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Die Hansestadt Bremen im frühen 19. Jahrhundert. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, intelligent und schön, sehnt sich die junge Gesche Margarethe Timm nach Glanz und Reichtum. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ihr jedes Mittel recht. Frühzeitig bestiehlt sie ihre Eltern und beginnt, skrupellos und heimtückisch alle zu töten, die ihrem Erfolg im Weg stehen. Manche ihrer Opfer pflegt sie dabei bis zum Gifttod aufopferungsvoll - als „Engel von Bremen“. Der erste historische Kriminalroman über Gesche Gottfried, Deutschlands berühmteste Serienmörderin.
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Seitenzahl: 457
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Bettina Szrama
Die Giftmischerin
Historischer Kriminalroman
DER ENGEL VON BREMEN Die Hansestadt Bremen im frühen 19. Jahrhundert. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, intelligent und schön, sehnt sich die junge Gesche Margarethe Timm nach Glanz und Reichtum. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ihr jedes Mittel recht. Frühzeitig bestiehlt sie ihre Eltern und beginnt, skrupellos und heimtückisch alle zu töten, die ihrem Erfolg im Weg stehen. Manche ihrer Opfer pflegt sie dabei bis zum Gifttod aufopferungsvoll – als »Engel von Bremen«.
Der erste historische Kriminalroman über Gesche Gottfried, Deutschlands berühmteste Serienmörderin.
Bettina Szrama, geboren 1952 in Meißen, absolvierte ein Literaturstudium in Hamburg. Danach war sie als Journalistin für diverse Regionalzeitungen und Tierzeitschriften tätig, seit 1994 veröffentlicht sie auch im belletristischen Bereich.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Die Hure und der Meisterdieb (2011)
Die Konkubine des Mörders (2010)
Die Giftmischerin (2009)
Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).
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© 2009 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Katja Ernst
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes »Salome« von Sebastiano del Piombo, www.visipix.com
ISBN 978-3-8392-3018-3
Zum Buch
Impressum
Vorbemerkung
Eine Mörderin wird geboren
Unheilvolle Wurzeln
Die Leiden einer Ehe
Eine verruchte und eine unerfüllte Liebe
Vorbereitungen für einen Mord, Miltenbergs Tod und die seltsame Trauer einer Mörderin
Vergib mir, Gott! Die Kinder, die Mutter und der Vater sind meiner Liebe im Weg
Falsche Tränen um Christoph
Gottfried, im Namen Gottes, ich habe dich geliebt!
Reue, finanzielle Nöte und die seltsame Liebe des David Xaver
Eine tödliche Verlobung
Vergangene Sünden rächen sich
Die Verhaftung
Tod durch das Schwert
Schlusswort der Verfasserin
Zum besseren Verständnis die zeitlichen Abläufe der Vergiftungen
Recherchen zu diesem Buch
Das Bild der altehrwürdigen Hansestadt Bremen prägt seit vielen Jahrhunderten der Dom St. Petri. Ungefähr 20 Meter vor dessen Nordwand, gegenüber dem Brautportal, erinnert ein unscheinbarer Granitstein mit einem Kreuz in der Mitte an das Blutgerüst, welches einst genau an dieser Stelle stand und auf dem die Giftmörderin Gesche Gottfried mit einem Schwertstreich vom Leben zum Tode befördert wurde. Noch heute spucken die Menschen voll Abscheu vor den Gräueltaten Gesches auf diesen Stein, sodass er niemals trocken wird.
In einer frostklaren Märznacht des Jahres 1785 brannte hinter einem mit einem leichten Vorhang bedeckten Fenster im kleinen Fachwerkhaus am Jakobi Kirchhof noch helles Licht. Der Grund für die ungewöhnliche Beleuchtung zu so später Stunde war die bevorstehende Geburt des ersten Kindes von Schneidermeister Timm und dessen blutjunger Ehefrau. Das von den Anstrengungen blasse Weib saß breitbeinig auf dem Rand des Ehebetts inmitten des bescheidenen Hausstands ihres unlängst erworbenen Heims und schwitzte heftig. Bei jedem neuerlichen Röcheln aus ihrem leicht geöffneten Mund drückte ihr Gatte Johann beruhigend ihre Hand und tupfte ihr mit einem Tuch liebevoll die Schweißperlen von der Stirn. Unterdessen zeichnete sich auf dem Gesicht des herbeigerufenen Doktors, der vor der Gebärenden auf dem gescheuerten Holzboden kniete, eine steile Sorgenfalte ab. Die wollenen Kleider der Wöchnerin waren nach oben gerafft. Darunter wölbte sich der Leib nach vorn, einem riesigen Kürbis gleich. Die schweißnassen Oberschenkel schimmerten weiß im Dämmerlicht.
Es war ungewöhnlich, dass bei der Geburt der Doktor zugegen war und nicht die Hebamme. Aber die Wollnäherin hatte schon seit Tagen nicht mehr an der Nähmaschine sitzen können. Zu stark war der Leib angeschwollen und trieb das Wasser in die Beine, sodass der altbewährte Doktor Asbrandt, ein guter Freund des Hauses, Komplikationen befürchtete. Deshalb war er auch ohne zu zögern auf den Wagen gestiegen, als der junge Johann barhäuptig und mit wehenden Haaren vor seinem Haus hielt und ängstlich gegen den Sturm anschrie: »Doktor, bitte kommen Sie schnell! Es will nicht mehr warten. Margarethe, mein Eheweib, windet sich in den Wehen!«
Jetzt, hier in der Stube, übertönte die kräftige Stimme des Arztes den Sturm, der mit aller Macht an den dünnen Fensterscheiben rüttelte: »Es ist das Kind, das Eurer Gattin ein so starkes Übel bereitet. Es dreht sich immer wieder weg, so als wolle es nicht auf die Welt.« Die Gebärende ließ bei jedem seiner Worte ein vernehmliches Wimmern hören.
»Ich brauche heißes Wasser und Tücher!«, befahl er der Magd, die gerade zur Tür hereinkam, und krempelte nun hastig die Ärmel des Hemdes bis zur Schulter hoch. »Madame, wir werden es gemeinsam schaffen!«, beruhigte er die Wöchnerin und beobachtete besorgt ihr Gesicht. »Ihr müsst nur kräftig pressen. Den Rest erledige ich.«
Doch das junge Weib schien ihn nicht zu hören und jammerte stattdessen nur noch lauter. Ihrer Jugend zum Trotz war sie nicht sehr kräftig, was die Sache erschwerte. Voller Angst hielt sie die Hand ihres Gatten umklammert.
»Lasst Johanns Hand einen Moment los, damit ich Euch den Puls fühlen kann«, beruhigte er sie und strich ihr sanft über den gewölbten Leib, während er mit ernster Miene die Pulsschläge an ihrem Handgelenk zählte. Sie waren unregelmäßig und schwach. Als der Doktor damit fertig war, ließ er die Magd Wein holen, mit dem er der Wöchnerin Stirn und Schläfen abtupfte. Dann hockte er sich wieder vor die Frau, ließ sich ein frisches, in heißes Wasser getauchtes Tuch reichen und begann, den Bereich um die Schamlippen zu säubern. Plötzlich stöhnte die Schwangere heftig. Eine Wehe durchzuckte ihren Leib. Sie presste. Der Doktor beobachtete, wie sich die Vagina faustgroß öffnete und ein runder Körperteil mit hellem Flaum sichtbar wurde: das Köpfchen des Kindes. Die Wehe ging vorüber, der Spalt wurde wieder schmaler. Da machte er seine Hand so klein wie möglich und rief: »Nicht aufhören, weiter pressen, Madame!« Im gleichen Moment entrang sich der Wöchnerin ein furchtbarer Schrei, der viel Ähnlichkeit mit demjenigen des sterbenden Käuzchens hatte, das vom Sturm gegen das Fensterkreuz geschleudert wurde. Als der Schmerz verebbte und die Frau ermattet die Augen aufschlug, zappelte am Arm des Doktors ein kleines, blutiges Bündel. Der Arzt hielt es mit dem Köpfchen nach unten und schlug ihm mit der flachen Hand auf das Hinterteil, so lange, bis sein dünnes Schreien von den Wänden widerhallte. Es war der Schrei eines kleinen Mädchens. Als er sah, dass sich die Züge der Wöchnerin entspannten, legte er ihr das Neugeborene in den Arm. »Gott will, dass Ihr Euren Gatten mit zweifachem Segen beschenkt«, sagte er eilig und begab sich zurück in die kniende Stellung. Sanft drückte er die weißen Schenkel der Wöchnerin erneut auseinander. »Ihr müsst noch einmal pressen, Madame«, befahl er ihr.
Das Blut, das ihre blassen Wangen beim Anblick des gesunden Kindes in heller Freude gerötet hatte, wich nun von Neuem aus ihrem Gesicht. Verflogen war das kurze Aufflackern von Glück über das Mädchen, das der Mutter im Haushalt zur Hand gehen kann. Stattdessen entrangen sich ihr zwischen zwei langen Seufzern die verzweifelten Worte: »Oh, mein Gott, wie soll ich denn zwei Kinder satt bekommen und erziehen!«
Es verging keine Viertelstunde, da gebar Margarethe Timm einen Sohn. Doch als ob Gott ihr Klagen erhört hatte, versiegte nach dem Anlegen des Knaben die Milch. Als der Doktor ihr nun das Mädchen zum Stillen an die Brust legte, sah er, wie die Wangen der Mutter fleckig wurden und ihr Körper sich heftig, wie im Fieber, aufbäumte. Erschrocken legte er ihr die schwielige Hand auf die heiße Stirn und sagte zu Johann, der mit bangen Blicken an seinem Gesicht hing: »Sie hat es noch nicht überstanden. Es scheint, als bekomme sie das Fieber. In ihrem Zustand kann sie nur ein Kind nähren.« Mit einem langen Blick auf den satten, rosigen Jungen in der Wiege fügte er nachdenklich hinzu: »Gottes Wege sind seltsam. Den Zweitgeborenen nährt er, und die erstgeborene Tochter will er zurück.«
Auch Margarethe hatte diese Worte vernommen und richtete sich daraufhin mühsam auf. Rasch nahm ihr der Gatte das schreiende Bündel aus den Armen, während der Doktor die Kraftlose in seinen Armen auffing. Er drückte sie behutsam zurück auf das frisch bezogene Bett, von wo aus sie ihn mit tonloser Stimme anflehte: »Bitte, Herr Doktor! Ich will es behalten. Um jeden Preis. Es ist ein so schönes Mädchen.« Das Gesicht des Arztes umschattete sich. Ernst ergriff er die kalten Hände der jungen Mutter. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. »Sie werden viel Freude an dem Jungen haben. Das Mädchen aber sollten wir Gott anvertrauen, so es sein Wille ist«, riet er ihr leise.
»Wir könnten für das Kind eine Amme einstellen, die es nährt«, wandte Johann zaghaft ein. Als er das vor Hunger brüllende Kind in Margarethes Arme zurücklegte, presste die es sogleich ängstlich an die leere Brust.
»Die können wir nicht bezahlen, mein lieber Mann«, hauchte die Gattin mit blutleeren Lippen. »Aber vielleicht kann ja die Zigeunerin helfen?«
Die Zigeunerin war eine zugewanderte Jungfrau aus der Neustadt, bei der sich Margarethe oft heimlich aus der Hand lesen ließ. Johann mochte die liederliche Frau mit den vielen Warzen im Gesicht und dem auffälligen Zeichen auf den Händen nicht besonders, zumal niemand wusste, in welchem Land dieses Weib zu Hause war und woher sie die seltsame Gabe wahrzusagen nahm. Von einem zwanghaften Aberglauben beherrscht, versuchte er, sie von seinem Hause fernzuhalten – ein Vorhaben, das schon einmal deshalb zum Scheitern verurteilt war, weil sein Weib ihre Kleider bei ihr nähen ließ. Man munkelte, sie sei eine abgelegte Mätresse, die sich mit allerlei Budenzauber durchs Leben schlug.
Johann atmete tief durch und küsste seine Frau besorgt auf die Stirn. »Wenn du es wünschst, werde ich sie holen«, beruhigte er sie und hoffte insgeheim, sie werde ihre Absicht noch ändern. Doch Margarethe nickte nur schwach, während das Mädchen sein Zögern mit so kräftiger Stimme beantwortete, dass er Furcht bekam, das Kind würde an seinem eigenen Schrei ersticken.
»Ich wüsste noch jemanden, der Euer Kind nähren könnte. Aber es ist kein gottesfürchtiges Weib«, hielt ihn der Doktor nach kurzem Zögern zurück und kramte im Instrumentenkoffer, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Er holte Papier und Feder hervor und kritzelte eilig einen Namen und eine Adresse darauf. Dann stülpte er sich den Zylinder über das weiße Haar und reichte Johann das Blatt. »Sie ist noch in der Strafanstalt untergebracht.«
»Im Zuchthaus?« Johann, bereits in Mantel und Hut, blickte entsetzt auf das Papier in der Hand des Doktors.
»Ja. Es ist eine Negerin. Ein Weib, von dem man sagt, es habe Unzucht getrieben und gemordet. Sie ist nur knapp dem Todesurteil entronnen. Aber ihre Brüste sind voll mit Milch, denn sie hat im Zuchthaus ein totes Kind geboren. Für eine Unterkunft außerhalb ihrer Gefangenschaft wird sie das Kind sicherlich nähren und Eurem Eheweib so lange im Haus zur Hand gehen, bis Ihr ihrer Hilfe nicht mehr bedürft.«
»Aber ihre Milch …?« Johann öffnete dem Doktor die Tür, nachdem der Arzt noch einmal Margarethes Puls gefühlt hatte und sich nun für diese Nacht empfahl. Heftige Bedenken plagten ihn.
»Ich weiß, welche bange Frage auf Eurer Seele lastet.« Der Arzt lächelte beruhigend. »Aber keine Angst. Morgen werde ich wieder nach Eurer Frau und den Kindern sehen. Ihr müsst nur das schwarze Weib im Auge behalten. In ihrem Zeugnis steht, sie sei von heftiger Gemütsart. Aber Milch ist Milch. Sie wird dem Mädchen guttun.«
Im Türrahmen drehte er sich ein letztes Mal um und drückte Johann die Hand: »Wenn Ihr das Mädchen durchbringen wollt, Johann, so müsst Ihr Euch beeilen und die Amme umgehend in Euer Haus holen. Am besten noch heute in den frühen Morgenstunden.«
Auf dem Treppenabsatz fiel ihm ein, dass er Johann gar nicht nach den Namen der Kinder gefragt hatte. Er wandte sich um und rief von der Diele aus: »Wie sollen die beiden denn heißen?«
»Der Junge Johann Christoph und das Mädchen Gesche Margarethe.«
»Mein Sohn, warum enttäuschst du mich so? Habe ich es dir jemals an Speise und Trank fehlen lassen? Nach welchen Wünschen, mein Sohn, sehnt sich plötzlich dein Herz? Haben wir dich nicht Gehorsam und Gottesfurcht gelehrt, dir immer wieder eingeschärft, nicht nach Dingen zu verlangen, die einfach nicht für dich gedacht sind?«
Johann Timm stand am Fenster der Schneiderwerkstatt zwischen unfertigen Schnürbrüsten, Tuchballen und Bügelblöcken und blickte mit sorgenvollem Gesicht hinaus auf die belebte Straße. Man schrieb den ersten Sonntag im Mai. Die wohlhabenden Bürger in der Pelzerstraße flanierten nach dem Kirchgang unter seinem Fenster vorbei und genossen die wärmenden Sonnenstrahlen. Nicht ohne fachliches Interesse betrachtete Schneidermeister Timm die eleganten englischen Roben, die dunkelfarbigen Röcke, die weich fließenden, unter der Brust gebundenen Gewänder aus feinster Seide und Musselin, die die Damen trugen. Ein sündiger Wohlstand, der ihm Kopfzerbrechen bereitete. Er und sein Weib galten als ehrbare Leute, einfach zwar, stets jedoch rechtschaffen und gläubig. Mit dem sonntäglichen Kirchgang allerdings nahmen sie es nicht so genau. Für Timm war es nahezu selbstverständlich, dass er und seine Gesellen auch die Sonntage zur Arbeit nutzten, um den Kunden die bestellten Mäntel, Hosen und Westen termingerecht liefern zu können. Zudem hielt er nicht allzu viel von zur Schau getragener Frömmigkeit. Die Arbeit ging vor. Nicht umsonst sagten die Nachbarn über ihn, er sei so bienenfleißig in seinem Berufe, dass er beim Nähen sogar den Atem anhalte, um die Anzahl der Nadelstiche pro Minute zu steigern. Diese redliche Arbeitsamkeit und seine Sparsamkeit hatten ihn letztlich aus der Armut herausgeholt und ihm zu einem bescheidenen Wohlstand verholfen. Umso schmerzlicher war nun die bittere Erkenntnis, dass der geliebte Sohn den Verlockungen der sündhaften Habgier verfiel und sich bereits seit Längerem heimlich aus der Haushaltskasse bediente. Nun hatte er seine Diebereien sogar bis auf die Mamsell Stubing im Haus ausgeweitet.
»Herr Vater …«, druckste Christoph leise, den Blick schamvoll gen Dielenboden gesenkt. »Niemals würde ich es wagen, die Hand wider die Gebote Gottes zu erheben. Niemals würde ich es wagen, Ihnen derartigen Kummer zu bereiten.«
»Mein Sohn! Du wagst es auch noch zu leugnen?« Mit einem Seufzer drehte sich Timm vom Fenster weg. Traurig und in maßloser Enttäuschung heftete er die Augen auf den geliebten Spross. Seltsam, dachte er bei sich. Dabei wanderte sein strenger Blick vom blonden Schopf abwärts zur hellen Leinenhose und den abgenutzten Husarenstiefeln, deren langer Schaft das magere Bein bis zum Knie verdeckte. Es war ein Schuhwerk, wie es die Husaren in den napoleonischen Korps trugen, und dem Vater galt es als sicher, dass Christoph die gestohlenen Taler dazu verwendet hatte, seiner offensichtlichen Eitelkeit zu frönen. Beim Gedanken an die Zukunft krampfte sich sein Magen zusammen.
»Knie nieder, mein Sohn, und empfange meine Strafe! Wie ich sehe, stand dir der Sinn nach Husarenstiefeln. Eine Verführung des Bösen, gut genug zum Prahlen vor deinesgleichen. Dabei hätte Schuster Hermann an der Ecke dir sicherlich ein paar ebenso gute Galoschen genäht. Du aber bestiehlst die gute Mamsell und lässt es dann auch noch zu, dass die Mutter und die Gesche auf der Suche nach dem vermissten Taler das ganze Haus durchstreifen. Frevelhafter noch, versuchst du gar den Eindruck zu erwecken, deine Schwester wäre der Dieb gewesen!«, polterte Timm, während er einen liebevollen Blick auf das blasse Mädchen an seiner Seite warf. Es bedrückte ihn, dass Christoph sich so ganz anders als Gesche entwickelte. Schon seit Längerem zeigte er sich still, ja, beinahe verstockt. Nicht einmal der kleinste Widerspruch kam über seine Lippen, während seine temperamentvolle Schwester der Mutter bei jeder Gelegenheit aufs Heftigste widersprach.
Unter dem Blick des Vaters schlug Gesche züchtig die Augen nieder. Als Timm einen Schritt auf sie zu trat, ergriff sie seine Hände und benetzte sie mit ihren Tränen: »Vater! Bitte tut dem Christoph nicht weh. Er ist kein Sünder. Er ist mein Bruder, und ich werde diese Sünde gerne auf mich nehmen, wenn ich Sie damit wieder froh machen kann.« Das war seine kluge Gesche. Die Tränen liefen ihr über die rosigen Wangen, während sie sich um der väterlichen Liebe willen mit fremder Schuld belud. Am liebsten hätte Timm die Tochter vor Rührung an sein ergriffenes Vaterherz gedrückt. Doch unterbrachen ein paar unbequeme Worte Margarethes diesen spontanen Impuls.
»Ruhig Blut, Johann, ich werde schon noch hinter die Wahrheit kommen. Just in dieser Sache habe ich mir diesen Morgen die Karten legen lassen. Nachdem ich der weisen Frau meine Not geklagt hatte, zog diese einen Spiegel hervor, und wie ich hineinsehe, oh Schreck, steht doch der Dieb direkt hinter mir und guckt mir frech über die Schulter.«
Argwöhnisch musterte Margarethe ihre Tochter, deren Wangen sich nun, da sie sich ertappt fühlte, dunkelrot färbten. Lange schon hatte die Mutter Mittel und Wege ersonnen, die Tochter, die sie der Taten verdächtigte, zu überführen. Wie ein Schwert drangen nun die Worte der Älteren in Gesches beinahe noch kindliches Herz. Dass sich die Mutter wieder einmal bei der Zigeunerin Rat geholt hatte, war ihr entgangen. Innerlich zu Tode darüber erschrocken, dass das Gesicht im Spiegel möglicherweise ihre Züge getragen hatte und ihre Taten nun entdeckt worden waren, schwor sie bei sich augenblicklich 1.000 Eide, die Mutter nie wieder zu bestehlen. Im Verstellen aber bereits eine kleine Meisterin, blieb sie nach außen hin gelassen und mimte listig die Unschuldige. »Mutter, ich stehe mit reinem Herzen vor Ihnen. Warum misstrauen Sie mir? Sollte sich in meinem Herzen das Böse eingenistet haben, so will ich nicht länger Ihre Tochter sein, und Gott wird mich auf der Stelle strafen.«
Ein wenig ängstlich ob dieser Lüge, innerlich aber dennoch frohlockend, die schmalen Hände artig vor der Brust gefaltet, erreichte sie, dass der geliebte Vater ihr nun beisprang. Überzeugt von ihrer Unschuld, wies er Margarethe zurecht: »Weib, du wirst doch einer Hexe nicht mehr Glauben schenken als deiner eigenen Tochter! Wenn Gesche eine Diebin wäre, so hätte ich es doch wohl zuerst bemerkt. Würden denn dann nicht die Groten weniger werden, die ich im Topf überm Bett für ihre Aussteuer spare? Nein, Mutter, sieh es dir doch nur an, unser zartes Kind: Sind diese sanften blauen Augen die Augen einer Lügnerin?« Von seinen eignen Worten gerührt, strich er über den blonden Schopf der Tochter.
Verunsichert schaute Margarethe nun vom Sohn zur Tochter und suchte letztlich in den gütigen Augen der grauhaarigen Mamsell, deren rundes Gesicht nun im Türrahmen erschien, nach des Rätsels Lösung. Doch Mamsell Stubing zog nur bedeutungsvoll die rechte Augenbraue etwas hoch und schloss leise die Tür hinter sich. Da fasste Margarethe die vermeintliche Diebin mit den Fingerspitzen fest am Kinn, schaute ihr unverwandt in die Augen und sagte: »Dann hat sich der Spiegel wohl geirrt, und ich muss Gott um Verzeihung bitten, dass ich meine unschuldige Tochter des Diebstahls verdächtigt habe.«
Im selben Moment bedeutete sie ihrem Gatten mit einer Geste, ihr zu einer Unterredung ein Stockwerk höher in die gute Stube zu folgen. Johann ging hinter ihr über eine schmale Treppe in das bescheiden ausgestattete Wohnzimmer. Vor einem ausladenden Schrank mit kleinen eingearbeiteten Schubladen ließ er sich nieder und erwartete mit ernster Miene, was ihm die Gattin Wichtiges zu sagen hatte.
Margarethe befreite sich zunächst vom Maßband auf ihren Schultern und legte es zu der Schneiderkreide auf den Tisch. »Gott möge mir verzeihen, Johann, wenn ich unsere Gesche verdächtige, diese kleinen Betrügereien begangen zu haben. Aber ich beobachte schon länger eine beunruhigende Entwicklung unserer geliebten Tochter, und ich mache mir ernsthafte Vorwürfe, dass wir damals keine bessere Amme für unser Kind gesucht haben. Gegen das Böse in der Milch der Verbrecherin kommt wohl selbst der Religionsunterricht bei Pastor Vogt nicht an. Allem Anschein nach hat er ihr Herz unberührt gelassen. Das Kind hat nicht die allerkleinste Achtung vor Gott und den Menschen, Johann.«
»Aber Mutter, warum siehst du die Dinge so schwarz?« Johann war aufgestanden und zog seine erregte Gattin an die Brust. Eine Geste, die er sich selten erlaubte, obwohl er Margarethe doch über alles liebte. Als rechtschaffene Leute führten sie ein Leben in gesetzmäßiger Strenge, und bei aller Liebe zu den Kindern stand die Sorge um den Lebensunterhalt eben immer im Vordergrund. Johann Timm fragte sich so manches Mal, ob er seinen Kindern nicht ein wenig zu viel abverlangte. »Vielleicht haben wir Gesche zu früh von der Schule genommen und zu viel in Haus und Werkstatt arbeiten lassen?«
»Für diese Arbeit wird sie reichlich entlohnt. Außerdem macht sie ihr Spaß. Das intelligente Kind nutzt ja sogar seine Lese- und Schreibkünste für deine Kassenabschlüsse. Ohne sie geht es hier einfach nicht mehr. Außerdem hat sie durch die Arbeit bisher viele Taler einsparen können.«
»Aber seit unserer Entscheidung, sie das Handwerk des Kleidermachens zu lehren, leidet sie zusehends an einer Augenschwäche und bekommt häufig Drüsenentzündungen. Überhaupt wird sie immer zarter und magerer«, verteidigte Johann seine geliebte Gesche. Auf die Tochter ließ er nun mal nichts kommen. Es fehlte ihm einfach die Vorstellungskraft, in dem sanften Kind könne etwas Böses, ja, vielleicht sogar etwas Bedrohliches schlummern.
Margarethe, die wiederum den Sohn selbst genährt und ihn wahrscheinlich schon deshalb ein wenig mehr ins Herz geschlossen hatte, entzog sich Timm. Die Hände in die ausladenden Hüften gestemmt, belehrte sie ihn: »Daran liegt es auch nicht. Gesche wird nur an drei Tagen der Woche zum Wollnähen herangezogen, eine Fertigkeit, in welcher Majorin Köhnen sie mit viel Hinwendung und Ausdauer unterrichtet. Eben gerade, weil ihr aufgrund dieser Augenschwäche das Erlernen jeder feineren Handarbeit unmöglich ist. Allerdings konnte sie sehr gut sehen, als sie mich einst beim Weißbrot-holen bestahl und sich dabei unentdeckt wähnte. Damals schon hätte ich sie zurechtweisen sollen, dann hätte sie vielleicht nie damit begonnen, heimlich aus meiner Tasche erst einen, dann zwei und später drei Groten zu entwenden, bis sie bei zwölfen angelangt war. Zunächst zweifelte auch ich, ob nicht doch auch Christoph dahinterstecken könne. Aber die bestohlene Mamsell hat mich in meinem Verdacht bestärkt.«
»Nicht die Mamsell war es, Margarethe. Das unheilige Weib, diese Zigeunerin, hat dich wider unsere Tochter aufgehetzt und dir die Augen verblendet. Seit der Geburt der Zwillinge liebst du Christoph mehr als Gesche, gib es doch endlich zu.« Enttäuscht sprach Johann jetzt lauter, als er es beabsichtigt hatte. Nie tat er etwas unüberlegt, und immer war er sich eins mit seinem Weibe. Aber dieses Mal verlor er schlicht die Beherrschung und überschüttete sie geradezu mit Vorwürfen, weil er den Eindruck hatte, dass Margarethe der geliebten Tochter zutiefst Unrecht tat. Als er der schroffen Wirkung seines unbeabsichtigten Gefühlsausbruchs gewahr wurde, vergewisserte er sich zunächst, dass ihn niemand im Hause gehört hatte, und schlug einen leiseren Ton an. Die Hände auf dem Rücken und den Kneifer im Auge, begann er, mit kurzen Schritten nervös vor Margarethe auf und ab zu laufen.
»Aber Mutter!«, verfiel er wieder in die übliche liebevolle Anrede und blieb vor Margarethe stehen. »Wir haben die Kinder doch zur Einfachheit erzogen. Schon das Geschenk eines Kreuzbrotes kann unsere Gesche ebenso erfreuen wie die kostbarste Gabe. Nie ist Traurigkeit in ihrem Gesicht zu lesen, immer leuchtet ein kleines Lächeln in ihren Augen, und bereitwillig, fast schon glücklich, trägt sie deine abgelegte Kleidung. Margarethe, ich bitte dich, entsinne dich doch einmal, wie sie sich über ihr erstes eigenes Seidenkleid zur Konfirmation gefreut hat. Überglücklich war das Kind. Seitdem beschenkt sie jeden Mittwoch und jeden Freitag die Armen mit übrig gebliebenen Speisen, alten Kleidern oder auch mal einem Groten. Denk nur an das vielstimmige Lob auf unsere liebliche, sanfte Gesche aus den Mündern dieser armen Leute. Sie reden sogar schon von einem Schatz, den wir uns im Hause großziehen. Denk daran, dass dieses Kind vor Mitleid bittere Tränen vergießt, wenn es eine tote Wespe im Honig findet oder der Hofhund an Altersschwäche stirbt. Bist du nun etwa immer noch davon überzeugt, dass so ein wundervoller Mensch die Eltern bestiehlt?«
Auf Margarethes Gesicht breitete sich ein warmes Lächeln aus. Oh, wie sehr sie ihren Johann doch liebte! Mit seiner Herzenswärme und seinem Verstand hatte er es wieder einmal geschafft, ihr sämtliche Zweifel von der Seele zu reden.
»Wir werden es noch einmal genau überdenken. Vielleicht ist der Dieb auch unter den Gesellen zu suchen, und wir beschuldigen unsere Kinder zu Unrecht. Du hast recht, Vater! Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Unsere Kinder bekommen die beste Erziehung, die wir ihnen nur geben können. Alles andere wird Gott richten.«
Ein paar Jahre später, gegen Mitternacht: Der Nachtwächter lief durch die Gassen und läutete die Schlafenszeit ein. Mit dem letzten Glockenschlag der Kirchturmuhr löschte er die Straßenlaternen. Da die Pfähle der Öllampen viel zu hoch für ihn waren, musste er sich weit nach oben strecken, und es dauerte eine Weile, bis auch das letzte Lampenglas erlosch. Nur in den Lesezimmern des englischen Klubs und in einem der Kasinos um die Ecke brannte nun noch schummriges Licht. Ab und zu, wenn die Tür sich öffnete, zerrissen ein paar Männerstimmen die Stille, und Gesprächsfetzen drangen hinaus auf die Straße bis hin zur Schneiderwerkstatt. Hier saß die Jungfer Gesche auf einem Schneiderpodest und trug im trüben Schein der Öllampe die Verdienste des Vaters und die Haushaltsausgaben der Mutter mit einer Feder in das vor ihr liegende Wirtschaftsbuch ein. Für Butter, Brot, Torf und Wintergemüse zählte sie für die Mutter das Geld im Voraus ab und wickelte es in ein Papier, wo-rauf sie mit fein säuberlicher Schrift die jeweilige Bestimmung vermerkte. Die frühen Nachmittagsstunden hatte Gesche in der Kirchspielschule mit Rechnen verbracht. Danach war ihr es vergönnt gewesen, ein paar Minuten in ihrem Lieblingsbuch zu lesen. Von dieser Lektüre noch völlig in den Bann gezogen und im Herzen stark berührt, unterbrach sie die Arbeit und ließ den Blick träumerisch in die Ferne schweifen. In diesem Moment betrat ihr Bruder Christoph die Werkstatt, mit schneeweißen Händen, die wilden, sonst ungebändigten Haare im Nacken zum Zopf gebunden, den er mit einer dunklen Schleife auf dem Scheitel befestigt hatte. Eine Weile lang sah er ihr beim Träumen zu, bevor er sie kopfschüttelnd fragte: »Was machst du hier noch zu so später Stunde, Schwester?«
Als er keine Antwort erhielt, huschte ein kaum merkliches Grinsen über das Gesicht des jungen Mannes. Das Schicksal schien es gut mit ihm zu meinen und gab ihm offenbar die Möglichkeit, sich hier nun wenigstens etwas für die vielen zu Unrecht erlittenen Beschuldigungen zu rächen. Blitzschnell fuhr seine Hand über den Tisch und schob eine Reihe aufgestapelter Groten vom Tisch, die daraufhin klirrend zu Boden rollten. Gesche entfuhr ein spitzer Schrei, doch fing sie die Münzen geschickt mit den Händen an der Tischkante auf. Unwirsch tadelte sie den Bruder: »Warum störst du mich bei der Arbeit und bringst alles in Unordnung?«
Auf den ebenmäßigen, wie von der Hand eines Bildhauers geschaffenen Zügen lag ein sanfter Vorwurf. In den blauen Augen hinter der grauen Arbeitsbrille schimmerte es feucht. »Du weißt doch, dass die Mutter und der Vater meiner Hilfe in der Buchführung so dringend bedürfen. Also lass mich nun bitte schnell noch die offenen Einnahmen ins Buch eintragen, ja?«
Rasch sammelte sie die restlichen Geldstücke ein. Als sie die Feder in das Tintenfässchen tauchte, um eine weitere Papierrolle zu beschriften, umschloss Christophs starke Rechte ihr zartes Handgelenk. Kritisch zog er die blonden Brauen nach oben. »Der Vater hat dir verboten, bis in die Nachtstunden hinein zu arbeiten. Er sorgt sich um deine Gesundheit. Wie lange willst du eigentlich den Eltern noch diesen Kummer bereiten?«
Tapfer hielt Gesche dem Blick des Bruders stand, während sie seiner Umklammerung einen schwachen Widerstand entgegensetzte. Doch die Hand des Schneiders war stark. Er drückte fester zu und näherte sich ihrem Gesicht. Unnachgiebig zwang er sie, ihm in die Augen zu sehen.
»Du arbeitest doch nicht aus Freude, so wie es die Eltern vermuten. Gib es zu, es ist das Wirtschaftsgeld, von dem du dir erhoffst, deine kleinen Eitelkeiten zu finanzieren!«, versuchte er, sie aus der Reserve zu locken, während sein Griff fester wurde und die zarte, weiße Haut am Handgelenk sich rötete.
»Die Leute vermagst du zu täuschen mit deiner freundlichen Offenheit, deiner Tüchtigkeit und deiner ach so göttlichen Freigebigkeit. Aber mich, holde Schwester, mich kannst du nicht täuschen. Ich bin dein Zwilling, vergiss das nicht. Ich weiß genau, was in dir vorgeht, was an Boshaftigkeit in dir schlummert; Schlechtigkeiten, die von den Eltern in ihrer Einfalt und Ehrbarkeit noch genährt werden. Jahrelang hast du die Mutter bestohlen, und immer wieder hast du es verstanden, den Verdacht geschickt auf mich zu lenken.«
Flink hob er sie vom Schneiderpodest und zog sie vor den einzigen großen Schneiderspiegel in die hinterste Ecke der Werkstatt. »Hier siehst du, Schwester: Hier steht ein Engel. Ein wahrhaft göttliches Wesen mit einer wahrhaft teuflischen Seele!«
Rasch lockerte er den Griff und schlang die Arme von hinten um ihre Brust. Sein Mund lag nun an ihrem Ohr und sie spürte seinen warmen Atem, als sie den Widerstand aufgab und den Kopf mit den aufgetürmten Locken kokett an seine Wange schmiegte. Eng an ihn geschmiegt, fühlte sie seinen weichen Körper und eine bisher nie gekannte Erregung. Während ihrer Rangelei war ihr die Brille von der Nase gefallen und unter dem Fuß zerbrochen. Ohne Brille noch hübscher, lächelte sie ihrem Spiegelbild zu, erst zaghaft, dann etwas selbstgefälliger. Den Kopf auf Christophs Schulter, das Gesicht an seiner Wange, stellte sie sich die Burschen vor, die sie umschwärmten und die mit dem Bruder jetzt gern tauschen würden. Der blonde Hubertus, den sie unlängst auf dem Korporalsball kennengelernt hatte, wäre ein Mann nach ihrem Geschmack gewesen. Dem wohlhabenden, gut aussehenden Schneidermeister hätte sie liebend gern ihre Hand gegeben. Doch der Vater, in der Hoffnung, seine Kinder würden das Geschäft später einmal weiterführen, hatte ihn abgewiesen, weil er befürchtete, es käme dann zwischen ihr und Christoph zum Brotneid. Und auf drei weitere Anträge, die dem Vater wiederum recht waren, hatte sie nur lachend geantwortet, dass sie ja doch noch ein Kind sei, das kaum kochen und noch viel weniger einem Hauswesen vorstehen könne, weshalb sie aufs Heiraten nun wirklich noch keinerlei Gedanken verschwende.
Selbstverliebt drehte sie ihr Gesicht zur Seite und hauchte Christoph einen Kuss auf die Wange. Mit weiblicher List flötete sie: »Ach Christoph, was denkst du nur von deiner Schwester? Ich verstehe deine Worte nicht. Gott möge mich strafen, wenn auch nur eine Silbe deines Vorwurfes wahr ist.«
»Liebe Gesche, beruf dich doch nicht ständig auf den Herrgott. Hier glaubt dir ja ohnehin keiner mehr, dass er dich auf der Stelle für deine Sünden bestraft. Oder wie war das, als du damals deine französischen Übungsarbeiten von Diedrich, dem Tischlergesellen aus der Nachbarschaft, ausarbeiten ließest, obwohl der Vater für den Französischunterricht stolze 100 Taler bezahlte.« Christoph lockerte die Umarmung, drehte Gesche so, dass sie ihm geradewegs in die blauen Augen sehen musste, und umschloss ihr Gesicht mit beiden Händen. Er überragte sie um eine Kopfeslänge. Sein Mund umspielte ein überlegenes Lächeln. Das Lächeln des heranwachsenden Mannes, der die schlummernde Frau in ihr wachrief. Die wohlgestalteten Gesichtszüge kamen ihr plötzlich erwachsener vor als sonst, und der süße Duft, der seinen Händen entströmte, verwirrte sie ein wenig. Für einen Augenblick bedauerte sie es, dass dieser so ganz andere Christoph ihr Bruder war. Eher käme er ihrer Vorstellung von einem Ehemann nahe. Aber solcherlei Gedanken waren sündiger Natur, und so senkte sie züchtig den Blick und holte sich schnell eines derjenigen Gebete ins Gedächtnis zurück, welches die Mutter die Kinder beim samstäglichen Wäschewechsel auswendig hersagen ließ, um Zucht und Schamhaftigkeit beständig in Erinnerung zu rufen.
Christoph bemerkte es amüsiert, zog die Hand der Schwester an seine Lippen und hauchte sanft einen Kuss darauf. Er verharrte einen Moment gedankenverloren und versenkte den Blick in das hübsche Mädchengesicht. Es bedrückte ihn auf einmal, dass er vorhatte, die Schwester zu verlassen. Aber seine nach Freiheit dürstende Seele hielt es in der kleinbürgerlichen Enge der Schneidermeisterei einfach nicht mehr aus. Die überschwängliche Liebe der Eltern erdrückte ihn ebenso wie deren sagenhafter Geiz.
»Ich habe mich bei den französischen Husaren einschreiben lassen«, sagte er leise, erleichtert, dass es nun heraus war.
Gesche erschrak. Weshalb, vermochte sie sich nicht zu erklären. Oft genug war sie eifersüchtig auf ihn gewesen und hatte ihn heimlich zum Teufel gewünscht, um in den Genuss der Aufmerksamkeiten zu kommen, die ihm von der Mutter mehr zuteilwurden als ihr. Jetzt aber brach es ihr beinahe das Herz, und sie rief zutiefst verwirrt: »Was willst du? Wissen es die Eltern schon?«
Gleichzeitig griff sie sich an die Stirn und täuschte eine beginnende Ohnmacht vor. Kraftlos und mit blassen Wangen stürzte sie in seine Arme und hauchte hilflos: »Oh, mon dieu, Christoph! Wie kannst du mir das antun?« Über die blauen Augen schien sich ein Schleier zu legen.
Es war nicht das erste Mal, dass Christoph sich von ihr täuschen ließ. Erschrocken über die drohende Ohnmacht, drückte er sie sanft zurück auf den Stuhl, hob ihre Füße an und schob eine Fußbank darunter. Dann griff er nach der Glaskaraffe auf der Fensterbank, um ihr die Stirn mit Wein zu benetzen. Doch Gesche erholte sich schnell wieder, schob ihn heftig zurück und wendete sich wieder den ungezählten Münzen zu. Während er noch mit dem Weinkrug in der Hand unschlüssig ihren geschickten Fingern zusah, die flink, als hätten sie nie etwas anderes getan, immer genau 13 Groten übereinanderstapelten, mimte sie die Beleidigte und strafte ihn mit ablehnendem Schweigen.
Als sie die errechnete Summe von exakt einem Taler mit etwas ungelenken Schriftzügen in das Buch eintrug, trat er von hinten an sie heran und legte ihr sanft die Hand auf die schmale Schulter. An deren leichtem Zucken spürte er, dass sie leise weinte. Gesche weinte oft. Er wusste, dass sie zu großen, beinahe theatralisch zu nennenden Gefühlen fähig war, und war sich wieder einmal nicht sicher, ob seine Schwester nicht im Grunde vielleicht doch ein weiches Herz hatte.
»Nimm es doch nicht so schwer, Gesche«, versuchte er ein paar tröstende Worte und küsste den schlanken blonden Nacken. »Was haben wir denn im Elternhaus bisher von unserem jungen Leben gehabt außer Arbeit? Im Grunde genommen taugen wir doch beide nicht für das Schneiderhandwerk. Du bist viel zu hübsch, um dir die Finger zu zerstechen und dein Augenlicht für die Liebe der Eltern zu opfern. Ich dagegen habe im letzten Jahr meiner Wanderschaft viel gesehen und für mich beschlossen, in die Welt hinauszuziehen. Napoleon wird die Welt erobern, und ich kann später von mir sagen, ich sei dabei gewesen. Dann habe ich die ganze große Welt kennengelernt und kehre als reicher Mann zurück.«
Gesche hatte ihm mit gesenktem Haupt zugehört. Nun tupfte sie sich mit einem Tuch eine Träne von der Wange und wandte ihm dann das Gesicht wieder zu. Die Augen, eben noch voller Traurigkeit, sprühten nun geradezu vor Begeisterung. So hätte ihn der Vater mal erleben müssen, dachte sie bei sich und staunte über das Leuchten in seinen Augen und die wie im Fieber geröteten Wangen. Die euphorischen, mit Leichtigkeit gewählten Worte sprachen auch ihre Sehnsüchte an. Nachdenklich besah sie sich den Groten in ihrer Hand. Spielerisch ließ sie ihn zwischen den Fingern hin und her gleiten. Christoph sprach eindeutig die Wahrheit. Wann hatte sie jemals, außer damals zur Konfirmation, ein Seidenkleid getragen? Wann hatte sie jemals die Freuden eines Balls genossen, abgesehen von den Annehmlichkeiten der kleinen Gesellschaft, die einmal jährlich das stille, ehrbare Elternhaus aufheiterte? Sie erinnerte sich dunkel an die kleine Feier, die zum Beginn der Gesellenarbeit stattfand und auf der sie bisher lediglich der traditionelle Kräuselbraten erfreut hatte. Beschämt sah sie an sich herab, herab am schmucklosen grauen Schultertuch und dem Rock aus dunklem Wollstoff. Dann wanderte ihr Blick mit einem Ausdruck unstillbarer Sehnsucht zum Fenster hinaus in die Nacht. Und Christoph erriet ihre Gedanken.
»So ein Leben wie das des reichen Miltenberg würde dir gefallen, was, Schwesterchen?«, fragte er und öffnete dabei für sie das Fenster. Rasch zog er sie an seine Seite und legte den Arm um ihre Hüfte. Als er bemerkte, dass sie an der kalten Nachtluft fror, zog er rasch den Rock aus und legte ihn ihr um die fröstelnden Schultern. Dann musterte er nachdenklich die hell erleuchteten Fenster des herrschaftlichen Steinhauses gegenüber. »Genau aus diesem Grunde möchte ich die häusliche Enge hier verlassen, die mir solche Freuden ein Leben lang vorenthalten wird«, äußerte er verträumt. »Ich werde bald ein Mann sein, und da draußen liegt das ganze Leben vor mir wie ein einziges großes Abenteuer. Du, liebe Gesche, solltest deine Tugenden nutzen, so wie ich die meinen. Vielleicht gelingt es dir ja mit List und Schläue, deinen Weg mit goldenen Talern zu pflastern. Taler, die uns die Eltern vorenthalten. Mit deiner Schönheit und deinem guten Ruf bist du für die Freier da draußen wahrlich keine schlechte Partie. Der junge Miltenberg im Haus gegenüber ist wieder frei. Du solltest diese von Gott gegebene Chance ergreifen. Der wohlhabende Sattlersohn hat eine schlechte Ehe hinter sich und wird sich nach einer Frau wie dir alle zehn Finger lecken. Erinnerst du dich, wie er vor ein paar Jahren seiner ehrlosen Konkubine das Jawort vor unserem göttlichen Richter gegeben hat?«
Stolz darauf, sich vor der Schwester mit dem neuesten Klatsch brüsten zu können, fuhr er mit verschwörerischer Miene fort: »Nun stell dir vor, bereits kurz nach der Hochzeit soll es einen entsetzlichen Skandal um dieses Frauenzimmer gegeben haben! Angeblich soll sie deutlich älter gewesen sein, als man zunächst vorgab, und auch ihr sogenannter Brautschatz, mit dem sie überall prahlte, bezog sich auf lächerliche 1.000 Taler. Madame Miltenberg war damals schon 30 Jahre alt und im fortgeschrittenen Alter mit allen sinnlichen Lüsten bestens vertraut. Außerdem soll sie eine Trinkerin gewesen sein und von Eifersucht geradezu zerfressen. Die Zeitungen berichteten, dass ihre grenzenlose Unordnung seinen Geschäftsbetrieb und ebenso den väterlichen Haushalt völlig durcheinandergebracht hat. Veruntreuungen und andere sitt-liche Verfehlungen sollen seitdem bei den Mägden und Knechten an der Tagesordnung sein. Der junge Miltenberg hat da-raufhin auf der Flucht vor seiner übermächtigen, ewig betrunkenen Gattin auf diversen zweifelhaften Vergnügungen sein Heil gesucht. Hast du denn nichts von dem Skandal in der Komödie gelesen, Schwesterchen?«
Gesche hielt den Kopf geneigt und hing erwartungsvoll an den Lippen des Bruders. Ihre Augen saugten sich förmlich an ihnen fest. Bisher hatten sie die Eltern von derartigen Ereignissen bewusst ferngehalten. Jetzt bewunderte sie das Weltmännische ihres sonst so menschenscheuen Bruders zutiefst. Der grinste selbstbewusst. »Stell dir vor, das Weib ist ihm in seiner Trunkenheit gar in die Komödie gefolgt und hat ihn dort vor allen Freunden bloßgestellt, indem sie sich zunächst bewusstlos soff und ihn und sich dann vor der feinen Gesellschaft auch noch verunreinigte. Na ja, der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht! Jedenfalls hat sich das Weib beim Saufen die Schwindsucht geholt und ihren Mann nach fünf Jahren Ehehölle endlich für immer verlassen.«
Versteckte Schadenfreude umspielte Gesches Mundwinkel. »Dann wäre ja der Weg für mich frei! Wie sehr wird es einen Witwer wohl entzücken, nach Jahren der Hölle nun in den Himmel aufzusteigen?«, antwortete sie belustigt.
Die ungewohnte Wandlungsfähigkeit ihres Wesens, eben noch todtraurig und nun wieder heiter und fröhlich, bestätigten Christophs Vermutungen: Unter der schönen Oberfläche war Gesche klug und listig.
»Bist du denn dem Herrn Gerhard Miltenberg schon einmal begegnet?« Aufmerksam versuchte er, die Antwort auf diese Frage mit ein wenig geschwisterlicher Eifersucht in ihren Augen zu lesen. Doch Gesche antwortete verschämt: »Was denkst du denn von mir, Bruderherz? Würde ein so reicher Mann wohl ausgerechnet mich, die unbedeutende Tochter eines einfachen Schneiders, je beachten, wo er doch jederzeit eine deutlich bessere Partie bekommen kann?«
»Vielleicht hilft ja der Herrgott in dieser Sache ein wenig nach. Mir ist nämlich zu Ohren gekommen, dass der junge Herr Miltenberg beim Vater ein prachtvolles Damenkleid in Auftrag gegeben hat. Ein aufwendiges Seidenkleid mit einem tiefen Ausschnitt, edler Spitze und mit reichem Zierrat. Man munkelt, er habe dich auf dem Korporalsball heimlich be-obachtet.«
»Du glaubst doch nicht etwa …?« Angesichts seiner Worte merkte Gesche, wie sie mit einem Mal feuerrot im Gesicht wurde.
»… dass du den Miltenberg mit deinem Liebreiz tief beeindruckt hast. Jawohl, genau das glaube ich, mein Schwesterherz.«
»Er hat sich mir noch gar nicht vorgestellt. Ist er denn ein hübscher Mann?«
Gesche hörte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Sehnsüchtig dachte sie zurück an die einzige rauschende Festlichkeit ihres Lebens, zu der sie den Vater erstmals begleiten durfte. Das Gelage hatte in einem öffentlichen Wirtshaus stattgefunden und ganze drei Tage gedauert.
»Gesche! Vor allem ist er zunächst einmal der reichste Witwer unserer Straße. Und dass er sich dir nicht persönlich vorgestellt hat, lag an der strengen Aufsicht von Mutter und Vater. Außerdem hast du ja selbst alle Tänzer abgewiesen und nur mit der Marie getanzt.«
Gesche nickte und dachte an ihren unbescholtenen Ruf, den sie unbedingt mit in eine für sie lohnenswerte Ehe nehmen wollte. Gleichzeitig aber träumte sie wachen Auges von rauschenden Empfängen, schönen Kleidern und wohlhabenden Freiern. Mitten in ihre Gedanken hinein fuhr plötzlich die jähe Erinnerung an einen schmerzlichen Verlust: eine schwärmerische Mädchenliebe, die seinerzeit ihren Anfang in ›Marks Plantage‹, einem Vergnügungshort der Vorstadt, nahm. Unter den vielen Herren, die ihr hier beim Lustwandeln bewundernde Blicke schenkten, war ihr damals ziemlich rasch ein besonders fescher Offizier aufgefallen. Viktor mit Namen. Marie, die treue Seele, holte rasch Erkundigungen über den Korporal ein, was ihn wiederum veranlasste, sich Gesche bald da-rauf mit einer artigen Unterhaltung zu nähern.
Viktor hatte ihr ungemein gut gefallen. Groß, schneidig, mit zigeunerhaft dunklem Haar und von einer charmanten Beredtheit, die ihr bei jeder Begegnung das Blut in die Wangen trieb. Schnell begannen sich ihre Wege immer dann zu kreuzen, wenn sie sich auf dem Heimweg von der Freundin befand. Der schneidige Offizier war kein Freund großer Worte. Schon beim zweiten Zusammentreffen hakte er sich keck bei ihr unter und überschüttete sie geradezu mit Liebesbezeugungen. So war es nur allzu verständlich, dass die Sehnsucht, sich den Verführungskünsten des jungen Verehrers gänzlich hinzugeben, umso stärker in ihr wuchs, je öfter er von einer ehelichen Verbindung zu ihr sprach. Ihre keusche Seele flog ihm entgegen, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihr Viktor neben seiner Schönheit und Galanterie auch über ein nennenswertes Vermögen verfüge, damit ihr Vater vielleicht doch noch die Verbindung mit einem Offizier zulasse. Als sie Marie davon erzählte und sie in ihrer Not um Rat bat, hätte sie sich deshalb um ein Haar mit der Freundin zerstritten. Denn Marie, die hinter Viktors eifrigem Werben nichts Gutes argwöhnte, begann heimlich, nähere Informationen über ihn einzuholen. Dabei förderte sie die Erkenntnis zutage, dass der leichtsinnige Herr Offizier so gut wie jedem hübschen Mädchen der Stadt nachstellte. Daraufhin musste Gesche der Freundin versprechen, Viktor niemals wiederzusehen. Doch das Gefühl, dem Geliebten mit einem neuen Mädchen im Arm in der Stadt zu begegnen, schmerzte noch lange Zeit danach.
Christoph schloss leise das Fenster und überließ Gesche ihren Erinnerungen. Sein feiner Instinkt verriet ihm, dass nun der Augenblick gekommen war, die Schwester für immer zu verlassen. Sanft, mit Wehmut im Herzen, küsste er sie ein letztes Mal auf den Nacken. Dann zog er geräuschlos die Tür hinter sich zu.
Etwa zur gleichen Stunde saß Stadtsyndikus Wolfgang von Post an seinem Schreibtisch und blätterte in den Akten, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein Sattlergeselle der Miltenbergs mit verschwitztem Gesicht und zerzausten Haaren im Rahmen stand. Ohne einen Gruß auf den Lippen rief er aufgeregt: »Herr von Post! Eilen Sie bitte. Sie müssen das Schlimmste verhindern. Der alte Herr Miltenberg will seinen Sohn töten!«
Da Wolfgang von Post solche täglichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Miltenbergs kannte und es seit dem Tod der Ehefrau des jüngeren sowieso recht turbulent im Haus des Freundes zuging, ordnete er zunächst Schreibkiel und Akten, bevor er in die graue Robe schlüpfte, den Zylinder auf das gepuderte Haar stülpte, um dann mit einem schwarzen Lederkoffer in der Hand dem Gesellen zu folgen.
Angelangt im Miltenberg’schen Hause, nahm er mit drei Sätzen die Stufen zur Freitreppe, als ihn von oben ohrenbetäubendes Geschrei empfing. Rasch riss er die Tür zum Wohnzimmer auf und erfasste mit einem einzigen Blick die Situation vor sich. In dem prunkvoll ausgestatteten Herrenzimmer, auf dem Perserteppich, der mit seinem dichten Flor jedes Geräusch schluckte, standen sich die zwei Kampfhähne mit hochroten Gesichtern gegenüber. Der Jüngere, in einem dunkelblauen, zweireihig geknöpften Anzug, zerschlissenem Ärmel und einer blutbespritzten Hose, hielt sich den Älteren mit dem Degen vom Leib, wobei er aufgebracht schrie: »Ich werde dich töten, Vater. Jetzt, auf der Stelle. Dann hat das Leid endlich ein Ende!«
Der alte Miltenberg, eingeschnürt in eine auffällig gelbgrün gestreifte Weste, in langer heller Hose und Schuhen, dessen Gamaschen Blutstropfen zierten, wehrte sich mit einem eisernen Feuerhaken. Um seine Füße wickelte sich ein verschmutzter ärmelloser Mantel.
Von Post sah, dass er stolperte und unweigerlich in die Degenspitze fallen musste. Mit den Worten: »Aber meine Herren, das kann man doch anders regeln«, warf er sich flugs zwischen die Streitenden. Während er den jungen Miltenberg an den Schultern zurückhielt, überschrie der Alte den Sohn: »Versuche nur weiter, die Hand gegen deinen Vater zu erheben! Ich habe längst beschlossen, Haus und Habe zu verkaufen und dir nicht mehr als fünf Taler zu vermachen. Du Hurenbock!«
Der Stadtsyndikus gab dem Gesellen ein Zeichen, der da-raufhin am alten Miltenberg Hand anlegte, bis dessen Jähzorn etwas verraucht war. Von Post vermutete, dass die beiden Miltenbergs vor Kurzem noch außer Haus gewesen waren. Der Sohn, sicher gerade aus irgendeinem dieser anrüchigen Frauenhäuser gekommen, war wahrscheinlich in dem Moment auf den Vater getroffen, als der wieder versucht hatte, den drohenden Vermögensverfall zu retten. Danach war der alte Miltenberg auf den Sohn nie gut zu sprechen.
»Meine Herren, ich beschwöre Sie, es gibt nichts auf der Welt, was ein Verbrechen wie dieses rechtfertigen würde. Denken Sie nur an die Bibel, an Kain und Abel. Oder wollen Sie Ihr Leben für alle Ewigkeiten im Zuchthaus verbringen?«
Heinrich Miltenberg keuchte noch einen Moment und schleuderte dann seinem Sohn einen wütenden Blick zu. Dann hob er den verschmutzten Mantel vom Boden auf und begab sich steifbeinig zu seinem Sekretär, einem Glanzstück von Rieseners französischer Schreinerarbeit. Noch immer sichtlich erregt, entnahm er mit zitternden Fingern einer der Schubladen mehrere verschiedene Schuldscheine und warf sie mit einer wütenden Handbewegung auf den Tisch.
»Hier, mein Sohn, alles neue Schuldverschreibungen«, sagte er mit seltsam ruhiger Stimme. »Das Kasino, die Komödie, falsche Spekulationen. Ganz zu schweigen von deinen sinnlichen Begierden. Hierfür hast du kürzlich sogar einen unserer vier Höfe verwettet. Und was uns in den Ruin treibt, Herr von Post«, wandte er sich an den Advokaten, »dieses vermaledeite alte Weib erdreistet sich und verlangt für die missratene …«, hier bekreuzigte er sich rasch, »schwindsüchtig verstorbene Tochter die 1.000 Reichstaler Mitgift sofort zurück.«
Fast ein wenig hilflos fuhr er sich mit der Hand durch das bei dem Kampf in Unordnung geratene Haar. Dabei ruhte sein Blick auf dem Advokaten, als erwarte er von ihm eine schnelle Lösung. »Ich war gezwungen, dem Senator Schmidt bereits zwei meiner wertvollen Ölgemälde zu verkaufen. Wenn mein missratener Sohn nicht bald heiratet und diesmal eine vernünftige eheliche Verbindung anstrebt, die uns allen von Nutzen ist, dann ist mein finanzieller Ruin nicht mehr zu verhindern.«
Von Post kratzte sich nachdenklich am Backenbart. »Sie wollten der Unglücklichen keine Kost und Logis mehr gewähren, und Euer Sohn Gerhard hat sie leider mit einem unrühmlichen Fußtritt aus dem Haus gejagt. Das hat die Unglückliche, welche doch die selige Schwiegermutter war, stark gegen Sie erzürnt. Obwohl sie recht brav über Sie, den Vater, geredet hat. Ich habe mich der Tränen der Unglücklichen angenommen und mir erlaubt, die Reichstaler ganz in Ihrem Sinne zu retten. Sie brauchen also nichts mehr zu befürchten. Was erzürnt Sie dann so sehr, dass Sie Ihren Sohn töten wollten?«
Vom Reden durstig geworden, schritt Herr von Post rasch zur Vitrine im Ostteil des Salons und öffnete die Kristalltür, hinter der er eine Karaffe mit dunklem Wein entdeckt hatte. Seitdem Gerhard Miltenberg einst seine Wohnung tapeziert hatte, ging er wie ein guter Freund im Miltenberg’schen Hause ein und aus. Deshalb kannte er die Gepflogenheiten in der Wohnung. Rasch stellte er drei Gläser auf den Tisch und schenkte ein. »Ein guter Jahrgang«, lobte er Miltenberg nach einem kräftigen Schluck und prostete dem Alten zu.
Heinrich Miltenberg, ein wenig lädiert von der Auseinandersetzung mit dem Sohn, hatte sich in der Mitte des Salons am Esstisch auf einem Stuhl niedergelassen. Die Arme auf die Lehne gestützt, schielte er grimmig auf den Sohn, der, die Beine in den langen Stiefeln weit von sich gestreckt, am Weinglas nippte und entspannt im Lehnsessel fläzte.
»Für diesen hochachtungsvollen Dienst, Wolfgang, danke ich Ihnen von Herzen. Sie sind ein wahrer Freund, und manchmal wüsste ich nicht, was ich ohne Sie anfangen sollte. Ach, wäre mein Sohn nur halb so gütig und schlau wie Sie, dann könnte ich mich an ihm erfreuen und ihn lieben, wie man einen Sohn liebt. Nicht nur, dass er seine Wanderschaft in Braunschweig abgebrochen hat und von dort dieses liederliche Frauenzimmer in unser Haus mitgebracht hat, jetzt säuft und hurt er genauso wie sie umher und schert sich einen Dreck um die Zukunft unseres Hauses. Seine Mutter, Gott habe sie selig, hat ihm ein Vermögen hinterlassen, dass er nun in Windeseile im Müßiggang verjubelt. Sehen Sie mich doch an, Wolfgang. Bald ist meine Zeit vorbei, und ich bedarf alsbald der Pflege. Aber bevor er unser gesamtes Vermögen bei Saufgelagen in Häusern der niedrigsten Verworfenheit verprasst, enterbe ich ihn zu Lebzeiten und ziehe auf meinen Landsitz.«
»Urteilen Sie nicht so hart, mein Freund«, versuchte von Post Heinrich Miltenberg zu beschwichtigen, nachdem der Alkohol für eine angenehmere Atmosphäre sorgte, die nun fast in eine heitere Stimmung umschlug. Denn nun meldete sich Gerhard zu Wort. Dabei blieb er zunächst in seiner entspannten Haltung sitzen und prüfte mit kritischem Blick sein Glas. Irgendwie verstand von Post die Frauen, die sich scharenweise von ihm aushalten ließen. Nicht zum ersten Mal war er ihm in anrüchigen Spelunken begegnet, halb nackt, mit mehreren Weibern gleichzeitig im Arm. Gerhard Miltenberg war nicht unansehnlich. Der Wein, der nun die blassen Wangen mit einer leichten Röte überzog, verstärkte diesen Eindruck zusätzlich. Doch der ausschweifende Lebenswandel des Mannes hinterließ bereits seine ersten Spuren. Das helle Haar bereits schütter, nach neuster Mode dicht an den Kopf gelegt und nach vorn gekämmt, verlieh dem schmalen Gesicht mit den braunen Augen und der ewigen, unstillbaren Sehnsucht darin eine gewisse Verwegenheit. Aber seine Züge waren verweichlicht und wirkten verschwommen. Hinzu kam, dass Gerhard Miltenberg um die Taille herum zur Fülle neigte.
»Was träumen Sie, Herr Magister?«, bemerkte der junge Mann schmunzelnd. »Trauen Sie mir nicht zu, dass ich eine Ehefrau für mich finde?«
Lauernd erhob er sich. Er trat an den Tisch heran und forderte von Post auf, ihm das Glas zu füllen. Groß gewachsen, mit dem Glas in der Hand, stand er vor ihm. Den Vater neben sich ignorierte er, als ob er gar nicht anwesend wäre. »Aber ich will keine Ehefrau. Ich kann jedes Weib haben. So ein faules, fettes Luder will ich mir nicht noch einmal in mein Haus holen. Ich habe Freudensprünge getan, als der Herrgott mich endlich von diesem Ehedrachen erlöste. Auch wenn der Herrgott mich dafür bestrafen wird. Denn seitdem lebe ich in der Furcht, mein Weib könnte als Leiche wiederauferstehen und mir das Leben erneut zur Hölle machen. Aber dieser verbohrte alte Herr«, er wies mit dem Finger anklagend auf den Vater, »erdreistet sich und will mich mit aller Macht zu einer neuen Heirat zwingen.«
»Und wie ich dich zwingen werde, du Säufer!« Heinrich Miltenberg war bei den letzten Worten aufgesprungen und machte Anstalten, sich erneut auf den Sohn zu stürzen. Doch von Post war schneller. Er hatte dem jungen Miltenberg ruhig zugehört und dirigierte ihn nun mit den Worten »Um was für eine interessante Ehe handelt es sich denn, um die hier so eifrig gestritten wird?« sanft auf den Stuhl zurück. Sein Interesse an den Neuigkeiten bewirkte, dass sich die beiden Miltenbergs gemeinsam an den Tisch setzten und Heinrich sogleich begeistert loslegte: »Es ist die Jungfer Timm, die mir in Gedanken vorschwebt. Sie ist schön und tugendhaft, und ihr geht der beste Leumund voraus. Außerdem soll sie sehr arbeitsam und in vielen Künsten bewandert sein. Sie wäre die rechte Ehefrau, um die gräuliche Unordnung in unserem Hauswesen wieder zu ordnen. Zumal mein liederlicher Sohn der Jungfer schon begegnet ist und sie ihm sehr gefallen hat.«
»Übertreibe nicht, Vater«, fiel ihm Gerhard ins Wort. Doch von Post sah sehr wohl, dass dem Sohn diese Verbindung nicht missfallen würde.
»Sie müssen verstehen, Herr Magister«, redete der Vater weiter, »dass ich mich schäme, für meinen Sohn als Brautwerber aufzutreten.«
»Ich würde mich dem Mädchen schon gern vorstellen, aber wie? Auf dem Korporalsball ist sie mir angenehm aufgefallen. Aber es war kein Herankommen. Die Schöne wurde von ihrer Familie bewacht wie ein seltenes Kleinod. Sie tanzte nicht einmal, obwohl es viele Männer gab, die das Glück gern gehabt hätten. Stattdessen drehte sie sich immerfort nur mit Marie im Kreise, der einzigen Tochter des Klavierlehrers.«
»Die beiden Familien sind miteinander befreundet. Ich kenne das Mädchen«, ergänzte von Post den jungen Miltenberg. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, meine Herren. Wie wäre es, wenn ich in Gerhards Namen als Freiwerber bei dem Schneidermeister Timm vorspreche, damit das mörderische Streiten endlich ein Ende hat und wieder Frieden in dieses schöne Haus einzieht. Ich schließe mich da ganz Ihrer Meinung an und finde auch, dass die liebliche Gesche Timm der Retter für das Miltenberg’sche Hauswesen ist. Ihr Vater ist ein einfacher Schneidermeister. Er gilt als arm, aber nicht unbedingt als gänzlich unvermögend. Allerdings würde ich Ihnen, Gerhard, raten, die Jungfer näher kennenzulernen. Denn nichts gedeiht ohne Liebe. Vielleicht mag Sie die Jungfer ja gar nicht und weist Ihr Werben zurück.«
»Das Mädchen wird doch nicht so dumm sein, ein Vermögen auszuschlagen.« Heinrich Miltenberg vermochte sich nicht vorzustellen, dass irgendjemand die Armut dem Reichtum vorziehen könnte.
»Eben sagten Sie noch, dass der finanzielle Ruin näher rücke?«, grinste von Post und winkte Gerhard heran. Wie Verschwörer steckten sie nun die Köpfe zusammen. »Ich würde vorschlagen, dass Sie das Kleid, welches Ihre verstorbene Ehefrau einst bei dem Schneidermeister Timm hat anfertigen lassen, der Jungfer Timm verehren und sie gleichzeitig mit zwei Theaterkarten beglücken. Dort sollte es Ihnen nicht schwerfallen, mit der schönen Gesche ein Gespräch über die Kunst und das Theater zu beginnen«, riet er dem Sohn und fasste ihn scharf ins Auge. »Danach bleibt Ihnen noch eine ganze Woche Zeit, um ihre Gunst zu buhlen, was Euch Schwerenöter ja nicht schwerfallen dürfte. Ich werde mich dann am kommenden Sonntag, Anfang Februar, als Freiwerber bei dem Schneidermeister Timm vorstellen.« Rasch streckte er die Hand aus und sagte abschließend: »Ihre Hand darauf, meine Herren. Machen wir eine Wette, dass schon im nächsten Monat März die jungen Leute vor dem Traualtar stehen werden.«
Die eben noch miteinander verfeindeten Herren Miltenberg erinnerten sich plötzlich wieder, dass sie Vater und Sohn waren. Ihre Gesichter glühten, und beide lobten ziemlich redselig die Vorzüge der schönen Gesche. Nachdem sie in die Hand des Magisters einschlugen, umarmten sie sich unter Tränen in nie gekannter Einigkeit, bis von Post, um nicht zu stören, sich leise auf Zehenspitzen rücklings mit einem verschmitzten Lächeln aus dem Zimmer schlich.