Die glorreichen Sechs - Royce Buckingham - E-Book
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Die glorreichen Sechs E-Book

Royce Buckingham

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Beschreibung

Wie macht man aus einem naiven, verwöhnten Prinzen den Anführer einer Rebellion? Man stellt ihm sechs Schurken zur Seite.

Prinz Caspars Leben ist hart. Anstelle eines ehrenvollen Botschafterpostens hat seine Tante, die Königin, ihn zum Steuereintreiber ernannt. Nun ist er mit einer Bande ehrloser Halsabschneider ohne jede Kultur unterwegs und macht sich – typisch für so einen Beruf – auch noch bei der Bevölkerung unbeliebt. Darüber hinaus erkennt er, dass seine Tante keine Friedensbringerin ist, wie er immer dachte, sondern eine brutale Eroberin. Prinz Caspar bleibt kaum eine Wahl: Er muss eine Rebellion anführen!

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Buch

Prinz Caspars Leben ist hart. Anstelle eines ehrenvollen Botschafterpostens hat seine Tante, die Königin, ihn zum Steuereintreiber ernannt. Nun ist er mit einer Bande ehrloser Halsabschneider ohne jede Kultur unterwegs und macht sich – typisch für so einen Beruf – auch noch bei der Bevölkerung unbeliebt. Darüber hinaus erkennt er, dass seine Tante keine Friedensbringerin ist, wie er immer dachte, sondern eine brutale Eroberin. Prinz Caspar bleibt kaum eine Wahl: Er muss eine Rebellion anführen!

Autor

Royce Buckingham, geboren 1966, begann während seines Jurastudiums an der University of Oregon mit dem Verfassen von Fantasy-Kurzgeschichten. Sein erster Roman »Dämliche Dämonen« begeisterte weltweit die Leser und war insbesondere in Deutschland ein riesiger Erfolg. Gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt Royce Buckingham in Bellingham, Washington. Er arbeitet zurzeit an seinem nächsten Roman.

Die Romane von Royce Buckingham bei Blanvalet:

Die Karte der Welt

Der Wille des Königs

Die rubinrote KöniginDie Klinge des WaldesDämliche Dämonen (Sammelband)

Auch einzeln mit den Titeln:

Dämliche Dämonen

Mürrische Monster

Fiese FinsterlingeGarstige Gnome

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ROYCE BUCKINGHAM

DIE

GLORREICHEN

SECHS

Roman

Deutsch von Michaela Link

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

März 2020 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2020 by Royce Buckingham

Published in agreement with the author, Baror International, Inc., Armonk, New York, U.S.A.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sigrun Zühlke

Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, München

Karte: © Andreas Hancock

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22795-1V001www.blanvalet.de

Kapitel 1 Glorreiche Angelegenheiten

»Ein Drache, hm?« Tartan Mull strich sich zweifelnd über den Bart. »In dieser gottverdammten Höhle da?«

Steuern einzutreiben war schon unter den besten Umständen ein Scheißjob, aber dafür eine Klippe erklimmen und sich einem Drachen stellen zu müssen, strapazierte Tartans Diensteid fast bis zum Zerreißen. Der stahläugige Kommandant der Glorreichen Sechs starrte in die dunkle Höhle und lauschte der tiefen Stille, die nur gelegentlich von einem einsamen Tropfen Wasser durchbrochen wurde, der mit einem vernehmbaren Plitsch landete. Schließlich stieß er einen unverständlichen Laut aus und wandte sich an seinen bulligen Untereintreiber, Dale Usher. Usher konnte nur mit den Schultern zucken, da er die Hände voll hatte – in der einen Hand hielt er den Griff seines schweren Anderthalbhänders, und mit der anderen hatte er den zerknitterten Kragen des Stadtratsvorsitzenden von Rumforte gepackt.

Der Barde und Ausrufer der Glorreichen, Belorian Knochenstahl, reckte den Kopf mit seiner hübsch gefiederten Kappe über Ushers Schulter, um besser sehen zu können. »Für mich sieht das nicht nach einer Drachenhöhle aus. Die sollte so düster sein wie ein mondloses Moor. Sie sollte staubig sein vom Ruß uralter Feuer, finster wie der Arsch eines Dämons, und die Ausdünstung sollte an den Gestank von verkohltem Fleisch erinnern.«

»Und woher will ein honigzüngiger Dichter wissen, wie eine Drachenhöhle aussieht, hm?«, fragte Tartan.

Belorian in seinem fein bestickten Wams zuckte die Achseln, und seine dekorativen Schulterpolster hoben sich bis über seine Ohren. »Ich habe es in einem Lied gehört.«

»Natürlich hast du das.«

Der Stadtratsvorsitzende von Rumforte wand sich. »Ich versichere Euch, die Bestie ist dort drin, zusammen mit jedem funkelnden Silberstück und jeder glitzernden Goldmünze, die sich in unseren Truhen befunden hat. Wir haben kein Geld, um die Steuern Eurer Königin zu bezahlen. Und obendrein hat das Ungeheuer den alten Saul, den Wächter unserer Schatzkammer, zu einem krossen Stück Schlacke verbrannt! Jetzt, da ich Euch das grauenvolle Versteck des Tieres gezeigt habe, lasst uns gehen, bevor wir alle verschlungen oder bis zur Unkenntlichkeit geröstet werden.«

Tartan schwang seine langen dunklen Locken hin und her. Der Name des Stadtrats war Jonas Dumpich oder Dumschat oder Du-kannst-mich-mal-kreuzweise, wenn es nach Tartan ging. Der Name spielte keine Rolle. Tartan und seine kleine glorreiche Schar wollte lediglich die zehn Prozent der Königin einsammeln und die merkwürdigen Eisenholzberge verlassen, um sich in das vertrautere Gebiet unten an die Wilde Westküste zu begeben und von dort aus zurück nach Hause zu kommen, nach Seeblick. Sie hatten während ihrer Reise nach Norden in die Berge Dutzende von Ausreden gehört, warum jemand die Steuern ihrer Majestät nicht zahlen konnte – ausgefeilte Leidens- und Armutsgeschichten von Bürgermeistern und Ältesten, Baronen und Buchhaltern, Räten und Bauern. Aber so etwas wie hier hatte Tartan noch nie gehört.

»Ein Drache hat unser Geld gestohlen«, hatte der Stadtratsvorsitzende geschworen und die Hände gerungen, als sie in Rumforte eingeritten waren – einer weitläufigen Grafschaft am Fuß der Eisenholzberge, die vom Handel mit dem feuerfesten Eisenholz lebte, das dem Gebirgszug seinen Namen gegeben hatte. Das Gebiet hatte während der Grenzlandkriege mehrfach den Besitzer gewechselt – ohne Blutvergießen, dank geschicktem politischem Taktieren und »flexiblen« Loyalitäten. Die gut gebauten, feuerfesten Gebäude der Innenstadt, die sich in den Bergpass schmiegte, zeugten von der florierenden Wirtschaft und den damit verbundenen Erträgen dieses Territoriums. Man karrte das Eisenholz zu den Fischerdörfern an der Küste, um die Frachträume fremder Schiffe damit zu befüllen, als Gegenleistung für Gewürze, Tee, getrocknete Früchte und exotischen Wein. Man handelte bis hoch in die Nordlaufberge mit den Fellen großer Katzen. Man aß Rundstein-Silberfische aus den kühlen Gebirgszuflüssen des mächtigen Stroms. Man führte ein reiches, produktives Leben am Fuß der Eisenholzberge. Und man schuldete der Königin von alldem den zehnten Teil.

Der Stadtratsvorsitzende hatte Tartans glorreiche Sechs direkt zu Rumfortes Schatzkammer geführt, um die Armutsbehauptung seiner geliebten Stadt zu untermauern. Die schwere Tür zu dem Gewölbe hatte schwelend und zersplittert in ihren gewaltigen Angeln gehangen, und die dicken Mauern des steinernen Raums waren rußbefleckt gewesen. In der Luft hatte der Gestank von Rauch gehangen, der ganz dem entsprach, was Belorians Drachenlied beschrieb. Asche war aus den Arm- und Halslöchern einer verkohlten Rüstung in der Mitte des Raums gequollen. Der alte Saul, wie sich herausgestellt hatte. Der Metallkopf einer zerstörten Pike hatte einsam in der Nähe gelegen, ihr hölzerner Schaft schwarz verbrannt und halb zerbröselt. Eine beeindruckende Zurschaustellung von Zerstörung, das hatten die Glorreichen zugeben müssen. Aber es blieben Fragen offen und weitere Nachforschungen anzustellen.

»Klappe, Dummarsch«, sagte Tartan jetzt und spähte finster in die Höhle. »Ich habe Euch Fettsack nicht von Usher den ganzen Weg auf diese Klippe schleppen lassen, um Euch davonwatscheln zu lassen, bevor wir den Wahrheitsgehalt Eurer Geschichte überprüft haben.«

»Da ist wirklich ein Drache«, beharrte der Stadtratsvorsitzende.

Tartan bedeutete seiner Pferdemeisterin vorzutreten. »Yvette, was siehst du hier?«

Yvette war eine muskulöse Frau, deren ungezähmte kastanienbraune Mähne irgendwie immer genau richtig lag. Tartan hätte klüger sein und sie nicht begehren sollen. Yvette liebte ihre Pferde mehr als ihre Mitmenschen, und sie trampelte auf Männerherzen genauso bereitwillig herum wie auf staubigen Straßen. Aber sie wirkte ebenso verführerisch auf Männer, wie sie talentiert im Umgang mit Tieren war – wild und stark. Sie hockte sich hin und schnupperte, dann stöberte sie für eine Weile wie ein Hund herum, scharrte im Dreck und untersuchte den spärlichen Bewuchs am Berg. Schließlich zeigte sie auf vier lange Furchen in der Felswand außerhalb der Höhle. »Kratzspuren von einer Klaue oder Pfote, wahrscheinlich so groß wie dein Kopf. Es muss hier tatsächlich irgendein riesiges Tier geben.«

»Ich frage mich, was für eine Art von riesigem Tier unser fetter, mittelloser Freund uns hier als Drache zu verkaufen versucht«, grunzte Tartan.

»Höhlenbären leben in Höhlen«, bemerkte ihr winziger Übersetzer Heath. »Das sind große Viecher.«

Yvette nickte. »Waldbären sind dafür bekannt, dass sie ihre Krallen an Bäumen schärfen. Ein Höhlenbär könnte das Gleiche am Fels tun.«

»Es ist der Drache«, murmelte der Stadtratsvorsitzende.

»Oder vielleicht hat eine ehrgeizige Sumpfeidechse diese mächtigen Klippen erklommen, um es im Leben zu etwas zu bringen«, meinte Belorian feixend.

Tara Shnorhavorian hatte nur ein verächtliches Schnauben für diese Vermutungen übrig. Die junge Buchhalterin der Glorreichen Sechs war eine Art Genie, aber nicht in Bezug auf Manieren, Takt oder Höflichkeit, obwohl sie halb adelig aufgewachsen war oder vielleicht gerade deswegen. »Im Gegensatz zu euch einfachen Deppen frage ich mich, warum dieses Rumforte-Volk den geschwärzten Leichnam des ›alten Saul‹ einen ganzen Tag lang im städtischen Schatzgewölbe hat liegen lassen, bis wir hier ankamen. Haben sie keinen Respekt vor ihren Toten? Und warum nur einen einzigen alten Wachposten abstellen, um die Schatzkammer des gesamten Verwaltungsgebiets zu schützen? Und eine verbrannte Gewölbetür in einer Stadt, die berühmt für ihr feuerfestes Holz ist? Und wie soll ein angeblich so gewaltiger Drache überhaupt durch diesen schmalen Gang in das Gewölbe hineingelangt sein? Das sind so Dinge, über die ich mich wundere.«

»Es ergibt keinen Sinn«, pflichtete Tartan ihr bei. »Zumindest nicht zehn Prozent.«

»Trotzdem«, rief Yvette ihnen ins Gedächtnis, »gibt es hier ein großes Tier mit furchteinflößenden Krallen.«

»Oder einen schlauen Stadtrat mit einem Dolch, der die Kratzer in den Stein geritzt hat«, überlegte Tara laut.

Tartan nickte. »Dann lasst uns herausfinden, ob es Rumfortes berüchtigter Drache ist, ein Höhlenbär oder der städtische Schatzkämmerer im Eidechsenkostüm, ja?«

Die Glorreichen Sechs zogen gleichzeitig die Waffen aus den Scheiden, ein sechsfaches leises Seufzen von Stahl, eine gewisperte Sinfonie des Todes. Wenn sie kämpften, kämpften sie alle, sogar die Buchhalterin Tara – mit ihrem kleinen Dolch schrieb sie rote Linien mit derselben Schärfe, wie sie mit ihrer Schreibfeder Summen und Zahlen schrieb. Das Tier, zu dem die tiefen Rillen im Stein gehörten, war höchstwahrscheinlich ein Höhlenbär – eine Bestie, die Gerüchten zufolge fast doppelt so schwer werden konnte wie ihr Cousin aus dem Wald –, ein gefährliches Tier. Kurze Klingen waren nicht die besten Waffen, um einen Bären zu töten, und in der Enge einer Höhle würden sie keine Zeit haben, ihn vorher mit Pfeilen von Yvettes Eibenbogen zu schwächen.

Tartan steckte seine Klinge wieder weg und tauschte sie gegen die längere Streitaxt, die Usher quer über den Rücken trug. Und dann, da er ihr Anführer war, führte er die Glorreichen Sechs durch die klaffende Öffnung der Höhle.

»Ich spüre ein Lied in der Luft liegen«, sagte Belorian, während er durch die Dunkelheit des steilen Gangs voller Geröll hinter dem Rest der Gruppe herschlich.

»Bitte nicht«, brummte Tara.

Er sang trotzdem. »In ein tiefes, dunkles, abscheuliches Loch, mit fünf Klingen und ’ner Streitaxt die Helden rein-kroch’n …«

Tara stieß ein spöttisches Lachen aus. »Helden? Ha!«

Tartan ließ das Lied zu. Es erfüllte einen Zweck. Es war nicht gut, ein Tier zu überraschen. Besser ließ man es wissen, dass man kam. Kleine Tiere würden fliehen, aber ein Höhlenbär würde brüllen und sie ausreichend vorwarnen, dass er dort war.

Der unebene Gang wurde immer dunkler, und Yvette entzündete zwei Fackeln – immer zwei, für den Fall, dass eine erlosch. Zwei verschiedene Personen hielten die beiden Fackeln der Gruppe – immer zwei, für den Fall, dass eine getötet wurde. Usher hielt keine der beiden Fackeln – er brauchte einen Arm, um den zappelnden Stadtrat festzuhalten, und den anderen für seine Klinge. Tartan hielt die beidhändige Streitaxt hoch, um fürs Bärentöten gerüstet zu sein. Und so reichte Yvette Tara eine in Öl getränkte Fackel und gab die zweite Belorian – der zimperliche Barde würde sich wohl ohnehin kaum am Kampf beteiligen, sofern es sich irgendwie vermeiden ließ.

Der steinige Gang tauchte plötzlich im steilen Winkel nach unten in den Fels hinein und mündete kurz darauf in eine größere, flachere Höhle. Tartan bedeutete den Fackelträgern vorzutreten, und das Licht des Feuers breitete sich aus, bis es die ungleichmäßigen Felswände erreichte, die den gewaltigen Raum umschlossen.

»Nichts«, sagte Belorian.

»Leer«, pflichtete Usher ihm bei.

»Wie erwartet«, brummelte Shnorhavorian.

Doch der Stadtratsvorsitzende teilte ihre Einschätzung nicht. »Dreht Euch …«, flüsterte er, »… um.«

Sie taten es.

Ein Paar gelber, untertellergroßer Augen starrte von einem Felsvorsprung gleich beim Eingang zur Höhle auf sie herab. Die Augen glitzerten im flackernden Fackellicht wie riesige Goldmünzen. Ein keilförmiger Kopf und ein verlängerter Hals streckten ihnen diese glitzernden Kugeln entgegen, bis sie über der Gruppe schwebten. Der Körper der Bestie lag noch im Schatten, aber die Größe des Schädels ließ seine Ausmaße erahnen. Er musste gewaltig sein. Das Ungeheuer hockte über ihrem einzigen Fluchtweg, eine simple, aber effektive Falle – der Drache wartete, bis die Beute hereingeschlendert kam, und griff dann von hinten an. Tartan hätte beinahe aufgelacht – die berüchtigten Glorreichen Sechs, überlistet von einem Tier.

Doch das Ungeheuer zögerte.

Tartan wusste nicht, ob der Drache wirklich Flammen speien konnte, aber der Stadtratsvorsitzende hatte ihnen einen eindrucksvoll verbrannten Leichnam gezeigt, daher bedeutete er seinen Glorreichen Sechs, sich zu verteilen. Selbst wenn sie sterben sollten, mussten sie der Kreatur nicht erlauben, sie alle mit einem einzigen Atemstoß zu töten.

Der Drache stellte sich auf vier baumstammdicke Beine, und seine Stimme grollte langsam aus den Tiefen seiner Kehle, rumpelnd wie eine herannahende Kutsche, bis er ein leises Brüllen ausrülpste. Mull überlegte, den Angriff zu befehlen; ihre Klingen waren bereit. Stattdessen erteilte er Heath einen Befehl.

»Heath … übersetzen.«

Der schlanke Übersetzer der Glorreichen Sechs eilte an Tartans Seite, wo er die Kreatur mit schief gelegtem Kopf anblinzelte.

Heath war gebürtiger Südländer aus Maibach, doch er nannte die Hafenstadt nicht wirklich sein Zuhause. Seine Mutter war mit einer Schar Reisender umhergezogen, auf Karren die Küste hinauf- und hinuntergefahren, hatte Tränke und Salben verkauft, einige echt, andere nur aus Fischöl. Sie hatte für das, was sie und der kleine Heath brauchten, gesungen oder gebettelt oder hatte es gestohlen, bis die Welt ihrer schließlich müde geworden war und ihn zum Waisen gemacht hatte. Heath redete nicht darüber, aber alle wussten, dass es schlimm gewesen war. Doch das Wanderleben hatte ihm eines geschenkt: Heath verfügte über ein einzigartiges Talent für Sprachen. Er verstand sie. Er studierte sie nicht. Er lernte sie nicht. Er hörte einfach zu, bis er sie verstand.

»Er ist … aufgebracht«, sagte Heath.

»Das erkennt jeder Depp!«, blaffte Tara.

»Er ist intelligent«, fügte er hinzu. »Die Laute, die er von sich gibt, folgen einem Muster, das komplizierter ist als das eines einfachen Tieres.«

»Was sagt er denn, Heath?«, fragte Tartan. »Konzentrier dich, Mann.«

»Wird er euch verbrennen?«, fragte Belorian und rückte von Heath und Tartan ab.

Heath hörte dem Drachen zu und lauschte aufmerksam dessen Abfolgen von Schnaub- und Grolllauten, sortierte die Sprachmelodien und beobachtete die Mimik und Körpersprache des Reptils, bis er schließlich flüsterte, sie seien »verflucht schwer zu deuten.« Er hatte noch nicht oft für Echsen gedolmetscht, da sie im Allgemeinen stille Tiere waren. Aber diese hier war mitteilsam, und die Umstände in der Höhle verliehen den Lauten einen reichen Kontext. Heath und seine Kameraden von den Glorreichen Sechs waren Eindringlinge im Heim des Drachen. Wahrscheinlich äußerte er sich also über ihre Anwesenheit. Es war beinahe sicher, dass er sich angegriffen fühlte, was eine gewisse Verletzlichkeit nahelegte, und er schätzte wahrscheinlich die Gefahr ab, die ihre geschärften Klingen darstellten – »menschliche Krallen« nannten einige Tiere sie. All diese Hinweise halfen Heath, die Bedeutung des Ächzens und Knurrens des Drachen zu erspüren. Doch seltsamerweise huschte der Blick der Untertassenaugen des Drachen immer wieder zu dem unbewaffneten Stadtratsvorsitzenden. Dann stieß die Kreatur ein leises Bellen aus, ungefähr in Richtung des Mannes.

»Er kennt den Mann aus Rumforte«, erklärte Heath.

»Bist du dir sicher?«, fragte Tartan.

»Ich würde meine behaarte linke Nuss darauf verwetten.«

Der Stadtratsvorsitzende entwand sich Ushers Griff, zerriss dabei seinen Kragen und rannte unter dem Drachen hindurch aus der Höhle. Die Kreatur ließ die Flucht zu und hielt den Blick weiter auf Tartan und seine Streitaxt gerichtet.

»Lasst ihn gehen«, entschied Tartan. »Wir wissen, wo er wohnt. Dreht der Bestie nicht den Rücken zu. Außerdem glaube ich, dass ich das Gold unserer Königin sehe.«

Tartan deutete hinter den Drachen, wo im fahlen Licht der Fackeln haufenweise Münzen glitzerten, kleiner, doch genauso strahlend wie die gelben Augen des Tiers. Tara blies ihre Flamme größer, damit sie mehr Licht hatten. Auf dem Haufen bewegte sich etwas.

»Noch mehr Drachen!«, stieß Belorian hervor und trat noch einen Schritt zurück.

Das Licht offenbarte zwei Echsen von der Größe kleiner Hunde, ein jeder Herr über ein eigenes bescheidenes Silberhäufchen.

Tara zeigte sich unbeeindruckt. »Kaum mehr als schuppige Köter, Poet.«

»Eine Drachenbrut«, meinte Yvette, die die Tiere studierte. »Deshalb wird die Mutter nervös sein.«

Hinter seinen größeren Geschwistern huschte ein rattengroßes Jungtier aus den Schatten auf den Gipfel eines kleineren Haufens Goldmünzen, von denen jede zehnmal so viel wert war wie ein Silberstück.

»Das ist offenbar der Schlaueste von ihnen«, murmelte Heath leise, während der kleine Drache sich abmühte, um sich auf dem Gipfel der rutschenden Münzen zu halten. »Ein entzückender kleiner Scheißer, hm?«

»Halte dich an die Mutter«, sagte Tartan. »Oder den Vater oder was immer bei den sieben Höllen das ist.«

»Die Mutter«, erklärte Heath, dann grunzte er laut. Der Drache legte seinen schuppigen Kopf schief.

»Was hast du gesagt?«, fragte Belorian, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat. »Was tut er? Sollen wir wegrennen?«

»Still«, schalt Heath ihn, »sonst verwirrst du sie.« Er wiederholte sein Grunzen.

Der Drache schnaubte zur Antwort.

»Sie bewacht ihr Zuhause«, dolmetschte Heath. »Wartet. Nein. Sie bewacht die Münzen.«

»Weil sie sie gestohlen hat«, bemerkte Tartan.

Heath schnaubte, und der Drache warf den Kopf hoch, wie ein Pferd es tun würde. »Nein.«

»Nein?«

»Sie waren ein Geschenk.«

»Die Städter haben dem Drachen all ihr Gold und Silber geschenkt?«

»Moment mal. Nein.«

»Nein?«

»Nein. Eine Bezahlung.«

»Eine Bezahlung?«

»Bezahlung. Das ist es, was ich höre.«

»Du hörst nicht immer besonders gut«, wandte Belorian ein.

Die Glorreichen waren klug genug, nicht an Heath’ Fähigkeiten an sich zu zweifeln, aber auch er war nicht über Fehler erhaben, wenn er eine neue Sprache übersetzte, vor allem von einem Tier, dem er noch nie zuvor begegnet war.

Tartan runzelte die Stirn. »Der Drache bewacht das Gold der Städter gegen Bezahlung?«

Heath warf nun seinen Kopf hoch und ließ seine Nasenflügel beben. Der Drache stampfte und knurrte.

»Ja«, bestätigte Heath. »Vor uns.«

Heath unterhielt sich jetzt ungezwungen mit dem Drachen und machte rasche Fortschritte im Verstehen der Sprache dieser Kreatur. Der Rest der Glorreichen Sechs senkte die Waffen, um das Gespräch zu befördern. Es wurden zwischen Mann und Tier verwirrte Blicke gewechselt, und es wurde gezögert, aber die Äußerungen des Drachen waren ruhig – er schien sich seltsam wohl im Umgang mit einem Menschen zu fühlen –, und schon bald schnaubten, rülpsten und gestikulierten sie hin und her. In der Tat, nach einem besonders schnellen Austausch von Augenzwinkern, Nicken und Schlürfen lachte Heath auf, als hätten sie einen privaten Scherz miteinander geteilt.

Schließlich drehte er sich zu seinen Steuereintreiber-Gefährten um und dolmetschte für sie. »Die Städter haben unserer Freundin hier versprochen, eine von zwanzig Münzen von Rumfortes Vermögen behalten zu dürfen, wenn sie uns verschreckt.«

Tara, die Buchhalterin, übersetzte Heath’ Übersetzung. »Der Anteil des Ungeheuers beträgt fünf Prozent für die Bewachung von Rumfortes Schatz gegenüber den zehn Prozent der Königin«, sagte sie. »Sie versuchen, sich die Hälfte zu sparen.«

»Ein dreister Plan«, warf Belorian ein.

Tartan lachte. »Aber schlau. Das muss ich diesen Arschkriechern lassen.«

Usher lächelte nicht. Stattdessen streichelte er sein Schwert. Rumforte war ein umstrittenes Gebiet, und dessen schwankende Loyalität ärgerte ihn. »Im Herzen sind sie Grenzländler. Man kann ihnen nicht trauen. Wir hätten den Krieg beenden und sie uns vom Hals schaffen sollen, statt ihre Kapitulation anzunehmen. Sollen wir den Stadtrat aufspüren und einen hohen Baum für ihn suchen?«

Tartan erwog, den Stadtratsvorsitzenden wegen Steuerhinterziehung zu hängen, aber dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Auf diese Art können wir den Tribut der Königin nicht eintreiben. Alles, was wir davon hätten, wäre ein toter Stadtrat. Wir brauchen unsere zehn Prozent.«

»Du hast hoffentlich nicht vor, gegen diese unglaubliche Kreatur zu kämpfen«, sagte Yvette, deren Bewunderung für das gewaltige Tier sich in ihren großen Augen widerspiegelte.

Tartan tuschelte mit Tara, dann wandte er sich an den Übersetzer. »Erzähl deiner neuen Freundin vom Zweck unseres Besuchs.«

Belorian konnte es sich nicht verkneifen, ihn zu unterbrechen, es war seine Aufgabe, ihren Leitsatz auszurufen: »Wir treiben für die Krone ein!«

Tartan gebot dem Barden zu schweigen. »Heath, sag dem Tier, dass alle menschlichen Zahlungsmittel im Land der Königin gehören – das sollte diesem mächtigen Weibchen einleuchten. Doch aufgrund ihrer Weisheit und ihres Großmuts verlangt unsere Königin nur zehn Prozent als Tribut für die vielen Dienste, die die Krone leistet. Wenn dieses Tier es uns erlaubt, den Anteil ihrer Majestät einzutreiben – je eine Münze von zehn –, werden wir ihr unsererseits erlauben, neunzig Prozent zu behalten.«

»Und die Stadtbewohner?«, fragte Heath.

»Das Geld hat ihnen von Anfang an nicht gehört.« Tartan tätschelte seine Streitaxt. »Erkläre dem Drachen, dass es leichter sein wird, die Beute gegen einige fette Stadträte und Holzfäller zu schützen als gegen die besten Steuereintreiber der Königin.«

»Und wenn sie sich weigert?«

»Erkläre ihr unseren Reserveplan. Wenn wir das Geld der Königin nicht eintreiben können, wird sie eine Armee schicken.«

Heath nickte und richtete das Wort erneut an das Drachenweibchen. Schon bald hob sie den Kopf über die Gruppe und ließ ihn hin und her schwingen, eine Geste, die Tartan als Zustimmung wertete. Es war keine menschliche Geste, aber keine Kreatur streckte den Hals vor, um einen Kampf zu beginnen.

Heath bewegte ebenfalls den Kopf hin und her, um den Handel zu besiegeln, und die Glorreichen Sechs stießen einen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus. Heute würden sie überleben, und was ebenso wichtig war, die Königin würde ihren Zehnten bekommen.

Als alles erledigt war, ließ Tartan seine Glorreichen den Tribut der Königin von den Münzhaufen einsammeln und sich hastig zurückziehen.

Doch Heath blieb noch ein Weilchen. Sobald die anderen fort waren, wandte der Übersetzer sich mit einer letzten Geste an das Drachenweibchen. Er zeigte auf sich selbst und dann auf ihr kleinstes Jungtier …

Kapitel 2 Caspar

»Man kann die Königin nicht einfach ersetzen«, sagte Caspar Klein zu den jüngeren Spielern, die mit ihren sorgfältig gestimmten Instrumenten im Halbkreis im Musiksaal von Seeblick saßen.

»Man kann es, und man wird es tun«, widersprach Erek Moceri. »Unsere Tante hat keinen Erben hervorgebracht. Sie kann nicht – es heißt, ihre Eier seien so verschrumpelt wie Rosinen. Mein Vater wird verlangen, dass sie abdankt, und dann wird mein Bruder Derek König.«

»Dein Bruder ist ein Dreckskerl«, bemerkte Fanta Trypoli neben ihm.

»Du darfst ihn nicht beleidigen. Ich erzähle es ihm, und dann besorgt er’s dir.«

»Der wird in absehbarer Zeit nicht König werden«, wandte Caspar ein. »Und Derek könnte es nicht einmal sich selbst besorgen.«

Baron Trypolis Töchter, Fanta und Dexidra, kicherten. Selbst die flinken Finger von Caspars Leibdiener Pavin erstarrten bei Caspars Scherz auf den Saiten seiner Harfe. Und das Beste war, dass Herzog Moceris zweiter Sohn Erek mitten beim Flöten stockte und den Mund aufriss wie ein hungriger Fisch.

»Er ist eine betitelte Leibwache«, entrüstete Derek sich. »Aus der persönlichen Leibgarde der Königin.«

»Ich bekomme heute auch meinen Titel«, erklärte Caspar. Er wollte nicht herablassend klingen, aber Erek war ermüdend und unreif.

Erek feixte. »Königlicher Latrinenreiniger höchstwahrscheinlich.«

Eben, unreif, dachte Caspar. »Höchstwahrscheinlich der Titel eines Botschafters«, sagte er.

»Botschafter!« wiederholte Fanta Trypoli, und ihre blauen Augen wurden so groß vor Bewunderung, dass es aussah, als würde der Himmel aufbrechen. »Du wirst aufregende neue Orte besuchen. Du wirst faszinierende fremde Menschen kennenlernen.«

Es war keine Prahlerei. Caspar war ein Klein und Königin Neveah Moceris Neffe, mit höfischen Manieren und guten Beurteilungen von seinen Lehrern. Sein Vater war Botschafter in Mittelstadt – ein aufregender und neuer Ort, und die Welt war nun größer, da die Grenzkriege vorüber waren. Seine Königin und Tante würde die Titel vergeben. Damit sollte ich die Sache in der Tasche haben. Botschafter war hochgegriffen für die erste Ernennung eines jungen Edelmanns, und bis zur Ernennungszeremonie konnte er nicht wirklich sicher sein. Aber bald.

Sein Diener Pavin schüttelte den Kopf. Pavin hätte eigentlich nicht in diesem illustren Kreis sitzen dürfen, nicht mit den Töchtern eines Barons, dem Sohn eines Herzogs und dem Sohn einer Herzogin zusammen, aber er spielte so ungeheuer gut Harfe, und nur wenige andere spielten sie. Er denkt, ich hätte den Mund zu voll genommen, ging es Caspar durch den Kopf. Pavin riet ihm häufig, das Fell nicht zu verkaufen, bevor er den Bären erlegt hatte. Andererseits war Pavin die Stimme übertriebener Vorsicht gewesen, seit sie – der eine adelig, der andere bürgerlich geboren – dieselben prunkvollen Quartiere bewohnten. Ein guter Bursche, aber jetzt sind wir Männer.

Erek Moceri tippte mit seiner Flöte gegen den gestickten Aal der Moceris auf seinem Wams, eine Angewohnheit, wann immer er neidisch war. Eine unbewusste Mahnung an sich selbst und jeden um ihn herum, dass er, obwohl sie beide Neffen der Krone waren, das Symbol der Könige trug – und nicht Caspar. Die schmalen, purpurnen Aalbanner der Moceris flatterten auf jeder Zinne, sodass die dem Meer zugewandte Mauer aussah, als wäre sie von einer Reihe sich wiegender Algen gekrönt. Sie begrüßten fremdländische Schiffe und die salzigen Winde, die vom Arroganten Meer heranwehten.

Caspar störte der Neid seines Cousins nicht. Sie waren von Blut und Geburt her beinahe ebenbürtig – im Gegensatz zu Pavin –, aber Caspars Prinzessinnenmutter hatte in ein anderes Geschlecht eingeheiratet, in die Familie Klein – respektable Bürger, aber keine Moceris. Sie hätte den Namen behalten dürfen, selbst nach ihrer Heirat, doch sie hatte ihn als große Geste des Respekts vor seinem Vater aufgegeben – aus Liebe, ausgerechnet. Herzlichen Dank, Mutter. Auch wenn er ein Moceri war, war Erek jünger als Caspar und kein betitelter Lord. Auch er würde den Thron nicht bekommen. Sein Bruder Derek war der Ältere, und es gab noch weitere Verwandte, die vor ihm auf dem Thron sitzen würden, je nach den Umständen. Caspar würde auch nicht König werden – sechs oder acht Cousins müssten plötzlich tot umfallen, damit das geschah –, und so machte er sich keine Gedanken darüber. Botschafter genügte ihm. Derek würde König werden. Derek war ein massiger Knabe gewesen, und jetzt war er ein noch massigerer junger Mann, bereits so groß wie etliche der stämmigen Leibwachen der Königin, und er wuchs noch. Wenn er so weitermachte, würde er genauso riesig werden wie sein legendärer Urgroßvater – passend für einen König. Er war außerdem berühmt für seine Dummheit.

Und Grausamkeit.

Als Derek jünger gewesen war als Erek jetzt, so ging das Gerücht, hatte er seinen Diener Iyon Folger in einen Brunnen gestoßen. Statt seinem Bruder zu erlauben, Hilfe zu holen, hatte er gedroht, mit Erek das Gleiche zu tun, wenn er irgendjemandem davon erzählte. Um sich nicht für eine geringfügige Dummheit rechtfertigen zu müssen, die ihm kaum mehr eingetragen hätte als einen Tadel, hatte er Iyon in den dunklen Tiefen des Brunnens kalt und nass und allein sterben lassen. So ging das Gerücht, und Caspar zweifelte es nicht an. Bis die Erwachsenen den seltsamen Geschmack des Wassers bemerkt hatten, war Iyon aufgedunsen und blau gewesen, und aus seinem Körper waren Blut und Galle in den Brunnen gesickert. Die Palastwache erklärte den Tod des Pagen als versehentlichen Sturz in den Brunnen. Aber »der Stoß« war unter den Kindern der Moceris und der Kleins immer noch ein offenes Geheimnis, und Derek schien den unausgesprochenen Ruf der Skrupellosigkeit zu genießen, den ihm das eingetragen hatte. Niemand wagte es, ihn herauszufordern, nicht einmal Erek. Erst recht nicht Erek. Und von jenem Tag an hatte Erek eine tödliche Angst vor tiefen, dunklen Brunnen.

Erek war jedoch mehr als bereit, Caspar herauszufordern. »Noch nie ist jemand bei seiner ersten Titelverleihung zum Botschafter ernannt worden.«

»Da die Grenzkriege gerade erst vorüber sind, gibt es mehr neue Orte, die der Diplomatie bedürfen, als verfügbare Kandidaten. Ich habe nachgezählt. Rein zahlenmäßig betrachtet sehe ich keine andere Möglichkeit.« Caspar zuckte die Achseln, als wäre es nichts, obwohl es doch alles war. Sein Titel würde den Lauf seines Lebens bestimmen, und es war fast sicher, dass es einen guten Lauf nehmen würde. Kleins saßen auf seidenen Sitzbezügen am Obersten Gericht von Seeblick, seit über einhundert Jahren. Caspar hatte eine bequeme, angesehene Position zu erwarten, bei der sein Allerwertester auf einem dieser weichen Stühle landen würde. Er würde über hohe Bezüge verfügen, die feinsten Damen anziehen, eine gute Partie machen, Münzen zählen und an einem üppig gedeckten Tisch speisen – ein fetter Vater mit pflichtbewussten Kindern und einer rundlichen Gemahlin in einem Kleid aus feiner Spinnenseide. »Unsere Königin wird fast ein Dutzend Gesandte in die frisch eroberten Städte schicken müssen.«

»Sie sind nicht erobert«, unterbrach Erek ihn. »Sie haben den feigen Waffenstillstand unterzeichnet, den unsere stumpfsinnige Tante mit allen geschlossen hat.«

»Sie haben Zugeständnisse gemacht«, wandte Fanta Trypoli ein. »Sie haben ihre Armeen aufgelöst und zugestimmt, im Gegenzug für Handel und Wiederaufbau Tribut zu zahlen. Ich sage, wir haben gewonnen.«

»Was gewonnen? Dass wir Steuern von diesen schmutzigen Grenzländlern eintreiben, ist keine angemessene Bestrafung für Generationen von Rebellion und Mord. Wir hätten sie auslöschen sollen wie Ratten, denn genau das sind sie.«

»Aber das haben wir nicht getan«, sagte Caspar. »Und jetzt werden alle ihre Städte, Dörfer und Festungen Kontakte knüpfen müssen. Man wird unsere erfahrensten Botschafter in die heikelsten neuen Gebiete schicken, wette ich, und ihre früheren ruhigen Posten in unseren Ländern müssen neu besetzt werden. Und zufällig wurde ich aufgefordert, heute vor der Königin zu erscheinen, um meinen Titel zu empfangen. Ein glücklicher Zufall, würde ich sagen. Wenn du älter wärest, würdest du zweifellos auch an dieser plötzlichen Fülle von Chancen teilhaben. Aber das bist du eben nicht.« Caspar seufzte und tat, als hätte er Mitgefühl mit seinem Cousin, der in ihrer Generation als Letzter einen Titel bekommen würde. »Den Gerüchten zufolge wird man mich dazu ernennen, Seeblick im Osten zu repräsentieren.«

»Höchstwahrscheinlich Gerüchte, die du selbst in die Welt gesetzt hast«, brummte Erek.

Erek war kein Dummkopf wie sein älterer Bruder; Caspar hatte das Gerücht tatsächlich selbst in Umlauf gebracht. Das Gerede, das besagte, man werde ihm eine der lauen Halbinseln im Osten zuweisen, war durch die Küchen gelaufen, hinaus zu den Ställen und zu ihm zurückgekommen, und das in kurzer Folge. Tatsächlich hatte er seinen eigenen Tratsch von Pavin selbst gehört, der ihn von Fredrick hatte, dem Sohn des Stallmeisters, der ihn von der Topfschrubberin Deedra gehört hatte. Caspar schlug eine Saite seiner Mandoline an. »Vielleicht schickt man mich nach Dortch oder zum Lusch oder an die Zuckerküste. Ah, das sind wirklich schön warme Länder.«

»Sie wird dich bestimmt nicht zum Lusch schicken«, warf Dexidra Trypoli ein. »Mein Vater sagt, die Sassoonen streifen noch immer durch den Toten Wald im Norden. Es ist dort immer noch sehr gefährlich.«

»Oh, ich fürchte mich nicht vor ein paar Schlägern und Rebellen. Ich bin auf dem Übungsplatz mit einer Klinge der Beste meines Alters.«

Erek schnaubte verächtlich. »Die Besten tragen keine Übungskämpfe mit Holzschwertern und gepolsterten Rüstungen gegen Knaben im Hof aus. Sie kämpfen gegen echte Männer, mit scharfem Stahl, in echten Schlachten, wie bei Craggs Marsch auf Malakit und bei der Belagerung von Callestan.«

»Quincy Cragg hat jetzt ein Holzbein«, bemerkte Caspar.

»Trotzdem würde er dir immer noch den Hintern versohlen. Er würde sein Holzbein abnehmen und dich damit verprügeln.«

»Deine Ausdrucksweise – es sind Damen anwesend«, schalt Caspar ihn.

Pavin nickte zustimmend und warf Erek einen missbilligenden Blick zu. Pavin Yuronen war ein guter Junge – mager, aber hilfsbereit, und nicht eifersüchtig auf die Triumphe seines Meisters wie manch andere Diener. Er war fast auf den Tag genauso alt wie Caspar und deshalb passend auserwählt worden, ihm aufzuwarten, seit er alt genug war, um zu dienen. So wie seine Eltern Caspars Eltern gedient hatten, und seine Großeltern Caspars Großeltern vor ihnen gedient hatten. Es war ein angesehener Posten für Bürgerliche aus Hyaks Mittelreich und bot ein behagliches Leben für den Yuronen-Clan. Caspar hatte mit der Idee gespielt, Pavin mitzunehmen, wenn man ihm seinen königlichen Posten zuwies, aber ein Botschafter würde einen richtigen Diener bekommen – einen erwachsenen Mann. Er kann nicht mit mir kommen.

»Ich wette, wir erhalten einen erstklassigen Posten, Mylord«, meldete Pavin sich zu Wort. »Euer Vater war Handelsberater des ganzen Mittelreichs, bevor es gefallen ist. Alles unter dem Posten eines stellvetretenden Botschafters wäre eine Beleidigung.«

»Aber ein erster Botschafter?« Dexidra sah Fanta an, um sicherzugehen, dass sie aufpasste, dann richtete sie den Blick wieder auf Caspar. »In diesem Alter wäre das wahrlich beeindruckend.«

»Ich diene einem beeindruckenden Herrn«, sagte Pavin mit einem Grinsen und zwinkerte Caspar zu. Sie hatten eine stille Übereinkunft – Caspar lobte Pavin vor gewöhnlichen Mädchen, und Pavin tat das Gleiche für Caspar, wenn adelige Mädchen zugegen waren. »Ich wäre nicht überrascht, wenn wir mit einer Delegation in einer Golstonkutsche fahren, um uns mit der Süßen Sultana der Zuckerküste zu treffen.«

»Sagt der Diener«, schnaubte Erek. »Keiner von euch hat Seeblick jemals auch nur auf einem Maultier verlassen.«

»Ebenso wenig wie du.«

»Ich bin nicht derjenige, der damit angibt, dass er zum Botschafter ernannt wird. Du bist kein erfahrener Diplomat, du bist kein reicher Kaufmann, du bist nicht einmal ein anständiger Reiter. Warum sollte man dich dazu erwählen, für die Krone zu reisen und zu verhandeln?«

»Ich finde das alles sehr aufregend«, sagte Fanta Trypoli. »Da die Kriege vorüber sind, wird es so viele neue Orte geben, die man besuchen kann!«

Caspar belohnte Fantas Begeisterung mit einem anerkennenden Lächeln. Als Töchter eines Barons bekleideten sie und Dexidra einen Rang, der sie zu möglichen Heiratskandidatinnen für einen Herzogssohn machte. Dexidra war fast so alt wie er, hübsch, mit einer schmalen Nase, und die bessere Violinistin. Ein ernsthaftes Mädchen, das täglich übte und pünktlich zu allen Unterrichtsstunden erschien. Sie würde eine ruhige, verlässliche Gemahlin abgeben. Fanta war einige Sommer jünger und konnte mit ihrem schiefen Lächeln und den großen Augen nicht auf traditionelle Art punkten, bot aber dennoch irgendwie einen interessanten Anblick. Für die Tochter eines Barons war sie jedoch ein wenig zu kühn, fand Caspar – einmal war sie anlässlich einer Mutprobe von der niedrigen Mauer des Kanals in den Zehnpenny gesprungen, und sie hatte zu der Gruppe junger Adeliger gehört, die dabei erwischt worden waren, sich in den Bäumen zu verstecken, um unverheiratete Bürgerliche zu beobachten, die sich auf der Lichtung der Liebenden mit nacktem Hintern vergnügten. Ein schamloses Mädchen, das häufig schlechte Manieren an den Tag legte.

Doch Fanta hatte recht, was die Chance betraf, das neue Königreich zu sehen. Adelige Kinder ihres Alters verließen Seeblick nur selten. Die Grenzlandkriege hatten sechs Generationen des Adels unter die Erde gebracht, die auf dem Schlachtfeld ihren Mut hatten beweisen wollen. Drei Piggo-Brüder waren innerhalb eines einzigen Monats in drei verschiedenen Scharmützeln am Pelzigen Flusslauf, in Callestan und Elam ums Leben gekommen. Die Familie war kinderlos zurückgeblieben und das Geschlecht der Piggos ausgestorben. Die Erosion des Adels hatte König Ricci Moceri veranlasst zu verfügen, dass es während der stürmischen Invasionen und Gegenangriffe der letzten beiden Generationen keinem blaublütigen Kind erlaubt war, die Sicherheit des berühmten gestreiften Stadtwalls von Seeblick zu verlassen. Nur eine einzige Rebellenarmee war weit genug nach Hyak vorgedrungen, um diese Mauern zu belagern, worauf König Ricci verseuchtes Vieh in ihre Mitte hatte schleudern lassen. Die aufgeblähten Rinder waren in Schauern von tödlichen Körpersäften explodiert, und wenige Tage nachdem sie ihre Gräben ausgehoben hatten, füllten die Eindringlinge sie mit Erbrochenem und wässrigen Exkrementen. Die Rebellen hatten sich die Schattenstraße entlang zurückziehen und nach einem weniger abstoßenden Opfer Ausschau halten müssen, weshalb dann Sarat im Mittelreich entsetzlich geplündert wurde.

Caspar erhob sich, um zu gehen. »Ich muss mich bereit machen, meinen Amtstitel entgegenzunehmen. Vielleicht schicke ich euch allen eine Einladung, wenn ich mich an einer der warmen Küsten niedergelassen habe.« Caspar zupfte zart eine ausgesprochen östlich anmutende Abfolge von Mandolinenklängen, während er davonging.

»Vielleicht tust du das «, sagte Fanta hoffnungsvoll.

»Vielleicht auch nicht«, konterte Erek.

»Es ist immerhin eine schrecklich lange Reise, Schwester«, bemerkte Dexidra zu Fanta, wie immer die praktisch Veranlagte. »Und an einigen Orten im Königreich ist es immer noch gefährlich. Wir würden eine bewaffnete Eskorte brauchen, um dort hinzureisen.«

»Bah«, höhnte Erek. »Fangt noch nicht an, eure Sommerkleider einzupacken, Mädchen. Der große ›Botschafter‹ hat bisher nicht mal einen Fuß vor die Stadtmauern gesetzt, um dort pinkeln zu gehen.«

Kapitel 3 Opal

Für ein einfaches Mädchen in Seeblick führte der Weg vom rissigen Kopfsteinpflaster der Hintergassen auf die glatt polierten Granitböden des Hammerfaustsaals durch manch dunkle Gegend, und Opal war einfach, sehr einfach. Der Tod ihrer Eltern, als sie und ihre Zwillingsschwester Lily zehn Jahre alt gewesen waren, hatte dafür gesorgt. Opal mochte keine dunklen Orte, aber sie hatte ihr ganzes junges Leben in den Schatten der Stadt geführt und gelernt, sich darin zurechtzufinden. Sie hatte unter den Frauen gelebt, die durch die Gassen schlenderten, verschiedenfarbige Tücher in die ein oder andere Falte gesteckt, um Kunden darauf aufmerksam zu machen, welche Auswahl an Diensten sie anboten. Sie war den lüsternen Männern ausgewichen, die ihr von den Raucherhöhlen aus zugerufen hatte, sie solle doch mal eine Pfeife probieren. Sie hatte mit Gassendieben um gestohlene Waren gefeilscht. Diese Menschen waren tatsächlich ihre Freunde, ihre Nachbarn und sogar ihre Familie. Dazu gehörten auch die Trinker, die sie nachts wach hielten und direkt draußen vor dem winzigen, mit Wachspapier abgedichteten Fenster des kleinen Raums stöhnten, den sie und Lily sich mit Tagesschläfern teilten, die bei Nacht im Hafen arbeiteten. Vertraute Gesichter waren außerdem die Taschendiebe, die die Stadtwache bis in den Hafen zu jagen sich weigerte. Sie kannte sie alle. Sie wusste, was sie wollten. Sie wusste, wie sie lebten und wie sie logen. Sie wusste, was sie versprachen und welche Versprechen sie halten konnten. Und so wusste sie, als sie beschloss, sie alle hinter sich zu lassen, mit wem sie ein Abkommen treffen konnte.

Seeblicks adelige Kinder waren keine guten Arbeiter, und so gingen die begehrten Stellungen im Palast – in den königlichen Küchen, den Waschküchen und auch die Aufgabe, den Edelleutchen aufzuwarten –, an junge Menschen aus dem Volk. Größtenteils Mädchen. Ältere Frauen galten als zu vulgär für die nach außen hin sichtbare Palastarbeit – niemand wollte von einer runzligen, gelbzahnigen alten Vettel bedient werden. Knaben neigten zur Trägheit oder zum Stehlen und galten gemeinhin als leicht ablenkbar und unehrlich. Das Gleiche traf natürlich auch auf einige Mädchen zu, aber die wurden bei der »Auslese« aussortiert.

Diese Auswahlprozedur war ebenso labyrinthartig angelegt wie die Hafengassen. Eine Aufstellung. Ein Vorstellungsgespräch. Prüfungen. Eine Empfehlung. Vielleicht eine Lehre. Eine Probezeit. Oder all dies zusammen. Oder nichts davon. Es war jedes Mal anders, wenn Shent, der Palastausrufer, rief: »Sammle Mädchen für die Krone ein!« Die Mädchen kamen herbeigelaufen oder erschienen an ihren Fenstern, und er lud die Besten aus dem Bezirk ein, zwei Tage später in einem geziemenden Kleid auf dem Palastplatz zu erscheinen. Fast jedes einfache Mädchen, selbst solche, die keine Kupfermünze für eine Mahlzeit besaßen, hatte ein Kleid für genau diese Gelegenheit, ein Kleid, das es sonst nie trug aus Furcht, es schmutzig zu machen oder zu zerreißen.

Die einfachen Mädchen, die auf dem Tarpunplatz ausgewählt wurden, lernten schnell, gehorchten eifrig und hatten so viel Angst davor, einen Finger zu verlieren, dass sie niemals stehlen würden. Doch selbst überlegener Grips, Witz und angstgetriebene Loyalität reichten nicht aus. Hunderte einfacher Mädchen reihten sich auf dem grünen Rasen des Platzes auf – für jede Position, die frei wurde, wenn irgendeiner früheren Dienerin von einem Stalljungen ein Braten in die Röhre geschoben worden war oder wenn sie zu alt wurde, um geschickt mit einem Tablett zu hantieren, um flink mit einem Besen zu sein oder einen angenehmen Anblick zu bieten. Und jedes Mal verließen Hunderte von enttäuschten Mädchen den Platz. Einige hatten Eltern, die stahlen oder die sonst irgendwie das Geld zusammenkratzten, um ihrer Tochter einen Weg in den Palast zu erkaufen, mittels zwielichtiger Frauen in den Gassen, die versprachen, Verbindungen zu Adelsfamilien herzustellen. Andere Mädchen hatten ältere Schwestern, die im Palast dienten und die sich bei ihren Herrschaften für sie einsetzten. Einmal hatte ein Mädchen einen Jungen angeheuert, damit er ihrer größten Rivalin am Tag vor dem Auswahlverfahren mit einem Knüppel das Knie zerschmetterte. Eine andere hatte das Wasser vergiftet, um ihre Konkurrentinnen krank zu machen, als sie ihren Erfolg bei der ersten Runde feierten. Andere Mädchen vögelten sich einfach in den Palast hinein. Sie waren alle einfach, und auch wenn einfach vieles bedeuten konnte, bedeutete es immer arm.

»Ich habe zwanzig Silberstücke«, hatte Opal der Mageren Wanda hinter der Theke in der Taverne zum bierseligen Wal zugeflüstert. Mit zehn Kupferstücken pro Silbermünze war das in den Gassen ein kleines Vermögen.

Wanda scheuchte Opal in eine Nische in der Ecke der rumgetränkten Hafenkneipe. Die Magere Wanda war gar nicht mager. Tatsächlich war sie gut genährt von der Tavernenkost – in Fett gebratenem Fisch und Kartoffeln –, und sie erinnerte mit ihrer Statur an das Hausmaskottchen, den grauen Wal, dessen gewaltiger Schädel über dem Eingang hing. Der private Alkoven in der Ecke besaß einen zerrissenen Vorhang, damit heimliche Gespräche geführt, ruchlose Geschäfte abgewickelt werden und Hafendirnen dahinter einen Mann für schnelle drei Kupferstücke mitnehmen konnten. Oder fünf, je nachdem welche Farbe das Tuch hatte, das sie trugen, und wie verderbt der Dienst war, den es repräsentierte.

»Zwanzig Silberstücke sind eine Menge Zaster für ein Mädchen wie dich, Opie. Ich werde dich nicht fragen, woher du es hast, aber es reicht trotzdem nicht, um dich zwischen denen unterzubringen, die über dir stehen. Du würdest das Dreifache brauchen, nur um auch nur durch die erste Runde zu kommen.«

»Ich habe gelernt, wie man Pferde striegelt«, antwortete Opal, »und ich bin bereit, fürs Erste in den Palastställen Pferdemist zu schaufeln.« Das war geflunkert; zwar hatte sie im Hafen einen Mann von der Zuckerküste so lange belästigt, bis er ihr erklärt hatte, wie man ein Pferd striegelte, während sie für einige Kupfer-Drams Ledersättel und eiserne Hufeisen für ihn ablud, aber sie hatte noch nie ein Pferd auch nur angefasst. Fragen zu stellen, war für ein Straßenmädchen die beste Methode, etwas zu lernen, und wenn sie angemessen Respekt und Ehrfurcht an den Tag legte, selbst wenn das geheuchelt war, freuten stolze Menschen sich, mit dem zu prahlen, was sie taten und wussten. Immer mal wieder bekam sie aber auch zu hören, sie solle abzischen und es sich selbst besorgen.

Wanda grübelte noch. »In den Ställen Pferdemist schaufeln ist sicher eine beschissene Position, aber trotzdem außerhalb der Reichweite deiner zwanzig Silberstücke. Die Ställe gehören den Cravels, und Francis Cravel will kein Geld und braucht auch keins. Kannst du noch irgendwas anderes für einen Platz im Palast anbieten? Du bist ein einigermaßen ansehnliches Mädchen, und deine Titten haben sich recht nett entwickelt …«

»Ich werde mich dafür nicht unter einen Mann legen. Es sei denn, er ist adelig. Und nicht älter als dreißig Jahre. Und nicht hässlich.«

Wanda grinste. »Du willst gleichzeitig betteln und wählerisch sein, hm? Das grenzt die Dinge ein wenig ein. Ich kenne tatsächlich den Mann, der die Topfschrubber auswählt. Ein geiler Halbcousin der Kleibücks – beinahe von Adel. Er ist ungefähr fünfunddreißig, und ihm fehlt nur ein einziger Zahn. Kannst du deine Ansprüche ein wenig herunterschrauben?«

Opal schüttelte den Kopf. Sie hatte schon Jungen geküsst – sie war keine zimperliche alte Jungfer. Aber sie hatte sich nie verkauft. Tatsächlich hatte sie sich geschworen, niemals ihren Körper einzutauschen, um dorthin zu gelangen, wo sie hinwollte. Ein Mädchen sollte einen festen Vorsatz haben. Adelige Mädchen hatten Vorsätze. Sie konnte natürlich kein adeliges Mädchen sein, aber sie konnte sich wie ein solches benehmen. Und wenn ich in den Palast komme, kann ich auch so leben.

Wanda seufzte, lächelte jedoch. »Ich war auch mal so wie du, Opie, bevor ich hier gelandet bin. Stolz und wählerisch.« Die Schankfrau warf einen langen Blick durch den Vorhang in die Taverne, auf der Suche nach den Geistern ihrer verlorenen Jugend und Schönheit und nach ihrem eigenen Stolz – den die hartgesottene Frau schon vor Jahren bei einer geschäftlichen Transaktion hinter dem Vorhang verhökert hatte, stellte Opal sich vor. Sie war kein schlechter Mensch, aber das Leben hatte ihr einen gewissen Sinn fürs Praktische aufgezwungen. »Ich würde dir wünschen, dass du es schaffst, Mädchen, aber wenn dir deine kleine Möse heilig ist, was hast du sonst, womit du feilschen kannst?«

Auf diese Frage war Opal vorbereitet. »Ich kenne zwei Geheimnisse, von denen Parise Gould nicht wollen würde, dass sie sich herumsprechen. Ich werde dir das Kleinere der beiden erzählen, um zu beweisen, dass ich auch bei dem anderen die Wahrheit sage.«

Wanda ließ einen Finger in der Luft kreisen. »Heraus damit, Mädchen.«

Sie ist interessiert. Opal schluckte hörbar. »Er besorgt es jungen Straßenratten von hinten. Knaben, die kaum älter als dreizehn Jahre sind. Ich kenne einen, der seine Lenden beschreiben kann. In allen Einzelheiten.«

»Das ist das kleinere der beiden Geheimnisse?« Wandas dünne Augenbrauen schossen in die Höhe. »Gould ist der Getreideminister. Er arbeitet nicht im Palast. Warum willst du ihn erpressen?«

»Ich will ihn nicht erpressen. Aber Pferde fressen Getreide, daher könnten die Cravels vielleicht …«

Sie musste ein halbes Jahr lang Mist schaufeln, bevor man ihre harte Arbeit in den Ställen bemerkte. Sie gab sich Mühe, dafür zu sorgen, dass ihre Stallkameraden gut dastanden, und übernahm ihren Anteil an der Arbeit und sogar mehr. Sie befolgte in den Ställen höflich die Befehle von Tristan Cravel, Francis’ Sohn. Außerhalb der Koppeln freundete sie sich mit denen an, die auf dem Grundstück des Fischpalastes fegten und wischten. Personal, das von den meisten anderen ignoriert wurde. Außerdem beobachtete sie und hörte zu, wenn die Edelleute ihre Reittiere holten. Als sie Francis Cravel fragte, ob er sie im Fischpalast empfehlen würde, erinnerte er sich daran, dass sie ihre Stellung dem Handel mit Geheimnissen verdankte. »Wenn du mir alles erzählst, was du in meinen Ställen gehört hast, lege ich vielleicht ein gutes Wort für dich ein«, sagte er. Und schwupp, kaufte er all ihren Klatsch, bevor sie ihn an jemand anderen verkaufen konnte.

Sie war rasch aufgestiegen. Vielleicht zu rasch. Sie hatte sich die meisten ihrer Standesgenossen unterwegs zu Verbündeten gemacht, aber es blieben ein paar eifersüchtige Mädchen in ihrem Kielwasser. Nach nur zwei Jahren war Opal Spülhilfe und schlief im Dienstbotenhaus auf dem Gelände des Palastes – dem Fischhaus, wie es genannt wurde – und aß Reste aus den königlichen Küchen. Sie stahl sich so oft wie möglich hinaus und kletterte das Spalier hinab, um Lily Mahlzeiten zu bringen. Ihre Schwester umarmte sie immer, bevor sie die schlecht gestopften Würstchen verschlang, die zu klumpig waren, um sie den Edelleuten vorzusetzen, die ansonsten aber wunderbar schmeckten. Und Lily weinte, als Opal ihr einmal gezuckerte Feigen brachte. Gute Tränen. Die Art, die mit einer grimmigen Umarmung endeten.

Als Nächstes stieg Opal zum Linnen auf, und das sollte noch nicht das Ende sein. Sie hatte ein Ziel, das darüber hinaus ging, sich den Schleier einer Zofe zu verdienen – die begehrte Tuchmaske, mit der persönliche Leibdiener der königlichen Familie belohnt wurden –, ein Ziel, das über den Wunsch hinausging, wie ein adeliges Mädchen zu leben. Das wichtigste Ziel von allen. Sehr bald, wenn der Zeitpunkt genau richtig war und sie sich genügend Vertrauen verdient hatte, würde sie mit einem der einflussreichen Vorsteher sprechen und auch Lily aus den Gassen erheben.

»Opal!« Mistress Hilda, die Oberste Kammerzofe, kam in den Dienstbotensalon gestürmt und rief mit lauter Stimme nach ihr, obwohl Opal deutlich sichtbar vor ihr stand. Opal lachte gerade mit Clara, dem Mädchen, das täglich in den Fluren des Palastes die Blumenvasen mit frischen Blumen bestückte, aber sie hörte sofort auf zu lachen, als sie ihren Namen hörte. Mistress Hilda war keine Adelige, aber sie war wichtig. Einflussreich genug, um ein Mädchen im Palast unterzubringen.

»Ja, Mistress?«

»Du hast schon mal Pferde gestriegelt, nicht wahr, Opal? Als du Mist geschaufelt hast?«

»Ja, Mistress. Gewöhnliche Pferde.«

»Du hast ihr Fell gebürstet?«

»Und die Schweife.« Opal machte sich Sorgen. Sie hatte sich aus den Ställen hochgearbeitet und wollte nicht zum Mistschaufeln zurückkehren. Es war eine eklige, harte Arbeit. Ich kann nicht zurück! Auch ihre Schwester wollte sie dort nicht sehen, Lily würde in den Ställen nicht bestehen können. Sie ist nicht stark, nicht so wie ich. Das war der Grund, warum Lily bei den Auswahlprüfungen ein ums andere Mal übergangen wurde. Ihre Schwester brauchte eine leichte Arbeit wie Geschirr spülen oder Kerzen auswechseln. Und niemand in den Ställen war wichtig genug, ihre Schwester im Palast unterzubringen.

»Du hast eine Haarbürste benutzt?«, fragte Hilda.

»Für Rosshaar, ja.« Das schien eine seltsame Frage zu sein.

»Hast du auch geflochten?«

»Ich habe zum Spaß einige Zöpfe geflochten«, flunkerte sie.

»Ich interessiere mich nicht für deinen Spaß.«

»Natürlich nicht. Ich interessiere mich auch nicht für Spaß. Ich habe nur den Wunsch zu dienen.«

»Ich habe ein Problem: zwei kranke Mädchen. Eins ist so bleich, dass sie wie tot aussieht. Sie könnte inzwischen durchaus tot sein. Die wird nicht gehen. Die andere kotzt sich die Seele aus dem Leib. Ich brauche jemanden, der flechten kann.«

»Natürlich. Ja. Ich war die beste Pferdezopfflechterin in den Ställen. Ich kann das.« Perfekt! Dies würde nicht nur einen Aufstieg von den Linnen bedeuten, es konnte auch zu einer leichten Anstellung führen, mit der ihre Schwester fertig werden konnte.

»Also schön«, sagte Hilda. »Geh dich vorbereiten. Du fängst morgen an, und du wirst dein gutes Kleid brauchen.«

»Sofort, Mistress«, antwortete Opal, dann begriff sie, dass sie nicht gefragt hatte, welchem adeligen Mädchen sie aufwarten würde. »Wessen Haar werde ich flechten?«

Hilda warf ihr über ihre Schulter hinweg ein schiefes Lächeln zu. »Das Haar der Königin.«

Kapitel 4 Caspar

Caspar und Pavin schritten die Fliegende Brücke hinauf, die sich über den Zehnpenny spannte. Der Fluss teilte die Stadt wie ein langer Riss in einer Scheibe vom Stamm eines Tuftorbaums. In seiner höfischen Kleidung vor nervösem, jugendlichem Schwung und Ehrgeiz strotzend würde Caspar sich nun seiner königlichen Tante präsentieren, Königin Neveah Moceri.

Vier der Leibwachen der Königin in ihren langen purpurnen Umhängen und den polierten Prunkrüstungen erwarteten sie auf dem höchsten Punkt der hohen gewölbten Brücke. Caspar fragte sich, wie die königliche Leibwache in ihren Umhängen kämpfen konnte – auf dem Übungshof trug niemand solch bauschige Umhänge. Die vier Männer machten das Zeichen der Königin – hakten mit abgewinkelten Ellbogen die Finger ineinander und machten mit den Armen wellenartige Bewegungen, was wie die Repräsentation eines muskulösen Aals anmutete –, dann wandten sie sich ab, um Caspar zu den Fischtoren zu eskortieren. Ich werde ein Lord mit einem Amtstitel sein, dachte Caspar, und zwar von heute an. Er richtete sich hoch auf, wie sein Chorleiter es ihn gelehrt hatte, und reckte die Brust vor, während er vor Pavin her auf die Kuppel des Fischpalastes und seine Zukunft zumarschierte.

Derek Moceri marschierte unter den Leibwachen. Irgendein königlicher Verwandter muss es originell gefunden haben, mich von meinem Cousin eskortieren zu lassen. Das war es nicht. Es war nicht unter Dereks Würde, Caspars großen Tag zu sabotieren. Er war älter, um eine Handspanne größer und anderthalbmal so schwer wie Caspar – zusätzliche Masse, die er früher dazu genutzt hatte, jüngere Knaben mit Stößen und Schlägen zu peinigen, wenn gerade niemand hinschaute. Caspar nahm an, er sollte dafür dankbar sein, dass er wenigstens nicht Dereks Lieblingsopfer gewesen war. Diese zweifelhafte Ehre hatte Erek. Erek tat Caspar tatsächlich beinahe leid.

Der arme junge Vollidiot steckt mehr ein, als er austeilen kann.

Derek, Erek und Caspar waren alle Neffen der Königin – vergleichbar im Rang, doch Derek war der Erste in der Thronfolge, angesichts des sehr öffentlichen Versagens der Königin, einen eigenen Erben zu produzieren. Als erster Sprössling von Anton Moceri, dem ältesten Bruder des verstorbenen Königs, war Derek auch als Erster in den Genuss eines Amtstitels gekommen. Er war in die Leibwache der Königin berufen worden, als Caspar noch seine Ausbildung an der Akademie zu Ende bringen musste. Dereks Pflichten waren geistlos, aber die Position war eine hohe Ehre, hoch genug für einen voraussichtlichen Erben der Krone, wenn auch nicht so hoch wie die Würde eines Botschafters. Dafür ist er nicht klug genug. Größtenteils marschierte er herum, kostete die Speisen der Königin vor und erfreute sich daran, jeden zu bestrafen, der seine geliebte Tante kritisierte. Mit einem Schwert an der Seite und der Autorität der Königin im Rücken war er ein kindlicher Drangsalierer, der zu einem gefährlichen jungen Mann herangewachsen war – ein mürrischer Hund, der die Küche seiner Herrin bewachte.

Caspar hielt es für das Beste, es mit Freundlichkeit zu versuchen. »Heda, Derek. Du trägst schon seit einiger Zeit einen Amtstitel. Irgendwelche Ratschläge?«

»Mein Rat wäre es, die Fresse zu halten, du Unterarsch. Ich soll nicht reden, während ich Kandidaten zur Ernennungszeremonie eskortiere.«

»Ach, papperlapapp. Du brauchst erst zu schweigen, wenn wir die Tore erreichen.«

»Aber ich gelobe, jetzt zu schweigen«, gab Derek zurück. »Der Gedanke, nicht mit dir zu reden, entlockt mir ein Lächeln.« Er lächelte nicht, aber seine drei massigen, stoischen Gefährten taten es und unterstützten seine schäbige Stichelei damit im Stillen. Sie genossen es, ihm dabei zuzusehen, wie er jüngere Männer, vor allem andere Adelige, verhöhnte.

Caspar sah Pavin an, der den Kopf schüttelte und ihm stumm riet, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er tat es nicht. Die Zeremonie war für Adelige, die ihren Titel empfingen, nicht für griesgrämige Leibwachen. Und nicht einmal ein grausamer, muskelbepackter Moceri würde ihm diesen Tag vermiesen. Statt es auf sich beruhen zu lassen, lächelte Caspar Derek an.

»Dein Schweigegelübde wird hiermit akzeptiert. Aber ich habe kein solches Gelübde abgelegt, also wirst du einfach zuhören müssen, während ich rede. Es ist eine Weile her, seit du mir zugehört hast. Ich glaube, seit dem Tag, an dem du deinen Titel bekommen hast.«

Derek funkelte ihn an wie ein Straßenköter mit Maulkorb, denn nun hielten ihn sowohl sein inoffizielles Gelübde als auch seine offizielle Pflicht zurück.

Es tat gut, ihn ein wenig zu ärgern, da er Caspar sowieso Schwierigkeiten gemacht hätte. Derek konnte einen Kandidaten für einen Amtstitel nicht einfach boxen. Er konnte Caspar nicht vor adeligen Mädchen die Hose herunterreißen, wie er das einige Sommer zuvor in der Chorkammer bei Erek gemacht hatte. Und er konnte ihm auch nicht in die Suppe spucken, wie er es einen Monat lang gemacht hatte, bevor Pavin ihn dabei ertappt hatte. Heute nicht.

Caspar schaute über die Stadt hinaus, die er bald als titeltragender Lord durchschreiten würde. Der Zehnpenny schlängelte sich zwischen Wohnhäusern und Geschäften hindurch, die sich bis an den künstlichen Uferwall drängten; einige Backsteinbauten mit bröckelndem Mörtel neigten sich über den Fluss wie betrunkene Seeleute, und etliche der ufernahen Holzhäuser verfaulten in ihren Grundfesten und standen kurz davor, beim nächsten Hochwasser in den reißenden Strom zu stürzen. Es hat keinen Sinn, Altes zu stützen: Sie sollten durch neue, jüngere Gebäude ersetzt werden.

»Es ist nun an mir, eine Halskette umzulegen«, eröffnete Caspar seinem schweigenden Cousin. »Heute Abend werde ich deinen Reihen beitreten. Vielleicht in einem höheren Rang. Man sagte mir, es würden viele Botschafterposten für die frisch eroberten Länder geschaffen.«

»Heiße, abscheuliche Länder«, murmelte einer der Soldaten.

»Ich werde wahrscheinlich die Stadt verlassen«, fuhr Caspar fort. Derek war ebenfalls in seinem Leben noch nicht viel weiter gekommen als Fairhaven gleich hinter dem Rundstein.

»Das werden wir beide tun«, fügte Pavin stolz und völlig unpassend hinzu.

Pavins Unterbrechung ärgerte ihn. Dies war Caspars Tag, nicht der seines Dieners. Es ist wahrscheinlich das Beste, die Dinge gleich jetzt zu klären, überlegte er, bevor Pavin sich blamiert.

»Du bist ein guter Kerl, Pavin, aber die Königin wird mir wahrscheinlich einen erfahrenen Diener zuweisen, der sich unterwegs um meine Bedürfnisse kümmert. Ich bin mir nicht sicher, ob du mitkommen wirst.«

Pavin erbleichte. »Aber ich bin bei Euch, seit ich alt genug bin, Euch zu helfen, den Lehrern vorzugaukeln, Ihr wäret gut mit Zahlen.«

»Was haben dumme Zahlen mit einem Botschafter zu tun?«, blaffte Caspar. »Für solch gewöhnliche Arbeit wird man mir einen Buchhalter geben.«

»Ich bin gut mit Zahlen. Ich könnte …«

»Pavin, du warst ein getreuer Helfer. Aber jetzt brauche ich einen erwachsenen Mann, der sich um meine Belange kümmert.«

»Ich bin genauso alt wie Ihr.«

»Ich werde jemanden benötigen, der mit dem Königreich jenseits dieser Mauern vertraut ist und geschickt im Umgang mit einer Klinge, um mir Rückendeckung zu geben, falls ich gegen Rebellen oder Schurken kämpfen muss.«

Einer der Soldaten hüstelte, und Derek grunzte kurz belustigt, ohne etwas zu sagen.

»Und was wird dann aus mir?«, fragte Pavin.

»Was soll aus dir werden? Dies ist nicht deine Ernennungszeremonie.«

»Und was ist mit der Loyalität einem lebenslangen Freund gegenüber?«

»Keine Sorge, man wird jemand anderen finden, dem du treu ergeben sein kannst.«

Die Banner der sechs großen Territorien Hyaks flatterten an den Toren – eine zitronengelbe Sonne für die Südländer, orangefarbene Melonen vor einem belaubten Hintergrund für die Obstgärten des Nahen Ostens, ernstes Schwarz mit einer Faust darin für das Mittelreich, ein himmelblaues Feld, gesprenkelt mit Korallenriffen für die Gewürzküsten, ein smaragdgrüner Baum für den Lusch und der purpurne Weinkelch Seeblicks für die Wilde Westküste. Neue Banner hingen von Stangen, die hastig in die Steinmauern getrieben worden waren: das Vorgebirge, die Moorlande, die Seen, das Dickicht, Caraval. Sie alle würden Botschafter brauchen, und diese Positionen würden delikate, erfahrene Diplomaten erfordern. Dorthin würde man keine neuen, jungen Gesandten schicken. Caspar interessierte sich mehr für die kleineren Banner, die darunter hingen – die Städte und Grafschaften Hyaks, die Baronien und Vogteien, die Städte, Dörfer und sogar die Weiler. Es war jede Farbe des Regenbogens vertreten, so schien es Caspar, voller Leben und Möglichkeiten, und er fragte sich, welche wohl seine werden würde. Vielleicht das Grün der Obstgärten von Killkenny oder das Himmelblau auf Gold von Maibach. Als er die kristallweiße Flagge der Zuckerküste erspähte, überlief ihn ein Schauer. Die Festmähler in den Gewürzstädten entlang der Zuckerküste waren legendär. Die Gewürzhändler würden einen neuen Botschafter wahrscheinlich mindestens drei Tage lang feiern, mit Tänzerinnen und Feuerspuckern und endlosen Platten mit ihren berühmten Süßigkeiten. Caspar zwang sich zur Ruhe. Jedes der Kerngebiete, ob groß oder klein, würde genügen, und es wäre unehrenhaft, enttäuscht zu erscheinen, wenn er die Zuckerküste nicht bekam. Jedes Territorium würde eine Ehre sein. Obwohl einige mehr Ehre bedeuten als andere. Als Botschafter konnte er nach oben heiraten, statt nach unten. Er konnte weiter blicken als nur bis zu den Töchtern von Baronen. Als Herzogssohn mit einem solchen Amtstitel konnte er eine Großherzogin umwerben. Oder eine Prinzessin.

Er schritt an den Bannern und Flaggen vorbei und streckte die Beine, um mit den Schritten seiner hochgewachsenen, stummen Eskorte mitzuhalten. Pavin huschte hinter ihm her, pflichtschuldig und schmollend. Ringsum sammelten sich die Menschen. Es war sehr aufregend. Heute würden ihn im Hammerfaustsaal mehr Menschen sehen als während seines ganzen Lebens am Hof, wo er zuvor nur ein Zuschauer gewesen war, ein adeliger Junge, der hinter dem Meerechsenbanner der Kleins in der Galerie gesessen hatte.

Bürgerliche, die das Glück gehabt hatten, einen Lotteriestein für die Ernennungszeremonie gezogen zu haben, strömten in den Fischpalast und drängten sich hinter den dicken Seilen, die sich rings um den Rand des riesigen Saals von Errol Hammerfaust spannten. Sie quollen bis in die Vorhalle. Kaufleute und Gelehrte standen vor ihnen auf der anderen Seite der Seile. Die vornehmen Hinterteile des Adels füllten die Holzbänke der Galerie. Es gab neue Reihen für adelige Familien aus den rebellischen Grenzgebieten, die den Waffenstillstand frühzeitig angenommen hatten – hauptsächlich die Vorgebirge und Caraval. Unbekannte Gesichter. Ihre ängstlich blickenden Augen erfassten jedes Wappen und jede Gepflogenheit – die farbigen Flaggen, die Verbeugungen und Knickse. Sie hatten noch nie eine Ernennungszeremonie in Hyak gesehen. Caspar hielt den Kopf hoch erhoben. Er würde gleich in die Geschichte eingehen. Die Ära des Krieges war vorüber, und er würde zu den Ersten gehören, die auf einen königlichen Posten berufen wurden, der von den Grenzländlern bestätigt wurde.

Er paradierte vorbei an der Menge, spürte die Blicke, kostete sie aus. Er war Absolvent von Hyaks feinster Akademie – Seeblicks altehrwürdiger Küstenakademie für Knaben – mit einem guten Ruf bei den Meistern und Tutoren, und er erinnerte sich an seine Lektionen. Jene, die herrschen wollen, müssen härter arbeiten als jene, über die sie herrschen wollen.