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1910 erschien die Novellensammlung 'Die heilige Einfalt'. Während Clara Viebig sich im Band 'Naturgewalten' mit den äußeren und inneren Gewalten beschäftigt, die das Leben ihrer Protagonisten beeinflussen und schicksalhaft bestimmen, stehen in 'Die heilige Einfalt' Glaube und Hoffnung im Mittelpunkt. Der naive, einfältige Glaube und die unerfüllte Hoffnung auf Glück von Mägden, Knechten und anderen kleinen Leuten, deren Schicksal Clara Viebig mit viel Empathie beschreibt. So schafft sie die vorliegende Novellensammlung, die mit ihrer tiefen Menschlichkeit auch den Leser von heute noch berührt. Die sieben Novellen spielen im Posender Land, Eifel, Mosel und Berlin.
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Seitenzahl: 293
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© 2016 Rhein-Mosel-Verlag Brandenburg 17 D-56856 Zell/Mosel Tel. 06542/5151 Fax 06542/61158 www.rhein-mosel-verlag.de Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-842-5 Ausstattung: Marina Follmann Titelbild: Egbert van der Poel Korrektur: Melanie Oster-Daum
Clara Viebig
Die heilige Einfalt
RHEIN-MOSEL-VERLAG
Der Text entspricht, außer geringfügigen orthographischen Korrekturen, dem der Erstausgabe von 1910, verlegt bei Egon Fleischel & Co. Berlin.
***
Inhalt:
Ein einfältiges Herz
Die Primiz
Der Käse
Der Jan und der Jup
Brummelstein
Die Wasserratte
Das Los
***
Ein einfältiges Herz
Sie schafften jetzt den ganzen Tag auf den Feldern, früh um vier waren sie schon draußen; die Hitze der letzten Wochen hatte den Roggen so schnell gebleicht, daß er auf einmal totreif geworden war. Sie hatten sich, müde und glühheiß, heute am Mittag eben die erste Rast gegönnt, da war vom Dorfe her ein Geschrei zu ihnen gedrungen. Noch war es fern, sie achteten seiner nicht, aßen weiter an ihrem Brot und Speck und tranken ihren Schnaps dazu.
Die Mütter waren die ersten, die aufmerksam wurden; sie drehten die Köpfe zum Dorf zurück: die Kinder waren allein zu Haus, nur ein paar Alte bei ihnen. Die fingen doch wohl keinen Unfug an?!
Da sahen sie die Kretzschmern mit hocherhobenen Händen daherstürmen. Sie winkte in einem fort. Wo kam die denn jetzt her, war die nicht mit dem Sohn und dem Knecht auch zu Acker gefahren? Nein – jetzt fiel es der Nachbarin ein – die Kretzschmern, die hatte heute morgen geklagt über Schmerzen im Leibe, sich förmlich gekrümmt; sie hatte daheim bleiben müssen. Aber nun kam sie daher gerannt, barhaupt, das Haar in Strähnen unter der weißen Nachtkappe flatternd. Was fiel ihr denn ein? Sie schrie in eins fort, man verstand kaum ein Wort.
Aber nun! »Es brennt, es brennt!«
Wo brannte es?! Die es gehört hatten, blickten auf und schauten blinzelnd hinaus ins sonnenflimmernde Land: wo denn?! An das eigene Dorf dachte niemand.
Aber die Kretzschmern schrie wieder und wieder und winkte heftig, und nun kam auch ihr Sohn, der Jakob, gelaufen und schrie auch: es brannte im Dorf, sein Haus, sein Haus brannte lichterloh! Die beiden schrien laut um Hilfe.
Da rannten sie alle mit zum Dorf zurück, im Nu waren die Felder von Menschen leer. Von nah her, von weit her, von allen Äckern rasselten die Gespanne heim in wilder Hetze, und die Leute schrieen.
»Seid ihr versichert?«
»Nä. Aber ihr?«
»Woll, woll. Aber schlechte!«
»Jesus Christus, Herre im Himmel, es tut doch bei mir nich gar ooch brennen?«
»Mutter Maria, bitte für uns! Heiliger Florian, heilige Nothelfer!«
»Brennt’s ooch nich bei mir?«
»Oder bei mir?«
»Bei mir doch nich etwa?«
Der Jakob Kretzschmer wurde bestürmt, er sollte Näheres sagen.
Sein Roggenstück war dicht beim Dorf, aber er hatte so fleißig geschafft, daß er es sich nicht vergönnt hatte, den Kopf aufzuheben. Die Pioscheks die Mädchen, die er zur Ernte gedungen hatte, rafften hinter ihm und dem Knecht. Eine Hitze war’s zum ›Verblischen‹. Sie hatten aber noch nicht Mittag gemacht wie die anderen, da kam’s ihn an, akkurat wie die Mutter am Morgen, so daß er nicht weitermähen konnte vor Schmerzen. O, es tat ihm gar fürchterlich weh und schnitt durch den Leib, wie mit Messern. Er hatte sich im Wäldchen ein wenig verschnaufen müssen – der Martin hatte ihn ja da gesehen im Schatten liegen. Grad hatte er daran gedacht, lieber heim zu gehen, sich von den Choleratropfen zu holen, die die Mutter eingenommen hatte, da kam sie auch schon auf den Acker gelaufen, rannte gegen ihn an und schrie immerfort: »Es brennt, es tut brennen!« Auf dem Bette gelegen hatte die Mutter, hatte ein wenig geschlafen, vom Knistern und Knattern war Sie aufgeweckt worden – o, da tat’s schon hell brennen!
Der Bursche erzählte es, hastig, ganz außer Atem, mitten im Rennen, aber doch ziemlich ausführlich und flüssig. Und die Mutter zeterte immer das letzte Wort nach und nickte dazu bekräftigend: ja, ja, so war es, so war’s gekommen, den Martin konnten sie fragen und die Pioscheks auch, so war’s gewesen!
Die Kretzschmern war noch blaß von ihren Schmerzen, und die Augen irrlichterten ihr im Kopfe umher; dem Jakob erst recht, er war in großer Aufregung. Kein Wunder, wenn einem das Haus abbrannte!
Ein Entsetzen packte die Nachbarn, als sie vor Kretzschmers Gehöft ankamen. Das brannte ja lichterloh, an allen vier Ecken! Jesus Maria, wie war das nur ausgekommen?!
»Rettet das Vieh! Schnell!« Die eingesperrten Tiere brüllten im Stalle.
Aber wie sie noch dabei waren, die Türen zu öffnen, die Kühe loszubinden und die Ochsen – der Jakob war gar nicht dabei zu gebrauchen, der rannte bald hierhin bald dorthin und drehte sich immer im Kreise – da gellte auch schon ein neuer Schrei auf: »Nebenan tut’s ooch brennen!«
Vom Kretzschmerschen Dach war ein Funke herübergeflogen zum Pioschek; der hatte nur Stroh gedeckt, war ein armer Teufel. Im Hui waren die ausgedörrten Strohlager von Flammen bedeckt und brannten wie Zunder.
»O Herre, mein Haus, mein Haus, wer hilft mer?! Mein Haus, mein Haus!« Der Arme schrie kläglich, und die beiden Töchter schrien noch kläglicher; laut gellte ihr Jammern.
Viele Hände packten zu, man versuchte das niedrige Strohdach abzureißen, es herunter zu zerren mit Haken und Harken. Pioschek kletterte auf den First, von oben hoffte er nachzustoßen, aber die Flammen schlugen ihm ins Gesicht; er schluckte ein paar Mundvoll Rauch, verlor die Besinnung, taumelte rücklings und torkelte niederwärts vom brennenden Dach. Da lag er nun unten, und Stroh und Dachsparren schütteten feurigen Regen über ihn. Die Töchter, die keine Mutter mehr hatten, knieten rechts und links vom Vater und hielten sich schreiend die Augen zu.
Wer sollte da retten?! Wohl versuchten Beherzte dem Feuer Einhalt zu tun, denn bis der Reiter, der sich aufs erstbeste Pferd geschwungen, vom Feuer Meldung getragen hatte rund in die Dörfer, bis die Hilfe kam, konnte längst alles verbrannt sein. Sie zerrten die Spritze aus dem Spritzenhaus, sie spannten sich selber vor in der Eile.
Der Propst, ein greiser Mann, aber einer, der schon einmal hatte Gollyn halb abbrennen sehen, rannte mit flatternder Soutane umher und kommandierte die Spritze. Aber was vermochte ihr dünner Strahl bei solchen Flammen?!
– – –
Der Meldereiter trabte jetzt durch den Wald. Und wie er trabte! Hoch wurde er vom Rücken des Gauls, den kein Sattel drückte, in die Höhe geschleudert; sein zähes, braunes Bauerngesicht, die festen Wangen schütterten, als wären sie schlottrig. Die Mütze flog ihm vom Kopf, er ließ sie fliegen. Nur rasch hin zum nächsten Dorf!
Jetzt war er zum Walde heraus, jetzt sah er schon den Kirchturm über das Ährenfeld steigen. Er stieß seinem Gaul die Hacken in die Weichen; das erregte Tier blähte schnaubend die Nüstern, seine schweren Hufe stampften den Boden. Links, rechts Wolken von Sand; kleine Steine, Moos, Kiefernadeln wie sprühender Regen.
Dem Manne hingen die Haare ins Gesicht, verweht und verschwitzt; er keuchte, rang nach Luft, der Atem ging ihm aus beim rasenden Ritt. Der Gaul schäumte in den Strick, den er statt des Zaumes im Maule trug. Mit der Rechten packte der Bursche in die flatternde Mähne, reckte sich in die Höhe und stieß ein Geschrei aus, fast war’s ein Gebrüll: »Feurio!«
Hinter ihm über dem Kiefernwald hing eine dunkle Wolke, schwer lagerte sie über den Wipfeln, bewegte sich nicht, sondern stand und stand. Einen scheuen Blick warf der Reiter zurück. Nun schien der Wind dort drein zu blasen.
»Feurio, Feurio!« Furchtbar gellte der Ruf über die mittäglich-stillen Felder.
Hinter den aufgesetzten Mandeln lagerten die Schnitter im dürftigen Schatten und verschliefen die schwülste Zeit. Nun fuhren sie auf. Wie erschrecktes Hühnervolk flatterten die Weiber untereinander. Wo brannte es? Wo?!
Wie ein Spuk flog der Reiter vorüber: »Feurio!« Schon schlugen des Gaules Hufe dröhnend das Pflaster der Dorfstraße, sprühend flogen unterm klappernden Hufschlag Funken auf. Wer zu Hause war, eilte erschreckt ans Fenster.
»Feurio, Feurio!«
»Wo brennt es?«
»Zu Gollyn!«
Und weiter jagte der Feuerreiter, zu diesem Dorf hinaus und dem nächsten Dorf zu: »Zu Hilfe, zu Hilfe, Feurio, in Gollyn brennt’s!«
Vom Felde kamen die Männer jetzt hereingelaufen, kein Mensch dachte mehr daran, daß man am Nachmittag die ersten Mandeln hatte einfahren wollen. Jetzt gab es etwas anderes zu fahren: Wasser. Wenn nur der Tümpel nicht ausgetrocknet war zu Gollyn! Die Hitze war arg gewesen in den letzten Wochen. Ob es ein großes Feuer war?!
Durch den Wald getrennt, eine Stunde weit war man von Gollyn, man konnte nichts sehen. Nur in der Luft war eine Witterung. Drehte man den Kopf nach der Richtung von Gollyn, so roch man es: Brand. Brenzliger Gestank kam mit dem Wind, man spürte den Rauch auf der Zunge.
Die braunen Bauerngesichter wurden fahl: Gott sei gepriesen, gelobt die heilige Mutter, daß es nicht das eigene Dorf war! Aber: zu Hilfe! Vom Schuppen her, wo die alte Spritze stand, hörte man’s schon poltern. Gleich darauf vernahm man auch schwerfälliges Rasseln; der Bauer, der vorne aufsaß, hieb auf die vier Gäule, und der Landjäger neben ihm schrie dazu wie toll. Aus den Pferdenüstern schien Dampf zu fahren, sie schnaubten, sie prusteten; die Gäule ahnten das Feuer.
Was an Männern im Dorfe war, rannte gen Gollyn. Auch Weiber machten sich auf den Trab, viele barfuß, sie hatten Verwandte zu Gollyn wohnen: eine Mutter, einen Vater, einen Bruder, eine Schwester, Söhne, Töchter vielleicht. Ihr Jammern lief vor ihnen her und ihr Beten. –
Eine ganze Karawane zog durch den Wald. Im tiefen Sand fuhr der Spritzenwagen nur langsam, fast kamen die Fußgänger den Rossen vor. Der Kutscher peitschte wie unsinnig, der Landjäger schrie: »He, he!« und schnalzte anfeuernd mit der Zunge. Vom Landrat war es bekannt gemacht: diejenige Spritze, die als erste am Platze war, bekam die Prämie.
Glühend heiß war’s im Wald, zum Verschmachten stickig, der Kiefernwald saugte alle Sonnenglut ein. Jeder Stamm troff von Harz. Aber es war nicht der Harzgeruch, der die Kehle so reizte. Stärker und strenger wurde ein Rauchgeruch, ein beißender brenzliger Rauchgestank. Das mußte ein mächtiges Feuer sein! Die Fußgänger fingen an, Trab zu rennen, immer Trab hinter den Pferden her.
Es wurde finster mit einemmal; noch kam längst nicht die Dämmerung, aber der Sonnenschein verdunkelte sich. Jetzt auf dem offnen Feld sah man ungehindert das Sonnenrund, aber rot war das goldne Gesicht geworden, blutrot; es schimmerte unheimlich durch dichte Rauchschleier. Abend schien’s mitten am Tage; der reife Roggen der Felder wurde bleichgrau, alles Grün schien verstaubt, alle Farben waren verschossen. Und jetzt! Unablässig bimmelte das Glöckchen vom Gollyner Turm. Laut schrien die zu Hilfe Eilenden in das Gebimmel hinein, und ein Geschrei antwortete ihnen von weitem: zu Hilfe, zu Hilfe!
Hinter der Bodenwelle, an die sich das Dörfchen schmiegt, lohte es auf. Und ein wüster, ein wilder Tumult, ein Jammern und Kreischen, ein Brüllen und Blöken, ein verzweifeltes Lärmen, ein sinnloses Rufen stieg auf zum verdunkelten Himmel.
Es waren der Spritzen schon mehrere am Platz. Von der Warthe herauf aus dem Städtchen war die große gekommen. Man sah den lodernden Brand jetzt meilenweit. Aber was sollten Spritzen und Spritzen, wo das Wasser so knapp war?!
Vom großen Pfuhl an, beim Eingang des Dorfes, auf dem Enten und Gänse lustig rudern zur Regenzeit, in dem die Schweine sich baden und die Kinder patschen, stand’s in langer Reihe: Männer und Weiber, die ganze Straße herauf. Eimer um Eimer flog die Kette entlang, aus einer Hand in die andere, die Spritzen wurden fleißig bedient. Aber wenn der Tümpel nun ausgeschöpft war?! Ein Grauen lähmte den Leuten die Arme. Sie konnten nicht atmen mehr vor glühender Hitze, sie konnten nicht sehen mehr vor dickem Rauch; es tränten die Augen, die Wimpern versengten, Kopfhaar und Bärte knisterten schon.
Die lange Straße hinab ein Feuerherd neben dem anderen. Mit vollen Backen blies ein starker Südwest, als hätte er nur darauf gelauert, daß die Menschen ermatteten. Wie Irrlichter ließ er die Flammen tanzen; jetzt waren sie hier – jetzt waren sie dort – das Feuer sprang. Jetzt überschlug es ein Dach in der Reihe und nahm Platz auf dem übernächsten; mitten zwischen zwei brennenden Häusern stand ein Haus unversehrt. Aber nicht lange. Das fliegende Feuer kam noch einmal zurück. Feuer, Feuer, Feuer überall.
Die Kretzschmers lamentierten am lautesten von allen Betroffenen, sie schrien immerfort und waren doch gut versichert. Plötzlich fiel einem Nachbar ein: wo war denn die Mine, Kretzschmers Mine? Daß man die gar nicht sah! Aber in der eigenen Sorge, in der Hast um das eigene Gut, um das Vieh, um das Weib und die Kinder hatte dann keiner mehr Zeit, an die Mine Kretzschmer zu denken.
Man hatte die Stalltüren aufgemacht, das Vieh stürzte brüllend heraus, aber auch manch ein Stück, von Lärm und Feuerschein gescheucht und geblendet, stürzte wieder zurück an seine Raufe. Die Schafe zumal waren blöde, kaum hatte man sie vor dem Stall, so drehten sie um und rannten blökend wieder hinein, von wo sie gekommen.
Verworrenes Gemisch von Menschenstimmen und Tiergebrüll, von Knistern und Knattern und krachenden Balken, von Knacken, von Poltern, von Stürzen und Zusammenbrechen, von anrasselnden Spritzen und gellenden Kommandorufen, von klatschenden Peitschenhieben und wütendem Pferdewiehern. Gäule, abgetrieben und abgehetzt, gepeitscht von Unsinnigen, bäumten sich scheuend; krachend donnerten ihre Hufe gegen die Spritzenwagen. Unbestimmtes Getöse, das sich anhören mochte aus der Ferne wie Getümmel der Schlacht, stieg auf zum verdüsterten, drohend verdunkelten, nächtlichen Nachmittagshimmel. Alle Laute untereinandergemischt, untrennbar ineinanderverwoben, aber überbraust vom Sausen des Windes, vom Sausen der Flammen. Und dazu des Glöckleins unablässiges Gewimmer: zu Hilfe, zu Hilfe!
Und noch eine Stimme schrie jetzt: »Hilfe!« so laut, so furchtbar laut, daß sie allen Tumult durchgellte.
»Helft mer doch, helft mer doch!«
Das war eine Weiberstimme!
»Macht uff, macht mer uff!«
Wo kam das her?! Mit Blitzesschnelle sah ein jeder sich um: gottlob, sein Weib war hinter ihm, und dort schleppten die Kinder noch etwas aus dem Hause! Jeder Mann überzählte die Seinigen rasch: alle da. Maria, Meerstern, sei gepriesen!
»Helft mer, helft mer!«
Das klang schon erstickter, aber fast noch entsetzlicher, als das erste Mal. Die es hörten, graute es.
»Wer möcht sprechen, ’s is irgendwo eenes ingesperrt,« sagte der alte Schäfer. Er war ruhig wie immer, er hatte nichts mehr zu verlieren auf dieser Welt. Er packte den Jakob Kretzschmer, der gerade mit einem dreibeinigen Schemel und mit einer alten Tranktonne, die zu nichts mehr taugte, bei ihm vorüberrannte, am Wams: »He, Jakob, wer schreit denne so? Is etwa deine Mine noch derheeme?«
»Meine – Mine?! De Mi–ne –?!« Der junge Mensch ließ Stuhl und Bottich fallen.
»Ju, ju, de Schwester. Wo tut se denne sein?«
»Ich – ich weeß nich – se – se – ich – – was weeß ich, wo de Mine tut sein,« sagte der Bursche dann rasch, auf einen Ruck sein Gestammel beendend.
Der Alte blieb beharrlich. »Mer möcht meinen, sie wär’sch, die da tut schreien!«
»Was Ihr wieder hört!« Der Jakob lachte auf, fast höhnisch und doch verlegen. Und blässer als er schon war, wurde er dabei.
»Helft mer! He – e – lft – !«
Ein langgezogener, ersterbender Schrei noch, dann nichts mehr.
»Ju, ju, da drinne!« Der Schäfer, der dagestanden hatte, den Kopf vorgeneigt, die Hand am Ohr, ließ sich nicht abbringen. Wenn auch Jakob meinte, da sei niemand, er rief noch ein paar Männer an: »Hört ihr’sch? Da unten – da!« Und stand starr und wies mit vorgestreckten Armen auf das Kellergeschoß des Kretzschmerschen Hauses.
Schäfer Thomas war gewohnt, im Wind und Wetter zu lauschen, sein Ohr, das hörte mehr, als anderer Leute Ohren hörten. Von denen, die in den Lüften sind, unsichtbar in Winden und Wolken, um uns schweben zwischen Himmel und Erde, von denen empfing er oft ein Zeichen.
»Hier unten. Hier!« Wenn es nun auch nicht mehr nach Hilfe schrie, er wußte, er fühlte genau, da unten war etwas, da unten saß eine arme Seele, die nach Erlösung jammerte.
Er hatte eine Axt ergriffen, die am Boden lag, mit Kraft tat er den ersten Streich. Die schwere hölzerne Klappe, welche die Luke verschloß, durch die man die Kartoffeln gleich aus der Karre hinabschütten konnte in den Keller, barst mit einem Krach. Splitter flogen nach rechts und links, und von oben goß das brennende Haus einen ganzen Schutt von Feuer auf den Alten herab. Aber er stand, als wäre er gefeit, von einem roten Dunst feurig umwoben. Schon schwang er wieder die Axt.
Von einem schier abergläubischen Gefühl angewandelt, sahen sie ihm zu. Der Jakob war weggelaufen, aber andre packten an, und Hacken und Stangen und Forken, was sich gerade in der Hast nur ergreifen ließ, donnerten gegen die Kellerwand. Weiß Gott, der Thomas hatte auch diesmal mehr als andere gehört! Durch die geöffnete Luke klang deutlich ein Winseln; es wurde freilich jetzt übertönt vom Krachen gewichtiger Balken – Jesus Maria, der ganze Dachstuhl des Kretzschmerschen Hauses stürzte nieder, zum Glück nach der anderen Seite! – aber man hatte das Winseln doch gehört. Jetzt beeilten sie sich noch mehr.
Schon waren ihnen Gesicht und Hände geschwärzt wie Köhlern; die Hitze, der Widerstrahl vom brennenden Haus ward fürchterlich, lange konnte man’s hier nicht mehr aushalten. Aber da unten, grade unter der Luke, da lag ja ein Mensch!
Ein Kecker, der den Kopf in die Luke gesteckt hatte und hinuntergeguckt, fuhr voller Entsetzen zurück: da hieß es schnell helfen! Schon schlug der Rauch in mächtigen Schwaden zum Keller hinein. Schnell, schnell, ehe es zu spät war!
»Schlagt die Wand vollends ein!« Starke Arme, von Angst noch gekräftigt, ließen ihre Werkzeuge rechts und links von der Luke hinsausen. Schon klaffte in der Lehmwand ein großes Loch. Und das Loch erweiterte sich geschwind und geschwinder; nun war es so groß, daß einer hindurchkriechen konnte, hinab in den Keller.
Der Thomas tat’s selber, er vertraute auf verborgene Kräfte.
Die Köpfe ausgestreckt, mit vorquellenden Augen harrten die anderen vorm Loch: wenn der Alte nicht bald wieder heraufkam, dann blieb er wohl drunten, erstickt, samt jenem andern! Schon fraßen die Flammen von oben immer tiefer herab – da, ein Strom Feuer! Krach, die ganze Wand klaffte, der Lehm platzte ab, nackte Sparren traten zutage, glimmten, kohlten. Huh, die Hitze! Man mußte zurückweichen. Aber jetzt – heilige Mutter, sei gepriesen! – da war auch der Schäfer!
Er kroch aus der Luke, ganz unversehrt, und wie ein Bündel unterm Arm schleppte er eine Weibsperson, die hatte die Augen geschlossen.
***
Was von Gollyn zu retten gewesen war, das war gerettet: die eine Längsseite des Dorfes war stehen geblieben. Die halbe Nacht noch hatte der Brand gehaust; die Flammen hatten geleckt und gefressen, als wären sie gierig, bis gleich nach Mitternacht ein Regen niedergoß, den der starke Wind verkündet hatte, ein Regen, der das löschte, was die Spritzen nie hätten löschen können, denn der Dorfpfuhl war ausgeschöpft. Gegen Morgen konnten die Spritzen heimziehen; es schwelte nur noch. Vom roten Feuer war nichts mehr zu sehen, nur wo einer stökerte im Schutt seines Hauses, da zuckte noch hin und wieder ein Flämmchen auf. Die ganze Nacht über hatte der Himmel sich rot gefärbt vom Widerschein der Flammen. Weit, weit in die Runde, überall auf dem platten Land hatten die Bauern sich schaudernd bekreuzigt, und auf der Warthe die Flößer; sie hatten die Lohe auch emporwabern sehen. Nun aber waren die Gluten erstorben. Der Himmel war tot; schwer, fahl und trübe der Morgen.
Auf ihren Trümmern hockten die Dörfler. Sie jammerten nicht laut mehr, sie waren wie betäubt. Kein Nachbar sprach mit dem anderen; überall wankten einsame Menschen umher, die noch etwas zu finden trachteten von dem, was sie gestern um diese Zeit noch ihr eigen genannt hatten.
Die Gärtchen des Dorfes waren vertrampelt, die Zäune umgestoßen, die Stämme der Obstbäume angekohlt, die Blätter wie im Spätherbst braun verkrumpelt. Verscheuchtes Vieh rannte im Durcheinander umher, noch dachte kein Mensch daran, es zu füttern; hungrig schnupperte es auf den Hofstätten herum. Wo der gewohnte Stall gestanden hatte mit seiner dunstigen Wärme, da ragten jetzt schwarze, zerbröckelnde Mauern in den schaurigen Tag. Vor mancher Raufe lagen, schwarz aufgeblasen, zu unkenntlichen Klumpen verkohlt, die Ochsen, die Kühe, die man nicht mehr hatte herausbringen können. Es war so still, so entsetzlich still in den ausgebrannten vier Wänden, bis die Schwalben mit schrillem Schrei die Trümmer durchirrten: wo waren ihre Nester geblieben, deren so viele an den Balken, in den Nischen gehangen hatten? Wo ihre Jungen?!
Beim Schwalbenschrei weinten die Weiber auf. Nun kam’s ihnen erst zum Bewußtsein, das ganze Unglück. Aber mußte man nicht den Heiligen danken, daß einem wenigstens nicht die Kinder verbrannt waren, wie jenen armen Tieren? Ach, und die Sau, die heut nacht hier gelaufen war, eine lebende Fackel, brennend am eigenen Schmer, und der die Ferkelchen quietschend gefolgt waren! Lauter weinten die Frauen. Doch gepriesen sei Gott, wenigstens kein Mensch war hin und verloren! Selbst die Kretzschmers Mine war lebendig davongekommen. Da ging sie!
Aller Augen folgten dem Mädchen. Es kam jetzt langsam, schwerfälligen Schritts von der Propstei her. Dorthin hatte man es bewußtlos getragen, und die alte Zilla, des Herrn Propsts Haushälterin, hatte sich seiner angenommen. Halb erstickt war die Mine freilich, den Kopf und die Hände hatte sie sich blutig geschlagen von Rennen und Hauen wider Kellertür und Kellerwände; mochte wohl hinausgewollt haben in ihrer Angst. Aber sie hatte eine gute Natur; der alte Thomas hatte etwas über sie hingesprochen, heimlich ein Zeichen über ihr gemacht, und die Zilla hatte sie ein wenig mit Wasser bespritzt, da war sie auch schon wieder zu sich gekommen und hatte gesagt, daß sie in den Keller hinab gestiegen wäre, um Kartoffeln heraufzuholen. Die Tür hatte sie hinter sich offen gelassen, um was zu sehen, da war die Tür auf einmal zugeklatscht, gerade als sie sich über die Kartoffeln im Winkel beugte; sie hatte sie nicht mehr aufbringen können trotz aller Gewalt.
Geschrieen mochte die Mine freilich haben – aber wer sollte sie hören? Der Keller war tief; alle waren draußen auf dem Felde, und die Kretzschmern lag oben zu Bett in der Giebelkammer und schlief. Die Mine mußte sich in Geduld schicken.
Was eigentlich dann noch gewesen war, wußte sie nicht zu erzählen, geschlafen mochte sie wohl auch eine Weile haben so im Dunkeln auf den Kartoffeln.
»Nun, wie war’s denne, wie kam’s denne?« fragten die Gollyner immer wieder begierig. »Haste ’s auch arg mit der Angst gekriegt, Mädel?« Sie hätten gern etwas Näheres gehört, aber Mine schüttelte nur verneinend den Kopf und zeigte dann ihre breiten Zähne: »Nä, fürs erschte gor nich; erscht später!«
Eine einfältige Person! Sie schien ganz vor den Kopf geschlagen. Als die Zilla sie daran gemahnte, daß es nun an ihr sei, sich auf die Knie zu werfen, der heiligen Mutter vielmals zu danken für den gnädigen Schutz, den die ihr gewährt hätte, da faltete die Mine nur stumm die Hände und guckte ohne ein Wort vor sich hin. Die Lider fielen ihr zu.
Auf dem Bett der mitleidigen Alten lag das Mädchen, das beinahe verbrannt wäre und dem man doch kaum die Erregung anmerkte, und schlief fest. Es hörte nichts mehr von dem Feuerlärm draußen; die Propstei lag gar nicht fern von den brennenden Häusern, der rote Schein machte die Stube ganz hell.
Mine Kretzschmer war weitab von dem Schreien und Klagen, von dem Feuerlärm und der Flammenhelle, sie wiegte sich in einem schönen Traum. Der trug sie auf feinen Flügeln so fernab all dem Schrecken und Jammer, daß ihre Seele nichts davon spürte, nicht einmal ahnte. Kein Gedanke an ihr Gefangensein unten im Keller des brennenden Hauses beunruhigte ihren Geist. Die Hand hielt sie in der Tasche ihres dürftigen Rockes versenkt. Es steckte ein Brief darin. Ihre Finger befühlten den auch noch im Schlaf.
***
Mine Kretzschmer hatte einmal einen Schatz gehabt, Knecht war er bei ihnen gewesen, noch zu ihres Vaters Lebzeiten. Sie und der Gustav Schwaß hielten treu zueinander, trotzdem der Gustav arm und sie, die Mine, damals recht hübsch war und mit dem schönen Erbteil von ihrer Mutter selig wohl einen reichen Bauern zum Mann kriegen konnte. Aber sie hatte sich’s in den Kopf gesetzt: nur den Schwaß-Gustav. Vielleicht, daß der Vater es doch zugegeben hätte, aber als er plötzlich starb, sagte die Witwe Kretzschmer zum Knecht: »Scher dich,« und hielt die Mine immer bei sich im Haus, so daß Gustav Schwaß sie gar nicht mehr zu sehen und zu sprechen bekam. Da war ihm ganz Gollyn verleidet. Er ging fort zum Militär, und seinem Schatz ließ er sagen: sie solle nur warten, er käme wohl mal wieder.
Damals war die Mine ganz jung gewesen; sie hätte sich auch danach mehrmals verheiraten können, aber sie wollte es nicht. Und die Stiefmutter wollte es auch nicht: sie könne nicht fertig werden im Haus ohne die Tochter.
Die Mine war rasch ältlich geworden, sie mußte zu viel schaffen. Sie tat’s ohne Muck. Und zu keiner Lustbarkeit kam sie. Die Gollyner wunderten sich erst darüber, daß eine, die doch eine vermögliche Bauerntochter war, so wenig auf sich verwendete, aber jetzt hatten sie sich längst daran gewöhnt: die Mine war eben so eine, die nur ans Arbeiten dachte, ans Sparen, ans Racksen, für nichts anderes Sinn hatte mehr auf der Welt. Nicht einmal alle Sonntag mehr kam sie zur Kirche; man sah sie überhaupt wenig und immer weniger. Sie hockte immer im Haus; selten, daß, wenn Mutter und Bruder mit dem Knecht draußen im Felde waren, ihr schmales Gesicht sich für ein paar Augenblicke am Straßenfensterchen zeigte. Sie war nicht gesund.
Es ahnte niemand, daß Mine Kretzschmer noch immer des Schwaß-Gustav gedachte. Das heißt, denken konnte man es eigentlich kaum mehr nennen; sie empfand nur dumpf jeden Abend, wenn sie in ihrem kalten Bette lag, daß da einer in der weiten Welt herumging, für den sie zu beten hatte. Und das tat sie denn auch, die Hände wie ein Kind vor sich auf der Brust gefaltet; aber stumm, ganz ohne Worte. Sie durfte ja niemals, niemals mehr von dem Gustav Schwaß ein Wort sprechen, seinen Namen gar nicht nennen; so traute sie sich auch jetzt nicht, es zu tun. Sie schreckte zusammen, wenn die Mutter, die mit ihr die Kammer teilte, über diesem seltsam stummen wort-, ja fast gedankenlosen Gebete hinzukam, oder wenn der Bruder nebenan seine Türe zuwarf. Dann duckte sie sich ganz tief unter ihrer Decke und hielt den Atem an, daß man nichts von ihr sah noch hörte.
Viele Jahre hatte Mine nichts mehr vom Gustav vernommen. Erst hatte sie wohl gedacht: ›er hat dich vergessen‹, und soviel heimliche Tränen geweint, daß das blanke Braun ihrer Augen ganz verwaschen wurde zu einem mattgrünlichen, trüben Grau. Aber nun weinte sie längst nicht mehr. Es war, als ob sie keine Tränen mehr hätte. Früher, als die Mutter sie in der hinteren Kammer einschloß, wenn sie und der Jakob an Sonntagen zur Kirche oder an Festtagen zum Jahrmarkt im Städtchen gingen, hatte sie wohl geweint; jetzt lachte sie vor sich hin. Einzuschließen brauchte man sie jetzt auch nicht mehr, sie ging nicht fort, keinen Schritt; sie war dem Hause so treu wie die Katze, die nicht von der Schwelle zu verjagen ist, selbst wenn das Haus leer geworden ist und öde. Und wenn Jakob sie puffte, lachte sie auch vor sich hin. Bei allem Schimpfen, Stoßen, Schlagen und Eingesperrtsein behielt sie immer ihr Lachen bei. Es war aber kein rechtes Lachen mehr, eigentlich nur ein Lächeln; auch das nicht gerade, es war nur ein Ziehen des Mundes in die Breite, eine geduldige, demütige, furchtsame Grimasse.
– – –
»Wie se lachen tut,« sagte die Zilla, die mit ihrem Gevatter, dem Schäfer Thomas, noch einmal in die Stube kam, um nach der Geretteten zu schauen. Der Flammenschein von außen huschte über das blasse, schmale Mädchengesicht mit der scharf vortretenden Nase unter der niedrigen Stirn und lieh ihm rosigere Farben.
Sie beugte sich beide über die Schlafende. »Se weeß von nischte,« flüsterte die Alte. »Herre im Himmel!« Sie seufzte. »’s tut doch woll so sein, wie die Kretzschmern ofte klagt, alle Fünfe, sagt se, hat ihre Mine nich mehr beisammen!«
»Ju, ju,« der Schäfer nickte bedächtig. »Das soll woll sein. Aber weeß mersch denne, warum se nicht alle ihre Fünfe mehr beisammen hat?!« Er machte eine Pause, und als Zilla ihn erstaunt-erwartungsvoll ansah, murmelte er geheimnisvoll, langsam dabei den Kopf wiegend: »Nä, mer weeß es nich; Ihr nich und andre ooch nich. Aber ich, ich sage: da is was nich richtig!«
Mine lächelte im Schlaf; es war nicht die alte, traurige, demütig-geduldige, furchtsame Grimasse mehr, es war ein wirkliches Lächeln. Sie las jetzt im Traume den Brief, den sie vor einer Woche bekommen hatte, den sie seitdem nicht mehr von sich ließ, den Brief, den sie hier in der Tasche trug und den sie verstecken mußte, sollte die Mutter ihn nicht zerreißen. Jetzt las sie ganz ruhig, ganz ungestört, was der Schwaß-Gustav ihr geschrieben hatte; sie brauchte es nun nicht in ängstlicher Hast herauszubuchstabieren. Mit Genuß durfte sie ihn lesen, mit allen Sinnen ihn zu begreifen suchen, mit einer solchen Freude, daß es sich von ihrer Seele heben wollte wie eine Last. War’s möglich, war’s wirklich so: der Gustav kam, der Gustav kam wieder?! Da stand es ja, da schrieb er’s ja: das Militär hatt er nun gründlich satt – drei Jahre Westafrika, das war auch nicht ohne – in Hamburg waren sie nun eingetroffen – er war noch gesund, und gespart hatte er auch was – in acht Tagen vielleicht schon kam er nach Gollyn – – –!
›… und wenn Du noch willst und du bist noch ledig, mir soll’s denn recht sein. Sei kein dummes Mädel mehr, laß Dir nich abbringen, du bist ja lange mündig.
Mit Gruß und Kuß
Dein lieber Gustav.‹
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Mine Kretzschmer hatte im Traum gelächelt, sie lächelte auch noch am Morgen, als sie, ein wenig schwerfällig, mit zitterigen Füßen noch, von der Propstei her ihrer Hofstätte zuschritt. Das Haus stand nicht mehr. Alles heruntergebrannt. Ein großer Haufen Trümmer war hier, wo sie gewohnt hatte; vom Stall standen nur ein paar Mäuerchen, von der Scheuer war gar nichts mehr übrig, nur die Häckselmaschine ragte noch mitten aus dem Schutt. Da wo die Tonne sonst gelegen hatte, in der der Sultan auf seinem Stroh den Tag verschlief und des Nachts wachsam kläffte, lag nur noch ein Stückchen eiserne Kette, ein eiserner Ring und noch ein Etwas, zu unkenntlichem schwarzem Häufchen zusammengebrannt.
Mine ging bei allem herum und sah es sich an; ihr war’s wie ein Traum, daß hier einstmals ein Haus gestanden hatte, in dem sie lange und traurige Jahre verlebt hatte. Das war alles vergessen – der Gustav kam ja! Sie ging auf ihren Bruder Jakob zu, der sich über einen Schutthaufen beugte und mit eisernem Stochereisen so emsig darin wühlte, daß der Rauch hochaufstieg und noch Funken sich zeigten.
»Was machste?«
Da schnellte er auf, sein tiefgebückter Rücken wurde kerzengerade, er stand so steif und starr, als wäre er aus Stein, und das Stochereisen war seiner Hand entfallen. »Du –?!« sagte er.
Er konnte nicht anders, er mußte ihr nun die Hand geben, aber er tat es mit innerem Widerwillen. O diese blöde Person, um derentwillen das alles hier so gekommen war! Wenn sie nicht wäre – – huh, dann wäre der Brand nicht, diese schreckliche Nacht, vor der ihm noch heute am Morgen grauste! Das Angstgebrüll der Tiere hatte ihm ins Herz geschnitten. Wo war der treue Sultan? Man hatte es versäumt, ihn loszuketten. Da lag er verbrannt. Aber die Mine, die stand vor ihm und grinste ihn an! Und merkte es nicht einmal, daß sie hier übrig war!
Er sah sie böse an. Die Augen waren ihm wie Schlitzchen in den rotgeschwollenen Lidern; ein Zittern hatte er in allen Gliedern und im Herzen auch ein beständiges Zittern. Der Schrecken, der war ihm gewaltig in die Beine gefahren. So hatte er sich das doch nicht gedacht – nein, so schrecklich nicht! Daß auch so viele Häuser mit verbrannt waren! War’s nicht schlimm genug, daß er das eigene Haus hatte opfern müssen – wegen der, wegen der da?! Wieder schoß er einen Blick von unten her auf die vor ihm Stehende. Er hätte ihr an die Gurgel fahren mögen. Das Haus, das gute alte Haus hin, wer weiß, ob man je wieder ein so gutes kriegte?!
Jakob hatte längst davon gefabelt, ein neues und besseres aufzubauen, wenn er einmal freite – aber mit dem Freien hatte es noch gute Wege, dazu war er noch viel zu jung, das alte Haus hätte es noch lange getan. Das gute alte Haus, es war alles darin so paßlich gewesen! Und wer weiß, was einem die Versicherungsgesellschaft zahlte?! Schöne Scherereien würde man mit der noch kriegen; die schnoberte ja allem nach bis auf den Grund, und dann –!
Eine plötzliche Angst fiel den Burschen an. Er strich sich mit zitterigen fünf Fingern den buschigen Haarschopf aus der Stirn und jappte nach Luft; der Atem war ihm ausgegangen.
»Was haste?« fragte Mine. Sie stand noch immer vor ihm. Der Bruder sah elend aus, sie fühlte Mitleid; es mußte dem Jakob doch arg sein, daß das Haus verbrannt war! »Tu der nich gar zu sehre grämen,« sagte sie sanft.
Da fuhr er auf wie ein Rasender. Das Stochereisen, mit dem er im Schutt gewühlt hatte, packte er wieder und hob’s hoch empor; er drohte ihr: »Mach, daß de fortkommst!« Die Adern an der Stirn schwollen ihm dick, sein Gesicht wurde dunkelbraunrot, die Augen funkelten in ihren Höhlen, er knirschte mit den Zähnen.
Langsam ging die Mine von ihm fort: den mußte man heute ruhig lassen! Sie suchte die Mutter.
Die Kretzschmern hatte gegenüber in einem Hause Obdach gefunden. Nun, da sie die Tochter auf den Trümmern herumsteigen sah, kam sie angeschossen.
»Jeses, Mine, nä, Mine – gelobt sei Jeses Christus, daß de nich zu Schaden gekommen bist! Nä, Mine!« Sie packte die Tochter an und drehte sie hin und her, wie um sich zu überzeugen, daß auch nichts an ihr zu sehen war. Hoch erhob sie dabei ihre Stimme und schrie ganz gewaltig: »Nä, de Mine, meine Mine!«
Die Hände überm Kopf zusammenschlagend, pries sie alle Heiligen laut, man hörte sie weit die Straße hinunter.
Und alles, was da zuwege war, was tatenlos herumlungerte oder eifrig im Schutt wühlte, kam herbei. Und gegenüber aus den Häusern kamen auch die Leute gelaufen: »Nä, de Mine, de Mine!«
Nun sollte sie aber auch erzählen. Ei, wie war’s denn gekommen, daß sie im Keller drinnen saß, wie die Maus in der Falle? Wenn die Tür zugefallen war, so hätte sie die doch nur von innen aufzudrücken brauchen. Dummes Mädel, was hatte sie sich denn nicht tüchtig dawider gestemmt? Nur von außen sind Riegel zum Verschluß an den Kellertüren, und die können sich doch nicht von selber zuschieben?!
Das mußte der Riegel doch wohl getan haben. Wie konnte es anders sein?! Die Kretzschmern wurde ganz heftig, daß man so dumm fragen konnte. Und dann faßte sie ihre Mine am Arm und führte sie hinüber ins Haus der Nachbarn, die ihr ein Kämmerchen eingeräumt hatten. Sie ließ keinen an ihre Mine heran. Das Mädel sollte und mußte nun Ruhe haben; wenn die Leute was wissen wollten, sollten sie nur sie, die Mutter, fragen oder den Jakob. »Platz da!« Unsanft schob sie die Neugierigen beiseite. Die Haube saß ihr ganz schief auf dem Kopf, die schwarzen Haarsträhnen, mit grauen untermischt, hingen darunter hervor. Sie war sehr unwirsch.
Ihr herbes Wesen war den Nachbarn bekannt, es wunderte sie weiter nicht, die Kretzschmern so grob zu sehen; aber daß sie der Mine so schmeichelte, das verwunderte alle. Wer hatte je gesehen, daß sie dem Mädchen die Backen gestreichelt hätte?!