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Ein skrupelloses Paar auf Raubzug durch ein Land in Aufruhr... Thüringen, Dezember 1695. Getrieben von Eifersucht verwandelt der einst ehrenhafte Soldat und Gastwirt Nickel List sein Leben in Asche: Er zündet seine eigene Gaststätte an, um sich am untreuen Herzen seiner Frau Magdalena und ihrem Liebhaber zu rächen. Enttäuscht und ziellos verlässt er seine Heimat und kreuzt den Weg der verführerischen Diebin Anna. Auch sie ist auf der Flucht und hat ihrem luxuriösen Leben und ihrem wohlhabenden Ehemann, einem Hamburger Weinhändler, den Rücken gekehrt. Jahre später ziehen sie als Herr von der Mosel und Anna von Sien durch den Norden. Selbst die größten Kirchen sind vor dem berühmt-berüchtigten Räuberpaar nicht mehr sicher. Doch ihre Häscher sind ihnen bereits auf den Fersen … Die Geschichte des berühmten Meisterdiebes Nickel List und seiner gewitzten Gemahlin Anna von Sien – ein fulminant erzählter historischer Roman für LeserInnen von Petra Schier!
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Seitenzahl: 498
Über dieses Buch:
Thüringen, Dezember 1695. Getrieben von Eifersucht verwandelt der einst ehrenhafte Soldat und Gastwirt Nickel List sein Leben in Asche: Er zündet seine eigene Gaststätte an, um sich am untreuen Herzen seiner Frau Magdalena und ihrem Liebhaber zu rächen. Enttäuscht und ziellos verlässt er seine Heimat und kreuzt den Weg der verführerischen Diebin Anna. Auch sie ist auf der Flucht und hat ihrem luxuriösen Leben und ihrem wohlhabenden Ehemann, einem Hamburger Weinhändler, den Rücken gekehrt. Jahre später ziehen sie als Herr von der Mosel und Anna von Sien durch den Norden. Selbst die größten Kirchen sind vor dem berühmt-berüchtigten Räuberpaar nicht mehr sicher. Doch ihre Häscher sind ihnen bereits auf den Fersen …
Über die Autorin:
Bettina Szrama wurde 1952 in Meißen geboren. Obwohl sie ihre Liebe zum Schreiben schon früh entdeckte, war sie lange als Dipl.-Agraringenieurin in landwirtschaftlichen Führungspositionen tätig. Nach dem Fall der Mauer studierte sie Literatur an der Axel Andersson Akademie in Hamburg. Bereits während ihres Studiums begann sie mit dem Schreiben und etablierte sich fortan als Journalistin und Autorin. Beim internationalen Schriftstellerwettbewerb »WRITE MOVIES« in Hollywood wurde sie mit dem zweiten Platz ausgezeichnet. Heute lebt und schreibt die Autorin in Magdeburg.
Bettina Szrama veröffentlichte bei dotbooks die historischen Romane »Die Hure und der Meisterdieb«, »Die Hexe und der Henker«, »Die Novizin und die Hexenjäger« und »Die Konkubine des Teufels«.
Die Website der Autorin: autorin-bettinas-schatzkiste.jimdofree.com/
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eBook-Neuausgabe Dezember 2024
Dieses Buch erschien bereits 2011 bei Gmeiner Verlag.
Copyright © der Originalausgabe 2011 Gmeiner Verlag GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/Mini Mayi
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)
ISBN 978-3-98952-663-1
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Bettina Szrama
Die Hure und der Meisterdieb
Historischer Roman
dotbooks.
In dieser Dezembernacht des Jahres 1695 waren nur wenige Fellhändler in der Händlergasse im Brühl auf einen Krug Bier unterwegs. Sie staunten nicht schlecht, als plötzlich eine verspätete Reisekutsche über das Pflaster polterte. Die dunkle Karosse war vom Schmutz der Straßen völlig verdreckt, und die vier Pferde davor glänzten vor Schweiß, was vermuten ließ, dass sie seit Tagen ohne längere Rast unterwegs waren. Wenn man genau hinsah, konnte man am Kutschenfenster eine gepflegte Hand erkennen, die vergeblich versuchte, dem Kutscher Anweisung zu geben. Mit starrem Gesicht lenkte der Mann die dampfenden Rösser weiter, vorbei an verwaisten Heringstonnen, Lagerhäusern, Fleischhallen und feinen Pelzhäusern. Am Eselsmarkt angekommen, änderte das Gefährt plötzlich die Richtung, in die es fuhr, bog nach Westen ab und steuerte auf ein doppelstöckiges Holzhaus zu, vor dem die Umrisse eines Wandertheaters zu erkennen waren. Hier zügelte der Kutscher die Pferde und umfuhr langsam die in einem Halbkreis stehenden Planwagen. Doch gleich darauf lenkte er, wie nach einer plötzlichen Sinnesänderung, sein Gefährt auf eines der Gasthäuser am Straßenrand zu, aus dem Licht und Lärm drang. Vor dem Eingang unter einem Schild mit drei ineinander verschlungenen Schwänen kam das Gefährt endlich zum Stehen.
»Wir sind angekommen, Herr«, rief der Kutscher und wies mit dem Finger auf das Schild. »Dies muss das Wirtshaus ›Zu den drei Schwänen‹ sein. Das Wirtshaus für das fahrende Volk, Herr.«
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als mehrere Knechte aus dem Wirtshaus geschäftig herbeieilten, ihm die Pferde abnahmen, ausschirrten, tränkten und ihnen lederne Futterbeutel um die Köpfe hängten. Es war Messe und so wunderte er sich nicht weiter über die etwas übertriebene Geschäftigkeit, sondern kletterte rasch vom Bock und riss mit einer Verbeugung den Kutschenschlag auf. Er verharrte einen Moment in gebeugter Stellung, bis der Fahrgast in der Tür erschien. Der Reisende, ein Mann von hoher Gestalt, der in einen schwarzen Mantel gehüllt war, ließ den dargebotenen Arm unbeachtet und eilte an seinem Kutscher vorbei. Vor dem Eingang stoppte er vor einem Plakat. Aus den vom Regen verlaufenen Farben warb ein schönes Weib mit einem noch schöneren Lächeln für die Aufführung einer Oper. Nach einem kurzen Blick darauf riss er es wütend von der Tür. Offenbar schien es schmerzliche Erinnerungen in ihm wachzurufen, denn er war blass geworden und die Fältchen um seine Mundwinkel traten noch schärfer hervor.
Im Inneren der Wirtsstube empfingen ihn die seltsamsten Gerüche und die müden Augen brauchten einen Moment, um sich an die rauchgeschwängerte Luft zu gewöhnen. Den späten Reisenden interessierten weniger die Pelzhändler und Dirnen, die im Halbdunkel an den spärlich beleuchteten Tischen zechten. Eine Gruppe Komödianten im hintersten Teil der Wirtsstube stand im Mittelpunkt seines Interesses. Noch lachten und lärmten die Schauspieler ausgelassen, ohne ihn wahrgenommen zu haben. Aber das sollte sich gleich ändern. Er hatte sein Ziel erspäht und seine Wangen begannen sich zu verfärben. Rasch ging er, den Blick fest auf ein Weib gerichtet, das sich besonders auffällig hervortat, auf die Gruppe zu. Fast hatte es den Anschein, als habe er gefunden, wonach er suchte. Denn die Auserwählte erblasste bei seinem Anblick unter der glänzenden Maske, was er nicht ohne Genugtuung bemerkte. Aber sie wäre keine gute Komödiantin, ließe sie sich durch das unerwartete Auftauchen ihres Ehemannes durcheinanderbringen. Mit einer hochmütigen Geste warf sie die schwarzen Locken in den Nacken, rieb provozierend die Wange an der kräftigen, männlichen Schulter des jungen Gecks neben ihr und lächelte ihrem Gatten unschuldig entgegen. Es war genau dieses Lächeln, das sein Blut reizte. Nur zu gut wusste sie, dass sie ihn damit mitten in sein Herz traf. Hatte sie es in ihrer kurzen Ehe doch immer schon verstanden, ihn auf diese Weise zu bezirzen, um sich von ihm Geld für ihren übertriebenen Kleiderputz zu erschleichen und ihn seine Vorwürfe wegen ihrer Verschwendungssucht vergessen zu lassen. Sie war ein liederliches Frauenzimmer, das sich lieber in der Welt herumtrieb, anstatt ihr Leben an der Seite ihres Ehemannes zu verbringen. Eine Hexe mit einem Lächeln, dem ein Mann so leicht nicht widerstehen konnte. Sie war seine Wonne und sein Unglück zugleich. Wieder einmal war er ihr von Hamburg nach Leipzig hinterhergefahren, um sie zurückzuholen, obwohl er längst in Unfrieden mit ihr lebte. Dabei wäre es besser gewesen, er hätte die schöne Anna auf der Straße gelassen, auf der sie vor ihrer Ehe, gemeinsam mit ihrer Schwester, der Hurerei und anderen Liederlichkeiten nachgegangen war. Aber er war eben nur ein alter, dummer Mann, der sich der trügerischen Hoffnung hingab, sich die Liebe eines jungen Weibes erkaufen zu können. Als er sie nun so fröhlich in den Armen eines Jüngeren erblickte, schmerzte ihn diese Erkenntnis umso mehr. Die Unverschämte ließ es zu, dass ihr Begleiter, offenbar der Anführer der Truppe, ungeniert ihren weißen Hals küsste. Sie bog sich ihm dabei mit einer so augenscheinlichen Koketterie entgegen, dass ihr Mann nicht umhinkonnte, wütend den Degen zu ziehen. Er fühlte sich auf das Schmählichste von ihr beleidigt und zischte, während er dem Unverfrorenen die Degenspitze vor die Brust hielt: »Lass deine unreinen Finger von ihr, Hanswurst, wenn dir dein Leben lieb ist!« An sein Weibe gewandt sagte er: »Du kommst mit, oder ich werde dich Metze in die Gosse zurückstoßen, wo du hingehörst!«
Seine Worte schienen sie zur Besinnung zu bringen. Aber nur für einen Moment, dann zeigte sie ihr wahres Gesicht. Sie erhob sich, schob lachend den Degen zur Seite und streckte kampfeslustig das Kinn nach vorn. Als sie, wie erwartet, lebhaften Beifall vonseiten ihrer Kumpane erntete, bereitete es ihr ein besonderes Vergnügen, ihren alten Mann der Lächerlichkeit preiszugeben.
»Dann töte mich doch, du Feigling«, verhöhnte sie ihn, angefeuert von ihren zweifelhaften Freunden, die sich von der Auseinandersetzung einen interessanten Bühnenstoff erhofften. »Aber nicht einmal dazu bist du fähig. Sieh dich doch an, du alter Mann. Dein Körper ist vom Zerfall gezeichnet. Was kann so ein welker Körper einem Weibe wie mir bieten?«
Zur Bekräftigung ihrer Worte wippte sie mit den prallen, weißen Brüsten, bis sie fast aus dem Mieder hüpften, und lachte ihm frech ins Gesicht. »Sieh sie dir an. Willst du diese prächtigen Kunstwerke der Liebe wirklich in die Gosse zurückschicken? Oder willst du sie etwa mit Blut besudeln? Ist es nicht besser, sie von einem ›Hanswurst‹ mit Küssen verwöhnen zu lassen, als sie mit deinen alten Fingern zu erschrecken? Der ›Hanswurst‹ hier ist wenigstens ein echter Mann, ein besserer, als du es jemals gewesen bist.«
Plötzlich wurde sie ernst, und leiser fügte sie hinzu: »Erinnere dich, was du mir vorm Altar geschworen hast, damit ich dein Eheweib werde. Warte, ich helfe deinem greisen Gedächtnis nach ...« Die Späße ihres Begleiters, der sich nun gleichfalls erhoben hatte, um die Worte der Geliebten mit provozierenden Gesten zu untermalen, ließen sie sich schier ausschütten vor Lachen. »Es war vereinbart, dass du mir alle Freiheiten lässt, insbesondere die fleischlichen Gelüste und den Umgang mit meinen Freunden ...«
Jetzt war der Ehemann endgültig mit seiner Geduld am Ende. »Hure!«, entfuhr es ihm, während er grün wurde vor Galle. »Für ein Weib wie dich ist selbst ein gut gezielter Degenstich zu schade.« Bebend ließ er die Waffe sinken. Seine Hände in den seidigen Handschuhen waren schweißnass. »Und wenn das hier deine Freunde sind«, mit zitterndem Finger wies er auf seinen Konkurrenten, der jede seiner Bewegungen lachend nachäffte und ihn verhöhnte, »dann bist du nur zu bedauern, Weib.«
Um seiner Wut Ausdruck zu verleihen, warf er seinen Federhut schwungvoll über den Tisch und schnappte einen Moment nach Luft, als ob ihm die Worte im Halse stecken geblieben wären. Dann drohte er dem jungen Mann mit der Faust. Das Maß seiner Leiden war voll, doch seine Ehre ließ er sich nicht nehmen. Er vergaß seinen vornehmen Stand, griff sich einen Krug vom Tisch und goss dem verdutzten Komödianten das Bier mitten in das maskierte Gesicht. Einen Augenblick lang herrschte Verwirrung unter den Beteiligten, dann sprang der junge Mann galant über den Tisch und baute sich zornig vor seinem Herausforderer auf. Das blonde, wellige Haar klebte ihm, nass vom Bier, in der Stirn. Der Spott war aus den blauen Augen verschwunden. Hinter den Augenschlitzen funkelte es böse, während er sich mit einer wütenden Handbewegung seiner Harlekinsmaske entledigte. Hervor kam ein bleiches Gesicht mit so ebenmäßigen Zügen, dass der alte Edelmann sich trotz seiner Erregung überrascht fragte, weshalb Gott das Altern erfunden hatte.
Der Komödiant, etwas kleiner, aber sehniger und muskulöser als er selbst, spielte nun die Rolle seines Lebens. Theatralisch warf er sich in die Brust: »Vielleicht bin ich Eures Standes nicht würdig, mein Herr, der es sich erlaubt, mir wie einem Hund Bier ins Gesicht zu schütten. Es scheint mir auch, dass Ihr zu jener Sorte Herren gehört, die uns fahrendes Volk lieber als Zigeuner am Galgen sehen würde als auf der Bühne des Lebens, dessen Ihr bereits weit entrückt seid, weil Ihr offensichtlich keinen Spaß versteht. Aber bei Gott, ich war nicht immer ein umherziehender Spaßmacher und muss mich nicht von Euch demütigen lassen. Ich denke, dass Ihr weiterhin über Euren vornehmen Stand hinwegseht und mir, einem ›Hanswurst‹, Satisfaktion gewährt.« Mit geübtem Griff zog er den Theaterdegen aus dem Futteral seines Gürtels, warf Anna den Koller zu und ging in Fechtstellung.
Sofort bildete die Gruppe einen Kreis um die beiden Gegner und feuerte sie mit derben Sprüchen und witzigen Einlagen an. Doch was bisher wie ein gut inszeniertes Theaterstück gewirkt hatte, weitete sich rasch zu einem tödlichen Drama aus. Als der gehörnte Ehemann erkannte, dass seine Lage aussichtslos war und sein Weib, anstatt ihm bußfertig zu folgen, lachend auf dem Tisch tanzte, stach er blitzschnell zu. Die Attacke war so heftig und kam so unvermittelt für den Komödianten, dass er den Hieb nicht parierte und stattdessen verwundert auf die Spitzenrüschen an seinem Hemdsärmel sah, die sich plötzlich blutrot färbten. Das Weib hörte erschrocken auf zu tanzen und hielt gebannt den Atem an. Sie hatte ihren Ehemann unterschätzt. Jetzt endlich begriff auch sie, dass sich die ach so amüsante Auseinandersetzung zu einem Kampf auf Leben und Tod entwickelt hatte. Voller Angst sprang sie zwischen die Kämpfenden, um den Streit zu schlichten. Doch ihre Reue kam zu spät. Wild fuhren die Klingen aufeinander und sie selbst wurde gegen den Tisch geschleudert. Augenblicklich waren die letzten Lacher verstummt. Es war totenstill im Raum. Lediglich das Keuchen der Kämpfenden und der harte Klang der heftig aufeinanderschlagenden Eisen war zu hören. Niemals hatte Anna ernsthaft angenommen, dass ihr Ehemann fähig wäre, derart wild um sich zu schlagen. Aber sie sah auch, dass es die Verzweiflung war, die ihn dazu trieb, und ihr wurde klar, dass sie in ihrer Bosheit zu weit gegangen war. Von dieser Erkenntnis entmutigt, floh sie vor den Kämpfenden wie ein aufgeschrecktes Huhn von einer Ecke in die andere. Plötzlich hielt ihr Ehemann inne und blickte erstaunt auf die Degenspitze herab, die aus seiner Brust herausragte, als könnte er nicht begreifen, wie sie dort hineingekommen war. Das Hemd klebte ihm am verschwitzten Körper, während ein Blutsfaden aus der Wunde die Hosen und die weißen Kniestrümpfe hinabfloss und die Schuhe beschmutzte.
Doch anstatt nun endlich zu ihm zu eilen, wie es sich für ein treues Eheweib gehörte, ließ Anna sich erneut vom Satan lenken und dachte: Ich sollte lieber weglaufen, bevor die Polizey eintrifft. In Gedanken sah sie bereits, wie ihr Ehemann sein Leben aushauchte und der Mörder seines am Strang beendete. Hinzu kam die Angst vor der eigenen Festnahme, sodass sie beschloss, die herrschende Aufregung zu nutzen, um unbemerkt das Wirtshaus zu verlassen. Ihr nicht allzu großer Wuchs und ihr zierlicher Körperbau halfen ihr dabei. Geduckt, wie eine Katze auf allen vieren, schlich sie zwischen den gaffenden Gästen hindurch bis zur Tür. Vor der Schänke atmete sie befreit die kühle Abendluft ein und lief dann flink, mit geschürzten Röcken, die Gasse hinunter. Der leise Regen ging in Schnee über, und so dauerte es nicht lange, bis ihr die Kleider am Leib klebten und die Füße in den aufgeweichten Schuhen steiffroren. Doch sie hetzte weiter, ohne sich umzuschauen, bis die Wagen des Wandertheaters vor ihr auftauchten.
Erleichtert stellte sie fest, dass der Wächter schlief und die angepflockten Pferde in den Pferchen vor sich hindösten. Selbst der Hund, der bei ihrem Erscheinen leise knurrend unter einem der Wagen hervorgekrochen kam, ließ sich rasch von ihr beruhigen. Als sie sich dann auf die Bretter schwang, auf denen sie am Tag zuvor noch vor Publikum gesungen und getanzt hatte, verharrte sie einen Moment unschlüssig. Aber für Sentimentalitäten war keine Zeit. Sie schüttelte die Gedanken ab wie Regentropfen, schürzte erneut die Röcke und kletterte behände in den Requisitenwagen hinter der Bretterwand der Bühne.
Es war der Wagen von Lorenz Schöne, dem Prinzipal, in dessen Späße sie sich vor ein paar Tagen verliebt hatte. Doch was war schon eine leichtfertig begonnene Liebe, wenn es nun ums nackte Überleben ging. Sie brauchte Geld, um in ihre Heimat zu reisen, und durchwühlte hastig die Berge von umherliegenden Kostümen, Töpfen, Waffen und kleineren Möbelstücken, bis sie die Schatulle mit Lorenz’ Barschaft in den Händen hielt. Hastig öffnete sie den Deckel des Kästchens und warf es dann zornig auf den Boden. Es war leer. Lediglich zwei armselige Dukaten verschwanden in ihrem Mieder. Verächtlich verzog sie den schönen Mund, dachte an das sorglose Leben, das sie bisher geführt hatte, und begann bei dem Gedanken daran, nun völlig mittellos zu sein, heftig zu weinen. Sie gab sich der Verzweiflung hin und warf all den bunten Tand, der in den vergangenen Tagen ihr Leben ausgemacht hatte, durch den Wagen, bis ihr plötzlich die Tageskasse einfiel. Zugegeben, sie war feige vor ihrem Mann geflohen, aber bei dem Gedanken, die Freunde zu bestehlen, die ihr Unterkunft und Brot gegeben hatten, war ihr nicht ganz wohl zumute. Sie fürchtete, dass Gott so etwas nicht ungestraft geschehen lassen würde und es besser wäre, arm zu sein als ein gemeiner Dieb. Zugleich meldeten sich Zweifel wegen des Wächters bei ihr, in dessen Wagen die Kasse aufbewahrt wurde. Sollte er sie entdecken, würde er bestimmt nicht sanft mit ihr verfahren. Lorenz hatte ihm sicher ans Herz gelegt, die Einnahmen wenn nötig mit seinem Leben zu verteidigen. Der Mann war vierschrötig, bullig wie ein Stier und hatte Handflächen so groß wie ein Teller. Außerdem war er der beste Fechter der Truppe und verstand es als ehemaliger Soldat meisterhaft, mit dem Gewehr umzugehen.
Sie kletterte erst einmal vom Wagen herunter, zurück auf die Straße, und lief hinunter zum Flussufer, um nachzudenken. Sie starrte auf das still vor sich hinfließende Gewässer und musste an Hamburg denken, an die Heimat, in der sie jetzt als Witwe ein reiches Leben führen könnte, und die so unerreichbar weit weg für sie war. Der Weg von Leipzig bis Hamburg nahm viele Tage in Anspruch und war zu Fuß nicht zu bewältigen. Ihre Furcht vor der Armut und der Einsamkeit in der wilden Landschaft wurde noch allgegenwärtiger. Doch Annas Gier war stärker als ihre Ängste. Sie fasste sich ein Herz und lief noch einmal zurück zum Wandertheater. Diesmal zitterten ihre Hände nicht, und sie bewegte sich sicher wie auf einer Bühne. Unbemerkt schlich sie zwischen den Wagen hindurch zu dem schlafenden Wächter, lenkte den anschlagenden Hund mit dem letzten Stück Brot aus ihrem Rock ab und entwendete vorsichtig eine Laterne von einem Kutschbock. Leise öffnete sie das Glas, entnahm die brennende Kerze, beschattete sie mit ihrer Hand, damit der Wind sie nicht ausblies, und lief damit zur Bühne. Es war nicht schwer, die leicht entflammbaren Requisiten in Brand zu setzen und den Wachposten dadurch aus seinem Wagen zu locken. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Flammen den schweren Bühnenvorhang hinauf züngelten. Wie erwartet erwachte der Wächter durch den Feuerschein, stürzte schlaftrunken aus dem Wagen, vergaß die Gelder der Theatergruppe und versuchte unter lauten Hilferufen, den Brand zu löschen.
Diesen Augenblick nutzte die Diebin. Unbemerkt schlich sie sich in das Wageninnere und begann eifrig mit der Suche nach der Tageskasse. Das Glück meinte es gut mit ihr. Schon nach wenigen Augenblicken spürte sie die schwere Eisenschatulle zwischen den Fingern. Stimmen und Hundegebell wurden laut. Das Prasseln des Feuers kam bedrohlich näher. Sie musste sich beeilen, wollte sie nicht entdeckt werden. Doch das war leichter gedacht als getan. Die Schatulle war mit einem Eisenschloss versehen, zu dem nur der Prinzipal einen Schlüssel hatte. In ihrer Not sah sie sich nach einem Gegenstand um, mit dem sie dem Schloss zu Leibe rücken konnte. Als sie keinen fand, wollte sie mit der verschlossenen Schatulle fliehen und sie später öffnen.
Da teilte sich plötzlich der Stoff vor dem Eingang und eine Gestalt erschien in der Öffnung. Es war ihr Geliebter, Lorenz. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen. Sie erkannte ihn allein an den langen, blonden Haaren, die ihm wild über die Schultern hingen, und am Schweißgeruch seines blutverschmierten Hemdes. Es gab Momente im Leben, da half es nicht, lange über das Für und Wider nachzudenken. Da musste in Sekundenschnelle die richtige Entscheidung getroffen werden. So erschien es ihr nach dem ersten Schreck als das Vernünftigste, sich ihm in gespielter Naivität an den Hals zu werfen. Doch etwas lag in seiner Haltung was sie davon abhielt. Es schien ihr, als hätte er begriffen, was sie vorhatte, zögerte aber noch. Ein fataler Fehler. Dieses Zögern sollte über Leben und Tod entscheiden, da ihr genau in diesem Augenblick der Satan eine geladene Radschlosspistole zuspielte. Ohne nachzudenken, hob sie die Waffe, ein Theaterrequisit, vom Boden auf und drückte ab, just, als Lorenz einen Schritt auf sie zu machte. Sie vernahm das Klicken, den ohrenbetäubenden Knall, hustete und sah zwischen Rauchschwaden, wie er erstaunt den Mund öffnete, als wollte er etwas sagen, und dann wie ein gefällter Baum in sich zusammensackte.
Obwohl ihr das Herz bis zum Halse schlug, ertasteten ihre Finger das Pulversäckchen zwischen den Requisiten und den hölzernen Ladestock mit dem Metallpopper. Am ganzen Körper zitternd lud sie noch einmal nach und zielte auf das Schloss am Deckel der Schatulle. Nachdem sich der Pulverrauch aufgelöst hatte, sah sie, dass sie Erfolg hatte: Das Eisen war in zwei Hälften zerbrochen. Sie öffnete den Deckel, ließ die Taler in den Taschen ihres Kleides verschwinden und ergriff rasch noch ein Wams, einen Umhang und ein Paar Stiefel. Schnell stieg sie über den in seinem Blute liegenden Geliebten und sprang leichtfüßig vom Wagen. Niemand von den Menschen, die verzweifelt gegen die Flammenbrunst kämpften, bemerkte den einzelnen Reiter am Flussufer, der kurze Zeit später durch die Nacht davonjagte, als säße ihm der Teufel im Nacken.
Zur gleichen Zeit blickte ein weiterer Reiter einsam von einer Anhöhe oberhalb der Straße, die vom Vogtland nach Thüringen führte, zurück auf sein Leben, das gerade in Schutt und Asche zerfiel.
»Herrgott, du hast mir nicht erlaubt, als Christ zu leben, aber ein Mann zu sein, das konntest du mir nicht nehmen«, murmelte er und dachte daran, dass das Haus, das unter ihm niederbrannte, bis zum letzten Stein des Fundaments und bis zum letzten Sparren unterm Dach einmal ihm gehört hatte. Mit ihm fielen sein ungetreues Weib Magdalena und ihr Liebhaber den Flammen anheim, und er spie voller Verachtung in den Sand.
Viel zu wenig Weiber haben die Gerichte auf dem Scheiterhaufen verbrannt, dachte er, denn sie sind alle Hexen und haben den Feuertod verdient. Eigentlich waren ihm solche Gedanken zuwider. Er sehnte sich einzig nach einem Leben in Ruhe und Frieden. Doch das war ihm nicht vergönnt gewesen, seit er beschlossen hatte, gemeinsam mit Magdalena – die eigentlich Margaretha Göden hieß und die er nach dem Krieg mit zu sich nach Hause genommen hatte –, eine Schankwirtschaft aufzubauen. Er hätte wissen müssen, dass die schwarzäugige Schönheit es mit der Treue nicht so genau nahm, und fragte sie dennoch eines Sommerabends beim Reifenspringen unter der Linde, ob sie sein Weib werden wolle. Zwar florierte das Schankleben mit ihr, aber seine Ehe war alles andere als glücklich. Nicht zu Unrecht nannten alle das Weib Magdalena. Mit verführerischen Blicken umgarnte sie jeden, der in ihrer Schänke einkehrte. Kein Mannsbild war vor ihr sicher. Das brachte oft Streit und böse Worte mit sich.
Es war ein Fehler von ihm gewesen, sich in die Bücher zu vergraben und das Weib nach Lust und Laune gewähren zu lassen, anstatt den verhassten Liebhaber mitsamt seinem Freund, einem Studenten, vor die Tür zu setzen, als es noch nicht zu spät war. Sein Zögern öffnete den zwei früheren Regimentskameraden alle Türen und er ahnte nicht, was die beiden wirklich im Schilde führten. Denn als sie sich seiner Freundschaft sicher waren, fielen sie wie Schmeißfliegen über seine Schänke her, brachten immer mehr Halunken mit, soffen und fraßen sich auf seine Kosten die Bäuche voll und planten ihre dunklen Geschäfte. Das Schlimmste daran war, dass ihn die Satansbrut zu einem Raubzug nach Mechelgrün überredet hatte – was ihr gelungen war, weil er dringend ein Pferdegeschirr und einen neuen Schauer brauchte. Der Einbruch bei Frau von Trettau hatte sich tatsächlich gelohnt.
Aber nicht für ihn. Von den fünftausend Talern Beute kassierte der Anführer, ein ehemaliger Wachtmeister, den Löwenanteil. Er war von spindeldürrem Wuchs und trug immer einen goldenen Ring im Ohr – das andere war ihm im Krieg abgeschlagen worden –, weshalb er sich ›Perla Einohr‹ nannte.
Irgendwann hatte der Hundsfott seinen Anteil versoffen und sich von da an schadlos an dem Wirt gehalten. Nicht nur, dass er weiterhin auf seine Kosten lebte, nein, er richtete sich zudem häuslich unter seinem Dach ein und trieb es vor seinen Augen mit Magdalena. Als der Wirt sich weigerte, Perla Einohr seinen Anteil von tausendfünfhundert Talern zu überlassen, verwüstete der Galgenvogel mit sechs seiner wilden Gesellen sein Haus, raubte ihm dreihundertzwanzig Taler, trieb es noch ärger mit seinem Weib und verhöhnte ihn obendrein. Letztendlich legten sie es darauf an, ihn gänzlich aus seinem Haus zu vertreiben.
Als er nun am gestrigen Sonntagabend vom Pfarrer aus dem Nachbarort zurückgekehrt war, um reinen Tisch zu machen, und im leeren Schankraum eine für zwei gedeckte Tafel vorfand, an der eine ganze Hochzeitsgesellschaft satt geworden wäre, sah er es als seine ganz persönliche Rache an, sich an dem erlesenen Mal gütlich zu halten. Er ließ sich viel Zeit, schaufelte so viel sein Magen fassen konnte in sich hinein, zog sich dann die Stiefel aus, um keinen Lärm zu machen, und schlich leise, die Pistole in der Hand, zur Schlafkammer hinauf. Als er die Tür öffnete, sah er auf dem ehelichen Bett Magdalena und Perla Einohr liegen, wie Gott sie geschaffen hatte. Sie waren betrunken und schnarchten laut. Er betrachtete sie lange und nachdenklich und überlegte, wen von beiden er zuerst treffen sollte. Mit der inneren Überzeugung endlich das Richtige zu tun, zielte er mit der Waffe auf den Kopf des Vermaledeiten. Aber dann besann er sich und ließ den Arm wieder sinken. Diese beiden Galgenvögel waren das Schießpulver nicht wert. Leise zog er die Tür hinter sich zu.
Danach überlegte er nicht lange, ging die Treppe hinauf in seine Stube, steckte Geld und Kleidung in einen Quersack, stieg damit wieder hinab und packte den restlichen Braten, das Brot und etliche Flaschen Wein obenauf. Als das erledigt war, ging er in die Scheune, suchte nach getrocknetem Reisig und Holz und legte alles unter die Treppe, die zur Schlafkammer hinaufführte. Nur einen Augenblick lang kamen ihm Zweifel, dann lief er rasch zum Schank, holte ein Fass Branntwein, goss den Inhalt auf dem Boden aus und zündete den Reisighaufen an. Geduldig wartete er, bis die Flammen durch die Treppe schlugen und sich an den Balken hinauffraßen. Erst dann lächelte er zufrieden, holte den Quersack und verließ das lichterloh brennende Haus. Mit einer seltsamen, wie einstudiert wirkenden Sorgfalt verschloss er hinter sich das Tor, warf den Schlüssel weit fort und schwang sich auf das gesattelte Pferd. Ohne sich noch einmal umzusehen, ritt er langsam die Straße zum Dorf hinaus.
Die Rauchschwaden zogen jetzt die Anhöhe hinauf, bis hin zu ihm. Sie bildeten einen dünnen Nebel mit einem Geschmack aus Ruß und Vergänglichkeit. Er riss sich los und sagte leise zu sich: »Ich werde nach Beutha zurückkehren. Vielleicht steht ja meine alte Schankwirtschaft noch.« Dabei fuhr er sich flüchtig mit dem Handschuh über die Stirn, was er immer tat, wenn er lästige Gedanken zu verscheuchen versuchte; wie etwa die Erinnerung an sein erstes Eheweib, die verstorbene Gretha. Zu lange war es schon her, dass er sie in Beutha zurückgelassen hatte, um als Reiter gegen die Türken zu ziehen. Viel zu lange, als dass sich dort noch jemand an den jungen Nickel List erinnert hätte, dem aus dieser Zeit nur eine Tochter geblieben war, die er nie zu Gesicht bekommen hatte. Mittlerweile war er älter geworden, fühlte sich aber jung, kräftig und vor allem frei, frei für einen neuen Anfang, ohne Weib und ohne falsche Kameraden. Er nahm sich vor, nun noch mehr auf seinen Verstand und seinen Säbel zu vertrauen, und lächelte bei dem Gedanken an den erbeuteten Türkenschatz hinter sich im Quersack, den er vor der gierigen Magdalena und ihrem Galan in Sicherheit gebracht hatte.
So ritt er ungefähr eine Stunde die Heerstraße entlang und schlug dann, kaum dass er selbst wusste, wozu, einen Feldweg ein, der ihn im großen Bogen um das nächste Dorf herum in die Berge führte. Die Pistole hatte er in den Gürtel gesteckt, und wie er so träumend, ohne auf den Weg zu achten, durch die Nacht ritt, bemerkte er plötzlich neben sich die Silhouette eines fremden Reiters. Sein Säbel hatte im Krieg so manchen Kopf gespalten, und seine Kugel selten einen Reiter verfehlt. Aber bei dem Gedanken an die Schlucht vor ihm, mit dem wilden unwegsamen Tal, aus dem angeblich die Nixen an den Steinen aus der Elster stiegen und unter den Augen des Teufels auf den Wiesen tanzten, wurde ihm angst und bange. Er trieb Lore, seine Stute, an und sprach mit ihr, weil er sich dann sicherer fühlte. Doch der Reiter ließ sich nicht abschütteln. Immer deutlicher wurde sein Umriss, mal tauchte er ganz plötzlich zwischen den Bäumen auf, dann wieder warf er seinen Schatten wie Luzifer an die kahlen Felswänden. Nickel List zügelte seine Stute, stellte sich in die Steigbügel und brüllte mit gezogener Pistole: »Hey, zeig dich, Freund oder Feind!«
Aber der Wald blieb stumm, nur das Schnaufen des fremden Pferdes war jetzt ganz dicht neben ihm. Da spannte er den Hahn und drückte ab. Ein Plumpsen, als hätte man einen Baum gefällt, und ein klägliches Wiehern, gefolgt von einem Gurgeln und Pfeifen war die Antwort. Im gleichen Atemzug sprang er aus dem Sattel, die rauchende Waffe noch in der Hand. Rasch teilte er mit dem Säbel die Zweige an der Stelle, von wo er glaubte, das Geräusch vernommen zu haben. In diesem Moment schien der helle Mond durch die zerrissene Wolkendecke und er sah etwas Dunkles, das hastig ins Gebüsch flüchtete. Er rief hinterher, drohte, dass er nicht lange fackeln und erneut schießen werde, und drehte sich erschrocken um, als es mit einem Mal neben ihm knackte und eine Stimme, halb ängstlich und halb wütend, fluchte: »Verdammt, Fremder, du hast mein Pferd getroffen. Willst du mir jetzt etwa auch eine Kugel durch den Kopf jagen?«
»Seid Ihr ein Mann, dann zeigt Euch und flieht nicht wie eine Memme vor mir. Oder seid Ihr gar ein Weib?«, antwortete er, wütend, aber erleichtert und mit gutmütigem Spott.
»Ich bin kein Weib«, kam es beleidigt aus der Dunkelheit zurück, während Nickel fast über den Pferdekörper zu seinen Füßen gestolpert wäre. Am Kopfende des Tieres sah er den Umriss einer gebeugten Gestalt.
»Es tut mir leid, das mit Eurem Gaul«, versuchte er sich zu entschuldigen und berührte den Pferdeleib, in dem offenbar seine Kugel steckte, mit der Stiefelspitze. Leise pfeifend stieß das Tier Luft durch die Nüstern. Sein Bauch hob und senkte sich schwer. Der Gedanke, dass er der Verursacher seiner Qualen war, tat ihm weh, und er holte ein Messer hervor um, um ihm den Gnadenstoß zu geben. Doch irgendetwas in der Haltung des Fremden hielt ihn davor zurück. Zu gern hätte er die Tat rückgängig gemacht. Er hatte er doch nur einen Warnschuss abgeben wollen. Das Unglück schien ihn weiter zu verfolgen, und das machte ihn umso trauriger. Er wollte den Reiter an der Schulter berühren, aber der entzog sich ihm brüsk. Zerknirscht und etwas verärgert darüber, weil der Fremde seine Anteilnahme zurückwies, sagte er: »Eurem Gaul kann keiner mehr helfen. Ihr müsst ihn von seinen Schmerzen erlösen. Wenn ich die Lore nicht so dringend brauchen würde, gäbe ich sie Euch gern. Aber ich habe gerade selbst alles verloren. Die Stute ist das Einzige, was mir geblieben ist.«
»Da scheinen wir ja Leidensgefährten zu sein, nur dass mir gerade von Euch der Gaul unter dem Hintern weggeschossen wurde«, kam es sarkastisch zurück, und Nickel wunderte sich über die glockenhelle Stimme. So sprach kein Mann, höchstens ein Junge; einer, der gerade in dem Alter war, in dem er anfing, den Mädchen nachzusteigen. Er überlegte, wie er seinen Fehler wiedergutmachen konnte.
»Nehmt es Euch nicht so zu Herzen. Ich habe eine Idee. Ihr habt eine schlanke Gestalt. Meine Stute, die Lore, ist von kräftiger Statur und hat sicher nichts dagegen, zwei Reiter auf ihrem Rücken zu tragen. Zuvor sollten wir jedoch ein Feuer machen und etwas zu uns nehmen. Der Weg bis zum nächsten Wirtshaus ist weit.«
Der Reiter hatte sich erhoben und stand jetzt unmittelbar vor ihm. »Mal sehen, was der Quersack hergibt«, sagte er.
Währenddessen versuchte List, soweit es die Dunkelheit zuließ, das Gesicht vor sich zu ergründen. Es wurde von einem übergroßen Hut verdeckt und zudem verbargen sich Augen und Nase hinter einer Ledermaske, die lediglich ein energisches und feingeschwungenes Kinn preisgab.
»Das Feuer wird uns wärmen und das Essen wird uns guttun. Freundschaften schließt man besser mit vollem Bauch.« Auffordernd hielt er ihm die Hand hin, blieb aber auf der Hut und dachte, was rede ich da nur? Der Fremde verbirgt sicher etwas. Umsonst läuft er nicht maskiert umher. List wusste nicht, wie recht er damit hatte: Der Reiter war in Wahrheit eine Reiterin – unsere Diebin Anna.
»Ich bin übrigens der Nickel, und das mit Eurem Pferd, glaubt mir, tut mir wirklich von Herzen leid. Es ist die unheimliche Gegend hier, die meinen Finger zu schnell an den Abzug führt. Habt Ihr einen Namen, Fremder?«
Anna war nicht auf den Mund gefallen, doch der Schreck saß ihr tief in den Gliedern. Während ihr Blick misstrauisch zwischen dem sterbenden Pferd und Nickel hin- und herwanderte, ergriff sie zögernd die dargebotene Hand und überlegte, was sie ihm antworten sollte.
Der Schuss hatte alle ihre Pläne durchkreuzt. Nicht nur, dass ihr Pferd getroffen am Boden lag, auch der Quersack mit dem Geld aus der Tageskasse war bei ihrem Sturz verschwunden. Sie musste ihn unbedingt wiederfinden und log: »Ich bin Hannes und das geschwollene Gerede kannst du lassen. Hilf mir lieber mein Gepäck wiederzufinden. Nachher können wir uns noch immer den Bauch vollschlagen.«
»Das haben wir gleich.« Seine direkte Art gefiel Nickel, was er mit einem breiten Grinsen beantwortete. Bevor er ihm bei der Suche half, wollte er erst ein Feuer entfachen. Er begann, verstreut umherliegende Zweige aufzusammeln. Als er genügend zusammenhatte, schichtete er sie rasch auf und fragte: »Wohin führt dich dein Weg, Hannes?«
»Nach Hamburg ...«, tönte es jetzt unmittelbar neben ihm aus dem Gehölz, während er in die Flamme blies.
Die Antwort überraschte ihn so sehr, dass er hustete und sich dabei fast die Haare versengt hätte. Das gibt es doch gar nicht, dachte er und murmelte: »Da musst du arg vom Wege abgekommen sein, Hannes. Wir sind hier im Vogtland, und Hamburg liegt, soweit ich mich entsinne, weit im Norden.« Suchend schaute er sich nach dem Burschen um und sah, wie Hannes sich mühte, seinen Quersack unter dem Pferdekörper hervorzuziehen. Er stemmte sich mit beiden Beinen in die Erde und zog mit weit nach hinten gebogenem Oberkörper an dem Sack. Nickel schaute den Bemühungen eine Weile zu, ohne einzuschreiten, bis er plötzlich im Feuerschein hinter Hannes einen abschüssigen Weg gewahrte, der in eine Felsspalte führte und der Hannes nun bedrohlich nahekam. Der Bursche ahnte nichts von der Gefahr, und so sprang Nickel rasch hinzu, stemmte den Fuß gegen das Pferd und versuchte nun seinerseits, den Pferdekadaver zu bewegen. Irgendwie gelang es sogar. Doch dann geriet der Pferdekörper auf dem abschüssigen Boden ins Rutschen und er und Hannes vermochten sich nur noch durch eine Flucht in das Gebüsch zu retten. Der Pferdekörper glitt über den Boden bis an die Felskante heran und riss den Quersack, begleitet von lautem Gepolter, mit in die Spalte. Einen Augenblick horchten beide entgeistert hinterher, dann ging Hannes plötzlich auf Nickel los, boxte ihn in den Rücken, würgte ihn und brüllte: »Du Hundsfott! Warum hat der Herrgott mich nur so gestraft? In dem Sack war alles, was ich besaß. Soll dich der Teufel holen!«
Nickel war schnell wieder auf den Beinen und warf den vermeintlichen Hannes mit einem geübten Griff über die Schulter zu Boden. Auf seinem Gesicht wechselten sich Wut und Überraschung ab. Hannes hatte plötzlich Haare, lange, wilde, schwarze Locken, die seine Schultern wie ein Mantel bedeckten. Bei dem Ausbruch war Anna der Hut vom Kopf gefallen und hatte ihre herrliche Lockenpracht freigelegt. »Du ... du bist ja überhaupt kein Bursche, du bist ein Weib! Zum Kreuzdonner, sind die Hexen denn überall? Das Allerletzte, was mir jetzt noch fehlt, ist ein Weib«, fluchte er.
Anna kochte ebenso vor Wut. Seit Tagen schonte sie weder sich noch ihr Pferd. Durchquerte Täler, Flüsse und Felsspalten. Die Dukaten immer sicher im Beutel verwahrt. Und jetzt musste ihr dieser Schelm über den Weg laufen und sie um ihr Diebesgut bringen, was nun für alle Ewigkeit in der Schlucht begraben lag. »Du hast mich gerade um meinen gesamten Besitz gebracht. Ach, hättest du Mistkerl mich doch erschossen«, schimpfte sie und blieb beleidigt auf dem Boden sitzen. »Wozu hat der Herrgott nur den Mann erschaffen? Außerdem, was heißt hier ›Weib‹? Für dich bin ich Hannes.« Wütend band sie sich mit ein paar geübten Griffen das Haar wieder zusammen und stülpte den Hut darüber.
Nickel begab sich derweil verärgert zum Feuer. Was sollte er sich noch weiter mit einem Weib unterhalten. Er schnallte den Quersack auf und zog Brot, Wurst, Butter und Wein hervor. »Ist mir egal, wer du bist, Hauptsache, du bleibst mir vom Leib. Von den Weibern habe ich allezeit genug. Einen Freund hingegen hätte ich gut gebrauchen können.«
Es benötigte nicht viel an Verstellungskunst, um Nickel zu überzeugen. Und die im Theaterspielen geübte Anna war eine Meisterin. Sie wusste genau, wie ihre Aussichten standen, ohne Pferd und Geld jemals nach Hamburg zu gelangen. Also war sie gezwungen, sich so lange an den Nickel zu halten, bis sie wieder auf eigenen Füßen stand.
»Dann lass mich dein Freund sein?« Listig drehte sie ihm ihr Gesicht zu.
»Ein Weib als Freund?« Er stocherte nachdenklich im Feuer, grinste und sagte schon wieder mit gutmütigem Spott: »Dann lass dir einen Bart wachsen und benimm dich wie ein Erwachsener. Und lass dir gesagt sein, der Mann ist von Gott gemacht, das Weib hingegen vom Satan.«
Sein Spott ärgerte sie und sie überlegte, wie sie ihn umstimmen und wieder zu dem Burschen werden konnte, den er eben noch in ihr gesehen hatte. Aber das brauchte sie gar nicht. Denn ein voller Bauch macht versöhnlich und so warf er ihr ein Stück Brot zu und forderte sie ungeduldig auf: »Komm, setz dich schon zu mir und stopf dir endlich was zwischen die Zähne. Sonst verhungerst du mir noch und ich müsste mir ewig Vorwürfe machen.«
Zögerlich kam sie der Aufforderung nach, erhob sich und begab sich zu ihm ans Feuer. Als sie nach dem Brot griff, trafen sich einen Moment lang ihre Blicke. Dieser Augenblick genügte, um ihr die Röte ins Gesicht zu treiben. Verlegen zog sie die Hutkrempe tiefer ins Gesicht.
Nickel sah es verwundert und fragte mit vollem Mund: »Warum trägst du eine Maske und versteckst dich hinter einem Hut? Bist du so hässlich, dass jeder bei deinem Anblick erschrickt?«
»Mein Gesicht ist von einer Krankheit entstellt«, log sie und begann mit mahlenden Bewegungen den Brotkanten zu kauen.
»Teufel noch mal«, murmelte er, nahm einen Zweig und stocherte damit schweigend im Feuer herum. Zur Antwort spie die Flamme Funken, die wie tausend kleine Glühwürmchen in der Dunkelheit verschwanden.
Kauend dachte Anna, er hat die warmen Augen der Madonna, die Stirn von einem Studiosus und das verwegene Aussehen eines Räubers. Aber er benimmt sich wie ein Tölpel. Wenn sein Geist genauso schnell ist wie seine Hand und der Teufel nicht seine Finger im Spiel hat, sollte ich mich ihm anschließen. Was für ein Glück, dass ich die Idee mit der Augenmaske hatte. Sie wird mir jeden Mann fernhalten, solange ich es will. Außerdem ist er recht hübsch anzusehen, mit seinen dunklen Locken und den feinen Zügen. Sie räusperte sich und log, um ihn für sich zu gewinnen: »Es sind nicht nur die Narben der überstandenen Krankheit, die mich zwingen, eine Maske zu tragen. Ich befinde mich auf der Flucht vor meinem Ehemann.«
Sie legte in ihre Worte so viel Traurigkeit, das Nickel erstaunt von seiner Wurst aufsah. »Nanu, hat er dich schlecht behandelt oder hast du ihn hintergangen?«
»Eher das Erstere. Ich war ihm eine gute Ehefrau, bis die Krankheit meinem Gesicht die Schönheit nahm. Danach hielt er mich wie eine Gefangene, sperrte mich ein und quälte mich, während er unsere gesamte Habe mit Huren und Bauerndirnen durchbrachte.«
Nickels Blick ruhte mit ehrlicher Anteilnahme auf ihrem Gesicht. »Seltsam«, bemerkte er, »wie sehr sich unsere Schicksale doch gleichen. Das kann kein Zufall sein.« Er wurde nachdenklich, wirkte abwesend und senkte, als er sah, dass sie es bemerkte, verlegen den Kopf. »Ich war auch so ein verirrtes Schaf. Habe mich lange von meinem Weib drangsalieren lassen und niemanden gehabt, mit dem ich ein ernstes, wohlgemeintes Wort hätte reden können. Das Frauenzimmer war wie verhext gewesen, hatte ihre Augen überall, nur nicht da, wo sie hingehörten. Die Wirtschaft verfiel zusehends, das Geld, das am Abend reinkam, war morgens wieder ausgegeben. Ich habe im Stall und auf dem Hof geschuftet, was meine Arme hergaben. Mein Verdienst wurde sofort in Wein und Braten umgesetzt. Ihre Liebhaber habe ich durchgefüttert und als ich sie zur Rede stellte, da wurde sie frech und drohte mir, mich mit einem dieser Galgenvögel zu verlassen.« Es schien, als wollte Nickel sich alles Leid von der Seele reden. Das Weib hörte still zu, ohne ihn zu unterbrechen. Es war so erleichternd, einmal alles Elend aus sich herauszulassen, dass er nicht darüber nachdachte, ob es sie überhaupt interessierte. »Ich glaube, ich war wie ein lahmer Gaul, der kraftlos im Geschirr hing. Habe zu lange gewartet und es nicht fertiggebracht, den Hundsfott aus dem Haus zu werfen. Vielleicht bin ich einfach zu schwach gewesen.«
»Du warst ein guter Christ«, antwortete Anna leise, etwas betreten von der Reaktion auf ihr Lügengespinst. Mit dem feinen Sinn des Weibes spürte sie, dass da noch ein unsichtbares Band war, das Nickel – anders als bei ihr – in der Vergangenheit festhielt.
»Möglich, dass ich eine Zeit lang ein guter Christ war. Aber ebenso wollte ich oft genug zur Pistole greifen und hab sie dann doch wieder an die Wand zurückgehängt.«
»Und jetzt, jetzt hattest du den Mut dazu ...?«, unterbrach sie ihn vorsichtig und wich seinem Blick aus, hin zur bepackten Lore, die mit ihrem Maul in der dünnen Schneedecke nach ein paar Halmen suchte. Er bemerkte es, erhob sich, scharrte mit der Stiefelspitze etwas von der feuchten Erde lose, warf sie auf das Feuer und trat sie mit den Füßen fest. Dann ging er zu der Lore und zog die Gurte an. Er schien nicht mehr gesprächig, flüsterte stattdessen der Stute etwas zu, klopfte ihren Hals, als ersuchte er sie um ihr Einverständnis. Plötzlich drehte er sich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck zu Anna um: »Willst du bei mir bleiben, als mein Knecht, Weib, Hannes, sei es bis Beutha und weiter?«
Anna frohlockte und nickte zugleich, schamrot im Gesicht. »Ja, Nickel, das will ich.«
»Dann schlag ein, Weib, und vergiss, woher du gekommen bist und wohin du willst, und reite mit mir. Wir wollen sehen, was es uns bringt.«
Später, als Anna hinter ihm auf dem breiten Pferdrücken saß, die Arme um seine Hüften geschlungen, um sich festzuhalten, war Nickel immer noch in sich gekehrt. So wie er vor Kurzem auf seinem Weg noch ein fröhliches Lied auf den Lippen gehabt hatte, so wenig machte er jetzt den Mund auf, und das kam nicht allein daher, dass der Wind ihm eisig ins Gesicht blies.
Sie sprachen wenig auf ihrem Ritt, bis sie nach einigen Wochen des Umherirrens im freiherrlichen Hartenstein eintrafen. In den am Wege liegenden Wirtshäusern, wo sie Rast machten, hatte Nickel ausgekundschaftet, dass seine frühere Wirtschaft unbeschadet war und jetzt von einem Pferdehändler betrieben wurde. Angeblich käme ihm ein Verkauf sehr gelegen, weil er wohl vorhatte, sich ins Kursächsische abzusetzen. Nickel wollte die Schänke kaufen, sofern sein Geld dafür ausreichte.
Er hatte Anna in einer der am Wege liegenden Fuhrmannsschänken zurückgelassen, wo sie am Abend zuvor abgestiegen waren, und begab sich in der Dämmerung des letzten Dezemberabends nach Beutha zu seiner früheren Wirtschaft, nahe dem Schinderacker. Als ihm auf sein Klopfen geöffnet wurde, verschlug es ihm vor Überraschung die Sprache. In der Tür stand kein Unbekannter: Es war der Student, den er trotz seines glatt rasierten Gesichtes und dem kurzen, krausen Haar sofort wiedererkannte. Bis zu diesem Zeitpunkt wähnte er ihn eigentlich im fernen Österreich. Der Student zog Nickel in die Diele und verschloss rasch hinter ihm die Tür. Dort nahm er ihn mit gespielter Freundlichkeit in die Arme und wollte sich gar nicht beruhigen, dass Nickel so gesund und munter vor ihm stand.
»Wie schön, dass du bei mir vorbeischaust, Kamerad«, sagte er, schob ihn bis in die Wirtsstube, drückte ihn auf die Ofenbank neben dem Schank, holte rasch einen Krug Branntwein und zwei Gläser, schenkte ein und setzte sich dann zu ihm. Nickel erholte sich nur langsam von seiner Verblüffung, zu tief waren die Wunden. Zögerlich nippte er an dem Branntwein, in Gedanken bei dem Weib ›Hannes‹, dem er solche Gesellschaft nicht zumuten könnte, und so sah er sich bereits mit ihr, einem Mietpferd und der Lore Beutha weit hinter sich lassend. Zudem hatte er sich geschworen, sich niemals wieder mit dem ehemaligen Spießgesellen einzulassen.
Doch der scharfe Schnaps zeigte rasch seine Wirkung. Es dauerte nicht lange, und sämtlicher Hemmungen beraubt, begann sich seine Zunge zu lösen.
Er erzählte dem Studenten, der Christian Müller hieß und aus Stolpe stammte, wie übel es ihm ergangen sei, und berichtete von dem Brand, den er in seinem Hause gelegt hatte. Daraufhin raufte sich der Student das Haar, bezeugte unter kräftigem Fluchen, dass der Wachtmeister ein übler Verräter sei und schwor, jedem Hundsfott kräftig eins draufzuhauen, der dem Nickel jemals wieder Übel wollte.
Als Nickel mit seinem Anliegen rausrückte, nämlich, dass ihm zu Ohren gekommen war, die Wirtschaft wäre zu verkaufen, fing der Student lauthals an zu lachen, klopfte sich auf die Schenkel und wieherte: »Mensch, Nickel! Du hast die Weisheit wirklich nicht mit Löffeln gefressen, glaubst tatsächlich jeden Mist, den man dir auftischt. Eigentlich müsstest du mich doch kennen ... Ich und ein ehrlicher Hausbesitzer! Wie soll ich verkaufen, was mir gar nicht gehört?« Er hielt sich den Bauch vor Lachen, spie den Selbstgebrauten in hohem Bogen auf den Boden. Nachdem er sich beruhigt hatte, schaute er Nickel ernst in das Gesicht. »Wäre ich ein ehrlicher Mann, Nickel, säßest du jetzt längst im Gefängnis. Denk nur an den Ritt nach Mechelgrün. Weil ich es nicht bin, mache ich dir einen Vorschlag. Das hier soll einmal deine Wirtschaft gewesen sein, für dich natürlich ein Schock, dass ausgerechnet ich sie mir kurzzeitig ausgeborgt habe. Aber wir beide sind doch zwei rechte Spitzbuben. Werde mein Partner, Nickel. Du weißt, dass ich immer schon im Rossgeschäft zuhause war und dir bei dem Raub in Mechelgrün wohl auf die geschickten Finger gesehen habe. Die Wirtschaft hier ist der beste Ausgangspunkt für ein sicheres Gewerbe. Außerdem bedenke, dass die Leute ihre Münzen in ihren Häusern aufbewahren, die wir unter der Tarnung des Rosshandels nur zu holen brauchen. Einem biederen Schankwirt wird niemand so schnell etwas unterstellen. Viel zu lange schon habe ich nach einem wie dir gesucht, Nickel.«
Nickels Kopf wurde immer schwerer vom Alkohol, sodass er nicht merkte, wie Christian ihm Honig ums Maul schmierte. Er vergaß, was er ihm einst angetan hatte, und antwortete mit einem grimmigen Lachen: »Auf unsere alte Freundschaft, Kamerad.«
Sie besiegelten die neu geschlossene Partnerschaft mit einem Handschlag. Und da Nickel an der Wirtschaft gelegen war, öffnete er umständlich den Quersack, zog den Beutel mit den restlichen Talern aus dem gemeinsamen Raub hervor und drückte ihn schweren Herzens dem Studenten die Hand.
Christian lachte in sich hinein, machte eine abwehrende Geste, als wäre das nicht nötig, und ließ das Geld rasch in seinem Hemd verschwinden. Dann tranken sie auf gute Bruderschaft die Gläser leer, ihnen folgten noch viele andere, bis sie derer nicht mehr zählen konnten. Nach der durchzechten Nacht tastete Nickel sich am frühen Morgen zu Anna in das Stroh, rüttelte die Schlafende und lallte mit schwerer Zunge: »Auf, Hannes, sattle die Lore, Fortuna ist uns gnädig gesinnt. Wir sind jetzt Hausbesitzer und unsere Zukunft ist der Pferdehandel.«
Wenige Stunden später zogen sie zu dem Studenten in die Schänke und stellten ihre Pferde in den Stall. Während Nickel, noch benommen vom Branntwein, die Stufen hinauf in sein Bett torkelte, um sich erst einmal auszuschlafen, saß Anna in der Wirtsstube in einer versteckten Ecke und beobachtete mit wachen Augen ihre Umgebung. Schon auf dem Weg zur Schänke war ihr klar geworden, dass es sich hierbei um keines der üblichen Wirtshäuser handelte. Gelegen in einem unzugänglichen Waldgebiet, mit einem Hof, durch den eine ausgefahrene Landstraße führte, war es nicht unbedingt der ideale Ort für eine Abenteuerin, die von einem reichen, sorglosen Leben träumte. Das Wirtshaus mit seiner efeubewachsenen Vorderfront, den schweren, in die Steinmauern eingeschlagenen Eisenringen und den bis zum Erdgeschoss herabreichenden Schieferwänden war beeindruckend.
Drinnen, in dem von mächtigen Holzbalken getragenen Gastraum fand sie schnell heraus, was das tatsächlich für ein Pferdehandel war, von dem Nickel gesprochen hatte. Solange es hell war, spannten hier Fuhrleute aus, die ihren Pferden nach dem Ritt über den morastigen Waldweg eine kurze Verschnaufpause und sich einen frischen Trunk gönnten. Bei den wenigen vornehmen Herrn, die sich auf der Durchreise befanden und hier einkehrten, schlug ihr Herz sofort höher. Doch mit der einbrechenden Dunkelheit hielt sie es für ratsamer, in ihrer Nische zu verharren. Denn dann füllte sich die Schänke immer mehr mit sonderbaren Gesellen. Gesindel, dem man auf einen Büchsenschuss anmerkte, dass es Dreck am Stecken hatte. Galgenvogelgesichter, denen sie in der Stadt noch nie begegnet war, weil sie die großen Heerstraßen scheuten. Sie kamen als Händler getarnt, viele mit verdeckten Wagen, die sie auf dem Hof stehen ließen, und andere mit auffällig großen Koffern im Gepäck. Hinter vorgehaltener Hand fielen Namen wie Pollack, Rotkopf oder Kleiner David.
Die Zeit verging, und es erschienen drei besonders auffällige Gestalten. Der eine, der Kessel-Peter, schien der Anführer zu sein. Beim Anblick der beiden anderen, Hahntoffel und Hirtentoffel, der eine mit stoppligem, rot glänzendem Schädel, auffällig abstehenden Ohren und der zweite, verwachsen, mit spindeldürren gebogenen Beinen, verschluckte sich Anna vor Heiterkeit fast am Wein. Anders erging es ihr mit dem Studenten. Denn solange Nickel noch im Obergeschoss schnarchte, hielt er sich an sie, was ihr äußerst unangenehm war. Neugierig geworden über ihr seltsames Aussehen und ihre selbstauferlegte Zurückgezogenheit, versuchte er, ähnlich wie er es bei Nickel getan hatte, ihre Zunge mit Branntwein zu lösen. Es schien ihm egal zu sein, dass sie sich vor dem Getränk ebenso ekelte wie vor seiner aufdringlichen und etwas widersprüchlichen Art. Zudem war seine linke Hand verkrüppelt und auf dem breiten Gesicht unter dem kurz geschorenen Haar spiegelten sich die Laster seines Lebens. Er war so hässlich, dass Anna glaubte, einem auferstandenen Toten in das verwesende Antlitz zu sehen. Bis in die Nacht hinein redete der Student von Diebereien, Mordanschlägen, liederlichen Weibern und schrecklichen Torturen, die er überlebt hätte und brüstete sich immer wieder von Neuem damit. Irgendwann war sie es leid und sie verspürte nur mehr den einen Wunsch, seine Gesellschaft so schnell wie möglich zu verlassen. Soll Nickel doch hier glücklich werden, dachte sie. Ich werde lieber gleich nach Hamburg aufbrechen.
Ärgerlich stieg sie die Stufen zu Nickels Kammer hinauf, trat entschlossen an sein Bett und rüttelte ihn: »Wach endlich auf, Nickel. Habe lange genug zwischen diesen windigen Gesellen in der Wirtsstube darauf gewartet, dass du herunterkommst. Nun habe ich es mir anders überlegt, ich werde das Pferd satteln und verschwinden. Vorher aber wirst du mir noch das verloren gegangene Gepäck bezahlen.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, zog sie ihm den Säbel aus den Händen, den er wie ein Weib an seine Brust gedrückt hielt, und kitzelte ihn mit dessen Spitze unter dem Kinn.
Das reichte aus, um Nickel aus seinen Träumen zu reißen. Erschrocken fuhr er hoch, blieb dann, im offenen Hemd, auf der Bettkante sitzen, fuhr sich mit der Hand durch das zerwühlte Haar und stierte sie an, als hätten ihn sämtliche Erinnerungen verlassen. Doch schnell hatte er sich erholt. Vielleicht half der Anblick der Stichwaffe in ihrer Hand ein wenig nach, die er jetzt mit dem Handrücken zur Seite schob, während er sie verwundert fragte: »Was soll das, Weib Hannes? Du hast dich bereit erklärt, mir als mein Knecht zu folgen. Als Hausbesitzer ist es mir erlaubt, mich in meinem Haus auszuschlafen. Du solltest es mir gleichtun. Auf uns warten große Dinge.«
»So ein einfältiger Tor ist mir noch nicht begegnet«, fauchte sie ärgerlich über so viel männlichen Unverstand. »Kauft sein Eigentum einem Dieb ab. Wenn die Schänke einmal dein war, hat der Hurensohn da unten sie sich hinterlistig angeeignet und du fällst auch noch darauf herein. Er macht dich zu einem Gefangenen in deinem eigenen Haus und das ist nichts für mich. Ich ziehe die Freiheit vor.«
Wütend über sich selbst, weil sie dem Tor vertrauensvoll gefolgt war und nun wertvolle Zeit verloren hatte, hob sie den Quersack, von dem sie annahm, dass er ausreichend Talern enthielt, vom Boden auf und dachte bei sich: Er ist viel zu betrunken, um mich zurückzuhalten. Mit rauer Stimme sagte sie, während sie langsam rückwärts zur Tür ging: »Den Sack nehme ich als Entschädigung mit. Ich denke, es wird für mich reichen.« Sie wollte sich umdrehen und einfach hinausgehen. Der Mann bedeutete ihr nichts. Er würde ihr nie das geben können, was sie suchte. Zudem gefiel ihr die Gesellschaft nicht, in der er beabsichtigte, zu verkehren. Dennoch zögerte sie. Die schwere Klinke bereits in der Hand, hielt sie inne.
Es muss wohl der Blick seiner schwarzen Augen gewesen sein, diese Mischung aus grenzenlosem Staunen und stummer Bitte, der sie davon abhielt, weiterzugehen. Die Erkenntnis, dass gerade das Letzte, was ihm noch geblieben war, der Rest seiner Beute aus dem Türkenkrieg, auf Nimmerwiedersehen durch diese Tür ging, bewirkte, dass Nickel sich nun wie ein Mann aufrichtete. Nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte, änderte er sein Verhalten. Er sah ihr scharf in die Augen und versuchte ihre Gedanken hinter der Maske zu lesen. Hart lachte er auf und sagte mit beißendem Spott in der Stimme: »Eigentlich habe ich es nicht besser verdient. Mein Pech ist wohl meine Gutgläubigkeit und der Branntwein. Die Welt ist schlimm und voll von Ungerechtigkeiten, Anna«, zum ersten Mal nannte er sie bei ihrem richtigen Namen, »und wenn einer wie ich glaubt, dass sie sich ändert und rein wird, ist er wohl ein Narr. Sieh, ich war jahrelang ein ehrlicher Soldat, fragte nicht nach Geld und tat meinen Dienst als herzoglicher Reiter. In drei Dutzend Schlachten habe ich dem Feind ins Auge gesehen, ohne jemals Angst zu verspüren, bis der Teufel in Gestalt der Magdalena mit all den dunklen Gesellen in mein Leben trat. Ich habe es geduldet, dass sie mit den Dukaten ebenso klimperten wie die ehrlichen Leute mit ihren Groschen, konnte aber nicht verhindern, diesem teuflischen Einfluss selbst zu erliegen. Ich weiß, dass ich ein Träumer bin und mich nicht genug gegen die Heuchelei eines Weibes und die falschen Versprechungen fremder Gesellen wehren kann. Deshalb hat es der Wachtmeister auch geschafft, mich um meinen Anteil zu betrügen. Irgendwie verstehe ich dich, wenn du mich jetzt bestiehlst. Ist es doch ein schönes Gefühl, immer genügend Geld im Säckel zu haben, auch wenn man dabei seine eigene Seele verkauft. Im Grunde genommen ist mir der Sack nicht so wichtig, aber ich würde dich auf der Stelle töten, hättest du es gewagt, Hand an meine Bücher zu legen. Denn sie sind mein eigentlicher Schatz.«
Sie sah, wie sein Blick mit einer seltsamen Verträumtheit zu den auf dem Bett verstreut liegenden Büchern wanderte und wie er über die Umschläge aus Ziegenleder strich, so sanft, als streichle er eine Geliebte.
Sie hatte seinen Worten ohne Erwiderung zugehört. Nun ließ sie überrascht den Sack sinken. »Du kannst lesen, Nickel?«, fragte sie und kam neugierig zurück. Bisher war sie der Überzeugung gewesen, dass nur die besseren Leute lesen konnten, so wie ihr Ehemann. Sie streckte die Hand nach einem Buch mit goldbestresstem Einband aus, das auf dem Tisch lag.
Doch Nickel war schneller. »Nicht anfassen!«, warnte er und schob sich zwischen sie und das Buch, das sie umso mehr anzog, weil sein Inhalt mit einem kleinen Schloss am Ledereinband verschlossen war. »Das sind die Schriften des großen Theophrastus Paracelsus und viel zu wertvoll für deine klebrigen Finger. Merke dir, sie sind tabu für dich und jeden, der danach trachtet, sie ohne meine Einwilligung zu berühren. Ich würde ihn an den Füßen aufhängen und ihm Ohren und Nase abschneiden.«
In seinen schwarzen Augen loderte ein solches Feuer, dass sie fast ein wenig belustigt dachte: Sieh an, der Nickel, was für ein Mann er sein kann. Wie viele verborgene Seiten gibt es wohl noch an ihm zu entdecken? Dass sie ihn bis vor wenigen Augenblicken verlassen wollte, hatte sie vergessen. In ihrem Blick lag jetzt ehrliche Bewunderung und sie fragte ihn, beinahe ehrfürchtig: »Dann bist du wohl so etwas wie ein Gelehrter oder ein Doktor?«
Zur Antwort lächelte er. Ihr erwachtes Interesse schmeichelte ihm. Schnell zog er sich an und nahm vorsichtig eines der Bücher in die Hand. So behutsam, als hielte er ein rohes Ei zwischen den Fingern. Er begann, langsam in den vergilbten Seiten zu blättern. Als er sah, wie gespannt sie jede seiner Bewegungen beobachtete, setzte er sich mit dem Buch auf die Bettkante. »Komm her zu mir!«, sagte er und griff nach ihrer Hand. Während sie sich zögernd neben ihm niederließ, steckte er wieder die Nase in die Seiten und erklärte ihr die seltsamen Abbildungen und Schriften. Wie die meisten Mannsbilder prahlte er ein wenig mit seinem Wissen und versuchte sie zu beeindrucken. Dabei tauchte er immer mehr in eine Welt ein, die ihr fremdartig vorkam, sie mal gefangen nahm und mal langweilte, weil sie so wenig davon verstand, ohne sich jedoch wegen ihrer Unwissenheit zu schämen.
»Die Armut meiner Eltern verwehrte mir das Studium an einer Akademie«, erzählte er ihr, während er weiterblätterte und sie auf die heilende Wirkung dieser und jener Giftpflanze hinwies. »Aber ich habe nicht aufgegeben, mich mit der ›Arznei-Kunst‹ beschäftigt und mich im Kurieren von Krankheiten geübt. Bald betrieb ich meine geheime Kunst wie ein anderer die Jagd und den Fischfang. Ich sammelte Kräuter und braute Getränke, mit denen ich im Feldzug die Wunden von so manchem Gesellen heilte. Sieh hier, Anna ... « Er legte ihr den schweren Band auf die Knie. »Die Schriften des Paracelsus habe ich aus dem großen Krieg mitgebracht, mein Hauptmann hat sie mir aus Dankbarkeit für seine Genesung während der Belagerung von Budapest geschenkt. Später, wenn die Magdalena mir zu sehr zusetzte, habe ich mich mit dem Buch in meine Kammer zurückgezogen und, um mich abzulenken, Wurzeln wie die des Löwenzahns und der Minze zu Staub verrieben und den so entstandenen Blutwurz so lange gekocht, bis blauer Dampf aufstieg. Kam dabei zufällig ein Nachbar die Stiege heraufgepoltert, um mir über die Schulter zu schauen, rümpfte er zwar erst die Nase, doch war er dann krank und mein Trank verhalf ihm zur Genesung, machte es mich stolz, wenn er mich wie ein gelehrter Professor von der Akademie weiterempfahl. Stell dir vor, Anna, ich war ihr Doktor, ohne studiert zu haben.«
Er machte eine Pause, holte tief Luft und wartete, den Blick erwartungsvoll auf ihre Lippen gerichtet. Anna hatte ihm aufmerksam zugehört. Doch Wissen allein macht bekanntlich nicht reich und so war sie, nachdem er geendet hatte, mit ihren Gedanken rasch wieder bei den Dingen der Gegenwart. Sie nahm das Buch von ihren Knien, seufzte, als wollte sie sagen: ›Das ist alles gut und schön, aber es glänzt nicht‹ und drückte es ihm in die Hände. Dann sprang sie auf, lief zurück zur Tür und lauschte in den Flur hinaus. »Was ist das für ein Geschäft mit dem Pferdehandel?«, fragte sie, durch das Schlüsselloch spähend.