel. Doch genauso plötzlich verschwand der Drang wieder, und er staunte über sich, über eine solche Regung, die er nie zuvor gespürt hatte. Vielleicht ist das bei jedem so, der derart in Bedrängnis gerät, dachte er: Jede mögliche Version eines Menschen besteht gleichzeitig, und nur manchmal kann man einen Blick auf das wahre Ich erhaschen, es ist wie ein unbeobachtetes Teilchen, es kann alle möglichen Formen haben, bis es schließlich eine bestimmte Gestalt annimmt, wenn es darauf ankommt, etwas zu sein, etwas zu tun. Er legte die Hand an ihre Wange und war erleichtert, als sie sie nahm und küsste und sie lange an ihre Lippen drückte und ihm immer wieder versicherte, dass sie ihn liebe, dass sie immer nur ihn geliebt habe, dass er von allen Männern der Welt der einzige sei, der sie jemals glücklich machen könne. Und er bemitleidete jeden Mann, der nicht er war.

Er erinnerte sich an den verhangenen Himmel und die geschäf‌tigen Straßen Londons, an den Geruch des Regens am Morgen, erdig-süß, wo er auf Parks und Grünflächen fiel, stechend und metallisch auf Beton und Asphalt. Er liebte den plötzlich aufziehenden Nebel, der vom Fluss heranrollte und zwischen den Gebäuden hing, die Umrisse der Stadt ein wenig verwischte, sie weicher, gespenstischer machte. Er war die anderthalb Kilometer von seinem Studentenzimmer bis zur Universitätsklinik immer zu Fuß gegangen, lächelte jeden an, der ihm entgegenkam, und manchmal lächelten Leute zurück und wünschten ihm einen guten Morgen. Er hatte immer einen Regenschirm dabei, weil ihm das hier geboten schien, obwohl er ihn selten aufspannte, und manchmal ging er in den Pub und beobachtete die kleinen Komödien, die sich zwischen einander unbekannten Männern und Frauen abspielten, einige seiner Mitstudenten verbrachten jede freie Minute mit diesem Katz-und-Maus-Spiel, und hin und wieder beteiligte auch er sich, aber er strengte sich nie allzu sehr an. Jetzt fragte er sich, wie er es wohl fände, wenn solche Männer seine Tochter umschwärmten, ihr Märchen auf‌tischten, versuchten, sie zu beschwatzen, zu beeindrucken, zum Lachen zu bringen, ihren Widerstand zu schmelzen, damit sie mit ihnen ins Bett ginge. Er war ein Mann von Welt, aufgeschlossen, beinahe liberal. Und trotzdem hörte er in seinem Innern ein Flüstern, eine leise Stimme, die sachlich und beherrscht fragte: Beneidest du diese Radikalen nicht doch? Die innere Ruhe, die sie sich mit ihren Gewissheiten, ihren blütenreinen Kategorien, ihrer absoluten Klarheit verschafft haben? Und er fragte sich, ob es wirklich so schlimm wäre zu bleiben, seinen Bart wachsen zu lassen, zu beten, seine Tochter vor der Welt wegzusperren, bis es an der Zeit wäre, dass sie Ehefrau und Mutter würde, der einzige Mann zu sein, der die nackte Haut seiner Frau zu Gesicht bekäme.

Der Mond, die Akazie und der Jeep standen in einer Achse auf seinem Grundstück, der Boden vibrierte von einer leichten Erschütterung aus dem Osten, im Gebüsch raschelten Tiere, und der Mann stand neben der Fahrertür und lächelte und sagte: Ich habe beschlossen, euch selbst zu fahren, Bruder. Du liegst mir besonders am Herzen, denn du wirst noch Wichtiges vollbringen. Also, hast du das Bestechungsgeld? Ja. Gib es mir. Auf dem Weg zum Boot werden wir an mindestens zwei Patrouillen vorbeikommen, und der Mond leuchtet heute Nacht hell wie ein Suchscheinwerfer. Du bist zum Haus deiner Eltern im Norden gerufen worden, weil dein Vater im Sterben liegt. Ich bin dein Cousin. Alles klar? Sorg dafür, dass deine Frau und deine Tochter sich angemessen bedecken und dass sie auf der Toilette waren, und sag ihnen, sie sollen still sein, wenn wir angehalten werden, sie sollen kein Wort sagen, weder zueinander noch zu sonst irgendwem, es sei denn, sie werden aufgefordert. Verstanden? Und er sagte, er habe verstanden, und seine Frau und seine Tochter schwebten in ihren ungewohnten Gewändern über das Grundstück auf den Jeep zu, und der Mann wuchtete ihre Koffer in den Wagen, und seine Tochter fragte noch einmal, wo sie hinführen und warum sie diese Sachen tragen müsse, und seine Frau sagte: Schhh, mein Schatz, leg dich auf meinen Schoß und schlaf, es ist noch mitten in der Nacht.

Er hatte sich ausgemalt, dass die Fahrt still und angespannt verlaufen würde und dass die Nacht um sie herum drückend wäre, erstickend, doch die Erde leuchtete silberhell, und der Tau band den Staub der Straße, er hatte vergessen, wie schön dieses Land sein konnte, wenn es sich auf und nieder wellte, ganz plötzlich die Konturen veränderte, und er spürte eine Sehnsucht nach seiner Kindheit und nach seinen Eltern und einer Zeit, in der alle Entscheidungen entweder einfach gewesen oder für ihn getroffen worden waren. Der Mann saß die meiste Zeit schweigend am Steuer, aber hin und wieder brachen die Worte aus ihm heraus, und Farouk erschrak jedes Mal. Dann lobte er Farouk für seine Vernunft und sagte, er hoffe, seine Kollegen und Nachbarn würden sich ein Beispiel an ihm nehmen und das Land ebenfalls verlassen. Er drehte sich halb nach hinten um und lobte Martha, dass sie einem Beruf nachging. Biologin, sagte er und sprach das Wort betont langsamer als den Rest. Die Lehre vom Leben. Ich wäre auch Biologe geworden, sagte er, wenn ich den Grips dazu gehabt hätte! Aber ich bin nur schlau genug für das hier, Auto fahren und Bestechungsgelder zahlen und gute Schiffe für die Fahrt übers Meer beschaffen.

Nach einer Stunde tauchte ein Lastwagen vor ihnen auf und stellte sich am Horizont quer, und als sie näherkamen, erkannten sie, dass er gepanzert war und das Wappen irgendeines ausländischen Regimes trug, und drei Soldaten verteilten sich über den Asphalt, zu beiden Straßenseiten hockte einer mit dem Gewehr im Anschlag und zielte auf die Windschutzscheibe des Jeeps, und der dritte stand mittig vor ihnen, die Hand erhoben, um sie anzuhalten. Ihr Fahrer ließ den Jeep langsam an den Checkpoint heranrollen, kurbelte lächelnd das Fenster herunter und erfuhr, dass auf Befehl der Übergangsregierung ein Wegzoll gezahlt werden müsse, welcher sich nach Anzahl der Passagiere, Strecke bis zum Ziel und Zweck der Reise richte, woraufhin der Fahrer ein paar leise Worte sprach und dem Soldaten ein Bündel Scheine gab, der wiederum Farouk zunickte und den Hals reckte, um auf den Rücksitz zu schauen, und Farouk riskierte einen Blick über die Schulter und sah, dass seine Frau ganz still und mit gesenktem Blick dasaß, eine behandschuhte Hand an der Wange der Tochter auf ihrem Schoß, die andere sittsam vor Blicken verborgen.