Die Grenze - Marianne Gronemeyer - E-Book

Die Grenze E-Book

Marianne Gronemeyer

0,0

Beschreibung

Seit Menschengedenken arbeiten wir uns an ihnen ab: Kinder loten ihre Grenzen aus, Ländergrenzen werden umkämpft und vor »Eindringlingen« geschützt, und die Medizin zögert die letzte aller Grenzen, den Tod, immer weiter hinaus. Doch je mehr wir versuchen, Grenzen zu überwinden und aufzulösen, desto stärker kehren sie zurück: sei es in Form von »Grenzwerten«, sei es in Form von »Obergrenzen« des vermeintlich Zumutbaren. An den Grenzen scheiden sich die Geister. Entgrenzung und neue Grenzsetzungen überlagern sich in einem paradoxen Durcheinander. Welche Grenzen sind sinnvoll, welche nicht? In einem Rundgang durch unsere Kultur lotet Marianne Gronemeyer aus, wie Grenzen zustande kommen, was sie bedeuten – und was sie uns darüber sagen, wer wir sind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 295

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marianne Gronemeyer
Die Grenze
Was uns verbindet,indem es trennt
Nachdenken über ein Paradoxder Moderne
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 oekom, München oekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Dr. Manuel Schneider, oekom e. V.Satz: Ines Swoboda, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-509-5
Vorwort
EinleitungDas Geheimnis der Grenze
Kapitel I Drinnen und Draußen
Kapitel II Schwellen – Türen – Wände
Kapitel III Wachsen und Lernen – zwei Grenzerfahrungen
Kapitel IV Grenzenlose Grenzwerte
Kapitel V Grenzen wahren
Kapitel VI Ankunft ohne Zukunft
Kapitel VII Wir und die Anderen
Anmerkungen
Literatur
Über die Autorin
Ich widme dieses Buch meinem Bruder Dietrich, der über die Grenze gegangen ist, und seinem Freund Dodo und ihrer einzigartigen Freundschaft, die sie über die Grenze hinweg verbindet.

Vorwort

Es gibt sehr viele Gründe, ein Buch zu schreiben. Vielleicht meint man, man hätte etwas mitzuteilen. Vielleicht hofft man, man könnte eine öffentliche Debatte anzetteln. Vielleicht möchte man diszipliniert und konzentriert einer Frage nachgehen, die einem unter den Nägeln brennt. Vielleicht möchte man etwas Unverstandenes verstehen lernen. Was mich betrifft, so habe ich mich mit einem schwierigen Text von Ivan Illich (1926–2002) aus seinen letzten Lebensjahren herumgeschlagen.1)
Ich wusste, dies war ein außerordentlich wichtiger Text, der unbedingt gehört werden sollte in der beunruhigenden Gegenwart, der aber, auf wenige Seiten zusammengedrängt, wie verschlossen und versiegelt war. Und so habe ich ihn durch eigenes Schreiben zu entschlüsseln versucht. Es geht in diesem Text um Grenzen, die einerseits auf unheilvolle Weise verschwinden und sich andererseits beliebig vermehren. Was ich über das Entstehen und Vergehen von Grenzen herausgefunden habe, habe ich zu Papier gebracht. Es ist dabei nicht gerade ein Kommentar zu dem Ausgangstext entstanden, aber so etwas wie Reflexionen in seinem Umfeld. Jedenfalls erklärt diese Entstehungsgeschichte, warum ich mich in dem Buch so überproportional häufig auf Ivan Illich beziehe, der für mich auch sonst – wenngleich heute kaum noch bekannt – einer der wichtigsten Denker unserer Zeit ist.
Besonderen Dank möchte ich Manuel Schneider vom oekom verlag sagen, der auf geduldige, umsichtige und anregende Art die ziemlich stockend ausgehändigte Kapitelfolge bearbeitet hat. Und Reimer Gronemeyer, der wie immer der erste Hörer der geschriebenen Seiten gewesen ist, und all denen, die in den Jahren der Entstehung in unseren Gesprächen im Wiesbadener »Laden« und auf den Friesenheimer Sommeruniversitäten, oft ohne es zu wissen, Bausteine geliefert haben zum Fortgang der Gedanken.
Marianne GronemeyerFriesenheim, Ostern 2018
1)  Illich, Ivan: Philosophische Ursprünge der grenzenlosen Zivilisation, in: Weizsäcker, Ernst Ulrich von (Hrsg.): Grenzenlos, Berlin/Basel/Boston 1997, S. 202–211.
Einleitung
Das Geheimnis der Grenze
Grenzen sind unmodern. Sie haben sich überlebt. Und darum verschwinden sie, teils lautlos, teils mit Getöse. Die globalisierten Verhältnisse sind ungerührt über sie hinweggegangen. Natürlich gibt es sie immer noch, aber spätestens seit Tschernobyl und erst recht seit der Etablierung des Internets wissen wir, dass Grenzen nichts mehr aufhalten können. Den relevanten modernen Ausbreitungen gegenüber sind sie als Hemmnisse irrelevant. Das ist die eine Lesart. Die andere sagt, dass »uns die Globalisierung – trotz des ganzen Geredes über Mobilität und schwindende Entfernungen – eine Welt der Barrikaden und Trennlinien beschert hat, in der ganze Völker offenbar in einer anderen Geschichte als der meinen leben und sterben«.1 An den Grenzen scheiden sich die Geister. Die einen beklagen ihren Fall als unwiderruflichen Verlust, als ein kulturelles Artensterben, als Übergang in ein weltweites Einerlei; die anderen propagieren Barrierefreiheit in jeder Hinsicht als zukunftsweisend. Und wieder andere stellen nur nüchtern fest, dass beides gleichzeitig passiert, das Abschmelzen und das Aufbauen von Grenzen, ohne sich darüber zu beunruhigen, welcher Logik diese Doppelbewegung folgt.2
Neuerdings sind die totgesagten Grenzen wieder im Kommen. Mögen sie auch der radioaktiven Wolke, den Informations-, Waren- und Finanzströmen nichts mehr entgegenzusetzen haben, gegen die »Flüchtlingsströme« taugen sie immer noch. Also wurden sie – mitten in Europa – wieder scharf gemacht, mit Stacheldraht, Grenzpatrouillen und der Illegalisierung derjenigen, die sie nicht respektieren. Auch der 45. amerikanische Präsident gewann seine Wahl mit dem Versprechen, eine Mauer zu bauen, zwischen den USA und Mexiko, um Amerikaner vor Mexikanern zu schützen, nicht umgekehrt.
Ist also die Tendenz der kontinuierlichen Entgrenzung unseres Möglichkeitsraumes rückläufig? Sehnen sich die Menschen auf einmal wieder nach übersichtlichen Verhältnissen? Gewiss, diese Sehnsucht gibt es. Und dennoch: Die tiefe Abneigung gegen alles Begrenzende ist ungebrochen. Die viel und besorgt beschworenen »Grenzen des Wachstums« werden unaufhörlich ausgetrickst. Und tagtäglich wird das »technogene Milieu« (Ivan Illich), das uns umfängt, durch grenzensprengende Neuerungen perfektioniert, die samt und sonders darauf abzielen, die Menschen entweder ganz zu ersetzen oder zu Anhängseln einer selbstgängigen, ›intelligenten‹ Maschinerie zu machen. Das wissenschaftlich-technisch-ökonomische Komplott duldet keine Begrenzung, schon gar nicht durch die conditio humana oder sentimentale Erwägungen darüber, was den Menschen erlaubt und was ihnen nicht erlaubt ist. »Can implies Ought.«3 Was der Mensch kann, das soll, das muss er machen.
Auch die Mobilität bleibt trotz der wiedererstandenen Grenzen grenzenlos. Allerdings nur in eine Richtung: von hier nach dort. Endlose Migrantenströme ergießen sich alljährlich in die fernsten Weltgegenden und verschaffen sich zu ihnen Zutritt, überzeugt, dass sie den dort ansässigen Bewohnern durch ihre schiere Anwesenheit und die zurückgelassenen Devisen eine Wohltat erweisen, und vollkommen ahnungslos über die Verwüstungen, die sie anrichten. Wenn sie bis zur nächsten Invasion wieder verschwinden, haben sie – nur zum Vergnügen – die Wasserreserven einer ganzen Region verbraucht, den Boden für den Anbau von Nahrung unbrauchbar gemacht und eine Infrastruktur beansprucht, die das Land sich nicht leisten kann. Aber die westlichen Vergnügungsnomaden und Alltagsflüchtlinge wären erstaunt, wenn man ihnen die Einreise verweigerte und ihnen zu verstehen gäbe, sie seien unerwünscht. Dieses zweierlei Maß wird in der Flüchtlingsdiskussion erstaunlich wenig erörtert.

›Grenze‹ – ein Begriff, viele Bedeutungen

Unter dem Begriff ›Grenze‹ werden so vielgestaltige Phänomene abgehandelt, dass es kaum noch möglich ist herauszufinden, was sie denn eint, sodass sie auf einen Begriff gebracht werden könnten. ›Grenze‹ ist ein Schlüsselbegriff der Gegenwart, von existenziellem Ernst und nichtssagend zugleich. Der Geltungsbereich dieses Begriffs weitet sich unablässig aus, und seine Eignung für die Deutung beliebiger Erscheinungen des Daseins ist unerschöpflich. Das macht ihn herrlich systemkompatibel. Wie ›System‹ selbst ist auch ›Grenze‹ zur Leitidee der Moderne gekürt worden und zwar in mehrerlei Gestalt: als Begrenzung und Entgrenzung, als Ein- und als Ausgrenzung.
Es gibt kaum eine wissenschaftliche Disziplin, die sich nicht in ihren Kernaussagen auf diesen Begriff beruft, und auch in der Alltagswelt spielt er eine immer größere Rolle. »›Grenze‹ (ist) sowohl ein politisch-geographisch-lebensweltlicher Begriff als auch selbst schon ein philosophischer.«4 Das Wort dient einerseits zur Beschreibung harter Realitäten und führt andererseits ein Eigenleben als Metapher in Fragen von existenzieller Bedeutung. ›Grenze‹ ist ein Begriff der Kulturgeschichte, eine philosophische Kategorie, eine wesentliche Komponente der Erkenntnistheorie, etwa in der Bestimmung der unübersteigbaren Grenzen der Erkenntnis. Sie hat eine zentrale Bedeutung für die Begriffsbildung im Sinne der ›Definition‹ (finis),5 ebenso wie der ›Determination‹, die auf den ›Terminus‹, den Grenzstein, verweist. Sie spielt in der Sprachtheorie eine Rolle, zum Beispiel als Grenze der Sagbarkeit, und natürlich in der Mathematik, der Kosmologie, der Anthropologie, der Psychologie und der Ökonomie.6 Darüber hinaus variieren die Bedeutungen in den einzelnen Landessprachen und werden aufgeladen mit regionalen historischen Erfahrungen.
»Neben die Vielfalt von Begriffen für Grenzen in den einzelnen Sprachen treten aber außerdem noch Ausdrücke, die abstrakte Abgrenzungen konkret vertreten: Hoheitszeichen und Grenzsteine, Mauern und Zäune, Schwellen oder Schranken, und nicht zuletzt natürliche Grenzzeichen, die unserem Blick Einhalt gebieten, wie Wolken oder Horizontlinien.«7 Auch Türen, Fenster, Wände, Schlagbäume, Wachtürme, Zollstationen usw. können in diesem Sinne stellvertretend gebraucht werden und mit unterschiedlichen symbolischen Akzenten das je besondere Verhältnis zwischen dem Diesseits und dem Jenseits der Grenze bestimmen.
Grenzen waren von alters her vieldeutige und besondere Orte, an denen sich Außerordentliches ereignete. Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens beschreibt auf zwanzig Seiten die Gebräuche, Rituale und Vorsichtsmaßnahmen, die – von Ort zu Ort, Region zu Region verschieden – an der Grenze notwendigerweise befolgt werden mussten, um Unheil an diesem heiklen Ort zu verhüten, ihm Respekt zu zollen und die Kraft der Grenze zu stärken. Denn: »Es umwebt überhaupt die G. mit ihrer abwehrenden und festbannenden Macht […] eine starke Scheu, sie ist umspielt von den verschiedensten unheimlichen Gewalten.«8 Das Grimmsche Wörterbuch widmet der ›Grenze‹ mit all ihren Komposita 78 Spalten, um ihrer Vieldeutigkeit Rechnung zu tragen.9 Und für das alles haben wir in der deutschen Sprache nur das eine Wort.
In den anderen europäischen Sprachen stehen für diese Bedeutungsvielfalt immerhin jeweils einige differenzierende Begriffe zur Verfügung, die ein wenig Ordnung in das Begriffsgewimmel bringen. »Im Englischen (zum Beispiel) gibt es border, boundary, limit und […] frontier. Borders sind vor allem Ränder und Säume; boundaries die Demarkationslinien, limit die Grenzen im übertragenen Sinn. Frontier bekommt noch einmal eine besondere Färbung durch die Bedeutungsgeschichte im amerikanischen Englisch, denn die US-amerikanische Geschichte ist geprägt durch ein stetiges Fortschreiten der Besiedlungsgrenze nach Westen, die mit dem Begriff frontier belegt und damit mythisch aufgeladen wird […]. [Sie ist] der Punkt, wo Wildnis und Zivilisation aufeinanderstoßen. Frontier wird dann auch zur Metapher jeder neuen Herausforderung […]«10 Dieser Mythos des Go West hat jedoch mit den alten Mythen, die sich um Grenzen rankten, kaum noch etwas gemein. Moderne Grenzen haben überhaupt nichts Gespenstisches mehr, und die Vorstellung, sie würden besiedelt von Dämonen und dunklen Mächten, findet sich tatsächlich nur noch im Wörterbuch des Aberglaubens. Wir haben uns abgewöhnt, Grenzen als von sich aus wirkmächtig zu denken. Wir billigen ihnen keine »abwehrende oder festbannende Macht« zu. Wir pflegen einen nüchternen und pragmatischen Umgang mit ihnen. Uns interessiert, was man mit Grenzen machen kann, nicht, was sie uns darüber sagen, wer wir sind. Und machen kann man allerlei mit ihnen. Man kann sie schleifen, zum Verschwinden bringen, aufrichten, befestigen, bewehren, ignorieren, verschieben, überspringen, verhandeln und über sie hinweggehen. Wo sie dem Fortschrittsstreben im Wege stehen und den Beschleunigungsdrang hemmen, müssen sie verschwinden, und um die fortschrittlichen Errungenschaften gegen mögliche Rivalen zu sichern, müssen sie wehrhaft werden. Das scheint eine Klarheit schaffende Faustregel zu sein, die dem Grenzgeraune der Alten ein Ende setzt.
Aber auch wenn wir zaunreitende Hexen, die Friedhofsmauer umlagernde Gespenster und flammenschwerttragende Engel an der Paradiespforte aus unseren Vorstellungen verbannt haben, bleibt doch die Frage, was die mexikanische Mauer und die Stacheldrahtverhaue auf der Balkanroute gemein haben mit der Grenze, die Tod und Leben voneinander scheidet, oder jener, die zwischen Ich und Du verläuft, zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, zwischen Erfolg und Scheitern, zwischen Verrücktheit und Normalität, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Und wie passen die »Grenzen des Wachstums« dazu, die ja einen neuen Typus von Begrenzung boomen lassen: die Grenzwerte?

»Grenzgulasch« – oder die zweifelhafte Autorität von Grenzwerten

Grenzwerte können geradezu als prototypisch für das moderne Grenzverständnis gelten. Sie steigern das Volumen der Grenzbelange ins Unermessliche und schaffen eine wachsende Unübersichtlichkeit. Sie haben sich jedoch so sehr in den Vordergrund unseres Denkens über Grenzen geschoben, dass ›Grenze‹ und ›Grenzwert‹ zum Synonym geworden sind. Tatsächlich aber sind Grenzwerte eine Perversion von Grenze und widersprechen deren Wesen. Grenzwerte markieren in allen gesellschaftlichen Bereichen die Grenze zwischen dem, was gerade noch geht, und dem, was nicht mehr geht.
In der Ökologiedebatte wird auf internationalen Konferenzen fast ausschließlich um Grenzwerte gerungen: Welche Menge an Schadstoffen, Lärm, Müll und Rohstoffverbrauch ist gerade noch tolerierbar für das Klima, für die Gesundheit der Menschen, den Bestand des Waldes oder die Grundwasserreserven? Strengere Grenzwerte werden von den einen als Sieg gefeiert und von den anderen als Niederlage verbucht – bis zur nächsten Verhandlungsrunde.
Die von der Weltgesundheitsorganisation dekretierten Grenzwerte entscheiden über Gesundheit und Krankheit – weltweit. Es ist ganz normal geworden, auf die Frage nach jemandes Wohlergehen die beim letzten Gesundheitscheck ermittelten Werte präsentiert zu bekommen.
Im Bildungswesen entscheiden Grenzwerte darüber, wer – gerade noch – für tauglich befunden und wer als Drop-out ausgemustert wird.
In Ethikkommissionen wird über die Bestimmung der Grenze zwischen Tod und Leben verhandelt.
In der Flüchtlingsfrage wird erbittert darüber gestritten, ob es eine »Obergrenze« geben solle oder dürfe, die zahlenmäßig festlegt, wie viele Zuzügler ein Land sich gefallen lassen muss. Es gibt nämlich ganz allgemein Ober- und Untergrenzen. Für Obergrenzen gilt, dass alles, was sie übersteigt, von Übel ist, Untergrenzen dürfen umgekehrt nicht unterschritten werden.
Mit Grenzwerten gehen wir heute ganz selbstverständlich um. Sie geben Anlass zu Hoffnungen und Befürchtungen. Und wir haben willig akzeptiert, sie als Maßstäbe für Richtig und Falsch, ja sogar für Gut und Böse gelten zu lassen. Man mag glauben, dass solche klaren Markierungen die Entscheidungen über recht und schlecht enorm erleichtern, in Wahrheit machen sie sie unmöglich.
Grenzwerte haben, obwohl sie eine relativ junge Erscheinung im allgemeinen Grenzwesen sind, eine enorme Autorität und sind so sehr zur modernen Selbstverständlichkeit geworden, dass die Frage nach ihrer legitimen Abkunft sich nicht mehr stellt. Ob in der Bildungs-, Gesundheits-, Verkehrs-, Umwelt- oder Sozialpolitik, überall werden wir am Gängelband von Grenzwerten geführt, das heißt mit rein quantitativen Kalkülen am Denken und Fühlen gehindert. Sie schieben sich zwischen mich und meine Erfahrung von Wirklichkeit, die mir als konkretes Gegenüber entschwindet. Sie nötigen mir eine Verantwortung auf für etwas, das es gar nicht gibt, eine fingierte Wirklichkeit, die nur aus Rechenoperationen besteht: Gesundheit, Bildung, Umwelt, Natur, Sozialität, ja sogar das Gewissen: lauter Gebilde, die nur noch durch Zahlen repräsentiert werden. Wie gebildet jemand ist, entscheidet sich daran, wie viele Unterrichtsstunden er abgesessen hat; wie mobil, daran, wie viele Kilometer per annum er sich – angeschnallt übrigens – in motorisierten Vehikeln hat herumkutschieren lassen; wie gesund jemand ist, an einer unendlichen Latte von Werten, die einen wissenschaftlich ermittelten Normalzustand definieren, dem man möglichst nahe kommen muss; wie überlebens- und zukunftsfähig wir sind, zeigt sich an ausgetüftelten Modellen, Prognosen und Computersimulationen, die uns über die Grenzen der Belastbarkeit »unseres Planeten« instruieren. Ivan Illich nannte diese über uns hereinbrechende Flut von Grenzwerten, mit denen unsere Selbst- und Weltwahrnehmung stranguliert wird, respektlos »Grenzgulasch« und den Geist, dem sie entsprangen, »Grenzwut«.11 Nichts spricht allerdings dafür, dass uns diese in den Suppenküchen der Statistiker zusammengekochten Grenzwerte gesünder, lebendiger, gebildeter, beweglicher oder auch nur überlebensfähiger machen. Aber dass sie ohne Wirkung wären, kann man ihnen dennoch nicht nachsagen. Ob Grenzen verschwinden oder ob sie unablässig vermehrt werden, ist nicht ausgemacht. Und ob sie verschwinden sollten oder gehütet werden müssen, auch nicht.
Aber trotz dieser Heterogenität, die scheinbar jeden Zusammenhang all der Phänomene, die heute mit dem Grenzbegriff belegt werden, vermissen lässt und ein großes Durcheinander von Divergentem erzeugt, schwant uns, dass das alles doch untergründig zusammenhängt und zum Geist der Moderne und des sogenannten Fortschritts passt. Um auf die Spur dieser Gemeinsamkeit zu kommen, müssen wir, wie eigentlich immer, wenn wir auf Spurensuche gehen, uns erst einmal von dem Gegenstand, den wir betrachten wollen, distanzieren. Die modernen Vorstellungen davon, was eine Grenze sei und bedeute, haben sich allerdings, wie Illich beobachtet, »so sehr im Erleben verankert […], dass sie weder weggedacht, noch bedacht werden können«. Es ist also gar nicht so leicht, auf Distanz zu ihnen zu gehen und die »absolute Neuartigkeit der heute dominanten Verwendung des Wortes und des Begriffes von ›Grenze‹«12 zu gewahren. Grenze war beileibe nicht immer schon, was sie heute ist.

Die gemachte und die erkannte Grenze

Aber obwohl uns modernen Zeitgenossen das Sensorium für ein anderes Grenzerlebnis abhandengekommen ist, können wir uns nicht ersparen, diese vollkommen selbstverständliche Grenzidee, die sich als unbestrittene Voraussetzung unseres Denkens, Fühlens und Handels in uns festgesetzt hat, durch Zweifel zu entmachten.
»Was ist aber eine Grenze?«, fragt der Philosoph Konrad Paul Liessmann in dem Buch, das er dem »Lob der Grenze« gewidmet hat, und er antwortet: »Aller Anfang setzt eine Grenze. Und wer etwas beginnt, zieht eine Grenze. Jetzt ist es nicht mehr so, wie es war.« Eine Grenze ist vorab »nicht mehr und nicht weniger als eine wirkliche oder gedachte Linie, durch die sich zwei Dinge voneinander unterscheiden. Wer immer einen Unterschied wahrnimmt, nimmt auch eine Grenze wahr, wer immer einen Unterschied macht, zieht eine Grenze. […] Wäre alles unterschiedslos, gäbe es auch nichts zu sehen, nichts zu identifizieren, nichts zu wissen.«13 Das klingt recht plausibel, hilft aber nicht weiter. Denn wenn tatsächlich Grenze überall ist, dann versinkt sie ihrerseits im unterschiedslosen Einerlei, dann können wir sie ihrerseits nicht identifizieren, dann ist sie sinn- und bedeutungslos, und wir können uns ihrer Allgegenwärtigkeit wegen nicht zu ihr verhalten und nichts über sie wissen.
Anders, wenn wir fragen, wie Grenzen zustande kommen: Sie können einerseits gemacht und andererseits erkannt werden.14 Eine Grenze, die erkannt oder wahrgenommen wird, ist eine gänzlich andere als jene, die gezogen oder gesetzt wird, und sie fordert eine völlig andere Haltung heraus. Die überwiegende Mehrzahl der heute geltenden Grenzen ist gesetzt. Grenzen werden dekretiert, aus Sicherheitsgründen für notwendig befunden und von Akteuren installiert, die auf irgendeine Weise dazu befugt sind oder sich Befugnis anmaßen, sei es durch Macht, sei es durch Expertenwissen, sei es durch behauptete moralische Überlegenheit. Sie sichern Einflusssphären und Besitzstände.15 Interessanterweise sind diese Grenzen, so pompös und autoritär ihnen Geltung verschafft wird, völlig kraftlos. Sie bringen von sich aus, aus eigener Stärke und Widerständigkeit keine begrenzende Wirkung hervor, wie etwa ein Fluss, der eine Landschaft in hüben und drüben teilt, in diesseits und jenseits der Ufer. Gemachte Grenzen müssen mit einem immensen Aufwand an professionellen, militärischen, polizeilichen, pädagogischen und ethischen Dienstleistungen aufrechterhalten werden, müssen kontrolliert, überwacht, verwaltet, befestigt, rechtlich abgesichert und verteidigt werden, ganz gleich, ob es sich dabei um territoriale Grenzen oder um das »Grenzgulasch« der Grenzwerte handelt oder um die existenzielle Grenze, die zwischen Tod und Leben aufgerichtet wurde.
Die andere Grenze, diejenige, die ich erkenne oder wahrnehme, hat ein merkwürdig schillerndes Wesen. Sie ist einerseits da. Denn nur etwas, was da ist, kann ja erkannt werden. Andererseits entsteht und gilt sie erst dadurch, dass sie erkannt und anerkannt wird. Um diese Grenze zu gewahren, sind die Sinne gefragt: Empfänglichkeit und Empfindlichkeit, nicht Tatendrang. Wer Grenzen erkennen will, muss ein Gespür für das Angrenzende kultivieren, nicht eine Strategie der Abgrenzung entwickeln. Er muss hören, nicht wirken; schauen, nicht bauen.
Es gibt also Grenzen, die entstehen, ohne dass sie gemacht werden. Sie entstehen dort, wo Verschiedenes aneinandergerät, es also miteinander zu tun bekommt. Um diese dem flüchtigen Hinsehen verborgenen Grenzen zu gewahren, braucht es einen Riecher, einen sechsten Sinn für den Unterschied, für das Andere, für das Unbekannte. Ob man den hat oder nicht hat, ist nicht so sehr eine Frage der Begabung, sondern der Übung. Unter dem Regime des weltweiten Konsumismus wird Verschiedenheit nur noch als das Oberflächenphänomen des Modischen geduldet oder allenfalls als Kuriosität. Unterhalb dieser Oberfläche der Pseudoverschiedenheit werden alle Differenzen beseitigt. Alles muss mit allem vergleichbar, alles auf eine bezifferbare Weise bewertbar, alles käuflich und verwaltbar werden, damit es sich dem »technogenen Milieu« (Ivan Illich) widerstandslos einfügt. Das Andere und das Fremde, das Staunenswerte und das Überraschende, die Anderen und die Fremden sind aus unserem Alltag verschwunden. Das scheint angesichts der grassierenden »Angst vor den anderen«,16 die geradezu panische Züge angenommen hat, eine ziemlich leichtfertige Behauptung zu sein. Aber vielleicht handelt es sich bei dieser Angst gar nicht um die Xenophobie, die Fremdenangst, die allenthalben diagnostiziert wird. Vielleicht ist das, was uns an den Anderen besorgt, nicht ihre Andersheit, sondern die Tatsache, dass sie uns so sehr gleichen. Vielleicht fürchten wir gar nicht so sehr, dass sie uns unsere Eigenart streitig machen, sondern dass sie es auf unser Eigentum abgesehen haben. Sie wollen das Gleiche wie wir, Teilhabe an der Warenfülle und an dem gesellschaftlichen Reichtum; und nicht weil sie anders sind, sondern weil sie uns so ähnlich sind, fürchten und beargwöhnen wir sie als bedrohliche Rivalen.
Aber obwohl die »Furie des Verschwindens« umgeht, ist das Andere noch in der Welt, nicht im Großen und Ganzen, sondern in kleinen lokalen Szenen, in winzigen Gesten, die leicht übersehen werden können, in Erinnerungen und Erfahrungen, die verächtlich gemacht werden, zwischen Buchdeckeln, in Könnerschaften, die immer weniger gebraucht zu werden scheinen, und im »offenen ungeschützten Antlitz des Anderen« (Emmanuel Levinas).17 Aber es ist nicht leicht zu finden, es ist fast unbemerkbar im Lärm des tosenden Mainstreams. Man müsste sich in der Kunst der Verwunderung üben und die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, kultivieren. Man müsste seine gespannte Aufmerksamkeit auf die Suche nach der Andersheit richten – und Hoffnung dareinsetzen.
Aber wenn wir ihrer gewahr werden, werden wir damit belohnt, dass wir uns im Spiegel der jeweiligen Andersheit auf je verschiedene Weise erkennen können und dabei Mal um Mal lernen, »Ich« zu sagen.

Hüben und Drüben – oder die Verhältnismäßigkeit der Grenze

Ivan Illich hat unsere Lebensverhältnisse als ein »drübenloses Hüben« charakterisiert, als ein Hier, dem sein Dort, ein Diesseits, dem sein Jenseits abhandengekommen ist. Er datiert diesen Verlust des »Jenseits der Grenze« auf das Ende des 18. Jahrhunderts und bringt ihn mit der Leibniz’schen Monadenlehre in Zusammenhang. Seither werde bei der Verwendung des Ausdrucks ›Grenze‹ »zunehmend von einem jenseits der Grenze Liegenden abgesehen«. Die Grenze trennt nicht mehr Etwas von seinem Anderen, sondern umschließt ein monadenhaftes Etwas. Monaden »›grenzen nicht an‹: jede ist durch sich selbst limitiert. Sie ist die Grenze ihres inneren Aufbaus.«18 Georg Simmel vergleicht diese sich selbst umgrenzende Einheit mit einem gerahmten Bild: »Der Rahmen, die in sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk. An diesem übt er die beiden Funktionen, die eigentlich nur die zwei Seiten einer einzigen sind: das Kunstwerk gegen die umgebende Welt ab- und es in sich zusammenzuschließen; der Rahmen verkündet, daß sich innerhalb seiner eine nur eigenen Normen untertänige Welt befindet, die in die Bestimmtheit und Bewegungen der umgebenden nicht hineingezogen ist; indem er die selbstgenügsame Einheit des Kunstwerkes symbolisiert, verstärkt er zugleich von sich aus deren Wirklichkeit und Eindruck.«19
Das Bild scheint durch seine Rahmung tatsächlich von den Bedingungen, die außerhalb seiner gelten, befreit zu sein und seinen eigenen Bestimmungen folgen zu können. Es konstituiert eine eigengesetzliche Welt, ein Abseits.20 Aber was wird aus einem sozialen Binnenraum, der in Analogie zum gerahmten Bild gedacht ist? Was geschieht, wenn sich ein soziales Gebilde konsequent gegen sein Außen abgrenzt? Die Möglichkeit Innen und Außen als aneinander angrenzend wahrzunehmen, geht dann verloren. Aber aus der Perspektive dieses Innen gilt das nicht als Verlust. Es scheint im Gegenteil von der Grenze, mit der es sich umgibt, enorm zu profitieren: Es gründet sich aus eigener Kraft und Absicht. Die Grenze nach außen stärkt das im Innern entstehende Wir-Gefühl. Die Normen, die sein Zusammenleben regulieren, sind selbstbestimmt und keiner fremden Einmischung ausgesetzt. Es nützt sich selbst und wird dadurch zunehmend imposant. So entsteht ein Eigenes, das zum überlegenen Eigentlichen aufgewertet wird, zur sogenannten Identität, die ja im gängigen Sprachgebrauch immer zugleich Übereinstimmung mit sich selbst und Abwertung des Anderen ist. Aber was in diesem verabsolutierten Hüben als Souveränität wahrgenommen wird, dass nämlich die Insassen nur ihren eigenen Normen und Deutungen untertänig sind, ist – mangels Alternative – eine Gefangenschaft in einer »selbstgenerierten Definition«.21
Was ist das aber für ein Draußen, vor dem das Eigene geschützt, gegen das es abgeschirmt werden muss? Das Draußen ist Feindesland. Es wird entweder als das rivalisierende, neidgetriebene Gleiche wahrgenommen oder aber als die konsequente Negation des Eigenen. Jenseits der Grenze breitet sich in dieser Optik das Reich des ›Un‹ aus: die Un-vernunft, das Un-heil, der Un-wert, das Un-heimliche, das Un-sichtbare, die Un-ordnung, das Un-wesen. Die Vorsilbe ›Un‹ hat im Laufe der Sprachgeschichte einen folgenreichen Bedeutungswandel erfahren: ›Un‹ ist abgeleitet von ›ohne‹ und wurde ursprünglich auch im Sinn von ›ohne‹ gebraucht. Mittlerweile wird dieses Präfix nahezu ausschließlich im Sinne von ›nicht‹ verwendet.22Diese Bedeutung schließt eine positive Konnotation der mit ›Un‹ gebildeten Wörter kategorisch aus. Wer oder was hingegen ohne Vernunft ist, kann fantasievoll oder voll Hoffnung sein, die ja bekanntlich wider alle Vernunft ist; was ohne Wert ist, kann umsonst sein, reines Geschenk; was ohne Heimeligkeit ist, kann abenteuerlich, aufregend und gefahrvoll sein; wer oder was ohne Sichtbarkeit ist, kann geheimnisvoll, verborgen oder unbemerkt sein. Abwesenheit und Anwesenheit stehen in einem inspirierenden Spannungsverhältnis, wenn ›Un‹ als ›ohne‹ gehört wird. Es besteht eine schöpferische Zweisamkeit zwischen dem Einen und seinem komplementären Anderen. Wird ›Un‹ jedoch als ›nicht‹ gedeutet, dann wird es zur reinen Verneinung eines Positiven. Aus der Zweisamkeit wird Entzweiung, aus Gegenseitigkeit wird Feindschaft.
»Dissymmetrische Komplementarität« (sich wechselseitig ergänzendes Ungleiches)23 wird verkehrt zum schieren Dualismus (zum sich wechselseitig ausschließenden Gegensatz). Das Unwesen nichtet dann das Wesen, der Unverstand bedroht den Verstand, und die Unordnung gefährdet die Ordnung.
Wenn sich Hüben und Drüben unversöhnlich gegenüberstehen, wenn diesseits der Grenze der »reine positive Mehrwert des Lebens«24 gehortet wird und von jenseits der Grenze ein Ansturm des »Geistes, der stets verneint«, befürchtet werden muss, dann gibt es zwei mögliche Gegenwehren: Abschottung und Integration. Beide zielen auf dasselbe, nämlich die positiven Errungenschaften des eigenen Wesens rein zu halten von allen Beimengungen des Unwesens. Ganz nebenbei wird zum Schutze des Hüben dem Drüben seine Eigenheit abgesprochen, es erschöpft sich in seiner Negativität. Ungeheure Vermeidungsanstrengungen sind notwendig, um sich vor dem im Fremden verkörperten Unwesen zu feien, indem man sich dagegen verbarrikadiert oder es besiegt und es zwingt, in die Positivität des Hüben überzuwechseln; also dem Anderen – sei es Mensch oder Natur – jene Gewalt anzutun, die wir heute als »Integration«25 verhandeln. In dieser Doppelstrategie von Abschottung und Einverleibung finden wir jenes Moment, das das Sammelsurium der Grenzphänomene eint: Der Tod wird aus der Gemeinschaft der Lebenden ebenso herausgehalten wie die Fremden aus »unserer Identität«. Krankheit, Unbildung, Leid, Angst, Trauer, Unsicherheit, Mühsal, Sorge, alles, was den reinen Mehrwert des Positiven beeinträchtigt, wird unschädlich gemacht durch Exorzismus /Austreibung oder Gleichschaltung /Anpassung. Grenzen erlauben beiden Seiten, in ihrer Gegensätzlichkeit aneinander zu wachsen und zu reifen; sobald es um Siegen und Verlieren geht, um Einschließung und Ausschließung, erlischt ihre Kraft.
Das als Unwesen verfemte Drüben ist dem friedlichen Miteinander abträglich, kann aber sehr wohl ökonomisch ausgebeutet werden. Damit die diversen Grenzen, die zwischen Wesen und Unwesen aufgerichtet werden, ihrer Aufgabe gerecht werden können, werden ganze Geschwader von Dienstleistern benötigt, um das komplizierte Grenzwesen sachgemäß zu verwalten, immer neue Wirtschaftsbranchen werden eröffnet, die sich angeblich dadurch auszeichnen, dass sie ungestraft unbegrenzt wachsen können, weil sie in ihrem Naturverbrauch, verglichen mit der industriellen Produktion, maßvoll sind.
Und Wachstum ist es ja, was die kapitalistische Welt im Innersten zusammenhält. Wir leben in einer Dienstleistungsgesellschaft, in der über 70 Prozent der Arbeitsplätze auf Dienstleistungen entfallen, Tendenz steigend. Und nur 0,6 Prozent der Bruttowertschöpfung werden heute noch in der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft erwirtschaftet. Dieses unglaubliche Missverhältnis zwischen den Diensten, die wir in Anspruch nehmen, und der Nahrung, die wir brauchen, gilt immer noch als unbedenklich und die darin sich anbahnende Krise als négligeable im Vergleich zu der Krise, die bei ausbleibendem Wachstum akut würde.
Anders, wenn die Grenze verläuft zwischen dem Eigenen und dem ihm gemäßen, komplementären Anderen. Hüben und Drüben sind dann über die Grenze hinweg aufeinander bezogen, und das bedeutet zweierlei: Sie begrenzen und mäßigen sich wechselseitig, wenn nämlich an der Grenze das Eigene auf das Andere trifft und umgekehrt. Die Grenze ist eine wirksame Trennlinie. Sie hat aber ihre Wirksamkeit dadurch, dass sie durchlässig ist. Sie besteht nur, wenn Grenzpassagen in beiden Richtungen möglich sind. Das Geheimnis der Grenze liegt darin, dass sie, dem Gesetz der Widerspruchsfreiheit zum Trotz, gleichzeitig beides kann: trennen und verbinden. Die Metaphern, die uns für diese widersprüchliche Bedeutung zur Verfügung stehen, sind dem Hausbau entnommen. Das Haus hat Wände, die es umgeben und überhaupt erst existieren lassen. Die Wände haben Durchlässe: Türen und Fenster, die auf je eigene Weise Drinnen und Draußen miteinander verbinden und trennen. Das Dazwischen ist die Schwelle, die Nahtstelle des Übergangs, die die Passage zugleich behindert und ermöglicht.
Die Schwelle ist aber auch ein Ort der Verwandlung, der es möglich macht, dass Hüben und Drüben sich in Ansehung des jeweiligen zugehörigen Anderen einerseits als eigensinnig und andererseits als wandlungsfähig erfahren und erleben können. Sie sind aufeinander angewiesen, aneinander verwiesen. Hüben und Drüben verhelfen sich wechselseitig zu ihrem Sosein und begrenzen sich gegenseitig.
Die Urerfahrung der Grenze ist die Grenzlinie zwischen Drinnen und Draußen. »Bedeutende Anthropologen haben darüber gestritten, ob die Wand der Hütte oder der Kochtopf das entscheidende Machwerk war, das dem Neolithiker den Sinn und den Begriff des Gegensatzes von innen und außen ermöglicht hat. Wie dem auch sei, es ist fraglos, daß das Gegenüber von inwendig und auswendig […] für jede Kultur, jedes Ethos eine Voraussetzung ist.«26
Und darum wird die Abfolge der sieben Kapitel dieses Buches, die sich aus je verschiedenem Blickwinkel der Frage nach Sinn und Bedeutung von Grenzen stellen, im ersten Kapitel mit einer Betrachtung über das Verhältnis von Drinnen und Draußen, Hinüber und Herüber, inwendig und auswendig beginnen. Im zweiten Kapitel wird das Verschwinden der Grenzen Thema sein, auch wenn die Frage, ob uns das mehr Freiheit oder eine weltweite Gleichschaltung beschert, nicht entschieden werden kann, solange wir nicht wissen, von welcher Art von Grenzen wir sprechen. Das dritte Kapitel wird uns mit dem Dilemma konfrontieren, dass unsere Verhältnisse so eingerichtet sind, dass wir unter enormem Wachstumsdruck stehen, während wir gleichzeitig wissen, dass dieses Wachstum unseren Untergang bedeutet. Im vierten Kapitel geht es um die Grenzwerte, die in den wenigen Jahren ihrer Existenz einen beherrschenden Einfluss auf unser Denken und Handeln gewonnen haben, obwohl kaum jemand ihnen traut. Das fünfte Kapitel konfrontiert uns mit der erstaunlichen Feststellung, dass das Bessere nicht besser als gut ist und dass wir, indem wir nach dem Besseren streben, das Gute verfehlen und die Grenzen, die uns begrenzen könnten, der Habgier zum Opfer darbringen. Im sechsten Kapitel wird das Verhältnis von »Wir und die Anderen« beleuchtet und gefragt, was wir voneinander zu hoffen und zu fürchten haben. Und im letzten, dem siebten Kapitel wird die intime und besonders gefährdete Grenze zwischen Ich und Du betrachtet, weil an diesem Verhältnis zwischen zweien noch etwas über die Grenze erfahren werden kann, was sich im Großen und Ganzen bis zur Unerkennbarkeit verflüchtigt hat, nämlich: dass die Grenzen stärker sind als wir und dass wir sie weder machen noch verschwinden lassen können.
Die Einleitung hat zu den sieben Kapiteln bereits skizzenhafte Betrachtungen angestellt und ist ihrer Kürze wegen vielleicht ein wenig kryptisch geblieben. Hoffen wir, dass die ausführlicheren Erörterungen eine Schneise ins Dickicht dieses vieldeutigen Themas ›Grenze‹ schlagen können.
Kapitel I
Drinnen und Draußen
Rein oder raus!«, das war eine – keinen Widerspruch duldende – Aufforderung an uns Kinder, uns für das eine oder das andere zu entscheiden, wenn wir uns an der offenen Wohnungstür von unseren Spielkameraden nicht loseisen konnten. Natürlich, das bisschen Mehr an Wärme, das drinnen herrschte, musste beschützt werden vor der Kälte draußen, denn Heizmaterial war fast gar nicht aufzutreiben in der Zeit nach dem Krieg. Aber wir Kinder wussten intuitiv, dass es beim »Rein oder raus!« um etwas weniger Pragmatisches ging als um die Vermeidung von kalter Zugluft. Die Tür war offenbar eine Vorrichtung, die normalerweise in geschlossenem Zustand vorkam und deren andauerndes Offenstehen nicht statthaft, geradezu unschicklich war. Gleich nebenan wohnte zum Beispiel eine Nachbarin, die wir Kinder sehr gern hatten, weil sie über einen unerschöpflichen Vorrat an Krimskrams verfügte, mit dem sie uns gelegentlich beglückte. Da sie sich aber gern zu ausgedehnten Gesprächen – halb drinnen, halb draußen – auf der Türschwelle einrichtete, war sie im ganzen Haus als neugierig und klatschsüchtig verschrien. Das Treppenhaus war ein irgendwie zwielichtiger Ort und darum für uns Kinder doppelt attraktiv. Man war dort fast schon so sicher wie zu Hause, aber doch noch nicht dem häuslichen Reglement unterworfen. Und dann gab es da im Eingangsbereich fast jedes Treppenhauses dieses verbeulte Emailschild, auf dem schwarz auf weiß zu lesen war, dass »Das Spielen der Kinder« – ebenso übrigens wie »Das Abstellen der Fahrräder« – im Treppenhaus verboten sei. Das Verbot erhöhte den Reiz dieses unbestimmten Ortes, der weder drinnen noch draußen war, natürlich enorm.
Türen waren also dazu da, einen gehüteten Innenbereich gegen einen anders gearteten Außenbereich abzuschirmen. Und nur um jemanden einzulassen oder um von drinnen nach draußen zu gelangen, wurden sie geöffnet, um dann nach der Passage sogleich wieder sorgfältig verschlossen zu werden. Meist wurde sogar zur Sicherung ihres Normalzustandes ein zusätzlicher Riegel vorgelegt. Solange die Tür offen stand, herrschten unklare Verhältnisse, eine Art Ausnahmezustand, eine Grenzverletzung. Und darum wurde uns das »Rein oder Raus!« als Lehre fürs Leben eingeschärft. Der unklare Zwischenbereich zwischen Drinnen und Draußen bot keine Bleibe. Die Tür war gleichsam von sich aus mit dem Befehl ausgestattet, sie entweder vor unserer Nase oder hinter unserem Rücken ins Schloss fallen zu lassen, damit die Ordnung und die korrekte Trennung zwischen Drinnen und Draußen wieder hergestellt waren.

Von drauß’ vom Walde komm ich her …

Was hat es aber mit diesen offenbar grundverschiedenen Eigenheiten, die das Drinnen und das Draußen schiedlich und halbwegs friedlich voneinander trennen, auf sich? Geradezu reflexhaft muss ich dabei an eine Gedichtzeile denken, die sich in Kindertagen in meinem Kopf festgesetzt hat: »Von drauß’ vom Walde komm ich her« – so beginnt Knecht Ruprecht in dem gleichnamigen Gedicht von Theodor Storm seine Ansprache an die Menschen. Und da scheint die Vorstellung, dass das Draußen die Sphäre der ungebändigten Natur, des Unheimlichen, der Unbehaustheit ist, sich gleich in dieser ersten Zeile zu bestätigen. Da, wo Knecht Ruprecht herkommt, ist es kalt und dunkel, ein einziges Dickicht, in dem man sich verfangen und verloren gehen kann. Und wo er hingeht, da findet er Geborgenheit und Behaglichkeit, Wärme und Lichterglanz vor. Bedauernswert genug, dass er dort nicht bleiben kann, sondern wieder hinaus muss in die Finsternis. Aber dieses Klischee über ›drinnen‹ und ›draußen‹ wird schon in der zweiten Zeile des Gedichtes gebrochen: »Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!« Wenn wir einen Satz mit der Formel: »Ich muss dir sagen, dass …« eröffnen, kündigen wir in der Regel dem Anderen etwas Unangenehmes an, die Enttäuschung einer Erwartung zum Beispiel oder auch die Richtigstellung einer falschen Ansicht, die Ernüchterung einer lieb gewordenen Vorstellung. Wer seine Ansprache mit: »Ich muss dir sagen …« beginnt, der weiß es auf alle Fälle besser, und der Angesprochene muss darauf gefasst sein, durch das, was jetzt kommt, blamiert zu werden. Was Knecht Ruprecht allerdings mitzuteilen hat, ist nun keineswegs unangenehm und auch nicht eigentlich besserwisserisch, denn er scheint selbst überwältigt zu sein von dem, was er eben da draußen »im finstern Tann« vorgefunden hatte: »Allüberall auf den Tannenspitzen / Sah ich goldene Lichtlein sitzen.«1 Das Draußen, aus dem er kommt, war weder finster noch furchterregend, sondern wie verzaubert, wundersam glitzernd und festlich; ein Sehnsuchtsort viel eher als einer, den man meiden sollte.
Bei der guten Botschaft, dass das Draußen besser ist als sein Ruf, bleibt es jedoch nicht. Und Knecht Ruprecht würde seinem an sich schlechten Leumund nicht gerecht, wenn er nicht auch drohen und strafen könnte. Sein wichtigstes Utensil ist eigentlich die Rute und nicht der Gabensack, denn er ist der höllische Gegenspieler des heiligen Nikolaus. Erst in einer sehr späten Tradition wachsen die beiden Kontrahenten zu einer Figur zusammen, die nun zwiespältig wird und beides kann, gute Gaben und Prügel austeilen. Entsprechend dieser Doppeldeutigkeit des Boten folgt auf die gute Nachricht, dass das Draußen einstweilen seinen Schrecken verloren hat, die schlechte, dass der Schrecken nun drinnen einkehren wird. Die sogenannte gute Stube, die nur zu festlichen Anlässen geöffnet wurde, wird zum Ort des Gerichts über Gut und Böse. Inmitten des Lichterglanzes und der schönsten Behaglichkeit werden hier die Schafe von den Böcken getrennt, und jedenfalls die