Die globale Wirtschaftselite - Michael Hartmann - E-Book

Die globale Wirtschaftselite E-Book

Michael Hartmann

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Beschreibung

Die globale Wirtschaftselite gibt es nicht Die internationale Superelite, die die Fäden zieht und von den Großkonzernen aus die Welt regiert, gibt es nicht. Michael Hartmann entzaubert einen Mythos: Der Elitenforscher hat sich die 1000 größten Unternehmen der Welt über 20 Jahre hinweg angesehen, ebenso wie die weltweit 1000 reichsten Personen. Das Ergebnis: Wirtschaftseliten rekrutieren sich eher national, der globale Markt für Topmanager ist eine Legende. Stattdessen leben wir in einer zunehmend multipolaren Welt, in der die Interessen der Länder und Regionen auseinanderfallen. So ist China in puncto Internationalität das Schlusslicht, die Schweiz ein Vorreiter. Hartmann zeigt, dass die Sprache, kulturelle Traditionen, Ausbildungswege und nicht zuletzt die Steuerpolitik für diese Entwicklung verantwortlich sind.

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Michael Hartmann

DIE GLOBALE WIRTSCHAFTSELITE

Eine Legende

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die globale Wirtschaftselite gibt es nicht

Die internationale Superelite, die die Fäden zieht und von den Großkonzernen aus die Welt regiert, gibt es nicht. Michael Hartmann entzaubert einen Mythos: Der Elitenforscher hat sich die 1000 größten Unternehmen der Welt über 20 Jahre hinweg angesehen, ebenso wie die weltweit 1000 reichsten Personen. Das Ergebnis: Wirtschaftseliten rekrutieren sich eher national, der globale Markt für Topmanager ist eine Legende. Stattdessen leben wir in einer zunehmend multipolaren Welt, in der die Interessen der Länder und Regionen auseinanderfallen. So ist China in puncto Internationalität das Schlusslicht, die Schweiz ein Vorreiter. Hartmann zeigt, dass die Sprache, kulturelle Traditionen, Ausbildungswege und nicht zuletzt die Steuerpolitik für diese Entwicklung verantwortlich sind.

Vita

Michael Hartmann war Professor für Soziologie an der TU Darmstadt. Sein Schwerpunkt ist Elitenforschung. Von ihm sind zahlreiche Bücher erschienen, darunter »Der Mythos von den Leistungseliten«, »Eliten und Macht in Europa« und »Soziale Ungleichheit. Kein Thema für die Eliten?«.

INHALT

1.EINLEITUNG

1.1.Die globale oder transnationale Elite, sozialwissenschaftlich gesehen

1.2.Forschungsfeld und -methode

2.DIE CEO DER WELTWEIT GRÖSSTEN UNTERNEHMEN – INTER- UND TRANSNATIONALITÄT

2.1.Die CEO der 1 000 größten Unternehmen nach der Forbes Global 2000 Liste

2.1.1.Internationalität

Industrialisierungstradition, Bevölkerungsstärke und Bedeutung des Finanzsektors – mögliche Erklärungsansätze

Scheinbare Internationalität von Unternehmen und CEO

Wesentlicher Faktor für die Internationalisierung des Topmanagements: die Sprache

2.1.2.Transnationalität

2.1.3.Internationalität und/oder Transnationalität

2.2.Die CEO der hundert größten Unternehmen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den USA, China und Japan im Zeitverlauf

2.2.1.Die CEO der Top 100 im Vergleich mit denen auf der Forbes Liste

2.2.2.Die CEO der hundert größten Unternehmen zwischen 1995 und 2015

3.DIE VORSITZENDEN UND MITGLIEDER DER AUFSICHTSRÄTE UND BOARDS

3.1.Die Aufsichtsratsvorsitzenden und Chairman

3.2.Die Mitglieder der Aufsichtsräte, Vorstände und Boards

3.2.1.Die binationalen Unternehmen und die ausländischen Board Members

3.2.2.Die Vorstandsmitglieder der hundert größten deutschen Unternehmen

3.3.Die Entwicklung zwischen 2005 und 2015

3.4.Die Internationalität der Boards – Skepsis ist angesagt

4.DIE TAUSEND REICHSTEN MENSCHEN DER WELT

4.1.Die Wohnorte der Milliardäre

4.2.Die Steuerparadiese Schweiz, Großbritannien und Monaco

4.2.1.Ausländische Milliardäre in der Schweiz

4.2.2.Ausländische Milliardäre in Großbritannien und Monaco

4.3.Steuervergünstigungen, Unternehmensnähe und sprachliche wie kulturelle Verwandtschaft

4.4.Auslandswohnsitz und Alter der Milliardäre

4.5.Milliardäre – ortsgebundene Firmeninhaber oder nicht ortsgebundene Rentiers?

4.6.Verbindungen zu staatlichen Institutionen – ein wesentlicher Faktor

4.7.Internationalität – eher rar gesät

5.BERÜHMTE BUSINESS SCHOOLS UND ELITEHOCHSCHULEN – BRUTSTÄTTEN EINER GLOBALEN ELITE?

5.1.Die Bedeutung der renommierten Business Schools

5.2.Elitehochschulen – Bildungsstätten der Milliardäre

5.3.Die Rolle der nationalen Elitehochschulen für die Karrieren der CEO

5.4.Der Einfluss der Elitehochschulen auf die Internationalisierung des Topmanagements

5.5.Elitehochschulen – ein Hindernis für die Internationalisierung

6.DIE GLOBALE WIRTSCHAFTSELITE – AUCH AM HORIZONT NICHT ZU SEHEN

6.1.Topmanager und Milliardäre – die empirischen Ergebnisse

Am stärksten internationalisiert – die Mitglieder der Boards

Die CEO – große Unterschiede zwischen den Ländern

Die Milliardäre – überwiegend heimatverbunden

Die berühmten Business Schools und Elitehochschulen – keine Brutstätten einer globalen Elite

Keine globale Elite – aber unterschiedliche regionale Entwicklungstendenzen

6.2.Das »Ende der Geschichte« und die globale Elite

ANMERKUNGEN

1.Einleitung

2.Die CEO der weltweit größten Unternehmen – Inter- und Transnationalität

3.Die Vorsitzenden und Mitglieder der Aufsichtsräte und Boards

4.Die tausend reichsten Menschen der Welt

5.Berühmte Business Schools und Elitehochschulen – Brutstätten einer globalen Elite?

6.Die globale Wirtschaftselite – auch am Horizont nicht zu sehen

LITERATUR

1.EINLEITUNG

Im Juni 2015 wurde der Brite John Cryan, als dritter Ausländer in Folge, zum Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank berufen. Seine Vorgänger waren der Schweizer Josef Ackermann, der von 2002 bis 2012 amtierte, dann der indisch-stämmige Brite Anshu Jain. Zwar stand Cryan, wie zuvor Jain, der Deutsche Jürgen Fitschen bis Mai 2016 als zweiter Vorsitzender zur Seite, die eigentliche Entscheidungsmacht lag jedoch schon bei ihm. Dass dieser Konzern, der über lange Jahrzehnte wie kaum ein anderes deutsches Unternehmen als fest in deutschen Traditionen verankert galt, seit über einem Jahrzehnt von Ausländern geleitet wird – das ist für viele Beobachter ein klarer Beleg für die unaufhaltsame und schon weit fortgeschrittene Globalisierung der Wirtschaftselite. Untermauert wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass aktuell weitere fünf DAX-Konzerne, nämlich Adidas, Fresenius Medical Care, Henkel, RWE und SAP, von Ausländern geführt werden, zwei US-Amerikanern, einem Belgier, einem Dänen und einem Niederländer.

Die große Zahl an reichen Deutschen, die aus steuerlichen Gründen die Schweiz als ihren Wohnsitz gewählt haben, deutet in dieselbe Richtung. Von den 300 im Jahr 2015 in der Schweiz wohnenden reichsten Personen ist nach Angaben des Schweizer Wirtschaftsmagazins Bilanz immerhin fast jede fünfte Deutscher. Dem breiten Publikum bekannt sein dürften vor allem die Formel 1-Rennfahrer Michael Schumacher und Sebastian Vettel. Sie rangieren mit einem Vermögen von 750 Millionen (Schumacher) bzw. 125 Millionen Schweizer Franken (Vettel) unter den 300 reichsten Deutschen in der Schweiz allerdings nur auf einem mittleren Platz bzw. sogar in der Schlussgruppe. Allein 26 dieser Deutschen verfügen dagegen über mehr als eine Milliarde Euro Vermögen. An der Spitze liegen laut Bilanz die Familie Liebherr und Klaus Michael Kühne mit acht bis neun Milliarden Franken. Unter den weiteren in der Schweiz residierenden Milliardären finden sich ebenfalls viele bekannte Namen, von den Familien Jacobs, Engelhorn und von Finck über Theo Müller und Bettina Würth bis hin zu Georg von Opel und Rolf Gerling. Der Soziologe Ulrich Beck hat es so formuliert: Die reichen Eliten praktizieren eine »Polygamie des Ortes«, weil sie über das erforderliche ökonomische und kulturelle Kapital verfügen, »um den optimalen Kontext für deren Verwertung selbst zu wählen«. Damit scheint er den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben (Beck 2008: 316).

Die bekannte Wirtschaftsjournalistin und frühere stellvertretende Chefredakteurin der Financial Times, Chrystia Freeland, spricht in ihrem 2012 in den USA erschienenen, 2013 auf Deutsch veröffentlichten und hier wie jenseits des Atlantik medial viel beachteten Buch Die Superreichen denn auch durchgehend von einer globalen oder internationalen Superelite. Diese Menschen teilen laut Freeland die gleichen oder zumindest ähnliche Interessen, Konsumgewohnheiten und Lebensstile, sie gehen auf die gleichen Ausbildungsinstitutionen und sie betrachten sich in erster Linie als Weltbürger. Freeland illustriert diese These mit zahlreichen Beispielen wie etwa dem von Lakshmi Mittal. Mittal ist einer der reichsten Inder, errang seine ersten beruflichen Erfolge in Indonesien, lebt seit Jahren in London und ist Haupteigner und CEO des juristisch in Luxemburg angesiedelten Stahlkonzerns ArcelorMittal.1 Solche sehr plastischen und auf den ersten Blick auch überzeugenden Einzelbeispiele und -eindrücke prägen große Teile ihres Buchs.

An die Stelle von einzelnen Beispielen und Eindrücken eine systematische Analyse der weltweit einflussreichsten Topmanager und Milliardäre zu setzen, ist das Ziel des vorliegenden Buchs. Anhand von mehreren tausend Spitzenmanagern und über tausend Milliardären soll geklärt werden, wie global, international oder transnational diese Menschen wirklich sind. Transnationalität stellt dabei die niedrigste Stufe dar. Sie gibt an, in welchem Umfang die Personen über Auslandserfahrungen in Studium oder Beruf verfügen, in fremde Kulturen zumindest in einem gewissen Maße haben eintauchen müssen. Internationalität steht demgegenüber für den Prozentsatz ausländischer Topmanager an der Spitze der führenden Unternehmen und die im Ausland gelegenen Wohnorte der Milliardäre, sagt aber noch nichts über die jeweilige regionale Reichweite aus. Diese kann auch auf einen beschränkten Raum wie etwa Deutschland, Österreich und die Schweiz begrenzt sein. Globalität schließlich repräsentiert die maximale Variante. Sie bezieht sich immer auf die ganze Welt oder zumindest alle wesentlichen Teile derselben. Spitzenmanager müssen in diesem Fall auch über die Grenzen sprachlich, kulturell und/oder räumlich benachbarter Länder hinaus dauerhaft Toppositionen besetzen und Milliardäre ihre Wohnsitze ohne Rücksicht auf Sprache, Kultur und/oder räumliche Nähe weltweit wählen.

In den folgenden Kapiteln werden nach einem knappen Überblick über den Stand der Diskussion und das eigene methodische Vorgehen alle entscheidenden Teilgruppen der Wirtschaftselite analysiert. Zunächst werden die CEO der tausend größten Unternehmen der Welt unter die Lupe genommen sowie in einem zeitlichen Vergleich über zwei Jahrzehnte die CEO der hundert größten Unternehmen der sechs führenden Wirtschaftsmächte, von Deutschland über die USA bis China. Die Analyse erstreckt sich sowohl auf die Inter- als auch auf die Transnationalität dieser Personen. Anschließend wird ein Blick auf die Boards bzw. Aufsichtsräte dieser Unternehmen geworfen, speziell auf ihre Vorsitzenden, auch hier wieder mit einem Zeitvergleich über die letzten zwanzig Jahre. Danach geht es um die tausend reichsten Menschen der Welt, ihre Wohnsitze, ihre Steuervermeidungsstrategien und ihre geschäftlichen Aktivitäten. Das fünfte Kapitel befasst sich mit den exklusiven Ausbildungseinrichtungen dieser Welt, den berühmten Business Schools und den Elitehochschulen wie Harvard oder Oxford, und geht der Frage nach, ob sie wirklich, wie vielfach behauptet, die Brutstätten einer globalen Wirtschaftselite darstellen.

Im abschließenden Fazit geht es nach einer knappen Zusammenfassung der wesentlichen Forschungsergebnisse dann noch um zwei Punkte. Zum einen wird die Bedeutung von zwei anderen Formen der Internationalisierung untersucht: der zeitweiligen Tätigkeit bei den weltweit führenden Beratungsunternehmen wie McKinsey oder Boston Consulting und den familiären Verbindungen durch grenzüberschreitende Heiraten. Zum anderen wird auf die politischen Konsequenzen hingewiesen, die die Analyseresultate beinhalten. Das betrifft in erster Linie den Einfluss der größeren Nationalstaaten in der Steuerpolitik. Da das Buch wie auch seine Vorgänger wieder eine Gratwanderung darstellt zwischen dem Anspruch auf Verständlichkeit für ein möglichst breites Publikum und dem Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit, sei dem nicht so stark am Detail interessierten Leser empfohlen, zunächst die Kapitel 1.1, 6 und 4 zu lesen.

1.1.Die globale oder transnationale Elite, sozialwissenschaftlich gesehen

Die zahlreichsten und zugleich entschiedensten Verfechter der These von der globalen Wirtschaftselite kommen erstaunlicherweise, sieht man von den besonders kruden Verschwörungstheoretikern in ihren Blogs und auf ihren Websites ab, von zwei entgegengesetzten Polen des gesellschaftspolitischen Spektrums. Auf der einen Seite sind das die Spitzenmanager selbst. Sie führen als Begründung für ihre extrem hohen und in den letzten zwei Jahrzehnten sehr schnell gestiegenen Einkommen immer wieder das Argument der weltweiten Konkurrenz auf dem globalen Markt für Topführungskräfte an. Typisch für diese Position ist eine Äußerung des langjährigen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank und späteren Verwaltungsratspräsidenten der Zurich Insurance Group und der Bank of Cyprus, Josef Ackermann. Bei einer Podiumsdiskussion an der European School of Management and Technology (ESMT) sagte er vor einigen Jahren zur Frage der hohen Boni: »Wenn wir keine Boni zahlen, werden die guten Leute abgeworben. Ich weiß nicht, wie viele Leute ein internationales Unternehmen leiten können. Lassen Sie es zehn bis zwanzig Leute weltweit sein – dann zahlst du lieber den Preis« (Financial Times Deutschland, 2.7.2009). Solche sehr prägnanten Äußerungen sind in letzter Zeit allerdings nur noch selten zu hören. Das hat einen wesentlichen Grund. Die mediale Öffentlichkeit hat sich mittlerweile an die enormen Einkommen der Topmanager gewöhnt. Sie geraten allenfalls noch dann ins Kreuzfeuer, wenn neue Höchststände markiert werden, wie etwa beim VW-Chef Martin Winterkorn mit seinen über 17 Millionen Euro im Jahr 2012. Der früher als Rechtfertigung regelmäßig vorgebrachte Hinweis auf die internationale Konkurrenz um diese Personen hat damit an Relevanz verloren.

Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Vertreter der Occupy-Bewegung, denen die einfache statistische Gegenüberstellung des reichsten einen und der restlichen 99 Prozent nicht mehr ausreicht. In ihren Stellungnahmen und Analysen gehen sie wie selbstverständlich von einer »globalen Elite« oder »Capital Class« aus. So benutzt Adam Marshall für den Titel seines Ende Oktober 2015 auf Occupy.com veröffentlichten Artikels über das Treffen des Internationalen Währungsfonds in Peru beispielweise den Begriff »globale Plutokratie«. Im Artikel selbst spricht er außerdem von der »globalen Finanzelite«, um die aus seiner Sicht entscheidenden Kräfte, die »Auftraggeber« der in Peru tagenden Zentralbankchefs und Finanzminister, zu charakterisieren. Das sind für ihn die »bankers«, die »top investors« und die »money managers« (Marshall 2015). Mit ihnen träfen sich die Zentralbankchefs und Finanzminister der wichtigsten Staaten in informellen Zusammenkünften und sie seien es auch, die die »officials« nach deren Ausscheiden aus dem Amt mit lukrativen Posten in der Finanzwirtschaft versorgten: Das sei der Kern der »global economic governance«.

So wie für Marshall das Treffen des Internationalen Währungsfonds der Anlass ist, über die globale Finanzelite zu schreiben, so sind es für andere die jährlichen Treffen der geheimnisumwitterten Bilderberger oder das Weltwirtschaftsforum in Davos. Gerade die Bilderberg-Konferenzen mit ihren vielen prominenten Teilnehmern liefern für eine Reihe von kritischen Beobachtern immer wieder den Beleg für die Existenz einer globalen Wirtschaftselite oder generell einer globalen Elite.2 Der aktuelle Vorsitzende ist immerhin Henri de Castries, der Chef der größten französischen Versicherung AXA, und unter den regelmäßigen Teilnehmern finden sich neben Veteranen wie Henry Kissinger oder Robert Zoellick, dem früheren Präsidenten der Weltbank, auch aktive Topmanager wie Eric Schmidt, der Chairman von Alphabet und zuvor Google, Klaus Kleinfeld, der CEO von Alcoa und frühere Vorstandsvorsitzende von Siemens, Thomas Enders, der CEO der Airbus Group, oder Matthias Döpfner, der Vorstandschef von Springer. Auch für nicht zu simplen Verschwörungstheorien neigende Sympathisanten von Occupy oder ähnlichen Bewegungen bietet eine derartige Konzentration an Top-Entscheidern Anlass, über die Existenz einer globalen Elite nachzudenken.

In der sozialwissenschaftlichen Debatte liegen die Pole nicht so weit auseinander, die Grundkonstellation ist aber dieselbe. Auf der einen Seite stehen Autoren, die das kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem grundsätzlich befürworten und/oder es trotz aller Kritik für alternativlos halten. Dazu zählen renommierte Vertreter der Soziologie wie Rosabeth Moss Kanther, die langjährige Präsidentin der Harvard Business School, Manuel Castells, Ralph Dahrendorf und Ulrich Beck, aber auch bekannte Journalisten wie die erwähnte Chrystia Freeland oder David Rothkopf. Während die erstgenannten das Aufkommen einer globalen Elite eher nüchtern konstatierten und kommentierten, ohne in ihren Ausführungen analytisch allerdings in die Tiefe zu gehen (Beck 2008; Castells 1996; Dahrendorf 2000; Kanter 1995), steht bei letzteren die Kritik an den »Auswüchsen« der letzten Jahre im Vordergrund. Sie sehen darin die Gefahr einer allmählichen Selbstzerstörung des Kapitalismus und sie machen die globale Elite für diese Entwicklung verantwortlich. Deshalb plädieren sie in ihren Büchern an eben diese Elite, ihr Handeln und die darin liegenden Gefahren für das ganze System zu überdenken und entsprechend umzusteuern.

Bei Freeland (2013) ist dies noch deutlicher als bei Rothkopf (2008). Sie zieht explizit eine Parallele zur alten Venezianischen Republik und deren Elite, die wegen ihres großen Erfolgs die Grundlagen eben dieses Erfolgs unterminiert und so den Untergang der Republik eingeleitet hätte. Dasselbe drohe uns heute, so ihre Kernaussage: Die Globalisierung und die seit dem Untergang des sozialistischen Lagers fehlende »Angst vor einer kommunistischen Revolution« habe die heutige Wirtschaftselite oder »Plutokratie« nicht nur ökonomisch viel unabhängiger vom Lebensstandard der breiten Mittelschichten gemacht, sondern auch dafür gesorgt, dass sie immer stärker »in ihrer eigenen umzäunten globalen Gemeinschaft« lebe, abgesondert vom Rest der Bevölkerung. Am Ende steht ein an das Schicksal der Venezianischen Republik erinnerndes Resümee: »Eliten sabotieren das System, das sie hervorgebracht hat, nicht absichtlich. Aber selbst kluge, weitsichtige Plutokraten können sich von ihren eigenen kurzfristigen Eigeninteressen verleiten lassen, die Grundlagen des Wohlstands ihrer eigenen Gesellschaft zu untergraben.« (Freeland 2013: 319)

Die andere Position wird in erster Linie repräsentiert von sich selbst als marxistisch begreifenden Sozialwissenschaftlern wie Harris (2014), Robinson (2004, 2011), Robinson/Harris (2000), Staples (2006, 2008, 2012), van der Pijl (1994, 1998) oder Sklair (2001). Sie beschwören in ihren Veröffentlichungen immer wieder die Existenz einer »Transnational Capitalist Class«. Die Argumentation bleibt dabei zumeist jedoch eher oberflächlich. In aller Regel werden wirtschaftliche Strukturveränderungen – wie die Deregulierung der Finanzmärkte, die Globalisierung von Produktion und Märkten etc. –, mit Klassenbildungsprozessen parallel gesetzt und diese Entwicklung mit einer unmittelbaren Personalisierung der Globalisierung verknüpft. Weil die über Nationalgrenzen hinweg reichenden wirtschaftlichen Verflechtungen auf allen Ebenen zunehmen, besonders bei den großen multinationalen Konzernen, und weil der Anteil dieser Konzerne am globalen Bruttosozialprodukt ebenso deutlich zugenommen hat wie der Anteil von internationalen Fonds am Aktienkapital eben jener Unternehmen, schließen sie daraus meist recht unmittelbar auf die Existenz einer transnationalen Elite oder Klasse. Diese wird dann anhand zahlreicher Beispiele von Einzelpersonen (von Multimilliardären oder ganz generell den Reichen bis hin zu führenden Managern oder Investmentbankern) wie auch einschlägiger Organisationen (vom European Roundtable of Industrialists bis zum Weltwirtschaftsforum in Davos) illustriert. Eine tiefer greifende Analyse der Prozesse realer Eliten- oder Klassenbildung erfolgt jedoch nicht.3

Diese Kritik trifft auch auf Leslie Sklair zu, der eine der theoretisch wie empirisch anspruchsvollsten und umfassendsten Arbeiten zur transnationalen Wirtschaftselite vorgelegt hat (Sklair 2001). Sklair wendet sich explizit gegen den für Klassenbestimmungen bisher dominanten Staatszentrismus. Eine Konzentration auf den Nationalstaat habe selbst die wenigen Arbeiten noch geprägt, die mit Begriffen wie »internationale Bourgeoisie« oder »internationale Wirtschaftselite« eine über die nationalen Grenzen hinaus gehende Definition einer herrschenden Klasse zu finden versucht hätten. Er selbst ist der Meinung, dass sich neben den weiterhin existierenden kapitalistischen Klassen der einzelnen Länder eine transnationale Kapitalistenklasse herausgebildet habe, die aus vier Hauptfraktionen bestehe. Die dominante Gruppe sei die aufgrund ihrer Kontrolle über die Produktionsmittel innerhalb der Gesamtklasse führende Wirtschaftsfraktion, zusammengesetzt aus den führenden Managern und Eigentümern der transnationalen Unternehmen. Die anderen drei Fraktionen der transnationalen Kapitalistenklasse würden von den global agierenden Bürokraten und Politikern, von den Professionals und von den Handels- und Medieneliten gestellt. Diese neue Klasse ist Sklair zufolge aus fünf entscheidenden Gründen transnational: Ihre wirtschaftlichen Interessen seien ebenso globaler Natur wie ihre ökonomischen und politischen Perspektiven. Sie suchten auf allen Ebenen Kontrolle herzustellen, und zwar durch spezifische Formen globaler Konkurrenz und globalen Konsums. Sie teilten gemeinsame oder ähnliche Lebensstile, besonders in der Art ihrer Hochschulausbildung und ihres Konsums, und sie präsentierten sich selbst als »Weltbürger«. Das Konzept einer transnationalen Kapitalistenklasse impliziere außerdem, dass es einen zentralen inneren Kreis gebe, der weltweite Entscheidungen treffe und dadurch den unterschiedlichen wirtschaftlichen Einzelinteressen, politischen Organisationen und ideologischen Formationen eine Einheit verleihe. Dieser innere Kreis werde in erster Linie aus den zugleich in mehreren Unternehmensleitungsgremien (Vorstände, Aufsichtsräte, Boards) tätigen Mitgliedern gebildet. Die Grundlage für ihr Handeln sei ein – trotz aller internen Konflikte – gemeinsames fundamentales Interesse der gesamten Klasse an der ungehinderten Akkumulation von Kapital (Sklair 2001: 16 ff.).

Sklair gelingt es allerdings nicht, diesen theoretischen Ansprüchen wirklich gerecht zu werden. In seinen weiteren Ausführungen schildert er zumeist am Beispiel von großen Konzernen deren ökonomisches Interesse an ungehindertem Kapitalverkehr und Handel, ihre Aktivitäten zur Durchsetzung derartiger Interessen, den Druck, den die Unternehmen mittels weltweiten Benchmarkings und ähnlicher Verfahren auf die Beschäftigten ausüben, und die Folgen für die Umwelt. Auf die agierenden Personen geht er dagegen kaum ein, und wenn doch, dann nur sehr knapp und anhand einiger weniger prominenter Einzelpersonen (Sklair 2001: 137f., 282 ff.). Was vollkommen fehlt, sind erstens eine auch nur halbwegs systematische Analyse dessen, was er die Präsentation als »Weltbürger« nennt, und zweitens, der weitaus wichtigere Punkt, eine wie auch immer geartete Beschäftigung mit dem, was er als gemeinsamen oder ähnlichen Lebensstil bezeichnet. Hier ist leider eine völlige Leerstelle zu verzeichnen.

Die wenigen empirisch sorgfältiger fundierten Arbeiten zur Transnational Capitalist Class stützen ihre Aussagen auf die Analyse der Board-Mitglieder in großen multinationalen Konzernen. So argumentiert Clifford L. Staples in seiner Analyse der 148 größten Unternehmen der Welt mit der stark angewachsenen Zahl an Boards, in denen mindestens ein Ausländer sitzt. Während 1993 nur in gut jedem dritten der 80 größten Konzerne mindestens ein Ausländer im Board vertreten gewesen wäre, sei das 2005 schon in drei von vier Unternehmen der Fall (Staples 2006: 314). Bei den 148 größten träfe dies immerhin noch auf knapp 70 Prozent zu. Das ist in der Tat eine beachtliche Zunahme. Für Staples resultiert sie im Wesentlichen aus der im gleichen Zeitraum stark gestiegenen Anzahl grenzüberschreitender Firmenfusionen. Sie führten fast zwangsläufig zu international gemischten Boards, die dann wieder weitere grenzüberschreitende Fusionen begünstigten und so eine dauerhafte Internationalisierung der Boards zur Folge hätten. Dieser Prozess beschränke sich derzeit allerdings überwiegend auf Europa. Deshalb sei es zwar grundsätzlich berechtigt, von der Entstehung einer »transnational business or capitalist class« zu sprechen, man solle dies aber mit Vorsicht tun; denn es gebe noch keine überzeugenden Belege dafür, dass diese Topmanager zu einer sozial geschlossenen, sich selbst reproduzierenden Elite geworden seien (Staples 2008: 45f.).

Die Vorsicht, zu der Staples mahnt, zeichnet auch William K. Carroll aus, der unter den Verfechtern der Transnational Business oder Capitalist Class bislang die empirisch sorgfältigsten und umfassendsten Analysen vorgelegt hat. Er hat die Verbindungen unter den Board-Mitgliedern der 500 größten Unternehmen der Welt in den Jahren 1996 und 2006 untersucht. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass man mit Recht von einer »global corporate elite« sprechen könne (Carroll 2009: 295 ff.; Carroll 2010: 34). Zwischen 1996 und 2006 habe sich das transnationale Netzwerk der Spitzenmanager intensiviert und nicht gelockert. Allerdings sei das Netzwerk der »transnationalists« noch kein wirklich globales, sondern im Kern ein regionales nordatlantisches, insofern es sich auf Nordamerika und Europa erstrecke, mit einem zunehmenden Gewicht der innereuropäischen Verbindungen. Dort allerdings sei es hoch integriert. Im Unterschied zu jenen Autoren, die mit Begriffen wie globale oder transnationale Elite relativ schnell bei der Hand sind, weist Carroll als sorgfältiger Empiriker jedoch auch auf die Grenzen seiner Analyse hin. Er betont ausdrücklich, dass Aussagen von einer national nicht mehr verwurzelten, sondern nur in einem transnationalen Raum agierenden Wirtschaftselite die Beharrlichkeit nationaler und regionaler Bindungen unterschätzten. Die nationalen Netzwerke bildeten immer noch das Rückgrat der »global corporate elite« und die Leitung der Konzerne und das Leben der »haute bourgeoisie« blieben in wichtigen Aspekten in nationale und regionale Strukturen und Kulturen eingebettet.4 Außerdem sei bei den großen multinational tätigen Konzernen eine zunehmende Spaltung in zwei Gruppen zu verzeichnen. Eine wachsende Zahl – vor allem asiatischer Konzerne – sei isoliert von den Kontaktnetzen zwischen den Unternehmen, eine ebenfalls wachsende Zahl integriert in ein transnationales Kontaktnetz. Insgesamt tendierten die »transnational interlocks« dazu, eher dünn und schwach zu sein, getragen von einzelnen externen Board-Mitgliedern (Carroll 2009: 305 ff.; Carroll 2010: 224 ff.).

Während bis Anfang der 2000er Jahre in den Sozialwissenschaften Veröffentlichungen wie die bisher genannten, die eine internationale oder globale Wirtschaftselite in naher Zukunft kommen sehen, die Szene dominierten, hat sich das in den letzten Jahren grundlegend geändert. Die meisten, durchweg auf soliden empirischen Erhebungen beruhenden Veröffentlichungen5 stehen der These mittlerweile eher skeptisch bis ablehnend gegenüber bzw. bieten empirische Ergebnisse, die in diese Richtung weisen. Trotz dieses aus wissenschaftlicher Sicht erfreulichen Wandels bleiben zentrale Probleme bestehen. Fast alle dieser empirisch fundierten Veröffentlichungen weisen unabhängig davon, ob sie die These von der globalen Wirtschaftselite unterstützen oder sie für nicht stichhaltig bzw. bislang nicht hinreichend belegt halten, drei wesentliche Mängel auf. Erstens bezieht sich die große Mehrzahl der empirischen Studien nur auf einzelne Länder wie die Schweiz, Dänemark und Frankreich6 oder, im Fall von Vergleichen, nur auf eine kleine Anzahl zumeist ausschließlich europäischer Staaten mit Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Zentrum.7 Umfassende internationale Vergleichsstudien, entweder nur für Europa8 oder aber weltweit9, gibt es dagegen nur wenige.

Diese haben außerdem zumeist, und das ist der zweite Schwachpunkt, wie auch die weniger umfassenden Untersuchungen nur die Mitglieder der Boards im Auge, berücksichtigen aber nicht die jeweiligen Positionen. So macht es einen großen Unterschied, ob jemand als CEO im Board seines Unternehmens sitzt, als Chairman oder nur als einfaches Mitglied. Auch bei den einfachen Mitgliedern muss noch zwischen den Executive Members, im deutschen Fall den Vorstandsmitgliedern, und den Non-executive Members, den Aufsichtsratsmitgliedern, differenziert werden. Sowohl die Machtbefugnisse als auch der Umfang der tatsächlichen Anwesenheit vor Ort variieren je nach Position ganz erheblich, erstere zwischen sehr groß und eher bescheiden, letztere zwischen permanent und nur ein paar Tagen pro Jahr.10

Der dritte Mangel der meisten empirischen Studien besteht darin, sich ausschließlich auf die Mitglieder in den Boards und die dabei zu beobachtenden nationalen wie transnationalen Vernetzungen zu konzentrieren, statt die Voraussetzungen realer grenzüberschreitender Klassenbildungsprozesse näher zu beleuchten. Zwar räumen Carroll (2010: 230f.) und Staples (2008: 46) dieses Manko ein, bieten aber keine Lösungsansätze an, weder theoretisch noch methodisch. In den meisten Veröffentlichungen sieht es in dieser Beziehung noch dürftiger aus. In ihnen wird der Prozentsatz an Ausländern in den Boards ganz unmittelbar als Indiz für die Herausbildung einer transnationalen Business-Elite benutzt, ohne diese direkte Gleichsetzung überhaupt zu reflektieren oder zu problematisieren.

Will man jenen Prozessen aber ernsthaft auf den Grund gehen, die zur Bildung einer globalen Wirtschaftselite oder transnationalen Capital Class führen könnten, dann gilt es, den Blick vor allem auf einen Aspekt zu konzentrieren: die grenzüberschreitende räumliche Mobilität der Eliten. Mobilität ist die entscheidende Voraussetzung für jedweden nationalen wie transnationalen Eliten- oder Klassenbildungsprozess. Bereits Marx weist auf ihre Rolle bei der Konstituierung von Bourgeoisie und Arbeiterklasse – auf nationaler wie internationaler Ebene – hin. Sie sei die zentrale Voraussetzung für die Aufhebung traditioneller Schranken zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen, aus denen die jeweilige Klasse dann entstehe. Max Webers Definition der sozialen Klasse als »Gesamtheit derjenigen Klassenlagen, zwischen denen ein Wechsel a. persönlich, b. in der Generationenfolge leicht möglich ist und typisch stattzufinden pflegt« (Weber 1972 [1921]: 177), deutet in dieselbe Richtung. Am Beispiel des frühen Bürgertums oder der »Bürgerklasse« schildern Marx und Engels in Die deutsche Ideologie skizzenhaft diesen Prozess. Die Bürger der einzelnen Städte seien durch die Ausdehnung der Kontakte und der Kommunikation untereinander sowie durch die Auseinandersetzung mit dem Adel »sehr allmählich« zur Klasse geworden. Die von ihnen geschaffenen Lebensbedingungen, die ihnen gemeinsam seien, ihnen zugleich aber auch als eine unabhängige äußere Kraft entgegen träten, hätten sich durch die »Verbindung zwischen den einzelnen Städten« von »gemeinsamen Bedingungen zu Klassenbedingungen« weiterentwickelt. Marx geht an dieser Stelle sogar noch weiter, erinnert in seiner Argumentation stark an das, was Pierre Bourdieu als das Verhältnis von Klassenlage und Klassenhabitus (als inkorporierter Klassenlage) analysiert, wenn er sagt: »Dieselben Bedingungen, derselbe Gegensatz, dieselben Interessen mussten im Ganzen und Großen auch überall gleiche Sitten hervorrufen« (Marx/Engels 1969 [1932]: 53).

Wie entscheidend räumliche Mobilität in diesem Zusammenhang für Marx war, zeigt seine viel zitierte Passage aus Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte über die französischen Bauern, die diese Mobilität im Gegensatz zu Bourgeoisie und Arbeiterklasse nicht aufwiesen. In seiner 1852 veröffentlichten Analyse des Bonapartismus heißt es: »Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht (Hervorhebung des Verfassers), die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse« (Marx 1972 [1869]: 198). Für die Herausbildung einer transnationalen Klassenlage und eines daraus resultierenden transnationalen Klassenhabitus wäre demnach ein Prozess erforderlich, den Bourdieu, auf die nationale Ebene bezogen, folgendermaßen beschreibt: Ihre Mitglieder müssten mit ähnlichen und für ihre Klasse typischen Erfahrungen in entscheidend höherem Maße als die Angehörigen der anderen Klassen konfrontiert werden (Bourdieu 1982: 175f., 1993: 112).

Ohne ein erhebliches Maß an grenzüberschreitender räumlicher Mobilität bei den maßgeblichen Repräsentanten der führenden Unternehmen ist die Entstehung einer eigenen Klasse nicht denkbar. Konkret bedeutet das, dass man bei diesen Personen sowohl den Grad an Internationalität, das heißt den Prozentsatz von Ausländern unter ihnen, als auch den Grad an Transnationalität, sprich den Prozentsatz einheimischer Manager mit Auslandserfahrungen, ermitteln muss, um eine empirisch fundierte Aussage zur These von der globalen Wirtschaftselite oder -klasse treffen zu können. Nur wenn die Topmanager der größten Unternehmen und die reichsten Menschen der Welt durch umfangreiche und kontinuierliche Erfahrungen außerhalb ihres Heimatlands einen eigenständigen Habitus ausbilden, der sich deutlich von dem ihrer auf nationaler Ebene verbleibenden Pendants unterscheidet, kann man von einer transnationalen Klasse oder Elite reden. Die theoretischen Aussagen von Marx, Weber und Bourdieu über Klassenbildungsprozesse können im Fall der Wirtschaftselite relativ problemlos übernommen werden.

Zwar besteht grundsätzlich ein Unterschied zwischen Elite und Klasse, weil Elite über die Besetzung von gesellschaftlichen Machtpositionen definiert wird, Klasse aber über die jeweilige Position im gesamtgesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess. Das heißt, Klasse ist im Unterschied zu Elite in erster Linie ökonomisch fundiert (Hartmann 2004: 81f., 102f., 176 ff.; Hartmann 2015a). Die Inhaber der Machtpositionen in den großen Konzernen sind nun aber entweder zugleich die Eigentümer dieser Unternehmen oder sie müssen aufgrund der enorm hohen Einkommen der Spitzenmanager heute ebenfalls in die Kategorie der Kapitalbesitzer eingruppiert werden. Sie zählen also im einen wie im anderen Fall zu derselben Klasse. Deshalb spielt – anders als bei den Eliten aus anderen Gesellschaftsbereichen – die Differenz zwischen Elite und Klasse im Fall der Wirtschaftselite faktisch keine nennenswerte Rolle. Die Wirtschaftselite bildet den Kern der Klasse.

1.2.Forschungsfeld und -methode

Will man die Wirtschaftselite erfassen, so zählen ohne jeden Zweifel die Chief Executive Officers, die CEO, der großen multinational tätigen Unternehmen zu ihrem Kern; denn sie sind diejenigen, die das operative Geschäft der Unternehmen leiten. Allerdings gibt es große nationale Unterschiede, nicht nur was ihre Bezeichnung betrifft, die neben CEO auch Vorstandsvorsitzender, PDG, President oder Amministratore Delegato lauten kann, sondern vor allem was ihre tatsächlichen Machtbefugnisse angeht.

Zum einen existieren zwei Modelle der Unternehmensführung, ein dualistisches, in dem Vorstand und Aufsichtsrat getrennt sind, und ein monistisches, in dem beide in einem Board mit Executive Members und Non-executive Members vereinigt sind. Ersteres gibt es nicht nur in Deutschland und den beiden anderen deutschsprachigen Ländern, der Schweiz und Österreich, wo es sicherlich am eindeutigsten ausgeprägt ist, sondern auch in den Niederlanden, Finnland oder China. Das zweite bestimmt die Unternehmensstruktur in den meisten anderen Ländern, nicht nur in allen angelsächsischen mit den USA, Großbritannien und Kanada an der Spitze, sondern auch in den beiden südeuropäischen Ländern Italien und Spanien, in Schweden, Russland, der Türkei, Südafrika, Indien oder Japan. Frankreich kennt beide Modelle. Faktisch durchgesetzt hat sich in den meisten Großkonzernen dort aber das monistische mit einem einheitlichen Verwaltungsrat (Conseil de surveillance).

Zum anderen ist die Stellung des CEO davon abhängig, wem die Leitung der beiden Gremien obliegt. Das ist sehr unterschiedlich geregelt, und zwar unabhängig von der dualistischen oder monistischen Grundstruktur. So ist es in den meisten großen US-Konzernen üblich, dass ein und dieselbe Person als CEO und Chairman fungiert. 75 der hundert größten Unternehmen handhaben das so. In Großbritannien dagegen werden die beiden Funktionen in 149 der 150 im Financial Times Stock Exchange (FTSE) gelisteten Unternehmen von zwei unterschiedlichen Personen wahrgenommen. Die Macht wird also geteilt. Wie in den USA so sieht es auch in Spanien und Japan aus, während die kanadischen oder die skandinavischen Konzerne es wie ihre britischen Pendants machen. In den französischen Großunternehmen hat der PDG in der Regel ebenfalls die alleinige Leitung des Unternehmens in seiner Hand. Das zeigt schon die Bezeichnung PDG, President Directeur General, an, die in einem Begriff beide Funktionen umfasst. Auch in den Ländern mit einer dualistischen Führungsstruktur existieren Unterschiede, wenn auch zumeist nicht so gravierende. So gibt es in Deutschland wie in der Schweiz eine strikte Trennung zwischen Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzendem mit klaren Aufgabenzuweisungen und einer eindeutigen Teilung der Machtbefugnisse, aber der Vorsitzende des Verwaltungsrats, wie der Aufsichtsrat in der Schweiz heißt, hat nichtsdestotrotz mehr Kompetenzen als der deutsche Aufsichtsratsvorsitzende; denn ihm obliegt juristisch nicht nur die Aufsicht, sondern auch die oberste Leitung des Unternehmens, die er allerdings an eine eigene Geschäftsführung delegieren kann.

In China sieht es dagegen völlig anders aus. Dort existiert zwar formal ebenfalls eine Trennung zwischen den beiden Gremien und Ämtern, das Supervisory Board inklusive seines Vorsitzenden besitzt anders als in Deutschland oder gar der Schweiz de facto aber nur wenig Macht, weil es auf die personelle Besetzung des Managements keinen Einfluss nehmen kann. In den Niederlanden wiederum sind in einem Drittel der Großkonzerne die Funktionen von CEO und Chairman nach US-Muster in einer Hand vereint. Trotz dieser teilweise erheblichen Unterschiede, was die Position und die Machtbefugnisse des CEO betrifft, bilden die CEO dennoch zweifellos einen, wenn nicht den zentralen Bestandteil der Wirtschaftselite. Sie stehen daher auch im Mittelpunkt des vorliegenden Buches.

Die Auswahl der zu untersuchenden CEO erfolgte dabei in zwei Schritten. Zunächst wurden die tausend größten Unternehmen der Welt herausgesucht. Diese Unternehmen wurden nach der jährlich erscheinenden Forbes Global 2000-Liste ausgewählt, und zwar unabhängig von der nationalen Zuordnung die auf dieser Liste für das Jahr 2015 auf den Plätzen eins bis tausend aufgeführten Unternehmen. Dann wurden für die sechs führenden Wirtschaftsnationen, die drei europäischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien sowie die drei außereuropäischen USA, Japan und China, die jeweils hundert größten Unternehmen bestimmt. Dafür gibt es einen wesentlichen Grund: So kann die Entwicklung über die letzten zwei Jahrzehnte verfolgt werden; denn für die hundert größten Unternehmen dieser Länder liegen aus früheren Studien (Hartmann 1997, 1999, 2009) direkt vergleichbare Angaben vor. Für die USA, Japan und China konnten dabei einfach die in der Forbes Global 2000-Liste aufgeführten Unternehmen in der Reihenfolge ihrer Nennung herangezogen werden, allerdings anhand der Liste des Jahres 2014, weil dieser Teil der Studie bereits Anfang des Jahres 2015 durchgeführt wurde, zu einem Zeitpunkt also, als die Forbes Global 2000-Liste für 2015 noch nicht existierte.

Im Falle der USA musste zudem eine kleine Änderung vorgenommen werden. Angesichts einer Reihe sehr großer privater, aber nicht börsennotierter Konzerne wie Koch Industries oder Cargill wurden die zehn größten dieser Firmen statt der in der Forbes Liste auf den Plätzen 91 bis 100 geführten börsennotierten Unternehmen in die Untersuchung einbezogen. Dafür wurde die ebenfalls von Forbes veröffentlichte Liste »Americas Largest Private Companies« von 2014 benutzt. Für die europäischen Länder war ein einfaches Übernehmen der hundert größten in der Forbes Liste genannten Unternehmen dagegen nicht möglich, weil keines von ihnen in dieser Liste mit hundert Unternehmen vertreten ist. Großbritannien lag mit 95 Unternehmen allerdings nur knapp unter der Grenze. Deshalb konnte hier genauso vorgegangen werden wie bei den US-Firmen. Die zehn größten privaten und nicht börsennotierten Unternehmen ersetzten die auf den Plätzen 91 bis 95 der Forbes-Liste stehenden britischen Firmen und ergänzten die Gesamtzahl dann bis auf 100. Für Frankreich mit nur 61 und für Deutschland mit sogar nur 53 in der Forbes-Liste vertretenen Unternehmen war ein anderes Verfahren erforderlich.

Im Falle Deutschlands wurde deshalb die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ebenfalls jährlich herausgegebene Liste der hundert größten deutschen Unternehmen herangezogen, um die erforderlichen weiteren 47 Unternehmen herauszufinden. Für Frankreich wurde zum selben Zweck die vom privaten Wirtschaftssender BFM Business veröffentlichte Liste der 500 größten französischen Unternehmen genutzt. Da diese beiden Listen auch nicht börsennotierte Unternehmen enthalten, konnte auf eine Ergänzung in dieser Richtung verzichtet werden. Die CEO all dieser Unternehmen konnten, soweit sie in der Forbes-Liste repräsentiert waren, den ergänzenden Angaben zu den einzelnen Firmen auf der Homepage von Forbes entnommen werden. Nur in einzelnen Fällen mussten wegen Neubesetzungen andere Personen als die bei Forbes aufgeführten herangezogen werden. Für sie wie für die nicht börsennotierten britischen Unternehmen sowie die auf der Forbes-Liste fehlenden deutschen und französischen Firmen mussten die Namen der jeweiligen CEO dagegen auf den Websites der entsprechenden Unternehmen herausgesucht werden.

Die zweite zentrale Gruppe der Wirtschaftselite, die in diesem Buch analysiert wird, sind die Aufsichtsratsvorsitzenden bzw. die Chairmen in all jenen Unternehmen, in denen sie personell nicht identisch mit den CEO sind und außerdem auch tatsächliche Macht ausüben können. Das trifft auf die deutschen Konzerne, die meisten schweizerischen und niederländischen ebenso zu wie auf die britischen, die kanadischen, australischen und das gute Viertel der US-amerikanischen, wo der CEO nicht zugleich der Chairman ist. Für all diese Unternehmen sind die Chairmen bzw. Aufsichts- oder Verwaltungsratsvorsitzenden ermittelt worden, und zwar auf dieselbe Art und Weise wie bei den CEO dieser Länder. Für Großbritannien sind zusätzlich noch die Chairmen der 150 größten Unternehmen laut FTSE 250 in die Untersuchung einbezogen worden, um so eventuelle Unterschiede je nach Unternehmensgröße und Marktkapitalisierung herausfinden zu können. Dabei zeigt sich auch, dass die Maßstäbe für die Auswahl der Unternehmen nicht nur variieren, was die Reihenfolge nach Größe angeht, wo Forbes auf eine Kombination von Umsatz, Gewinn, Aktiva und Marktkapitalisierung setzt, während die FTSE Group nur letzteres Kriterium benutzt,11 sondern auch in Hinblick auf die nationale Zuordnung. So geht Forbes dabei vom juristischen Hauptsitz des Unternehmens aus, während die FTSE Group alle an der London Stock Exchange gelisteten Unternehmen erfasst. Dadurch werden im FTSE 100 Unternehmen aufgeführt wie Royal Dutch Shell und Unilever, die bei Forbes den Niederlanden zugerechnet werden, oder Experia, Shire und Glencore, die bei Forbes als irische bzw. schweizerische Unternehmen gezählt werden.

Neben den Chairmen sind in etwas begrenzterem Maße, weil mit deutlich weniger Macht ausgestattet, auch noch die übrigen Mitglieder der Boards in die Untersuchung einbezogen worden. Das gilt sowohl für die Non-executive Members, die nicht im aktiven Management tätig sind und in der Regel aus anderen Unternehmen oder sogar anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Wissenschaft oder Politik kommen, als auch für die Executive Members. Diese managen das operative Geschäft, sei es als Teil eines einheitlichen Boards wie in Großbritannien oder Kanada, sei es als Mitglied eines vom Aufsichtsgremium getrennten Vorstands wie in Deutschland oder der Schweiz. Für diesen Zweck konnte auf die Angaben einer der weltweit führenden Personalberatungsfirmen, Spencer Stuart, zurückgegriffen werden. Sie veröffentlicht regelmäßig in sogenannten »Board Indices« detaillierte Angaben zu den Boards der börsengelisteten Unternehmen aus den meisten europäischen Ländern (Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Russland, Spanien, Türkei und den vier skandinavischen Staaten), den vier asiatischen Ländern Indien, Japan, Singapur und Hongkong12 sowie den beiden nordamerikanischen Ländern USA und Kanada. Neben der Struktur und Größe der Boards, der Anzahl der jährlichen Meetings, dem durchschnittlichen Alter oder dem Geschlecht der Board Members werden dabei auch Angaben zu ihrer Nationalität gemacht.

Für Deutschland mussten die entsprechenden Daten für die Vorstandsmitglieder der hundert größten Unternehmen allerdings für 56 dieser Unternehmen ergänzt werden, weil bei Spencer Stuart nur 66 börsennotierte Unternehmen aus DAX, MDAX, SDAX und TecDAX (plus Bertelsmann) erfasst worden sind, von denen 22 nicht zu den hundert größten zählen. Außerdem sind die Angaben für einige Länder anhand der im Länderbericht von Spencer Stuart für jedes einzelne Unternehmen veröffentlichten Daten und anhand der sonstigen im Bericht angegebenen Daten noch einmal neu berechnet worden, weil die angegebenen Werte entweder mit anderen detaillierteren Angaben im Board Index für die jeweiligen Länder nicht übereinstimmen oder aber rein mathematisch nicht stimmen konnten und zudem die genannten Werte in den verschiedenen Berichten auch nicht immer identisch sind.

So wird beispielsweise für die Schweiz in den internationalen Vergleichstabellen angegeben, dass alle 20 Boards einheitlich seien, im Länderbericht aber steht (richtigerweise) genau das Gegenteil. Im belgischen Bericht werden die Angaben über die Ausländer in den Boards kurz hintereinander einmal (korrekt) mit 29,1 Prozent und einmal mit 32 Prozent angegeben und in der in den neuen Länderberichten enthaltenen internationalen Vergleichsübersicht werden für alle skandinavischen Staaten vollkommen andere Prozentsätze für die Ausländer in den Boards genannt als im originalen Länderbericht über diese Staaten. Außerdem sind die weiteren Differenzierungen nach dem Unternehmenstypus (national versus binational) anhand der Angaben für die einzelnen Unternehmen vom Verfasser selbst berechnet worden. Die Angaben für die Board Members beziehen sich im Unterschied zu denen für die CEO und Chairmen für einen Teil der Länder auf das Jahr 2014, weil die aktuellsten Studien von Spencer Stuart für Deutschland, die skandinavischen Staaten, die Niederlande, Russland, die Türkei, Indien, Japan und Südafrika dieses Jahr betreffen13 und die Daten für die deutschen Vorstandsmitglieder im Spätsommer 2014 von einer wissenschaftlichen Hilfskraft zusammengetragen worden sind. Die Angaben für die 189 Vorstandsmitglieder der 30 DAX-Konzerne sind wie auch die sonstigen Angaben vom Verfasser selbst entweder zwischen Januar und März 2015 (für die CEO der hundert größten Unternehmen der sechs Länder) oder zwischen Juli und September 2015 recherchiert worden.14 Zwischen Ende 2015 und März 2016 erfolgte oder angekündigte Wechsel sind nur noch für zwei Passagen in Einleitung und Schlusskapitel genutzt worden.

Letzteres gilt auch für die dritte große Gruppe der Wirtschaftselite, die im Rahmen der Studie analysiert wird, die tausend reichsten Personen weltweit, Milliardäre mit einem Vermögen von mindestens 1,95 Milliarden Dollar. Sie sind anhand der ebenfalls jährlich von Forbes veröffentlichten Liste »The World’s Billionaires«, die für 2015 insgesamt 1 826 Milliardäre umfasst, herausgesucht worden. Ein Teil dieser Personen ist zwar schon unter den bereits erfassten CEO oder Chairmen zu finden, für die Mehrheit der Milliardäre gilt das aber nicht. Entweder nimmt sie solche Funktionen in Unternehmen wahr, die nicht zu den tausend größten der Welt bzw. den jeweils hundert größten in den sechs erfassten Ländern gehören, oder aber sie bekleidet solche Führungspositionen überhaupt nicht, sondern übt ihren Einfluss auf anderem Wege aus. Das gilt vor allem für die Frauen unter ihnen, immerhin fast jede neunte Person auf der Liste, von denen nur eine Minderheit eine derartige Position einnimmt. Susanne Klatten, eine der reichsten Deutschen, ist zum Beispiel eine von ihnen, da sie seit 2013 auch als Aufsichtsratsvorsitzende von SGL Karbon und nicht nur als einfaches Aufsichtsratsmitglied wie bei BMW fungiert. Daher bilden die Milliardäre eine gesonderte Gruppe, zumal es bei ihnen bezüglich der Ausgangsfrage vorrangig um die Wahl des Wohnsitzes geht und nicht um ihre eigene Nationalität, was andere Recherchen erfordert als bei den CEO und den Chairmen.