Die Heimkehr des Xuanzang - Heinz Greter - E-Book

Die Heimkehr des Xuanzang E-Book

Heinz Greter

0,0

Beschreibung

Eine Reise in den Westen und zurück: Anfang des 7. Jahrhunderts verlässt der Mönch Xuanzang China ohne Erlaubnis des Kaisers, um in Indien Unterweisung und Texte der buddhistischen Lehre zu finden. Rückblickend erzählt der inzwischen hoch Angesehene und sein Sekretär Héng-Li von Xuanzangs Leben sowie der Kultur und Gesellschaft Indiens jener Zeit. Xuanzangs Reise in den Westen, nach Indien, ist ein fester Topos der chinesischen Literatur und zudem eine Reise in die buddhistische Erkenntniswelt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 440

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heinz Greter

Die Heimkehr des Xuanzang

Roman

Elster Verlag • Zürich

Der Autor dankt der Stadt Zug und der Alice und Walter Bossard Stiftung für die Beiträge zur Drucklegung des Buches.

© 2013 by Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

Elster Verlagsbuchhandlung AG

Hofackerstraße 13, CH 8032 Zürich

Telefon 0041 (0)44 385 55 10, Fax 0041 (0)44 305 55 19

[email protected]

www.elsterverlag.ch

ISBN 978-3-906065-60-1

E-Book-Herstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Abbildungen: tangspirit.net, Heinz Greter

Umschlag: A. Werth nach dem Konzept der dreh gmbh | Marc Droz | Regula Ehrliholzer, Zürich

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1 Brief an den Kaiser von China

2 Flucht aus China

3 Verlust von Manuskripten – Todesgefahr

4 Audienz beim König von Khotan

5 Lehrrede und weitere Audienz beim König

6 Antwort des Kaisers von China

7 Audienz beim Kaiser von China

8 Übersetzungstätigkeit – Tod des Kaisers

9 Die letzten Jahre

Nachwort

Anhang

Personen neben Xuanzang

Zeittafel

Begriffserklärungen

Bibliografie

1Brief an den Kaiser von China

Mit ruhiger Hand setzte er den Stempel am Ende seines Briefes auf die Schriftrolle. Zuvor hatte er den Stempelstein in die rote Paste gedrückt, die sich in einer braungrünen runden Porzellanschale befand, hatte den Stein nach allen vier Seiten hin und her gewiegt, damit die Gravur gleichmäßig mit der Paste bedeckt wurde, und in gleicher Weise hatte er auf dem Papier den Stempelstein bewegt, langsam und kräftig, denn nur so würden die Zeichen auf dem Stein in scharfen Umrissen rot und klar auf dem weißen Papier leuchten: Leere ist Form.

Als er sich seinen Kopf hatte scheren lassen und die Robe nahm, fast ein Kind noch, um fortan sein Leben Buddha, dem Erwachten, und den Gesetzen des Dharma, der Lehre, zu weihen, hatte er diese geheimnisvoll anmutenden vier Zeichen zu seinem Leitwort gewählt, das ihn sein ganzes Leben in China, dann durch die Wüsten der Taklamakan und über die Berge des Hindukush nach Indien an den Ganges, zu den Stätten des Erwachten in Magadha und wieder zurück bis hierher nach Khotan begleitet hatte. Mit eigenen Händen hatte er dem braunen Stein damals die Zeichen eingraviert und sie auf allen vier Seiten mit einer festen Linie umschlossen; so war sein Stempelsiegel wie ein quadratisch gerahmtes Buchstabenbild. Als der Abt den Stempel begutachtete, hatte er wortlos mit seinem Pinsel sein Urteil unter das Siegel gesetzt: meisterhaft. Dann sagte er: «Nun ergründe, was du geschrieben hast! Und bedenke auch das andere: Form ist Leere.» Daraufhin hatte er sich damals tief vor seinem Lehrer verneigt und wusste, dass ihm mit diesem doppeldeutigen Leitwort eine Lebensaufgabe gegeben war.

Xuanzang legte den Stempel, nachdem er ihn gereinigt hatte, in das mit Seide ausgelegte Futteral zurück. Dann überlas er nochmals den Brief an seine Majestät, den Kaiser Tang Taizong in Chang’an, der Hauptstadt Chinas, des Reiches der Mitte. Er wollte, bevor er nach seiner über fünfzehn Jahre dauernden Reise in den Westen die Grenzen Chinas überschreiten würde, und besorgt darüber, welcher Empfang ihn wohl erwarte, den Kaiser versichern, dass er als treuer Untertan zurückkehre. Denn er hatte gegen den ausdrücklichen Befehl des damals noch jungen Kaisers Taizong das Land verlassen, und es war dessen eiligst ausgeschickten Häschern nicht gelungen, den unbotmäßigen Mönch zu fassen.

Im Brief schrieb er von seiner Sehnsucht, damals, die Orte des Erwachten, des Buddha Gautama, mit eigenen Augen zu sehen, dort Unterweisung zu erhalten und die Schriften der Lehre zu finden. Er berichtete von den mehr als 45000 li,1 die er hinter sich habe, wie er Wüsten durchquert, Gebirge überstiegen, unzählige Gefahren bestanden habe, Räubern entkommen sei und jetzt, unbeschadet am Körper, mit einem durch die Erfüllung der Gelübde zufriedenen Geist nach Hause zurückkehre. Er habe den Geierberg gesehen, unter dem Bodhi-Baum gebetet und meditiert, heilige Worte gehört und spirituell Wundersames erlebt, das alle Wunder der Natur übertreffe; er habe sich nicht nur mit den Herrschern der Oasen der nördlichen und der südlichen Seidenstraße beraten, sondern auch mit dem Großkhan der westlichen Turkvölker, auch mit König Harsha, dem Einiger Nordindiens, und vielen andern bedeutenden Machthabern.

Sein ganzes Leben würde er sich an die enge Freundschaft mit dem Vorsteher des berühmtesten buddhistischen Klosters in Indien erinnern, denn dort, in Nalanda, habe er die tiefste Einsicht in die Heiligen Texte gewonnen. Und außer all dem habe er in den Ländern des Westens von den großen Qualitäten des erhabenen Kaisers Zeugnis abgelegt und ihm so Ruhm, Ehre und Lobpreisung der Völker gesichert.

Zum Schluss fügte er an, dass er nach dem Verlust seines Elefanten bislang noch nicht genügend Pferde habe auftreiben können, um Hunderte von Schriftrollen und Reliquien sicher nach China zu bringen. Allerdings hoffe er, trotz dieser Widrigkeiten, sobald als möglich zum Besuch Seiner Majestät aufbrechen zu können.

Xuanzang rollte den Brief ein, umwickelte ihn mit einem seidenen roten Band und setzte auf dessen Ende ein Wachssiegel mit seinem Mönchsnamen: Xuanzang, Meister des Gesetzes. Dann begab er sich zum Empfangszimmer des Klosters, in dem er seit seiner Ankunft vor über fünf Wochen Aufnahme gefunden hatte. Er erwartete dort einen Händler aus dem an der nördlichen Seidenstraße gelegenen Königreich Turfan, der mit seiner Karawane nächstens von Khotan aus nach Chang’an, der Hauptstadt des Tang-Reiches reisen und dort den Brief an der richtigen Stelle übergeben würde. Eine glücklichere Fügung hätte er sich nicht wünschen können, waren doch die Wege der südlichen Seidenstraße schwierig und erforderten kundige Reisende. Außerdem war der Händler aus Turfan der älteste Sohn eines Ministers, den er vor fünfzehn Jahren kennengelernt hatte. In Turfan hatte er die erste Probe auf seiner langen Reise in den Westen zu bestehen gehabt, sich erstmals einem Mächtigen entgegenstellen und seinen eigenen Willen gar um den Preis seines Lebens durchsetzen müssen.

*

Der damalige König Wen-t’ai, der bedeutendste Herrscher aus der Dynastie der Ch’ü und mit Chinas Gnaden an der Macht, war eine ebenso fromme wie herrische und eitle Person. Er hatte Xuanzang geradezu genötigt, den Weg über Turfan zu nehmen, und war ihm bei Sonnenuntergang mit Fackeln bis an die Grenzen entgegengekommen, als er von dessen Ankunft unterrichtet worden war.

In nur sechs Tagen hatte Xuanzang auf einem Marsch durch die Wüste über tausend li hinter sich gebracht und erschöpft, doch wohlbehalten die am Nordrand des Tarimbeckens gelegene fruchtbare Oase erreicht. Eigentlich hätte er sich lieber gleich ausruhen wollen, doch der König hatte darauf bestanden, ihn noch am selben Abend in den eleganten, von köstlichen Weintrauben umrankten Pavillon seiner Sommerresidenz zu geleiten und ihm hier höchstpersönlich einen Sitzplatz anzubieten.

«Meister», sagte er dann, «meine Frau und meine Kinder haben auf den Schlaf verzichtet und in Erwartung Eurer Ankunft in den Heiligen Schriften gelesen.»

Dann erschien die Königin in seidenem Gewand, reich behangen mit Gold und Edelsteinen, und erwies ihm mit einigen Dutzend ihrer Zofen die Referenz. Erlesene Speisen wurden aufgetragen, bis schließlich der ungestüme König ungeduldig alles wieder abtragen und den Gast wissen ließ, dass er nun die ganze Nacht mit ihm zu reden wünsche. Xuanzang ertrug das gebieterische Ansinnen mit Würde. Doch bei Morgengrauen war er wie erschlagen und mahnte beim Monarchen größere Rücksicht an. Jetzt endlich durfte er sich ein wenig Ruhe gönnen.

Nach zehn Tagen äußerte er den Wunsch weiterzureisen: «Hoheit, nachdem ich Eure gütige Gastfreundschaft im Übermaß genossen habe und ich wieder bei Kräften bin, bitte ich Eure Hoheit, mich weiterziehen zu lassen.»

Der König war wohl ein frommer Buddhist, der die Schriften las und die täglichen Rituale vor den Bildnissen des Erwachten mit Sorgfalt pflegte, doch das hielt ihn nicht von einer geradezu tyrannischen Gastfreundschaft ab und dem selbstsüchtigen Plan, den Mönch aus China für sich zu behalten. Er überhäufte ihn mit Ehrungen und Geschenken, unterstellte ihm gar die berühmtesten und hochgebildeten Mönche seines Reiches mit der Absicht, Xuanzang als Oberhaupt der buddhistischen Gemeinde einzusetzen.

«Und ich wünsche, dass der Meister als mein persönlicher Berater hier bleibt», gab der König als Antwort.

Nach einem kurzen Schweigen erwiderte ihm Xuanzang: «Ich habe keine Mühe, Eure eifrigen Freundlichkeiten zu begreifen. Doch habe ich mein Land nicht verlassen, es sogar gegen den Willen meines Kaisers verlassen, um anderswo Ehrungen und wohl gut gemeinte Freundlichkeiten zu empfangen. Kümmernis hat mich getrieben! Und Zweifel darüber, ob die Heiligen Texte in meinem Land auch wirklich verstanden und richtig ausgelegt würden. Diese Not bewog mich, auszuziehen und im Westen an den Heiligen Stätten des Erwachten Belehrung zu empfangen und die echten Texte und Denkmäler des Gesetzes zu finden. Ihr versteht, dass ich nicht auf halber Strecke, ja, noch vor der Hälfte meines Weges einhalte und mein Gelübde breche. Denn ich habe gelobt, alle Anstrengungen auf mich zu nehmen und alle Hindernisse zu überwinden, damit die Heiligen Worte, welche die Weiten Indiens erfüllen, auch in China sich ausbreiten mögen. Wie also könnt Ihr mich noch vor der Hälfte meines Weges aufhalten? Ich flehe Euch, erhabener König und Freund des Gesetzes, inständig an, mich ziehen zu lassen. Seht von Eurem Vorhaben ab, ehrt mich nicht länger mit überreicher Freundschaft.»

Der König hatte ihm aufmerksam zugehört, doch ein leises Zittern um seinen schmalen Mund zeigte, dass er innerlich empört war, dann aber sagte er ganz liebenswürdig: «Meister, euer Schüler liebt Euch so grenzenlos und zärtlich, dass er Euch unbedingt hier haben will. Denn nur so kann ich Euch meine Verehrung und Huldigung erweisen. Glaubt mir, Ihr könntet leichter das Gebirge des Pamir versetzen als meinen Entschluss ins Wanken bringen.»

Xuanzang war entsetzt. Längst hatte er in den samtenen Handschuhen die Krallen der Macht gesehen, die gleisnerische Freundlichkeit durchschaut, die in Wahrheit nicht den anderen, sondern nur sich selbst liebte. Er saß schweigend, dann atmete er tief und langsam ein und sagte dem König: «Genau so geht es mir. Nichts und niemand kann meinen Entschluss ins Wanken bringen, jetzt weiter zu reisen in den Westen zu den Stätten des Erhabenen.»

Da schlug der König, rot vor Zorn und mit herrischer Geste die weiten Ärmel seines Gewandes zurück, und, vor Wut kaum Atem findend, schrie er: «Euer Schüler kann mit Euch auch anders verfahren, und es wird sich zeigen, ob Ihr hier nach Belieben tun oder lassen könnt, was Ihr wollt. Mit Gewalt will ich Euch hier behalten – oder dann in Euer Land zurückbringen. Bedenkt es wohl und folgt meinem Rat. Besser wäre es, mir nachzugeben.»

Doch Xuanzang antwortete knapp und ebenso unmissverständlich klar: «Um des Erhabenen Gesetzes Willen bin ich hier und auf der Durchreise. Nichts anderes als meine Knochen wird der König für sich behalten können, denn er hat keine Macht über meinen Geist und meinen Willen.»

In den folgenden Tagen versuchte König Ch’ü Wen-t’ai den Willen des Meisters mit weiteren Ehrungen und ungewöhnlich demütigen Gesten zu brechen. Er ließ sich herab, den Pilger persönlich bei Tisch zu bedienen, ihm die Speisen zu reichen und gar die Handschale. Selbst die Füße wusch er ihm beim Eingang zur Großen Buddhahalle.

Als Xuanzang sah, dass er den Willen und das Herz des Königs nicht erweichen konnte, entschloss er sich zum Letzten. Am Morgen des fünften Tages nach der Auseinandersetzung mit dem König setzte er sich in der Großen Buddhahalle vor dem Standbild des Erhabenen auf sein Meditationskissen, ordnete die Falten seiner Kleidung und saß aufrecht und bewegungslos, Nase und Kinn senkrecht, die Hände ineinander gelegt und die Füße gekreuzt. So saß er da, regungslos, ein Berg, der nicht zu versetzen war, die Halle erfüllt von großem Schweigen.

So saß er da, drei Tage und drei Nächte.

Und mit Staunen gewahrten der König und der ganze Hof, dass Xuanzang am ersten Tag und auch am zweiten und dritten weder Wasser noch Nahrung zu sich nahm, die in mehreren Schalen ihm vorgesetzt, dann unberührt abgetragen und mit neuen Speisen wieder aufgetragen wurden. Doch der Berg rührte sich nicht. Am letzten Tag, nachdem er keinen einzigen Tropfen Wasser zu sich genommen hatte, bemerkte König Ch’ü Wen-t’ai, dass des Pilgers Atem zunehmend schwächer wurde. Das vordem von blühender Gesundheit kündende Gesicht des Meisters wurde fahl, und schwerer Schweiß rann über den kahlen Schädel. Es war, als sinke der einst starke Berg in sich zusammen.

Da ergriff tiefe Scham den König, und der Schrecken über seine Unerbittlichkeit und gewalttätige Gastfreundschaft berührte sein Herz. Er warf sich vor dem Meditierenden nieder, küsste den Saum der Mönchsrobe und bat um Entschuldigung. Xuanzang öffnete zum ersten Mal nach drei Tagen und Nächten die Augen und betrachtete den vor ihm knienden König. Er sah Furcht und Scham und Entsetzen. Dann lächelte er. Und ein Glück ging über des Königs Antlitz. Vor der Statue des Buddha tat er den Schwur, seinen Gast ziehen zu lassen.

Jetzt bat Xuanzang um Wasser und etwas Nahrung. Am selben Abend bat der König den Meister, noch einen Monat in Turfan zu bleiben und dem Hof und der buddhistischen Gemeinde in den größeren Städten die Lehre zu erklären. Außerdem wolle er in diesen Wochen alles Notwendige für die künftige Weiterreise veranlassen.

Xuanzang willigte sofort ein, denn das Herz des Königs war sanft geworden und friedlich wie das Herz einer Taube. Und er versprach ihm zudem, auf der Rückreise nach China wiederum nach Turfan zu kommen und sich drei Jahre lang hier aufzuhalten.

Dann ließ der König in der Lichtung eines Tamariskenhaines ein Zelt errichten, in dem alle dreihundert Personen seines Hofstaates einen Platz fanden. Der hohe Lehrstuhl des Meisters war von einem Meer von Chrysanthemen umstellt, und in einer großen Wasserschale waren Knospen und Blüten der Blume Buddhas, der zartseidene rosafarbene Lotos.

Für die Mutter des Königs, den König selbst und dessen Frau hatte man auf einem Podest zur linken Hand mit Kissen belegte Stühle aufgestellt, und in gleicher Weise zur rechten Hand für die Vorsteher der Klöster und die Würdenträger des Landes. Die übrigen Menschen des Hofes saßen in der Mitte des Zeltes vor der Kanzel am Boden. Jetzt hörten sie von Ferne das hell klingende Glöcklein, das die Ankunft des Königs und des Meisters ankündigte.

Ch’ü Wen-t’ai schritt dem Meister voran, in der Hand ein Räucherfässchen mit wohlriechenden Essenzen. Er führte Xuanzang bis vor den Lehrstuhl, wo er zur Verblüffung aller Anwesenden in großer Demut niederkniete, sich auf die beiden Ellenbogen stützte, damit gleichsam eine Stufe zum hohen Stuhl darstellte und den Pilgermönch nötigte, so die Kanzel zu besteigen.

Nachdem Xuanzang sich im Lotossitz auf das Polster gesetzt hatte, begann er mit seiner Vorlesung über die Lehren des Erwachten und machte mit großer Eindringlichkeit klar, dass es nicht damit getan sei, die Rituale gemäß den überlieferten Vorschriften zu vollziehen oder regelmäßig in den Heiligen Schriften zu lesen. All das würde die Verdienste in keiner Weise mehren, denn es sei damit überhaupt kein Verdienst verbunden. Ebensowenig seien großzügige Geschenke an die Tempel oder das Aufstellen von Statuen oder Reliquien ein Verdienst.

Das Entscheidende liege nicht in diesen Äußerlichkeiten, sondern im Herzen des Menschen. Das reine Herz handle ohne Absicht, ohne Ziel und ohne Berechnung, der Gute tue Gutes nur um des Guten willen und schiele nicht nach Ansehen und Verdienst. In dieser Weise lehrte er, und Xuanzang sah sehr wohl die kleine Träne in den Augen des Königs.

*

In den folgenden Wochen besuchte er die beiden alten und stark befestigten Städte Gaochang und Jiaohe, um auch dort in den Großen Buddhahallen zu lehren. Er wurde begleitet vom ersten Minister des Königs, der nicht müde wurde, den Pilger auf die üppige Fruchtbarkeit der Oase und den Wohlstand der Bewohner hinzuweisen.

Tatsächlich wuchsen neben der Tamariske und den Maulbeeren in wohlgepflegten Gärten Pfirsiche, Aprikosen, Granatäpfel und Feigen. In den großen Feldern mit Wassermelonen standen auch die Rebstöcke, an denen die überaus köstlichen, kernlosen Trauben hingen, deren getrocknete Beeren auf der Straße nördlich der Taklamakan in Chinas Hauptstadt oder dann an benachbarte kleinere Adelshöfe am Rande des Tarimbeckens verkauft wurden.

Xuanzang konnte auf den ersten Blick erkennen, dass die von über dreißig chi hohen und sechsunddreißig chi dicken Mauern eingefasste Stadt Gaochang nach den ähnlichen Prinzipien gebaut war wie Chang’an, die Hauptresidenz des Kaisers Taizong, und aus einer Außenstadt, einer Innenstadt und im Zentrum dem Palast und zahlreichen Tempelanlagen bestand.

Als er zusammen mit dem Minister die Stadt betrat, erwarteten ihn nicht nur die Würdenträger und Vorsteher der Tempel, sondern auch viele Bewohner. Vier Männer trugen auf Stangen einen seidenen Baldachin und wiesen Xuanzang an, unter diesem Sonnenschutz durch die Stadt und zum Haupttempel zu schreiten, vor ihm junge Männer mit Räuchergefäßen und hinter dem Baldachin in geordneten Reihen die Honoratioren der Stadt und der Klöster.

Als der feierliche Zug den Haupttempel erreicht hatte und Xuanzang die Große Buddhahalle betrat, traute er seinen Augen nicht. In einer Nische, die von einem halben Bogengewölbe gebildet war, stand eine Statue von Buddha, dem Erwachten, wie er sie bis anhin noch nie gesehen hatte. Der Erhabene stand auf beiden Füßen fest auf dem Grund, der linke Arm hing lässig am Körper und die zarten Fingerspitzen schienen das Gewand zu berühren, der rechte Arm jedoch war angewinkelt, und die zum Betrachter hin geöffnete Handfläche schien zu bedeuten: Fürchte dich nicht! Noch nie hatte er dieses ihn fremd anmutende Gewand gesehen, das in großen, wie Wellen sich ausbreitenden Falten den Köper bedeckte und große weite Ärmel aufwies.

Doch was Xuanzang am meisten in Staunen versetzte, war das leicht nach vorn geneigte Haupt des Buddha, dessen halb geöffnete Augen eine nach innen gerichtete Tiefe und Vergeistigung zum Ausdruck brachten. Zwischen den Augenbrauen war mit einem Punkt das dritte Auge angedeutet. Ein leises Lächeln umspielte den Mund. Die lang gezogenen Ohrläppchen erinnerten daran, dass der Buddha aus königlichem Geschlecht stammte und einst schweres Ohrgeschmeide getragen hatte. Den Haarknoten umfasste ein feines Band; so lag er wie eine Krone auf dem Haupt. Dass diesem die größte Bedeutung zukam, unterstrich eine große, runde, hinter dem Haupt angebrachte Scheibe, welche die Erhabenheit des Erleuchteten unmissverständlich zum Ausdruck brachte.

Xuanzang warf sich unvermittelt vor dem Bildnis seines spirituellen Meisters nieder, das ihm wie ein menschliches Wesen im Mönchskleid erschien und das sichtbar das Nirvana erreicht hatte.

«Ihr seht, der Erleuchtete trägt hier die Robe von Gandhara», sagte jetzt der Minister, der Xuanzangs tiefe Bewunderung beim Anblick der Statue mit Erstaunen wahrgenommen hatte.

*

Tage später erreichte Xuanzang die Bitte der Mönche aus Jiaohe, er möge auch in dieser Stadt die Gesetze des Buddha erklären. Ihre Tempelanlagen seien zudem berühmt für die zahlreichen Statuen, die gewiss sein Gefallen finden würden. Xuanzang ließ sich nicht lange bitten. Wiederum vom ersten Minister des Königs begleitet, machte er sich unverzüglich auf, die Stadt zu besuchen, die eine halbe Tagesreise von der Sommerresidenz des Königs entfernt auf einem natürlichen Felsplateau lag, das auf drei Seiten in der Tiefe von fruchtbaren Flusstälern begrenzt war.

Xuanzang fand die alte Weisheit bestätigt, dass Klugheit immer dort sich findet, wo zwei Flüsse zusammentreffen, ein Umstand, welcher der Stadt hier gar den Namen gegeben hatte. Die Felskliffe waren auf drei Seiten derart steil und hoch, dass keine Befestigungsanlagen gebaut werden mussten. Als sei ein gewaltiges Schiff gestrandet, so ragte die Stadt aus dem Grün der Flusslandschaft empor. Diese Sicherheit bescherte den Menschen ein ungewöhnliches Gefühl von Freiheit und ließ ihnen Raum, die prächtigsten Paläste und Tempelanlagen zu bauen.

Xuanzang betrat die Stadt durch das Südtor, wo sie wie schon in Gaochang von zahlreichen Gläubigen und religiösen Würdenträgern erwartet wurden. Der Minister führte ihn auf der zentralen Straße direkt zum Großen Stupa, der das Wahrzeichen der Stadt darstellte und Ausmaße aufwies, wie sie der Pilger aus China noch nie gesehen hatte. Natürlich kannte er die symbolische Bedeutung; er wusste recht wohl, dass der Stupa in frühester Zeit ein Grabhügel gewesen war, der über der Reliquienurne des Buddha sowie bedeutender Mönche in späterer Zeit errichtet worden war. Er war die symbolische Erinnerung an den Tod des Buddha Gautama und das Ziel vieler Pilgerreisen. In frommem Gedenken an den Erhabenen wurde er ehrfurchtsvoll und schweigend umschritten. Auch Xuanzang zog seine Schuhe aus, und barfüßig, wie es das Ritual befahl, schritt er mit seinem Begleiter rund um den Stupa, der hier mit blendendem Weiß getüncht war. Auf der Harmika, die sich wie ein viereckiger Kasten oben auf der Halbkugel befand, leuchtete ein siebenstufiger vergoldeter Schirm in der heißen Sommersonne. Zu jeder Tageszeit nahmen immer an die Hundert Gläubige diese fromme Wanderung um den Stupa vor, in der Hoffnung, so Erleuchtung zu erlangen. Es war der erste Stupa dieser Art, den Xuanzang hier sah. In China waren die Erinnerungsbauten an den Tod des Großen Meisters eher schlanke hohe Stein- oder Holztürme, die jeweils in mehrere Stockwerke unterteilt wurden.

Dann zeigte ihm der Minister die Außenwand der Großen Buddhahalle, die für Xuanzang eine weitere Überraschung bereithielt. Denn die ganze große und zur Hauptstraße hin gerichtete Wand war mit zahlreichen Nischen versehen, in denen Bildnisse des meditierenden Buddha aufgestellt waren, wobei der Erhabene dieselbe faltenreiche Robe trug, wie Xuanzang sie schon in Gaochang bewundert hatte, und wieder sah er hier diesen tiefen, nach innen gerichteten Ausdruck des friedlichen Gesichts. Ganz neu aber waren für ihn die Darstellungen des Bodhisattva Avalokiteshvara, fürstlich geschmückt mit mehreren Halsketten, Lotosblüten im Haar, Armreifen an Handgelenk und Oberarm. Einmal saß er da in Meditationshaltung, ein andermal jedoch auf einem Thron, das eine Bein auf die Sitzfläche gestellt, während das andere auf einem kleinen Schemel ruhte. So lässig und elegant, so fürstlich und mit derart verschwenderischer Pracht hatte er die Gottheit des Erbarmens noch nie dargestellt gesehen. Die reine, heitere Güte!

*

Nach dem Besuch von Jiaohe begab sich Xuanzang wieder zur außerhalb der Hauptstadt Gaochang gelegenen Sommerresidenz des Königs von Turfan. Dessen Vorbereitungen für die baldige Abreise des Meisters waren inzwischen schon weit gediehen. Da der König von den zahlreichen Händlern aus Indien über die schwierigen Verhältnisse und die Gefahren beim Überqueren des Pamir-Gebirges wusste, ließ er alle Kleidungsstücke anfertigen, die der Mönch zu seinem Wohl notwendig brauchte: Gesichtsmasken zum Schutz vor Kälte und Sonne, Handschuhe, Stiefel, gefütterte Mützen und knöchellange Mäntel. Mit rührendem Eifer und jetzt ohne eigensüchtige Hintergedanken überschüttete der König seinen Gast mit so zahlreichen Geschenken, hoffend, dass sie bis zum Ziel seiner Reise in Indien ausreichen würden: Gold- und Silbermünzen, Satin und Seide. Allein für den Großkhan in Tokmak, den Regenten der westlichen Turkvölker, waren fünfhundert Ballen Seide bestimmt.

Viel bedeutender aber waren die vierundzwanzig Briefe, die der König seinem Gast mitgab, bestimmt für die vierundzwanzig Regenten größerer und kleinerer Königreiche. In jedem der Briefe bat er den jeweiligen Herrscher, den Pilger freundlich aufzunehmen, ihn sicher durch sein Gebiet zu geleiten und auch Relaispferde bereitzustellen. Einer seiner ranghöchsten Offiziere hatte den Befehl, Xuanzang mit einer Eskorte bis zum Großkhan zu begleiten. Zu diesem pflegte der König von Turfan besonders freundschaftliche Beziehungen, die fast einem Lehensverhältnis gleich kamen, denn er bat den Großkhan in seinem Brief, dem chinesischen Pilger das gleiche Wohlwollen entgegenzubringen wie dem Sklaven, der diese Zeilen verfasst habe. Da er der Vasall des Großkhans war, seine Tochter überdies mit jenem Sohn des Khans verheiratet war, der über Teile Afghanistans herrschte, hatte er auch das Recht, für seinen Gast Schutz und Hilfe anzufordern. So war für die Sicherheit Xuanzangs nicht nur in Baktrien, sondern auch bis an die Pforten des Pamir gesorgt. Der einst schutzlos aus China geflüchtete Mönch hatte von nun an diplomatischen Schutz.

Xuanzang war von der Großherzigkeit des Königs Ch’ü Wen-t’ai tief berührt, und er wusste wohl, dass das Gelingen seiner Reise vom Schutz der Mächtigen abhing. Er sei beschämt angesichts der königlichen Gunstbeweise und ratlos, wie er seiner Dankbarkeit Ausdruck verleihen könne. Jetzt jedoch sei alle Furcht von ihm genommen, und er sei gewiss, dass er sein Ziel, den Bodhi-Baum in Bodhgaya, erreichen werde. Und wenn er dereinst dort sei, verdanke er das nicht seiner eigenen Leistung, sondern der großherzigen Gunst des Königs. Dieser geleitete ihn mit dem ganzen Hofstaat vor die Tore der Stadt, und unter Tränen nahm er Abschied vom Meister des Gesetzes.

Xuanzang erneuerte nochmals sein Versprechen, auf der Rückreise wiederum nach Turfan zu kommen und dann aber drei ganze Jahre hier zu bleiben. Dann reiste er, von einer großen Karawane begleitet und von Soldaten eskortiert, zu der neunhundert li von Turfan entfernten Oase Karaschahr.

Fünfzehn Jahre später erfuhr Xuanzang auf seiner Heimreise, dass König Ch’ü Wen-t’ai inzwischen einen tragischen Tod gefunden hatte. Und so hatte er keine Ursache mehr, auf der Nordroute der Seidenstraße zurückzukehren, und wählte die Südroute über Khotan, wo er jetzt dem Sohn des Ministers, der ihn einst in Turfan begleitet hatte, den Brief für den Kaiser in China überreichen wollte.

2Flucht aus China

Ma-Huan-Chi, der Sohn des Ministers, saß im Empfangszimmer des Klosters und wartete auf den Mönch, an den er sich nur mehr undeutlich zu erinnern vermochte. Mit seinen damals kaum zehn Jahren hatte er noch nicht am politischen Leben seines Vaters teilgenommen. Der alten Sitte gemäß wurde er als Kind ohnehin in den Gemächern der Frauen großgezogen. Erst mit dem Beginn des Jugendalters wechselte er in die Räume seines Vaters, der von nun an um seine Erziehung besorgt war. Und jetzt erst hörte er auch von dem berühmten Mönch aus China, den zu begleiten sein Vater die hohe Ehre hatte. Noch immer wurde hinter vorgehaltener Hand berichtet, jener Mönch sei der einzige Mensch gewesen, der je dem König die Stirn geboten und am Ende schließlich dessen Herz erweicht habe.

Der junge Mann aus Turfan war Ende zwanzig, in vornehmes und teures Tuch gekleidet, und das sonnengebräunte Gesicht wies bereits viele Falten auf, zu viele für das jugendliche Alter. Doch die anstrengenden Reisen auf Pferden und Kamelen durch Wüsten, über Gebirge, ausgesetzt dem wechselhaften Wetter, Sonne, Wind und Regen, ließen Spuren zurück. Nur die Augen verrieten eine jugendliche Neugier und forsche Klugheit. Er musterte den kargen Raum, der außer mehreren holzgeschnitzten Stühlen und einer Sitzbank nur ein auf Seide gemaltes Bildnis des Buddha aufwies. Die beiden Fenster gaben den Blick in den Innenhof des Klosters frei. Mit unruhiger Freude hatte er wenige Tage zuvor von einem jungen Novizen des Klosters die Einladung Xuanzangs zu einer Unterredung entgegengenommen. Mit einer Einladung zu einem Gespräch hatte er niemals gerechnet, zumal er ein Händler und nicht etwa ein Gelehrter war, wohl Anhänger der Lehre des Buddha, doch kein Mönch.

Vom Hof her hörte er Schritte. Und dann trat er ins Zimmer, Xuanzang, der große Gelehrte, der Pilger und Mönch, der Meister des Gesetzes. Ma-Huan-Chi war überrascht. Wohl hatte er noch die Beschreibungen seines Vaters im Kopf und wusste, dass Xuanzang ein außerordentlicher Mensch war, doch hatte er sich nie Gedanken über dessen äußere Erscheinung gemacht. Und die war wirklich beeindruckend: Vor ihm stand ein ungewöhnlich großer, stattlicher Mann mit hellem Teint, die Augenbrauen zwei klare Bogen, die sich über der Nasenwurzel nicht berührten. Er trug eine braunrötliche Robe aus Baumwolle mit weiten Ärmeln, deren Öffnung bis zum Knie hin reichte, die Robe der Gandhara-Mönche, wie sie der Buddha der Statue in Gaochang trug. Wie alle Mönche war auch Xuanzang kahl geschoren.

Doch Ma-Huan-Chi war überrascht von der Schönheit des Mönchs, so konnte man es sagen, denn sein Antlitz hatte ungewöhnlich ebenmäßige und feine, fast zarte Züge. Es war ein Vergnügen, sich auf diesem edlen Gesicht wie auszuruhen und im strahlenden Blick der Augen zu verweilen, als leuchteten sie aus fernsten Tiefen seines Inneren hinaus in die Welt. So schlug er die Mitmenschen in seinen Bann und verströmte eine Anziehungskraft, der sich keiner zu entziehen vermochte.

«Er ist ein Mensch wie ein Berg», ging es Ma-Huan-Chi durch den Kopf, «gefestigt und vollkommen in sich selbst ruhend. Nichts scheint diesen Mann zu erschüttern. Und er lächelt mit dem Herzen!»

Xuanzang schritt mit weit geöffneten Armen auf Ma-Huan-Chi zu, und als dieser sich anschickte, sich vor Ehrerbietung hinzuknien, richtete er ihn sofort mit fester Hand auf und wies auf die bereitstehenden Stühle.

«Ich habe Ihren verehrten Vater, den Minister, gekannt. Er war mir von König Ch’ü Wen-t’ai als Begleiter und Dolmetscher in Turfan zugewiesen. Ein feiner Mann!»

«Er ist leider kurz nach den Schwierigkeiten des Königs mit dem chinesischen Kaiser verstorben. Ich glaube, es war der Gram über die bewegten politischen Ereignisse und die Trauer über das Ende einer großen Zeit in Freiheit und Würde.»

«Ich habe von diesen Ereignissen gehört. Als ich vom Hinscheiden des Königs vernommen hatte, wählte ich die südliche Route, die allerdings sehr beschwerlich zu werden scheint. Ihr kennt diesen Handelsweg?»

«Gewiss, ich habe Handelsbeziehungen mit Häusern in Samarkand und in Chang’an, und so ist die Südroute kürzer als die nördliche über Turfan. Allerdings ist sie beschwerlicher. Doch mit zuverlässigen Führern und guten Kamelen und Pferden ist es kein lebensgefährliches Abenteuer. Aber ich will nichts ausschließen. Der gefährlichste Feind ist der Mensch und nicht die Natur.»

«Bevor ich auf mein Anliegen zu sprechen komme», sagte Xuanzang, «würde ich gerne aus erster Hand von jenen Ereignissen hören, die nicht nur den König, sondern auch Ihren verehrten Vater das Leben gekostet haben. Wie kam es so weit?»

«Nachdem Ihr, verehrter Meister, den König und meinen Vater verlassen hattet, wandte sich König Ch’ü Wen-t’ai vom chinesischen Kaiser ab und vermehrt dem Turk-Khan zu. Noch Jahre zuvor hatte er den chinesischen Kaiser mit kostbaren Geschenken bedacht und ihn seiner Treue versichert, doch dann gab er dem Werben des Khans nach, wohl in der irrigen Annahme, dass der ihm näherstehende Bewerber um seine Gunst wohl auch größere Sicherheit und Reichtum bringen würde als der noch junge und im fernen Chang’an residierende Kaiser Taizong. Und so unterbrach er die nördliche Handelsroute von Chang’an nach Turfan und attackierte die Handelskarawanen, bis schließlich der chinesische Außenhandel auf dieser Route zum Erliegen kam. Kurz entschlossen schickte Kaiser Taizong seine Armee auf den Weg nach Turfan, um den unbotmäßigen Vasallen zur Raison zu bringen. Als der König vom Eintreffen der chinesischen Truppen hörte, fiel er vor Schreck von seinem Thron und verschied in derselben Nacht. Noch im selben Jahr wurde Turfan dem chinesischen Reich einverleibt. Und dass jetzt ein Gouverneur an Stelle des Königs regiert, diese Demütigung hat meinen Vater das Leben gekostet.»

«Ich erinnere mich an die Auseinandersetzungen des Kaisers mit dem Turk-Khan Xieli. Sie dauerten fast vier Jahre. Der Khan war im Jahr, als Taizong den Thron bestieg, mit seinen Truppen bis vor die Hauptstadt Chang’an vorgestoßen und forderte vom jungen Kaiser Tribut. Dieser wies den Vorschlag seiner Berater, sich angesichts der wenigen eigenen Truppen in der Stadt zu verschanzen, weit von sich und trat dem Khan, eine riesige Armee vortäuschend, bei der Bian-Brücke am Wei-Fluss entgegen. Die List tat ihre Wirkung, und Xieli zog sich zurück. Doch der Konflikt schwelte weiter bis zum Jahr meiner Ausreise aus China. Immer wieder rückten kaiserliche Truppen vor bis in die Gegend von Turfan. Auch ich war damals sehr gefährdet und wusste die Gastfreundschaft des Königs von Turfan zu schätzen. Als ich dann im folgenden Jahr Indien, das große Land im Westen, erreichte, hörte ich von der Gefangennahme des Xieli durch die chinesischen Truppen.»

«Xieli wurde abgesetzt, und in den folgenden Jahren, da Ihr in Indien weiltet, wandte sich unser König einmal vom Kaiser ab und dem neuen Khan zu, ein andermal wieder umgekehrt. Es war eine Schaukelpolitik, die mein Vater dem König vorschlug, um das eigene Territorium und die Unabhängigkeit zu bewahren und in der Hoffnung, das Aufeinandertreffen der beiden mächtigen Herrscher zu vermeiden. Doch niemand hat mit der weitsichtigen Klugheit und überragenden Intelligenz des chinesischen Kaisers gerechnet. Ständige Manöver, geleitet von loyalen Kommandanten eher niedriger Herkunft und damit ohne eigene Hausmacht, schwächten unsere Truppen, bis schließlich zehn Jahre später, nach dem plötzlichen Herztod des Königs, Turfan ein Teil Chinas wurde und die Handelsrouten wieder unter der Kontrolle des Reiches der Mitte waren.»

«Ihr müsst wissen, Ma-Huan-Chi, dass ich damals ohne die Erlaubnis des Kaisers mein Land verlassen hatte. Es war für die Buddhisten und vor allem für deren Klöster eine schwierige Zeit. Taizong stand unter dem Einfluss des daoistischen Gelehrten Fu I, der in mehreren Throneingaben den Kaiser aufgefordert hatte, die meisten Klöster zu schließen. Der Kaiser folgte seinem Rat und zwang überdies viele Mönche und Nonnen zur Heirat. Selbst in großen Städten wurden nur noch höchstens zwei Klöster geduldet. Auch die Verbreitung der Lehre war den Mönchen untersagt. Und da der Tang-Kaiser mit dem Antritt seiner Regierung und nach langen innenpolitischen Wirren erst die innere Sicherheit und Ruhe wiederherstellen wollte, schottete er sein Land nach außen ab und untersagte jede Ausreise.

Wegen einer Missernte erließ der Kaiser, wie das üblich war, ein Dekret, das Mönche und Laien aufforderte, in Gegenden zu ziehen, wo weniger Not herrschte. Ich nutzte diese Gelegenheit und reiste zusammen mit meinem älteren Bruder, auch er ein Mönch, und einer kleinen Gruppe von Freunden bis an die Westgrenze des Reiches, wo mir die Ausreise von den zuständigen Beamten tatsächlich verwehrt wurde. Von hier aus machte ich eine Eingabe an den Thron, schilderte die Gründe für meine geplante Ausreise und bat um die kaiserliche Erlaubnis, das Land zu verlassen. Als ein Erlass Taizongs mir die Ausreise verbot, kehrte mein Bruder mit den übrigen Begleitern zurück. Ich ging einige Tage später bei Nacht über die Grenze, wurde von eiligst ausgesandten Häschern verfolgt, erreichte aber unbehelligt die Stadt Liangchou, die ein Ausgangspunkt für die Karawanen auf dem Weg in die Mongolei und nach Turfan ist. Der Kaiser hatte hier zwar noch keinen direkten Einfluss, doch es waren genügend Spitzel und Grenzsoldaten stationiert, die mich hätten ergreifen können. Noch musste ich vorsichtig sein. Doch nichts, auch nicht der Kaiser von China, konnte mich daran hindern, die Lehre des Erwachten zu verbreiten. Obwohl ich mich in der Stadt versteckt halten musste, gelang es mir, vor Interessierten und Gläubigen zu predigen. Einer der Karawanenführer war derart bewegt, dass er mir eine große Summe überbrachte, die ich dem Kloster in Liangchou spendete. Für die Provinzregierung war ich aber dennoch ein Problem, und der Gouverneur forderte mich unmissverständlich zur sofortigen Rückkehr nach Chang’an auf. Selbstverständlich widersetzte ich mich einem solchen Ansinnen und reiste weiter gegen Westen. Zwei junge Klosterbrüder begleiteten mich bis zu der an der Grenze liegenden Oase Anxi, wo ich mich traurig und schweigend einen ganzen Monat aufhielt. Mein Pferd war verendet, und Spitzel aus Liangchou hatten den Bezirksoberen über mein Vorhaben informiert. Doch dieser Beamte war ein frommer Anhänger des Buddha. Vor meinen Augen zerriss er den kaiserlichen Erlass und drängte mich zum unverzüglichen Aufbruch. Ein junger Mann war bereit, mich bis jenseits des Jadetores, der äußersten und letzten Festung in der Wüste, zu begleiten. Anderntags kam er, begleitet von einem Alten, der auf einer klapprigen Schindmähre saß. Da mir ein Wahrsager einst prophezeit hatte, ich würde China auf einem klapprigen Gaul verlassen, schlug ich dem Alten vor, die Pferde zu tauschen. Er sah das frische und junge Pferd, das ich erstanden hatte, und war zum Handel bereit. Sie brachten mich jenseits des Jadetores, und von da an war ich auf mich allein gestellt.»

«Und die fünf Signaltürme, die zu jener Zeit von den Chinesen jenseits des Jadetores zur Beobachtung der Grenzen und der Handelswege besetzt waren, konntet Ihr diese ohne Mühe umgehen?», fragte Ma-Huan-Chi.

«Nicht ganz ohne Mühe und Gefahren, doch wie überall auf meiner Reise erfuhr ich auch hier unerwartete Hilfe. Von den Wächtern des ersten Turmes wurde ich mit zahlreichen Pfeilen und Geschossen fast niedergestreckt. Erst wollte man mich zur Rückkehr zwingen, doch ich überzeugte den Kommandanten von meiner Absicht, die Lehre des Erwachten in Indien zu studieren. Und da auch er ein frommer Buddhist war, ließ er mich schließlich ziehen, versorgte mich mit Wasser und Nahrung und warnte mich vor dem letzten, dem fünften Turm. Denn der dortige Kommandant hasste die Buddhisten, und er empfahl mir, den Wachtturm in einem weiten Bogen zu umreiten.»

«Ich kenne diesen Weg. Doch jetzt beginnt die Taklamakan, die reine Hölle. Wie habt Ihr Euch da orientiert?»

«An den Skeletten der verendeten Tiere und Menschen. Sie wiesen mir den Weg. Zu allem Überdruss verschüttete ich aus lauter Erschöpfung den schweren Wasserschlauch, er war mir aus den müden Händen geglitten. Schließlich überließ ich mich dem Instinkt meines Pferdes, denn ich wusste, dass Tiere eine gute Wasserwitterung haben. Und tatsächlich fand mein müdes Pferd nach einer entsetzlichen Woche junges Grasland. Ich ließ das Tier weiden, füllte den Sack mit Wasser und erreichte schließlich die Oase Hami. Hier empfing ich die Delegation des Königs von Turfan, zehn Offiziere auf prächtigen Pferden, die mich sehr energisch baten, den Weg über Turfan zu nehmen.»

*

In der Zwischenzeit hatte ein junger Mönch den beiden Tee und Gebäck ins Gästezimmer gebracht. Xuanzang füllte die kleinen Porzellantässchen, erfreute sich am Duft des grünen Tees und kam nun auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen.

«Wie Ihr, verehrter Ma-Huan-Chi, nun leicht erkennen könnt, bin ich ohne die kaiserliche Erlaubnis ausgereist. Und jetzt, nach fünfzehn langen und ereignisreichen Jahren, stehe ich vor den Grenzen des chinesischen Reiches und muss den Kaiser um die Erlaubnis zur Einreise bitten, verbunden mit der Hoffnung, dass er meinem jugendlichen Eifer und der Sehnsucht nach dem Land des Erwachten im Westen mit Nachsicht begegnen und mich mit Wohlwollen empfangen werde. Denn er ist ein großer Kaiser geworden.»

«Wie könnte er Euch zurückweisen! Denn Ihr seid ein großer Gelehrter und Weiser geworden, der die Stätten des Buddha gesehen und dort meditiert hat und Kunde bringt von den Ländern des Westens. Euer Ruhm und sein Ruhm sind wie die beiden Seiten einer Münze, die das große Reich der Mitte in seiner Vollkommenheit und Größe darstellt. Die äußere Größe und die innere Größe. Die politische Macht und die geistige Macht.»

«Genug der großen Worte. Nachdem ich gehört hatte, dass der Sohn des einstigen Ministers von Turfan hier in Khotan weilt und weiterreisen wird nach Chang’an, war es mein Wunsch, Euch zu sehen und zu bitten, meinen Brief dem Kaiser Taizong zu überbringen.»

Xuanzang griff mit der Rechten in den weiten linken Ärmel seines Gewandes und zog die Schriftrolle heraus, die mit einem roten Band und einem großen Wachssiegel verschlossen war, und legte sie auf den Tisch neben den Teekrug und das Gebäck.

«Das ist eine unverdiente große Ehre für mich, und ich versichere Euch, dass ich diesen Brief wie mein eigenes Leben schützen werde, bis er in den Händen des Kaisers liegt. Doch ich befürchte, dass die Kanzlei des Hofes und vielleicht gar der Kaiser selbst einen Beweis für die Rechtmäßigkeit meines Auftrages fordern werden, der auch die Echtheit des Briefes bestätigen würde. Mächtige sind misstrauisch.»

«Ich weiß, es ist so, und ich habe daran gedacht. Als Legitimation diene der Lauf meines Lebens in China bis zu meiner Ausreise. Ich werde Euch zudem sagen, wo die Echtheit meines Siegels unter den handschriftlichen Zeilen an den Kaiser und auch die äußere Versiegelung des Briefes überprüft werden können. Nur wenige in Chang’an kennen diese Einzelheiten. Euch sind sie der Schlüssel zum Thron.»

*

Xuanzang goss nochmals Tee nach und griff zum Gebäck. Dann ordnete er die Falten seines Kleides, und sein Blick schien sich wie in weite Fernen zu verlieren.

«So hört denn die Geschichte meiner Jugend in China: Mein Vater war ein Mandarin. Ich bin der letzte seiner vier Söhne und entstamme der angesehenen Familie der Chen, die viele Literaten und Mandarine hervorgebracht hatte. Einer meiner Vorfahren besetzte den Posten eines bedeutenden nationalen Gelehrten. Auch mein Vater wurde wegen seiner hohen Begabung und seiner gepflegten Manieren ausgezeichnet, zog es aber vor, als konfuzianischer Privatgelehrter zu leben. Um einer Beamtenlaufbahn unter der Sui-Dynastie zu entgehen, schützte er eine schwächliche Gesundheit vor. Mich nannte man Wei. Ich wurde in der Gemeinde von Houshi im Bezirk Luo in der Provinz Henan geboren. Die kriegerischen Wirren der damaligen Zeit brachten es mit sich, dass die Verwaltung sehr nachlässig geführt und ich im Geburtsregister nicht verzeichnet wurde. So war es ein heiteres Spiel meiner Eltern, das Jahr meiner Geburt entweder vor oder nach dem Jahr des Metall-Affen im 54. Zyklus2 anzusetzen, ich selbst sage jeweils, etwa um das Jahr des Wasser-Hundes3. Aber genau besehen, weiß ich noch heute nicht, wie alt ich bin!»

Bei diesen Worten lächelte Xuanzang fein, nippte an seinem Tee und fuhr fort:

«Meine Mutter hatte vor meiner Geburt geträumt, dass der Sohn, den sie unter dem Herzen trage, nach Indien gehen und dort den Dharma suchen werde. Und so ist es gekommen. Was meinen Vater betrifft, hielt er sich treu an die Gebote des Konfuzius. Von ihm bekam ich den ersten Unterricht und wurde in der reinsten konfuzianischen Tradition erzogen. Und da ich in vielen Dingen anders war als meine Kameraden – ich interessierte mich nicht für Spiele und oberflächliches Geplauder und Geplapper –, machte ich schnell Fortschritte im Studium. Ich war nicht einfach bloß fleißig, weil ich meinem Vater gefallen wollte, sondern ich war wirklich am Lernen und Erkennen der Welt interessiert.

Einmal erzählte mir der Vater die Geschichte von Kong Rong, wie sich dieser erhob, um den Älteren seinen Respekt zu erweisen. Kaum hatte der Vater geendet, erhob ich mich von meinem Stuhl, und er fragte erstaunt, wieso ich mich erhebe. Ich antwortete, wie kann ich es wagen, sitzen zu bleiben, wenn Kong Rong sich aus Ehrerbietung vor dem Alter vom Stuhl erhob? Noch ist mir das Leuchten in den Augen meines Vaters gegenwärtig. Ich war eine derart buchverliebte Leseratte, dass ich weit vor dem üblichen Alter mit allen konfuzianischen Klassikern vertraut war.

Zu dieser Zeit war einer der älteren Brüder, der zweite Sohn meiner Eltern, bereits ein buddhistischer Mönch und genoss wegen seiner Gelehrsamkeit großes Ansehen. Er lebte im Tempel des Weißen Pferdes in Luoyang und war neben meinem Vater das nächste Vorbild, das mein junges Leben prägte. Von ihm erhielt ich die ersten Unterweisungen über die Lehren des Erhabenen, und schon bald wünschte ich mir nichts sehnlicher, Novize im selben Kloster zu werden.

Das war allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, denn die Regierung führte ein strenges Prüfungssystem für jene ein, die ihr Elternhaus verlassen und in eine Tempelgemeinschaft eintreten wollten. Nur wer die Prüfung bestand, wurde vom Kloster akzeptiert und erhielt als Mönch den Namen ‹Du›, das heißt, etwas frei umschrieben, ‹gerettet worden›. Im zehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Yang von der Sui-Dynastie, es war das Jahr des Holz-Hundes im 55. Zyklus,4 verkündete die Regierung, dass sie nach vierzehn neuen ‹Du›-Mönchen suche, und ermunterte alle Interessenten, die auch ‹Gerettete› werden wollten, zu den Prüfungen anzutreten. Natürlich ging ich sofort hin, Hunderte standen bereits da und warteten, ich aber durfte zu meiner großen Enttäuschung nicht einmal den Prüfungsplatz betreten. Man wies mich ab mit der Begründung, ich sei noch zu jung und demnach unwissend. Dabei war ich bereits schon um die dreizehn Jahre alt!

Ich wollte nicht weggehen und ging am Platz der Prüfung auf und ab. Dies bemerkte der Hauptprüfer, es war der Minister Zheng Shanguo, kein Mönch zwar, doch ein frommer Laien-Buddhist. Er rief mich herein, betrachtete mich eindringlich und fragte schließlich: ‹Warum willst du Mönch werden?›

Ich antwortete: ‹Mein Wunsch ist es, in ferner Zeit ein Tathagata zu werden. Und in naher Zeit möchte ich den Geboten des Buddha die Ehre erweisen.› Offenbar hatte Zheng Shanguo mit dieser Antwort nicht gerechnet, denn er schwieg lange, als hätte es ihm die Sprache verschlagen. Dann endlich sagte er: ‹Geh zu den Prüfungen.› Seine mir gewährte Ausnahme begründete er später so: ‹Es ist schwierig, einen derart feinen Bambus zu finden. Doch wenn diesem Jungen erlaubt wird, ein Mönch zu werden, wird er eine berühmte Person in der Schule des Buddha sein. Die Lehren nachzubeten ist leicht, doch wahre Selbstbeherrschung und innere Stärke sind selten.› So zumindest habe ich es gehört. Der damals noch sehr junge Minister Zheng Shanguo müsste jetzt, sofern er noch lebt, ein steinalter Mann sein. Mit Gewissheit würde er sich an diesen Satz und die Gründe dafür erinnern. Solltet Ihr in Chang’an Schwierigkeiten haben, erkundigt Euch nach dem Minister. Außer mir und ihm hat wohl nach so vielen Jahren kaum jemand diese Ereignisse in der Erinnerung.»

«Ich schreibe mir das Wort des Ministers auf, damit ich es wortgetreu wiedergeben kann, sollte es dereinst notwendig sein», sagte Ma-Huan-Chi und griff zu seiner Schrifttafel. «Doch sagt mir, was ließ in Euch den Gedanken reifen, die große Reise in den Westen zu unternehmen?»

«Kaum war ich als Novize im Kloster angenommen, legte ich sofort die Gelübde der Mönche ab und begann intensiv mit dem Studium der Heiligen Schriften. Schon immer hatte ich beim Lernen keine Schwierigkeiten. Nach einmaligem Hören behielt ich einen Text im Gedächtnis und verstand ihn. Beim zweiten Lesen brauchte ich keine weiteren Erläuterungen und kannte den Text Wort für Wort auswendig. Alle meine Lehrer waren über diese Fähigkeit erstaunt, doch ich kannte nichts anderes. In der Klosterbibliothek fand ich nicht nur Texte zur indischen Philosophie und zum frühen Buddhismus, sondern auch Schriften zum späteren Mahayana-Buddhismus, wobei mein besonderes Interesse dem Nirvana-Sutra und dem Mahayanasampari-Sutra galt. Das friedliche Klosterleben und das überaus spannende Studium der Texte wurden aber zunehmend getrübt durch die Wirren des Bürgerkrieges und der Kämpfe der Tang mit ihren Rivalen. Nach vier Jahren schließlich beschlossen zahlreiche Mönche, aus der Stadt Luoyang zu fliehen, da die kaiserliche Stadt zu einem Räubernest verkommen war. Die Soldaten wüteten wie wilde Tiere, und in den Straßen lagen Tausende Tote, selbst hohe Beamte wurden hingemordet. Zusammen mit meinem älteren Bruder suchte ich im Jahr des Erde-Tigers – es war das Jahr des Zusammenbruchs der Sui-Dynastie5 – Zuflucht in der Provinz Sichuan, wo wir im Kloster Kung-hui-szu in der Hauptstadt Chengdu in die Mönchsgemeinschaft aufgenommen wurden. Beide waren wir begeistert von der ausgezeichneten Bibliothek. Ihr müsst wissen, dass mein älterer Bruder ähnlich wie mein Vater die eleganten Manieren eines wahren Konfuzianers besaß, auch hatte er des Vaters stämmige Statur. Uns beiden gemeinsam waren die Beredsamkeit und die Begabung zu abstrakter Begrifflichkeit, und es fiel uns beiden leicht, andere Menschen für die Lehren des Buddha zu begeistern.

Während mein älterer Bruder durchaus eine Vorliebe für weltliche Angelegenheiten beibehielt, waren meine Interessen ganz klar auf das Erkennen des Universums ausgerichtet. Mich interessierten die verschiedensten Meinungen über die Phänomene der Welt und der Metaphysik. Niemals mochte ich mich auf eine einzige Doktrin festlegen, und nichts war mir mehr zuwider als eine systematische Ausschließlichkeit oder Bevorzugung einer der vielen sich oft widersprechenden Schulen der damaligen Zeit. Es fiel mir also leicht, bei gelehrten Debatten die verschiedensten Standpunkte kompetent zu vertreten.»

«Verzeiht, Meister, wenn ich Euch unterbreche. Da ich kein Gelehrter bin und somit noch nie an einer Debatte teilgenommen habe, kann ich mir nur schwer vorstellen, wie die Meister der Gelehrsamkeit die Probleme diskutieren.»

«Lasst es mich kurz so sagen: Da die alleinige Wahrheit nicht einfach so offensichtlich und somit vieles in der Schwebe ist und unklar und unsicher, kommen die Gelehrten zusammen und versuchen, mit Argumenten und Gegenargumenten ein vorgelegtes Problem zu erörtern. Meistens ist es so, dass ein angesehener und anerkannter älterer Meister zu einem formulierten Problem eine These aufstellt und diese vorträgt. Er untermauert seine Ansicht mit möglichst vielen Zitaten und Argumenten aus den verschiedensten Schriften. Hat er geendet, ist die Diskussion eröffnet, und alle Anwesenden können mit Gegenargumenten und Gegenzitaten aus bedeutenden Schriften ihre Einwände gegen die These vorbringen. Es ist nun offensichtlich, dass jener überzeugt, der am Schluss mit den meisten Zitaten und Gegenzitaten, mit den brillantesten Thesen und Antithesen, mit Einwänden und Gegenargumenten alle anderen sozusagen Schachmatt gesetzt hat.

Texte zu studieren, heißt nicht nur, ihren Inhalt zu verstehen, sondern diesen Inhalt auch möglichst wortgetreu im Gedächtnis zu bewahren. Ein großer Meister trägt seine Bibliothek im Kopf! Der Himmel hat es in der Tat sehr gut mit mir gemeint und mich mit einem großen Gedächtnis beschenkt – und mit der Gabe, auch klar und folgerichtig zu denken. So kannte ich also in meinen jungen Jahren bereits die wichtigsten Texte der verschiedensten Schulen und Sekten, kannte die Argumente und Gegenargumente und galt früh schon als recht gelehrt. Doch heißt das nicht, dass mir die Wahrheit nun näher lag als anderen, ganz im Gegenteil. Mit zunehmendem Wissen wuchs auch meine Ungewissheit.

Als ich zwanzig Jahre alt war, empfing ich in der Stadt Chengdu die vollständigen monastischen Regeln. Jetzt erhielt ich den Namen, unter dem ich als Mönch von vielen gekannt werde: Xuanzang, was nichts anderes heißt als ‹Meister des Gesetzes›. Kurz nach meiner Ordination trennte ich mich von meinem Bruder und reiste nach Chang’an, die neue Hauptstadt der damals noch jungen Tang-Dynastie. Der ebenso junge und tatkräftige Kaiser Taizong war im Begriff, sie zu einem strahlenden Zentrum seiner Macht auszubauen. Auf einer Fläche von mehr als sechstausend zhang lebten Hunderttausende Menschen. Nirgendwo in der westlichen Welt habe ich eine größere und schönere Stadt gesehen, nirgendwo mit Alleen bepflanzte Straßen, die über drei yin breit waren, dazu gab es hundertzehn ummauerte Quartiere und zwei riesige Märkte, einen im Westen und einen im Osten. Und das Herz des Ganzen waren die Paläste des Kaisers und die an sie grenzende Stadt der Verwaltung.»

«Ich habe in den letzten Jahren Chang’an mehrere Male besucht», sagte Ma-Huan-Chi, «doch jetzt hat sich die Zahl der Einwohner fast verdoppelt, über eine Million Menschen sollen dort wohnen. Ich bin sicher, dass heute Chang’an die größte Stadt der Welt ist. Überdies leben über fünftausend Fremde aus den verschiedensten Ländern innerhalb der Stadtmauern, deren Mauerkrone so breit ist, dass bequem zwei Pferdegespanne mit Wagen sich kreuzen können. Doch wird das wohl noch in Eurem Gedächtnis sein.»

«So ist es. Und bereits zu meiner Zeit waren genug gebildete Fremde da, welche die Hauptstadt zu einem Zentrum der Gelehrsamkeit machten. Schon sehr bald suchte ich die Fremden auf, um deren Sprache und Kultur kennenzulernen. Mich interessierte die Welt jenseits der Grenzen, die auf der Seidenstraße erreicht werden konnte. Ich lernte leidlich Tokhari, was mir in Turfan vor fünfzehn Jahren zugutekam. Wenige Jahre später begann ich systematisch mit dem Studium des Sanskrit, denn ich wollte die Heiligen Texte im Original lesen können. Überdies war es die Sprache der buddhistischen Gelehrten in der ganzen westlichen Welt, von Java bis weit nach Asien. Bereits vor fünfhundert Jahren brachten Mönche aus Indien und Kashmir, aus Persien und Afghanistan buddhistische Schriften nach China, die mehr oder weniger klug übersetzt worden waren, jedoch viele Ungereimtheiten und gar Widersprüche aufwiesen. Schon vor mir waren mehr als fünfzig fromme Mönche in den Westen gereist, obgleich nur wenige das Land des Erhabenen erreicht haben. Der Interessanteste unter ihnen war der große Faxian, der vor zweihundertsechzig Jahren Indien bereist hatte und mit eindrücklichen Schilderungen der politischen und kulturellen Zustände Indiens mein Interesse und die Sehnsucht weckte, das Land der Heiligen Stätten zu besuchen.

So hatte ich denn zu diesem Zeitpunkt fast fünfzehn Jahre lang die Heiligen Schriften studiert, hatte deren Auslegung in den verschiedensten Klöstern in Luoyang, Chengdu und Chang’an angehört und wurde dabei, so kam es mir vor, nicht etwa gelehrter, sondern immer verwirrter. Es war, als würde der Abt eines jeden Klosters von einem anderen Buddhismus sprechen, so groß waren die Widersprüche in der Auslegung und in der Übersetzung der Texte.

‹Was denn nun hat Buddha, der Erwachte, wirklich gesagt?› Diese Frage wurde zum Zentrum meines Betrachtens. Welches war die authentische Unterweisung? Konnten alle Menschen die Buddhaschaft erreichen, wie das die Vertreter des Großen Fahrzeuges behaupteten, oder war dies nur einem ausgewählten kleinen Teil vorbehalten, wie das die Vertreter des Kleinen Fahrzeuges verkündeten? Ich selbst neigte eher zu dem mittleren Weg, der mystischen Schule des Yogacara, die von Asanga begründet worden war und von der nur wenige und lückenhafte Texte ins Chinesische übersetzt waren. Diese Denkschule propagierte etwas geradezu Ungeheuerliches: Es existiere die Außenwelt nicht eigentlich und wirklich so, wie wir sie wahrnehmen, sondern sie sei vielmehr nur eine Projektion des eigenen Bewusstseins. Man muss sich das vorstellen: Was wir für wirklich halten, ist nichts anderes als eine große Illusion, ohne Geist und ohne Substanz. Asanga nun begründete dieses Konzept nicht bloß mit einer eindrücklichen Kette von Argumenten, sondern er wies auch den Weg, wie die Wahrheit seines Konzeptes erfahren werden konnte durch den nach innen gerichteten Weg der Meditation.

Ich muss noch anmerken, dass allen Lehrmeistern in China in der Verkündung der Lehre ein außerordentliches Verdienst zukommt. Doch wenn ich ihre Worte anhand der Schriften nachprüfen wollte, fand ich schwerwiegende Widersprüche oder unverständliche Übersetzungen. Eine Reise in den Westen wurde immer unausweichlicher. Ich musste zu den Quellen.

Als ich ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt war, um immerhin ziemlich genau zu sein», schmunzelte Xuanzang, «da zog ich mich in die Abgeschiedenheit zurück, um meinen Entschluss zu festigen und den Schutz des Buddha zu erbitten. Hier hatte ich den entscheidenden Traum: Ich sah den Berg Sumeru, glänzend aus Gold, Silber, Beryll und Kristall im Mittelpunkt des Universums und von einem großen Wasser umgeben. Steinerne Lotosblüten trugen mich, als ich über das Meer schritt. Doch der Weg zur Spitze des Berges war so glatt und steil, dass ich jedes Mal auf dem Weg nach oben wieder nach unten rutschte. Ein Hochkommen schien unmöglich. Plötzlich trug mich ein