Die Happy-End-Maschine (E-Book) - Ruth Baumgartner - E-Book

Die Happy-End-Maschine (E-Book) E-Book

Ruth Baumgartner

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Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Welche Chancen haben Kinder und Jugendliche, die in der Regelschule nicht mehr tragbar sind? Für sie ist eine kompetente Führung entscheidend. Ruth Baumgartner hat vor 20 Jahren mit der Schule 3 × 3 einen Lernort für Kinder und Jugendliche mit herausforderndem Verhalten und besonderen pädagogischen Bedürfnissen gegründet. Mit «Die Happy-End-Maschine» legt sie einen Werkstattbericht mit vielen Einzelporträts und präzisen Projektbeschreibungen vor, nach deren Lektüre deutlich wird, warum die Schule 3 × 3 so gut funktioniert.

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Ruth Baumgartner

Die Happy-End-Maschine

Werkstattbericht aus der Schule 3×3

 

ISBN Print: 978-3-0355-2220-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-2221-1

 

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 hep Verlag AG, Bern

 

hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Buch

Loris – ein richtig fordernder Fall

Manchmal braucht es eine zweite Chance

Altersgemischtes Lernen

Leander und die Stellenwerttabelle

Individuelle Lernvoraussetzungen

Große Kinder, kleine Erwachsene

Grenzen ziehen

Zwei Welten miteinander verbinden

Kopplung der Systeme

Die Einbindung der Eltern in die Schule

Meine Ideale

Ich wollte schon immer Lehrerin werden

August, die talentierte Dramaqueen

Die Bedeutung der Lernorte

Freundschaft bauen

Die vielfältigen Jobs der Kinder

Kreative Unterrichtsgefäße beleben den Alltag

Lösungen finden – der wichtigste Job der Kinder

Die Spuren richtig deuten

Die Lebensweise der Kinder hat sich verändert

Das Heft «Buchstaben in die richtige Spur führen»

Das Heft «Ich bin verpflichtet, mich zu erinnern»

Auch ich als Lehrerin bin eine Lösungsfinderin

Die Schule 3×3 folgt einem genauen Plan

«Laut denken» hilft bei allerlei Nöten

Rettungsring und Schattengespräche

Musik in der Gruppe

Karina und die Rechtschreibung

Claudio und die Mathematik

Louis fordert mich bis an die Grenze

Positive Entwicklung

Gute Projekte fühlen sich an wie Abenteuer

Das Holunderhaus

Wir bauen uns ein Haus

Der Tag der Präsentation

Die 3×3-Happy-End-Maschine

Monopoly auf Tisch auf See

Die Väter halfen mit

«Gute Version und schlechte Version»

Glanzpunkte

Sabines Traum vom Gymnasium

Das Paradies mit Drachen

Wie vom Schlag getroffen

«Ich finde, dass meine Arbeit wichtig und sinnvoll ist»

Dank

Inspirationen für meine Arbeit

Über die Autorin

Zu diesem Buch

Ruth Baumgartner nimmt uns mit in ihre Schule und zeigt uns die Winkel und Räume, die sonst bei einem Unterrichtsbesuch nicht sichtbar werden.

Es handelt sich um ein minutiöses Zusammentragen von alltäglichen Situationen, die sich dann in der präzisen Untersuchung und bei näherer Betrachtung als nicht-alltäglich und einzigartig erweisen.

Sie führt uns hinein in die «kleinen» Interaktionen zwischen den Kindern, respektive zwischen ihnen und der Lehrerin, die letztendlich den Schulalltag ausmachen. Es sind diese leisen Klänge, die für uns Außenstehende sonst nicht hörbar sind. Hier befindet sich auch der Schlüssel zum Geheimnis, wie mit schwierigen Situationen und Verhaltensweisen umgegangen werden kann. Eine Frage, die alle Pädagoginnen und Pädagogen umtreibt und über die schon viele Bücher geschrieben wurden. Hier ist die Antwort, leise und versteckt, in dem Sinne, dass sie im Gesamtkunstwerk einer Schule zu finden ist, in allen feinen und filigranen Teilen, die die Schule 3×3 ausmachen.

Sehr genau schildert Ruth Baumgartner die einzelnen Aspekte, aus denen sich der Unterricht zusammensetzt. Wer erfahren möchte, wie es ihr gelingt, die Kinder zu einem erfolgreichen Lernen zu führen, der kann die Antworten in den genauen Beschreibungen finden, in denen die Kinder die Hauptrolle innehaben. Immer wieder werden sie einzeln namentlich erwähnt. In Mikro-Analysen zeigt die Autorin die vielen Einzelsituationen, die dann doch auch wieder exemplarisch stehen für das genaue Zuhören, das Eingehen auf die Kinder, das Ernstnehmen und die ganz intensive Bemühung, den Individual-Schlüssel für das Lernen und die Entwicklung jedes einzelnen Kindes zu finden. In diesen Analysen schließt sich die Lehrperson mit kritischen Selbstreflexionen mit ein.

Die Kinder werden als ganzheitliche Persönlichkeiten wahrgenommen. Schon bei der ersten Begegnung mit ihnen sucht Ruth Baumgartner nach Anknüpfungspunkten, um eine Beziehung aufzubauen. Sie beschreibt das ernsthafte Ringen, das «Richtige» zu tun, sich den Herausforderungen zu stellen. Sie zeigt auf, wie sie als Lehrperson die eigene Vorgehensweise permanent reflektiert.

Besonders eindrücklich ist, wie Ruth Baumgartner das in Worte fasst, was bei vielen Lehrpersonen Angst auslöst, Angst vor der Macht des Kindes mit ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten. Es wird beschrieben, wie damit umgegangen werden kann, wenn die Lehrperson von einem Kind persönlich angegriffen wird. Es wird aufgezeigt, dass nicht die Kränkung im Vordergrund steht, sondern das verunsicherte Kind.

Im Buch wird auch die Zusammenarbeit mit den Eltern prominent positioniert. Die Autorin erklärt auf einfache Weise, wie die beiden Systeme Schule und Familie interagieren und welche Bedeutung sie für das erfolgreiche Lernen der Kinder haben.

In der Schule 3×3 kommt das Paradox zum Zug, das in der Pädagogik eine wichtige Rolle spielt: Je freier sich die Kinder entfalten dürfen, je offener der Unterricht gestaltet wird, desto klarer muss die Klassenführung sein.

In der Schule von Ruth Baumgartner spielt dieses Classroom-Management eine zentrale Rolle. Es zeigt sich in den verschiedenen «Ordnungen», welche die Kinder einzuhalten haben und die ihnen Orientierung bieten. Es äußert sich in den unterschiedlichen Unterrichtssettings, die teilweise von den Kindern mitgeprägt werden, in den vielfältigen Räumen sowie im ganz persönlichen Führungsstil von Ruth Baumgartner.

In den Projekten spiegelt sich die Haltung der Schulleiterin und Lehrerin Ruth Baumgartner sehr gut. Aus der Initiative der Kinder entstehen Projekte, deren Ideen erwachsenengestützt in die Umsetzung begleitet werden, in ihrer Aussagekraft aber ganz altersgerecht bleiben. So ist beispielsweise das im Buch genau beschriebene Holunderhaus, ein im wahrsten Sinne des Wortes luftiges Haus, ein Spiel-Haus, ein zu betretendes echtes Traum-Haus.

Der Lernstoff dazu ist «knallhart» und realitätsgetreu. Die Fakten, um beim Projekt des Holunderhauses zu bleiben, handeln von der Zerstörung der Lebenswelt der Meere durch vom Menschen verursachten Plastikmüll. Diese wird genau beschrieben und nicht beschönigt. Der Fokus wird dann ganz bewusst auf die Lösung gelegt: die Erkundung der Erde in ihrer Vielfalt und der mutige Mensch, der sich an das schwer lösbare Problem heranwagt und sich dabei seinen Ängsten stellt.

Die 3×3-Happy-End-Maschine ist ein erfolgreiches Projekt der ganz besonderen Art. Die Problematik des Lernens oder der Beeinträchtigung des Lernens wird nach außen gestülpt und mittels einer technischen Aufgabenstellung – dem Bau einer Maschine – so dargelegt, dass die Kinder ihr Lernverhalten ganz neu und mit Abstand sehr exakt bearbeiten können. Dies geschieht auf eine spielerische, kindgerechte, anspruchsvolle, selbstreflexive und überaus wirkungsvolle Art.

 

Erika Friedli, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich

Gais, im Frühjahr 2023

Loris – ein richtig fordernder Fall

Loris hat mich so gefordert wie kein anderes Kind. Um ihm den Besuch der Schule 3×3 weiterhin zu ermöglichen, mussten wir zu unkonventionellen Maßnahmen greifen.

Loris ist ein kleiner, filigraner Bub. Er war sieben Jahre alt, als ich ihn kennenlernte. Schon damals fiel er durch sein aggressives Verhalten auf, das jeweils darin gipfelte, dass er andere Kinder, aber auch Erwachsene attackierte und schlug. Als er im Kindergarten nicht mehr tragbar war, wurde er ausgeschlossen und in eine kinderpsychiatrische Tagesklinik überwiesen. Anschließend kam er zu uns in die Schule 3×3.

In den Protokollen aus dem Jahr 2018 finde ich folgenden Eintrag über seinen ersten Tag als Schnupperschüler: «Loris steht an meinem Pult, und wir reden miteinander. Er: ‹Ich habe bereits zwanzig hundert Bastelarbeiten gemacht.› – Ich: ‹Zwanzig hundert? Das sind ja zweitausend!› – Er: ‹Das kann nicht sein, das ist zu viel. Es sind 120.› – Ich: ‹Schreib die Zahl auf, hier in dein Schnupperlogbuch.› – Er schreibt 202. – Ich: ‹Das heißt 202.› – Er: ‹Nein, das kann nicht sein.›

Ich erkläre Loris die Schreibweise, indem ich die Stellenwerte mit Farben markiere. Ich hole die Stellenwertkarten und fordere ihn auf, eine Hundert zu legen. Er ist sofort fasziniert von den großen Zahlen. Er legt die Hundert. […] Loris möchte den Holzkasten mit den Stellenwertkarten mit an seinen Platz nehmen und alle seine Lieblingszahlen abschreiben. Nach einer halben Stunde hat er eine Seite in seinem Logbuch mit seinen Lieblingszahlen gefüllt. Das ging ja richtig gut.

Doch als er kurz darauf mit meiner Assistentin arbeitet, gerät er in Aufruhr und will nach Hause. Als ich ihm sage, dass er jetzt in der Schule sei, da könne man nicht einfach weggehen, bekommt er einen Wutanfall, tritt mich, schlägt mich und lässt sich nur mit Mühe beruhigen. Auf einmal beginnt er zu schluchzen und klagt, man könne ihm nicht so viele Fragen stellen, auf die er keine Antworten wisse. Dann schaut er mich an, und ich denke, er führt etwas im Schilde. Und wirklich. Plötzlich rast er los, im großen Raum sind die anderen Kinder am Spielen. Er schlägt ein Kind und schleudert es zu Boden. Dann rennt er ins Schulzimmer und wirft Stühle um. Ich schicke die anderen Kinder in das Musikzimmer. Loris rennt blitzschnell in die Bibliothek, wo zwei Kinder am Spielen sind. Er nimmt einen Gegenstand und schleudert ihn gegen eines der Kinder und trifft es nahe am Auge.»

 

Schon diese ersten Begegnungen machten mir klar, dass Loris eine echte Herausforderung für uns alle werden würde, für mich, seine Mitschüler und Mitschülerinnen, meine beiden Assistentinnen und meinen Mann. Dass ich ihn trotzdem in der Schule 3×3 aufnahm, hat damit zu tun, dass ich es als meine Aufgabe sehe, mit Kindern zu arbeiten, denen es besonders schwerfällt, Regeln zu befolgen und die Ordnung einzuhalten. Gleichzeitig hatte ich von Anfang an einen guten Draht zu Loris.

Wenn ich an ihn denke, kommen mir zahllose positive Assoziationen in den Sinn: Herzig. Gescheit. Differenziert. Gutherzig. Hilfsbereit. Schlau. Ideenreich. Genaue Sprache mit großem Wortschatz. Kann im Gespräch Gefühle ausdrücken. Er weiß viel. Bastelt gern. Bringt den Kindern, aber auch mir immer wieder mal einen feinen Kuchen mit. Freude am Musizieren. Er interessiert sich für alle Schulfächer außer Rechtschreibung. Beim Rechnen nimmt er nicht die üblichen Lösungswege, sondern kreative eigene. Er hat sich das Bruchrechnen selbst beigebracht.

All diesen Qualitäten stehen allerdings seine Schattenseiten gegenüber. Loris redet wie ein Wasserfall und dominiert die anderen Kinder. Wenn er mit ihnen beispielsweise Türme und Städte aufbaut, befiehlt er ihnen, was sie zu tun haben, welche Teile in welcher Farbe sie wohin stellen dürfen. Sie machen keinen Mucks und gehorchen. Stellt sich ein Kind einmal quer, zerstört Loris alles und rennt davon. Frage ich die anderen Buben und Mädchen, warum sie sich ihm meistens unterordnen, sagen sie, dass sie Angst hätten, dass er sonst ausflippe.

Seine Wutanfälle nehmen tatsächlich oft ein bedrohliches Ausmaß an. Er schreit rum, schleudert Gegenstände durch den Raum, schwere, harte Gegenstände wie Bücher, die jemandem auch Verletzungen zufügen können. Oft nimmt er ganz bewusst den Kopf seines Gegenübers ins Visier. Dabei macht er keinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Er zerstört auch Mobiliar oder Bastelarbeiten der anderen Buben und Mädchen.

Ein paar Auszüge aus meinen Schulprotokollen zeigen die ganze Bandbreite seiner Aggressionen:

«Die Wutanfälle liegen für mich nicht drin. Neun Wutanfälle innerhalb von elf Schultagen. Ich will mir keine Morddrohungen anhören, mein Mann lässt sich sein Gesicht nicht mit schweren Gegenständen bewerfen, und für die Kinder sind die hinterhältigen Attacken schwer zu ertragen.»

«Wenn Loris Texte abschreiben muss, gibt es Theater. Er schleudert die Sachen auf den Boden. Er möchte die Buchstaben immer so schreiben, wie es ihm passt. Loris schreit beim kleinsten Anlass. Ich sage: ‹Ich habe dich gern. Ich würde dich vermissen, wenn du nicht mehr da wärst. Doch so geht es nicht, sonst muss ich dir die gelbe Karte zeigen.›»

«Loris arbeitet gut. Doch eine zweite Wiederholung ist sehr schluderig geschrieben. Ich sage ihm, dass er diese drei Linien noch mal schreiben muss. Er nimmt einen Hocker und schleudert ihn gegen mich. Zweimal. Ich sage: ‹Das gibt die gelbe Karte, und du bleibst bis zu den Weihnachtsferien daheim. Immer um 8 Uhr müssen die Aufgaben abgeholt werden.›»

 

Je besser ich ihn kennenlernte, umso deutlicher wurde mir, dass Loris stark auf Kontinuität und die immer gleichen Abläufe in seinem Alltag angewiesen ist. Passiert etwas für ihn Unvorhergesehenes, kann ihn das dermaßen verunsichern, dass er ausrastet. Umso wichtiger war es, ihm schnell klarzumachen, welche Konsequenzen sein gewalttätiges Verhalten nach sich ziehen würde. Sei es, dass er Arbeiten zu Hause nachholen, ein Time-out in einem Nebenzimmer absitzen muss, um sich zu beruhigen, oder dass er die gelbe oder rote Karte mit teilweisem bis vollständigem Schulausschluss riskiert.

Was ihm besonders zusetzt, ist, wenn er im Spiel oder Sport verliert. Seine Ansprüche an sich selbst sind hoch: Im Grunde will er immer der Beste sein. Wenn ich ihn auf einen Fehler hinweise, zieht er seinen Körper zusammen, als wolle er sich darin verstecken. Ich sage ihm dann, es sei unnötig, dass er sich so klein mache, es gehe nur um diesen einen Satz und nicht um ihn als Person.

Es ist mir ein wichtiges Anliegen, seinen übermäßigen, ja, selbstschädigenden Ehrgeiz zu bändigen. Denn allen Wutanfällen zum Trotz habe ich ihn immer noch gern. In meinen Protokollen finde ich Sätze wie: «Wenn es mit Loris gut läuft, dann ist es einfach schön, mit ihm zu arbeiten. Er ist so interessiert, er denkt so viel nach, er ist so höflich.»

Manchmal macht er auch Sprüche, die so schlagfertig und unerwartet sind, dass ich mir das Grinsen nur schwer verkneifen kann: «Lehrer ist ein komischer Beruf. Also ich will ja nichts über Sie sagen, aber Lehrer sind komisch. Bis zur fünften Klasse sagen sie im Rechnen, es gehe nur bis zur Null, und dann sagen sie, es gehe unter Null. – Also, wenn meine Cousine das sagt, dann glaube ich ihr das eher. Sie lebt in der jetzigen Zeit und Sie nicht.»

Ich bin froh, dass die Eltern sehr verständnisvoll sind und gut mit den Schulbehörden und mir kooperieren. So willigte der Vater ein, dass er vorübergehend mit in die Schule kommt, als ich Loris’ weiteren Schulbesuch davon abhängig machte. Er stellte seine Karriere zugunsten der Familie zurück.

Ein Jahr lang hielten wir an dieser Maßnahme fest und erzielten erfreuliche Ergebnisse: Die Gewaltausbrüche nahmen ab, sodass der Vater nur noch auf Abruf für mich erreichbar sein musste. Das war ein guter Kompromiss, denn hin und wieder war ich froh um seine Hilfe.

Loris beruhigte sich zusehends. Doch nach einem halben Jahr, im Corona-Herbst 2020, kam es zu so schweren Rückfällen, dass an einer Sitzung mit den Eltern, der Schulbehörde und dem Schulpsychologen beschlossen wurde, den inzwischen zehnjährigen Knaben nochmals für einige Wochen eng von seinem Vater begleiten zu lassen. Als er trotzdem einen so schlimmen Wutanfall produzierte, dass ich um die Gesundheit seiner Kameraden, aber auch um meine eigene fürchtete, zeigte ich ihm die rote Karte und verordnete ihm als vielleicht allerletzten Ausweg drei Monate Einzelunterricht bei mir, der jeweils frühmorgens von 6.45 bis 7.45 Uhr stattfand.

Wie wird es mit diesem speziellen Kind wohl weitergehen?

Manchmal braucht es eine zweite Chance

Die Schule 3×3 ist ein Auffangnetz für Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen. Sie sollen bei uns neue Sichtweisen über sich und ihren Alltag gewinnen. Wir arbeiten darauf hin, sie in die Regelschule zu reintegrieren.

Die Schule 3×3 ist eine staatlich anerkannte, konfessionell und politisch neutrale private Tagesschule mit maximal elf Kindern im Alter von 6 bis 14 Jahren. Ein Eintritt ist jederzeit möglich. Die Kinder kommen aus den Zürcher Seegemeinden, wir hatten aber auch schon eines aus Einsiedeln.

Viele Kinder werden mir von einem Schulpsychologischen Dienst gemeldet. Andere kommen in die Schule 3×3, weil ihre Eltern von anderen Eltern gehört haben, dass ihr Kind sich dort gut entwickeln konnte. Lehrkräfte an öffentlichen Schulen empfehlen uns; auch Kinderärzte und Kinderärztinnen, Physiotherapeuten, Ergotherapeutinnen und kinderpsychiatrische Dienste tun dies. Wieder andere Eltern lesen die Website der Schule 3×3 und sind überzeugt, dass ihr Kind vom Angebot profitieren wird.

In einem ersten Schritt besucht das Kind zusammen mit seinen Eltern die Schule. Anschließend schnuppert es einige Tage. Erst dann entscheide ich zusammen mit den Eltern und dem Kind, ob es in die drei Monate dauernde Probezeit aufgenommen wird. Der Unterricht orientiert sich an den Richtlinien des Lehrplans des Kantons Zürich.

Altersgemischtes Lernen

Die Kinder werden in einer Lerngruppe unterrichtet, die verschiedene Jahrgänge umfasst. Jeden Tag, jede Stunde und jede Minute bereichert und fasziniert mich diese Unterrichtsform.

Mir fällt immer wieder auf, wie viele unterschiedliche Rollen die Kinder in dieser Art von Setting haben. Das zeigt sich vor allem auch am Anfang eines neuen Schuljahres. Ein Teil der Gruppe bleibt, es kommen neue Kinder hinzu. Bereits im ablaufenden Schuljahr bereiten sich die in der Gruppe verbleibenden Kinder darauf vor. Sie erstellen eine Liste mit den in der Schule herrschenden Ordnungen, bei denen sie denken, sie seien für Neuankommende besonders wichtig. Da steht zuoberst auf der Liste: «Im Hauseingang ruhig sein» – «Sofort gehorchen, wenn Frau Baumgartner ruft» – «Nicht reden, wenn Frau Baumgartner redet» – «Die Schuhe schön hinstellen in der Garderobe». Die Liste ist jeweils noch länger. Diese Aufzählungen bringen mich zum Schmunzeln, und ich sage den Kindern, dass sie ja viel strenger seien als ich.

Die Neuankömmlinge brauchen Verständnis und Unterstützung. Die verbleibenden Kinder sind wertvolle Begleitpersonen, denn sie können sich gut daran erinnern, wie froh sie damals um die Hilfe waren. Sie können ihrem Alter entsprechend Verantwortung übernehmen. Die neuen Kinder wachsen kontinuierlich in die Gruppe hinein, indem sie die Ordnungen des Zusammenlebens und des Zusammenarbeitens nachahmen und ganz selbstverständlich übernehmen. Das läuft recht reibungslos ab, weil bereits eine tragfähige Struktur vorhanden ist.

Eine weitere wichtige Rolle in einer altersgemischten Lerngruppe ist die des Tutors oder der Tutorin. Sie unterstützen andere Kinder beim Lernen, natürlich immer in Sichtweite von mir. «Ich kann das nicht!» – diesen Satz lasse ich die Kinder stets umformulieren in «Ich kann das noch nicht». Deshalb stelle ich ihnen den Tutor oder die Tutorin zur Seite. Die Kinder entdecken, dass sie eine Aufgabe mit jemandem zusammen bereits lösen können, und sie sind zuversichtlich, dass sie es bald auch eigenständig schaffen.

Leander und die Stellenwerttabelle

Die Fünftklässler und die Sechstklässlerinnen multiplizieren und dividieren mit Stufenzahlen. Das sind die Zahlen 1, 10, 100, 1000 usw. Zum Beispiel: 10000 mal 100000 oder 10000 durch 100 oder 63000000 durch 9000. Sie benutzen dazu eine Stellenwerttabelle. Da kommt der Drittklässler Leander und fragt mich, ob er diese Aufgaben auch lösen dürfe.

«Sicher darfst du das. Du weißt ja, wie eine Stellenwerttabelle funktioniert. Du kannst deine Tabelle, die nur bis 10000 führt, auf 10000000 erweitern. Am besten arbeitest du in der Nähe von mir.»

Leander: «Ich weiß ja, dass in der Spalte nach Tausend die Zehntausend kommt und danach die Hunderttausend, dann die Million und dann die zehn Millionen.»

Leander löst drei Arbeitsblätter mit dieser Art von Aufgaben. Er ist mächtig stolz auf sich und findet, nun könne er selbst solche Aufgaben ins Logbuch schreiben. Das tut er.

Die Kinder in einer altersgemischten Lerngruppe können den Schulstoff mehrerer Schuljahre überblicken. Die Jüngeren sehen, was alles noch drankommt. Manches wollen sie bereits früher bearbeiten. Es sind eigene Lernwege möglich.

In einer Lerngruppe, die heterogen zusammengesetzt ist, können sich die Kinder nicht einfach mit anderen vergleichen. Sie müssen ihre Lernziele zu unterschiedlichen Zeiten erreichen, Konkurrenzdenken bekommt da wenig Raum. Die Kinder lernen, sich mit sich selbst zu vergleichen. Und sie sind es gewohnt, Schwächere oder Jüngere zu unterstützen. Die Rollen verändern sich immer wieder. Jedes gehört mal zu denen, die am wenigsten lang in der Schule 3×3 sind oder am längsten, jedes gehört mal zu den Jüngsten oder zu den Ältesten.

Ein weiterer Aspekt des altersgemischten Lernens gefällt mir besonders gut. Mit den Jüngeren zusammen können es sich die Älteren erlauben, nochmals jünger zu sein. 13-jährige Buben spielen zum Beispiel mit Bauklötzen, bauen mit Playmobilfiguren eine Wohnung auf, richten sie wohnlich und detailreich ein, erfinden Rollen für eine Familie. Teilweise können sie sich damit während einiger Wochen beschäftigen.

Die Sehnsucht, dass alles so bleiben sollte, wie es ist, ist bei den Kindern spürbar. Die vielen guten Erlebnisse geben ihnen die Sicherheit, dass sie zu dieser Gruppe dazugehören. Sie fühlen sich an ihrem Platz aufgehoben. So sollte es immer bleiben. Doch Veränderungen gehören unabdingbar zum Leben.

Es ist eine der Aufgaben der Schule, den Kindern die Sicherheit zu vermitteln, dass sie sich in sich sozial verändernden Gruppen bewähren können, dass sie flexibler werden, wenn sich ihre Rollen in der Gruppe kontinuierlich verändern.

Individuelle Lernvoraussetzungen

Die Kinder in der Schule 3×3 unterscheiden sich nicht nur im Alter, sie bringen auch unterschiedliche Lernvoraussetzungen mit. Diese beinhalten alles, was ein Kind bereits gelernt hat. Soziale und kulturelle Voraussetzungen gehören ebenfalls dazu. Die kognitiven Lernvoraussetzungen spielen eine bedeutende Rolle fürs Lernen. Man bezeichnet sie gemeinhin als «Intelligenz». Diese zeigt sich in der Art und Weise, wie ein Kind Neues lernt, wie es mit Problemen umgeht und sie löst, wie es sich in der Schule orientieren und anpassen kann.

Auch die emotionalen Voraussetzungen wirken sich auf das Lernen aus. Sie zeigen sich im Umgang mit Leistungssituationen, im Leistungswillen, der Leistungsängstlichkeit, in Prüfungsangst und darin, ob sich ein Kind mit anderen vergleicht, ob es eher erfolgs- oder misserfolgsorientiert reagiert. Eng verbunden mit den emotionalen Lernvoraussetzungen ist die Motivation, die ein starker Lernmotor sein kann. Wenn Kinder gerne lernen, sind sie bereit, sich anzustrengen.

Große Kinder, kleine Erwachsene

Zu den Lernvoraussetzungen, die viele Kinder in die Schule 3×3 mitbringen, gehören ihre auffälligen Verhaltensstrategien. Sie haben sich Macht verschafft als Schläger, Möbelkipper, Türschletzer, Etuischleuderer, Arbeitsblattzerknüller, Nichtgehorcher oder Frechgrinser und zeigen damit allen den Meister. In diesen Momenten sind die Kinder groß und die Erwachsenen klein.

Für das Kind steht immer eine vermeintlich positive Absicht hinter den ungünstigen Verhaltensstrategien. Es baut sich so beispielsweise einen Schutzwall gegen Misserfolge, gegen die eigene Unsicherheit und gegen böse Überraschungen. Das Problem ist nie die Person des Kindes; problematisch sind die Mittel, die es anwendet.

In der Schule 3×3 muss ich mich mit einer Vielfalt von Verhaltensstrategien auseinandersetzen, nützlichen und hemmenden. So oder so versuche ich, die einzigartige Persönlichkeit des Kindes zu stärken. Ich gebe ihm meine Wertschätzung, indem ich hinter dem Verhalten seine Bedürfnisse erkennen kann. Und diese sind grundsätzlich bei allen Menschen dieselben: Alle möchten als die Person gesehen werden, die sie sind. Alle möchten sich sicher fühlen. Alle möchten sich zur Gruppe gehörig fühlen. Alle möchten sich verbunden fühlen.

Ich verpflichte die Kinder, an ihren Lernvoraussetzungen und ihrem Verhalten zu arbeiten. Sie lernen, dass alles, was sie tun, Konsequenzen hat.

Grenzen ziehen

Ich liebe meinen Auftrag, den Kindern die Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen und Musik zu vermitteln, ihnen Fremdsprachen oder bestimmte Inhalte aus Natur und Gesellschaft, Informatik und Ethik näherzubringen. Damit die Schule 3×3 ein optimaler Lernort ist, grenze ich sie gegen die Umwelt ab, das heißt, ich beachte dabei kontinuierlich die Qualität dieser Grenzen. Sie müssen klar und trotzdem durchlässig sein, damit der Kontakt zu den Eltern und zur Gesellschaft gewährleistet und trotzdem keine Einmischung möglich ist. Als Lehrerin habe ich immer die Fäden in der Hand. Die kann ich je nach Situation anspannen oder lockerlassen.

Ganz besonders liegt mir die Grenze am Herzen, die ich um die «echte Lernzeit» herum spanne. Das ist die Zeit, während der sich die Kinder aktiv und intensiv mit den Lerninhalten auseinandersetzen. Je höher der Anteil an echter Lernzeit ist, umso wirkungsvoller ist das Lernen.

Im Laufe eines Tages verändert sich die Leistungsfähigkeit für schulisches Lernen. Ich nehme in der Regel ein Hoch am Morgen zwischen 9 Uhr und 11 Uhr wahr und eines am Nachmittag ab 15 Uhr bis in den Abend hinein. Diese Wechsel berücksichtige ich im Tagesplan. So finden nach 11 Uhr die Unterrichtsfächer statt, die ihren Schwerpunkt im Experimentieren, Zeichnen, Werken, Lesen und Musizieren haben, im Zusammensein, Gesellschaftsspiele spielen, in Sport und Bewegung.

Die echten Lernzeiten setze ich von 8.30 Uhr bis 10.30 Uhr und von 15 Uhr bis 16 Uhr an.

Am Morgen, nachdem die Kinder mich begrüßt haben, plaudern wir miteinander, dann sage ich: «So, nun beginnen die 90 Minuten.» Die Kinder halten sich daran, dass sie während dieser Zeit nur über Dinge reden, die direkt mit dem Unterricht zu tun haben. Ich spüre immer wieder, wie gut mir und den Kindern dieses dichte Lernen tut.

Ich habe auch auf dem Rücken Augen und Ohren und vermittle so den Kindern das Gefühl, dass ich über alles informiert bin, was läuft. Wenn ich mit einem Kind im Austausch bin, behalte ich trotzdem die ganze Gruppe im Blick.

Ich unterrichte straff, halte mich eng an den Lehrstoff, erzähle gerne, und ich merke immer wieder, dass es mir gelingt, meine Begeisterung für das Wissen auf die Kinder zu übertragen.

Ich stelle mir mögliche Stolpersteine frühzeitig vor und wie ich gut darauf reagieren könnte. Stolpern die Kinder dann doch, gibt es andere Kinder, die einen Lösungsweg finden. Und sonst ist noch der Humor da, der stellt alle wieder auf.

Indem ich Grenzen ziehe, schaffe ich Ordnung, Orientierung, Ruhe, Sicherheit. Innerhalb dieser Grenzen spürt jedes Kind, dass es dazugehört mit allem, was es ist. Es weiß, hier habe ich einen Platz, und ich setze alles daran, dass es ein guter Platz ist.

Zwei Welten miteinander verbinden

Die gute Zusammenarbeit mit den Eltern ist mir ein großes Anliegen. Die wirkungsvollste Maßnahme ist das persönliche Gespräch, in dem das Kind mit seinen Stärken, Schwächen, Interessen und Besonderheiten im Zentrum steht.

Eltern und Schule haben dieselben Anliegen. Das Kind soll erfolgreich sein und die Lernziele in einer förderlichen Atmosphäre gut erreichen. Doch die Eltern haben stets Bedenken, dass ihr Kind zu wenig lerne. Sie beziehen ihre Informationen fast ausschließlich über das Kind. Das kann heikel sein, weil sich das Kind daheim anders verhält als in der Schule. Das ist so, weil es verschiedene Rollen hat.

Ich setze alles daran, meine Arbeit transparent zu machen. Neben den persönlichen Gesprächen pflege ich weitere Formen des Austauschs: Elternabende, Elternbriefe, Mithilfe der Eltern bei Projekten oder in der Schule und sogar Eltern als Detektive im Unterricht.

Ich nutze den ersten Elternabend, bei dem wir alle an einem großen Tisch sitzen, um die beiden unterschiedlichen Systeme Schule und Familie vorzustellen. Ich mache das mit dem Material, das auf dem Tisch liegt. Die Kinder haben bei der Vorbereitung mitgeholfen und lange Kordeln aus farbiger Wolle gedreht, die sie in Form zweier unterschiedlich großer Kreise ausgelegt haben. Der größere ist beschriftet mit «Familiensystem», der kleinere mit «Schulsystem». So gut wie möglich demonstriere ich das, was ich sagen möchte, mit Figuren und farbigen Schnüren.

Das Familiensystem ist besonders stark. Die Eltern geben dem Kind Halt, sie führen es, bildlich gesprochen, an einem Seil. Auch Geschwister sind miteinander verbunden, wobei das Seil mehr Spielraum hat und lockerer ist. Es sind immer die Eltern, die das Seil in der Hand halten. Allerdings trauen sich heute viele nicht mehr, zu führen. Sie streben eine partnerschaftliche Beziehung zu ihren Kindern an. Daraus können sich Missverständnisse ergeben. Partner sind gleichrangig, haben Einfluss und Macht. Das haben Kinder nicht. Es ist notwendig, dass Eltern die alleinige Verantwortung für die Familie übernehmen. In dieser Hinsicht ist die Eltern-Kind-Beziehung nicht partnerschaftlich. Die Eltern müssen dafür sorgen, dass sich die Kinder körperlich, emotional und kognitiv wohlfühlen und sich in diesen Bereichen entwickeln können. Die Kinder müssen keine Verantwortung für die Entwicklung ihrer Eltern übernehmen.

Das Kind erlangt Selbstvertrauen dadurch, dass ihm die Eltern kontinuierlich mehr Freiraum geben. In einem solch nährenden Familiensystem kann sich der Selbstwert entwickeln. Das Kind begibt sich in Systeme außerhalb der Familie, kehrt aber immer wieder in das sichere Nest zurück. Die Aufgabe von Eltern mit Schulkindern ist es, sich so wenig wie möglich in der Schule einzumischen, sich jedoch zu interessieren und nach Bedarf teilzunehmen. Sie müssen ihrem Kind zutrauen, dass es in einer Umgebung gedeiht, in der neue Anforderungen an es gestellt werden.

Der Eintritt in die Schule ist ein Schritt in ein anderes, vorerst fremdes System. Kinder müssen dorthin gehen. Die Schule ist ein Ort, den die meisten Kinder nicht freiwillig aufsuchen würden. Doch Kinder haben in dieser Institution eine Aufgabe zu erfüllen: Sie müssen die Kulturtechniken erwerben. Damit dies erfolgreich geschehen kann, müssen die Kinder das Lernen ernst nehmen. Lernen muss nicht immer lustig sein. Es erfordert auch Disziplin und die kann man lernen. Wenn pro Lektion fünf Minuten verloren gehen, weil die Kinder unruhig sind, ergibt das pro Woche einen Verlust an Unterrichtszeit von zwei Stunden, das macht im Jahr 80 Stunden.

In einem guten Lernklima wird allen Beteiligten klar, dass die Fähigkeit zu gehorchen, zur Pünktlichkeit und der Ausdauer nicht einem Selbstzweck dient, sondern die Voraussetzung dafür ist, dass der Unterricht den ihm zustehenden Raum erhält. Zum Glück wollen die Kinder Leistung bringen. Gut sein im schulischen Lernen hat für sie einen hohen Stellenwert.

Nach und nach lernen die Kinder die Funktionsweise des neuen Systems kennen. Sie müssen sich bewähren und sich ihren Platz verdienen. Das Schulsystem ist ein hierarchisches System mit den Lehrpersonen an der Spitze. Es gilt viel stärker die Devise: alles Tun hat Konsequenzen. Doch Schritt für Schritt wird die Schule auch zur Welt der Kinder, in der die Eltern gern gesehene Gäste sind.

Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben und Mathematik sind nicht in den Genen des Menschen verankert, sondern müssen gelernt und geübt werden. Das ist Arbeit und erfordert Konzentration. Das System Schule ist verpflichtet, den Kindern eine gute Lernatmosphäre zu bieten, damit sie ihre anforderungsreiche Aufgabe erfüllen können.

Kopplung der Systeme

Wenn ein Kind zur Schule kommt, gibt das eine Kopplung von zwei Systemen, die vorher sauber getrennt waren. Diese Kopplung ist für den Schulerfolg sehr wichtig. Die Schule beeinflusst die Organisation der Familie und umgekehrt. Ein Kind, das ein Familiensystem erlebt, in welchem klare Grenzen gezogen werden, ist daran gewöhnt, dass sein Tun Konsequenzen hat. Dieses Kind erwartet auch in einem ihm zunächst fremden System eine klare Führung. Damit bringt es die besten Voraussetzungen mit für seinen Schulerfolg. Die Schule muss nicht zusätzlich Zeit aufwenden, damit sich das Kind einfügt. Das ist allerdings der Idealfall.

Es gibt ein weniger ideales Modell: Ein Kind kommt aus einem Familiensystem, in dem es keine Grenzen gibt. Es kann tun und lassen, was es will, und erlebt keine Konsequenzen. Es wird mit allen Mitteln versuchen, dies auch im Schulsystem durchzusetzen. Wenn es gewohnt ist, nicht darauf zu hören, was die Mutter verlangt, wird es das in der Schule auch mit der Lehrerin ausprobieren. Es muss lernen, Grenzen anzuerkennen, und den angemessenen Umgang mit Autoritäten. Es leuchtet ein, dass ein Kind dies nicht einfach so hinnimmt. Es wird versuchen, die beiden Systeme gegeneinander auszuspielen.

Jetzt haben wir ein Problem: Die Interaktion zwischen den beiden Systemen funktioniert nur, wenn Eltern und Lehrpersonen am selben Strick ziehen.

Diese Einsicht verbindet Schule und Elternhaus auf ganz einfache Weise. Aber wirklich gelingen kann die Verbindung nur, wenn die Eltern dem System Schule mit Wertschätzung begegnen, so wie ich es gegenüber dem Familiensystem tue. Mir fällt das leicht, weil ich aus eigener Erfahrung als Mutter weiß, dass Eltern das Beste für ihr Kind wollen, auch wenn es nicht immer danach aussieht.