Die Himmelsstürmerin - Rebiya Kadeer - E-Book

Die Himmelsstürmerin E-Book

Rebiya Kadeer

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Beschreibung

Chinas bekannteste Dissidentin, Rebiya Kadeer, war einst die einflussreichste Frau im Reich der Mitte. Nach einer beispiellosen Karriere begann sie schließlich ihre politische Macht zu nutzen und sich für die Rechte der Uiguren in ihrem Land einzusetzen. Das Regime rächte sich, indem es sie fünf Jahre ins Gefängnis brachte, wo die Zeugin von Folter, Vergewaltigungen und Hinrichtungen wurde. Nach ihrer Haftentlassung gelang ihr die Ausreise in die USA, von wo sie ihren leidenschaftlichen Kampf für die Menschenrechte weiterführt.

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Dieses Buch entstand 2006/2007 auf der Basis zahlreicher Interviews zwischen Rebiya Kadeer und der Autorin Alexandra Cavelius, die mithilfe mehrerer Dolmetscher in uigurischer Sprache geführt wurden. Die Übersetzung der Gesprächsprotokolle, anhand derer Alexandra Cavelius die Lebensgeschichte von Rebiya Kadeer verfasst hat, erfolgte nach bestem Wissen und Gewissen.

1. eBook-Ausgabe 2022

Copyright © 2007 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © Alexandra Cavelius 2021

© der Taschenbuchausgabe 2022 Europa Verlag in der

Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie

Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von Sahlan Hayes

Bildnachweis: alle nicht gekennzeichneten Fotos privat

Redaktion: Franz Leipold

Layout & Satz: Robert Gigler

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-467-5

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Rebiya KadeerAlexandra Cavelius

Die Himmelsstürmerin

Chinas Staatsfeindin Nr. 1erzählt aus ihrem Leben

Ich widme dieses Buch

meinem Mann Sidik Haji Rouzisowie dem gesamten uigurischen Volk

Inhalt

Vorwort, April 2009, Dalai-Lama

Prolog

Ein großes Spiel und ein falsches Versprechen

Vertreibung in die Wüste

Fernab der Heimat: Eine kurze Kindheit und Jugend

Die Große Proletarische Kulturrevolution 1966 bis 1976: Traditionen werden zerstört, Beziehungen zerschlagen

Not macht erfinderisch: Von der Waschfrau zur Millionärin

Eine große Liebe und ein großes Ziel

Hehre Ziele, hohe Gewinne und herbe Verluste

Wege entstehen dadurch, dass man sie geht: Neue Perspektiven als Geschäftsfrau und Politikerin

Bildteil

Nur wer sich nicht beugt, lernt aufrecht zu gehen

Die Dinge beim Namen nennen: Mafia, Morde und andere Missstände

Kampagne »Hart zuschlagen«: Die Lage spitzt sich zu

Mut verleiht Flügel: Wir alle brauchen den Frieden

Gefangen: Die langen Jahre hinter Gittern

Politische Umerziehung: Über die hohe Moral der Kommunistischen Partei

»Ich werde herauskommen wie ein Adler«

Dank

Nachwort Alexandra Cavelius

Die Autorinnen

Vorwort, April 2009, Dalai-Lama

Ich bin glücklich, dass Rebiya Kadeer auch eine englischsprachige Ausgabe ihrer Lebensgeschichte veröffentlicht unter dem Titel Dragon Fighter: One Woman’s Epic Struggle for Peace with China.

Ich habe Tibeter, die mit der chinesischen Herrschaft ihre Erfahrungen gemacht haben, stets ermutigt, ihre Geschichte aufzuschreiben, damit nicht nur die restliche Welt, sondern auch das chinesische Volk ihre Lage versteht. Eine solche Veröffentlichung muss wahrheitsgemäß durchgeführt werden mit der Motivation, etwas zu der tiefer gehenden Freundschaft zwischen den Gesellschaften beizutragen.

Das uigurische und das tibetische Volk haben eine Beziehungsgeschichte, und in der heutigen Zeit haben sie ziemlich ähnliche Erfahrungen gemacht. Deshalb hoffe ich, dass dieses Buch von Frau Kadeer es den Leserinnen und Leser ermöglichen wird, die Erfahrungen des uigurischen Volkes zu verstehen.

Aktualisierung, Dezember 2021, Tibet-Initiative

Tibet – auch nach 70 Jahren Besetzung ist keine Ruhe auf dem »Dach der Welt«. Seit Jahrzehnten versucht die Kommunistische Partei Chinas, das einst unabhängige Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Auch nach 70 Jahren wehren sich Tibeter friedlich gegen Repression und Verfolgung. Doch Pekings Strategie, das Land vollständig zu unterwerfen, könnte aufgehen, wenn die rücksichtslose Assimilationspolitik der KP – ähnlich wie in Ostturkestan – Erfolg hat. Die tibetische Sprache, der buddhistische Glaube und die Lebensweise der Tibeter werden systematisch zurückgedrängt – verharmlosend »Sinisierungspolitik« genannt. Andersdenkende werden systematisch verfolgt, die Pflege von Sprache und Religion kriminalisiert und das Land mit einer lückenlosen Überwachung überzogen.

Tibet steht ähnlich wie Ostturkestan für repressive Politik, wo sich Partei-Hardliner auf schreckliche Weise profilieren können. Doch Tibet steht auch für das, was möglich wäre, wenn die KP die ausgestreckte Hand des Dalai-Lama ergreifen würde. Echte Selbstbestimmung, ein befriedetes Land und ein chinesischer Staat, der sich voll und ganz seiner eigenen friedlichen Entwicklung widmen könnte. Doch dazu gehört Mut, den die Führung in Peking gegenwärtig nicht aufbringen kann. Ohne Zweifel ein Zeichen der Schwäche und nicht der Stärke.

Kai Müller

(International Campaign for Tibet, Deutschland e. V.)

Executive Director

Prolog

Um vier Uhr morgens setzten mir die Wärterinnen auf einem Tablett vier oder fünf verschiedene Gemüsesorten, Lammfleisch und Hühnchen vor. Ich wusste gar nicht mehr, dass es solch köstliche Speisen überhaupt gab. Eine uigurische Beamtin nach der anderen trat zu mir in die Zelle, mich sorgenvoll musternd: »Warum isst du nicht? Bitte, iss!« Nach einer kurzen Pause erkundigten sie sich: »Welchen Wunsch hast du noch?« Da wurde mir mit einem Mal bewusst, dass sie mich erschießen würden. Das war meine Henkersmahlzeit.

Die Wärterinnen fragten mich, welche Kleidung ich anlegen wollte. Ich verlangte nach meinem weißen langen Rock, meinem langen weißen Ledermantel mit Pelzbesatz und für den Kopf meine geliebte weiße Pelzmütze, meine »Tomak«. Für die Füße wählte ich kurze weiße Stiefel mit etwas höheren Absätzen. Meine Haare wollte ich waschen und lang fallen lassen. »Ich will mich schminken«, sagte ich.

Sie holten mir das Gewünschte aus der Wohnung in Ürümqi. Alle waren darüber informiert worden, dass ich in wenigen Stunden exekutiert werden würde. »Darf ich meine Kinder noch einmal sehen?«, fragte ich voller Hoffnung. »Nein, das wird Gefangenen, die zum Tode verurteilt worden sind, nicht erlaubt«, wurde mir beschieden.

Da bat ich darum, mich in einem großen Spiegel betrachten zu dürfen. Dem Wunsch wurde stattgegeben. Im Spiegel erblickte ich eine schöne Frau. Als ich dieses Bild von mir betrachtete, blieben zum ersten Mal seit langer Zeit meine Gedanken still. Eine unglaubliche Ruhe umfing mich. Alles um mich herum wurde unscharf und vermischte sich, die Wärterinnen, die Zelle, das Licht und der Boden, auf dem ich stand. Nur mich selbst schien es noch zu geben.

Die Chinesinnen hinter mir steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Ihnen war anzusehen, dass sie Mitleid mit mir empfanden. Ich versank in eine Art innerer Zufriedenheit. Ich war allein – mit der Stille, mit dem Tod und mit meinem Spiegelbild. Viele Häftlinge beklagten laut in ihren Zellen mein Schicksal. Sogar die uigurischen Wärterinnen wischten sich verstohlen Tränen aus ihren Augen.

»Alle Wünsche«, sagte die Uniformierte leise, die mir Hand- und Fußschellen anlegte, »die Sie noch haben, will man Ihnen erfüllen.« Da ich aber meine Kinder nicht sehen durfte, bat ich sie nur darum, mich mit diesen Hand- und Fußschellen noch einmal im Spiegel betrachten zu dürfen. Eine uigurische Wärterin trat zu uns in den Raum und holte die chinesische Kollegin heraus: »Du wirst von jemandem gerufen!« Kaum war die Chinesin gegangen, zog die Uigurin einen Fotoapparat aus der Tasche und machte schluchzend ein paar Aufnahmen von mir.

Sie fragte mich, was ich als letztes Wort für sie hätte. Aber ich war in einem Zustand, der nichts mehr mit ihrer Welt zu tun hatte. »Wie schön bin ich geworden«, seufzte ich, »jemandem, der dem Volk gehört, stehen keine goldenen Ketten, sondern Hand- und Fußschellen. Nur der Mensch ist wirklich frei, der in der Lage ist, solche Hand- und Fußschellen zu sprengen. Gott wird das für mich tun. Ich werde nicht sterben!«

Warum ich so geredet habe, kann ich nicht erklären. Vielleicht war die lange Einzelhaft daran schuld oder die Tatsache, dass ich kurz vor der Hinrichtung stand, ich weiß es nicht. Ich rief mir meinen Mann und meine elf Kinder vor mein geistiges Auge. Jedes meiner Kinder, besonders Kekenos, weil sie die Kleinste war, habe ich gefragt: »Wie kann euer Vater jetzt ohne mich leben?« Die Wärterinnen unterbrachen mich: »Die Zeit ist um.«

Durch den Flur folgten mir 30 Polizisten mit Maschinenpistolen. Vor und neben mir marschierten noch einmal zehn Wachen. Sie nahmen mich, wie bei einem Tanz, in ihre Mitte, und fast genoss ich es, von so vielen Menschen umringt zu sein. Trotz der schweren Ketten schritt ich voran, als kämen meine Füße mit dem Boden gar nicht in Berührung. Ich war bereit zu sterben, um eine Heldin zu werden, und ich hatte keine Angst. Nur eine seltsame Nervosität hatte mich befallen. Da sprach ich mir selbst Mut zu, weil ich befürchtete, dass mich die Kraft plötzlich verlassen könnte: »Rebiya, du musst es so sehen: Wenn jemand wie du bereit ist zu sterben, werden dir Tausende nachfolgen. Das Volk wird in dir ein Symbol für seine Freiheit sehen. Und nach dir wird eine neue, noch stärkere Heldin erscheinen. Du bist nicht sinnlos gestorben.«

Mit diesen Gedanken fand ich erneut zur Ruhe. Ich genoss diese letzte mir verbleibende Stunde. »Immer habe ich gedacht, dass ich unser Land von den Besatzern befreien würde. Das habe ich nicht erreicht«, ging es mir durch den Kopf, »aber ich habe der Bevölkerung wie eine Lehrerin den Weg aufgezeigt.« Die zweite Tür öffnete sich vor uns.

Im Hof bildeten sich drei Reihen mit jeweils etwa 50 Polizisten. Ich stand in der Mitte. Sie schrien unverständliche Kommandos hin und her – vermutlich eine Art Übergabezeremonie. Kaum war mein Namen ausgerufen worden, stellte sich die Gruppe der Staatsdiener in blauen Uniformen hinter mir auf und legte die Hand zum Gruß an die Stirn. In meinem weißen Gewand fühlte ich mich vor diesen dunklen Gestalten noch mehr wie ein Engel.

Die Soldaten in Kampfanzügen, die mich übernommen hatten, führten mich durch eine dritte Tür nach draußen. Auf Chinesisch brüllte jemand: »Die Angeklagte Rebiya Kadeer wurde gebracht!« Zahlreiche Uniformierte stiegen aus den vielleicht hundert schwarzen Autos, die vor dem Tor hintereinander parkten. Darunter auch zwei große Militärlastwagen voller Soldaten. Drei Helikopter kreisten über uns. Da habe ich gelacht. So eines Aufwandes hätte es nun wirklich nicht bedurft.

Als ich zu einem der Autos geführt wurde, salutierten zwei uigurische Polizisten. Ich zwinkerte ihnen zu, und die Augen der Männer füllten sich mit Tränen. Das Volk beschimpfte die uigurischen Polizisten als Verräter, weil sie für die Chinesen arbeiteten. In ihren Herzen aber wünschten sie alle das Gleiche: die Freiheit.

In Ürümqi hatte die Regierung eine Militärsperrzone einrichten lassen und den Beamten verboten, zur Arbeit zu kommen. Dies und die Tatsache, dass die Stadt abgeriegelt wurde, in den Straßen so viele Schwerbewaffnete patrouillierten und am Himmel die Hubschrauber lärmten, machte die Bevölkerung hellhörig.

Viele Einwohner Ürümqis hatten bereits in Erfahrung gebracht, dass ich heute vom Gericht zum Tode verurteilt und anschließend sofort hingerichtet werden sollte. Einige Beamte hatten meinen Kindern zwar mitgeteilt, dass ich nach dem Prozess freigelassen werden würde, aber sie glaubten ihnen nicht. Viele Menschen waren trotz des Verbotes auf der Straße.

Ich rutschte auf die Hinterbank einer schwarzen Limousine. Neben mir und vorne saßen jeweils zwei Männer. Durch die abgedunkelten Scheiben konnte man nicht zu mir hineinsehen. Sirenen von fünf Polizeiautos heulten. Die beiden Männer neben mir unterhielten sich darüber, dass ich ursprünglich in einem Kistenwagen hätte transportiert werden sollen, auf dem üblicherweise die Gefangenen hinten im Käfig hockten. Die Idee hatten sie aber verworfen, weil das Volk mich nicht zu Gesicht bekommen sollte.

So ein Konvoi machte natürlich erheblich mehr Eindruck als ein Kistenwagen. Entlang der Straßen, durch die wir fuhren, bildeten Soldaten mit den Händen eine Kette und riegelten sie ab. Die Menschen, die an beiden Seiten hinter den Absperrungen am Straßenrand standen, riefen laut meinen Namen. Da begann sich in mir der Wunsch zu regen, weiterleben zu dürfen.

Ein Uigure, der neben mir saß, vermutlich ein Sekretär vom Gericht, stöhnte laut auf: »Ach Gott, sie machen hier aus einer Mücke einen Elefanten.« Sein Nachbar, ein Chinese, stimmte ihm zu: »Wenn sie niemandem Bescheid gesagt hätten, hätte sich das Volk erst gar nicht so aufgeregt. Wir haben die Leute selbst zusammengetrommelt.«

In der Tat hatten sie einen Aufwand betrieben, den man sonst nur für eine Präsidentin inszenieren würde. Das bedeutete immerhin, dass sie mich als Anführerin unseres Volkes akzeptiert hatten. Sie hatten mich selbst dazu aufgebaut und mich jetzt auch unter den Uiguren bekanntgemacht, die bisher noch nichts von mir gehört hatten.

Vor dem Gerichtssaal hatten sich über tausend Leute eingefunden. Hier übergaben mich die Soldaten wieder den blau uniformierten Polizisten. Für einen Moment drangen durch die Menge die Stimmen meiner Kinder zu mir hindurch: »Mutter! Mutter!« Das waren Kahar und Rushengül. Mir blieb keine Zeit, mich nach ihnen umzudrehen, so schnell wurde ich durch die Tür geschoben

Im Gerichtssaal bemerkte ich zunächst einmal viele Ärzte. Ich folgerte daraus, dass sie mir nach der Exekution meine Organe entnehmen würden. Einer von ihnen maß meinen Blutdruck. Ich fragte ihn: »Möchten Sie, nachdem Sie mich getötet haben, meine Organe verkaufen?« Aber er hatte Befehl, nicht mit mir zu sprechen.

Der Saal war mit dreihundert Plätzen recht groß. Aber die Verhandlung war geheim; es waren nur Staatsanwalt, Verteidiger und Polizisten anwesend. Sie führten mich zur Anklagebank. Staatsanwalt und Pflichtverteidiger hakten die Formalitäten ab. »Kommen noch andere Zuschauer?«, fragte einer der Form halber. Da mischte ich mich ein: »Sehen Sie nicht, dass der Saal schon voll ist?« Mit den Fingern fuhr ich über die leeren Reihen. »Alle Plätze sind bereits belegt.« – »Und wo sollen die Zuschauer denn sitzen?«, mokierte sich der Staatsanwalt, der sicherlich an meinem Geisteszustand zweifelte. »Alle Engel sind hierhergeflogen und haben längst Platz genommen«, gab ich zurück, »sie werden Ihre Entscheidung vor Gericht hören.« Darauf hat er nichts erwidert.

Nach so langer Zeit in der Dunkelheit stimmte mit meiner Konzentration etwas nicht mehr, zu viele Dinge gingen mir gleichzeitig durch den Kopf. Ich musste mir meine Worte zurechtlegen. Der Richter, ein Uigure, trat ein und las die Anklageschrift vor. Anschließend spielten sie als Beweismaterial die Videoaufnahme ab, die nach meiner Verhaftung von mir – im bewusstlosen Zustand – im Verkehrsamt gemacht worden war. Mit meinen zerrauften Haaren und dem halboffenen Mund sah ich aus wie eine Obdachlose. Deutlich waren die Unterlagen zu sehen, die man mir zuvor unter die Bluse gesteckt hatte.

»Sie dürfen sich jetzt selbst verteidigen«, forderte der Richter mich auf. Mit fester Stimme erwiderte ich ihm: »Meine Verteidigung ist ohne Bedeutung. Mein Urteil steht doch schon längst fest.« Betont gelangweilt entgegnete er: »Selbst wenn dies wahr wäre, sollten Sie dennoch versuchen, sich zu verteidigen.«

Ich konzentrierte mich. »All meinen Reichtum habe ich zurückgelassen. Die Menschenrechtsverletzungen, die die Bevölkerung erlebt, habe ich nun auch selbst durchlitten. Eigentlich wollte ich mein Volk unterstützen, aber zum Schluss habe ich mir selbst nicht mehr helfen können. Ich denke, dass ich ein gerechtes Leben geführt und keine Fehler begangen habe.«

Der Reihe nach zählte ich auf, was ich alles für unsere Republik geleistet habe. »Ich habe dabei mitgeholfen, die Stabilität des Landes zu erhalten. Ich habe Arme und Waisenkinder finanziell unterstützt. Durch meine Auslandsgeschäfte habe ich dringend benötigte Waren ins Land gebracht. Ich habe mehreren chinesischen Firmen Aufträge gegeben und diese dadurch vor dem Bankrott gerettet. Ich habe Waren aus China ins Ausland exportiert und damit für Xinjiang großen Gewinn erwirtschaftet.

Als Abgeordnete habe ich die Sorgen und Nöte der Bevölkerung der Regierung übermittelt, um das Leben der einfachen Menschen zu verbessern. Eigentlich sollte die Regierung froh darüber sein, weil ich sie unterstützt habe, und eigentlich müsste ich das gar nicht erwähnen. Sie sollte sich stattdessen wünschen, dass es noch mehr Bürger und Bürgerinnen wie mich geben würde. Heute bin ich hier vor Gericht gestellt worden. Das ist ein wichtiges Ereignis in der Geschichte unseres Landes. Falls Sie alle hier ohne Schuld sind und auch weiterhin ohne Schuld bleiben wollen, bitte ich Sie, mich auf gerechte Weise zu beurteilen. Darum sollten uns heute vor Gericht eigentlich all die Menschen da draußen zuhören dürfen. Ich erwarte von Ihnen ein gerechtes Urteil. Und ich bin fest davon überzeugt, dass Sie mich heute freilassen werden.«

Staatsanwalt und Pflichtverteidiger gaben vor, über meine Rede zu diskutieren. Anschließend verkündete der Richter sein – längst abgesprochenes – Urteil: »Frau Rebiya Kadeer hat Staatsgeheimnisse verraten. Die Art, in der sie diesen Fehler begangen hat, ist unverzeihlich. Deshalb sollte sie ursprünglich noch härter abgeurteilt werden. Da aber unsere Gesetze gerecht sind, werden wir sie nur milde bestrafen.«

Der ganze Prozess dauerte vielleicht 15 Minuten. Wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen verhängte der Richter acht Jahre Freiheitsentzug über mich. Mein Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen. Sie wollten mich nicht erschießen? Mir war, als löste sich ein Widerhaken aus meiner Brust.

Wie eine Schlafwandlerin folgte ich den Polizisten wieder hinaus. Durchs Autofenster sah ich zwei meiner Kinder, Kahar und Rushengül. Sie standen ganz vorne an der Absperrung. Die Leute skandierten meinen Namen. Einige schrien: »Bitte, Rebiya, passen Sie auf sich auf.«

Plötzlich drückte der Fahrer auf die Bremse. Meine Tochter Rushengül hatte sich auf die Motorhaube des Autos geworfen. Für einen kurzen Augenblick sah ich ganz nah ihre dunklen, weit aufgerissenen Augen. Schnell zogen die Uniformierten sie an ihrer Jacke wieder herunter. Trotz der vielen Polizisten war es ihr gelungen, sich einen Weg durch die Absperrung zu bahnen.

Der Fahrer drückte aufs Gas. In Hand- und Fußschellen saß ich auf der Rückbank und blickte nach draußen. Mir war, als spürte ich den sanften Windhauch der Freiheit

Ein großes Spiel und ein falsches Versprechen

Die Fabel mit der Ameise

Als ich noch ein kleines Mädchen war, erzählte mir mein Vater einst eine Fabel, die mich mein ganzes Leben lang begleitet und die mich jedes Mal, wenn ich sie mir ins Gedächtnis gerufen habe, tief berührt hat.

Diese Fabel handelte von einer kleinen Ameise, die in der zentralasiatischen Steppe auf einen Vogel traf. »Wohin gehst du?«, fragte er sie. »Ich gehe in den Westen, nach Europa«, antwortete die Ameise und ging weiter. »Wie willst du das schaffen? Unterwegs gibt es hohe Berge und reißende Flüsse. Du wirst umkommen.« – »Über die Berge kann ich klettern, und die Flüsse kann ich durchschwimmen, und kommt eine riesige Welle, finde ich vielleicht ein Stück Holz, an das ich mich festklammern kann«, sagte die Ameise und ging weiter.

Viele Jahre später, so fuhr Vater meist mit tiefer Stimme fort, nistete der Vogel irgendwo in Europa auf einem Baum. Auf einmal krochen zahlreiche Ameisen auf seinen Ast und begannen, das Nest des Vogels zu zerlegen. Der Vogel wollte gerade wegfliegen, als ihn eine der Ameisen ansprach: »Hallo, mein Freund, du brauchst nicht wegzufliegen. Ich sage meinen Leuten, dass sie dein Nest in Ruhe lassen sollen.« Erstaunt fragte der Vogel: »Wer bist du? Woher kennst du mich?« – »Erinnerst du dich noch, wie wir vor langer Zeit in einem fernen Land miteinander gesprochen haben?«

Voll Bewunderung für die Ameise sagte der Vogel: »Jetzt habe ich erkannt, dass ein Lebewesen die Geheimnisse der Welt zu öffnen vermag, solange es nur genügend Mut und Selbstvertrauen besitzt.«

Vater schwieg für einen Moment und schaute mich wissend an: »Kein Hindernis ist unüberwindbar, kein Ziel zu hoch gesteckt.« Doch warum erwähne ich diese Fabel? Ich bin eine Frau aus einfachen Verhältnissen, die im Gebirgsland Ostturkestans geboren wurde und später in Aksu für ihre Familie gekocht hat. Seit ich denken kann, wurde mein Volk gequält und von fremden Mächten unterjocht. Wir waren immer von Verfolgung, Folter und Mord bedroht. Ja, ich komme aus einem Land, das seit langer Zeit um seine Unabhängigkeit und seine Freiheit ringt, heute mehr denn je. Ich spreche und kämpfe für eine große Zahl von Menschen, denen kulturell, wirtschaftlich und religiös jegliche Eigenständigkeit entzogen wurde und die von den Folterknechten der Besatzungsmacht gedemütigt werden, wo es nur geht. »Ich will die Mutter der Uiguren sein«, habe ich mir deshalb vorgenommen, »die Medizin für ihre Leiden, das Tuch, um ihre Tränen zu trocknen, und der Umhang, um sie vor Regen zu schützen.«

Bislang wusste die Welt so gut wie nichts über Ostturkestan, in das aufgrund seiner gewaltigen Größe die Bundesrepublik Deutschland viermal hineinpassen würde. Die Regenten im Reich der Mitte unternehmen alles, um unser Land hermetisch von der Außenwelt abzuriegeln und ein ganzes Volk als Terroristen abzustempeln. Auch ich bin eine Terroristin – zumindest behauptet das die chinesische Regierung. Aber sie behauptet das auch von Führern wie dem Dalai-Lama. Ich mache jedoch nichts anderes, als mit friedlichen Mitteln für ein menschenwürdiges Dasein meiner Landsleute zu kämpfen.

Heute stehen die Uiguren, die zu den ältesten Turkvölkern der Welt zählen, vor ihrer Ausrottung. Xinjiang leidet infolge der schonungslosen Plünderung seiner Rohstoffe unter so extremer Luftverschmutzung, dass Tuberkulose mittlerweile die häufigste Todesursache ist. Tiere und Menschen fliehen vor Dauerdürre und wachsenden Wüsten. Die Folgen der Umweltverschmutzung durch China werden auch global zu spüren sein.

Im Jahr 1999 hatte der chinesische Staatspräsident Jiang Zemin ein großes Investitionsprogramm verkündet, um das dünn besiedelte Xinjiang endgültig an China anzubinden. »Mitte des 21. Jahrhunderts werden sich die westlichen Gebiete in eine blühende … Region verwandelt haben, in der es keine Unruhen mehr gibt, wo die ethnischen Gruppen sich vereint haben und die Natur schön ist«, erklärte er.

China ist eine Wirtschaftsgroßmacht und wird schon bald die Wirtschaftssupermacht schlechthin sein. Es beeinflusst zunehmend auch das Wohl der Welt, und nicht zuletzt deshalb investiert der Westen viel Geld im Reich der Mitte. China aber ist nur deshalb so erfolgreich, weil es sich an keine Regeln hält. Ein System ohne Gerechtigkeit ist auch ein System ohne Hoffnung. Stabilität kann nur durch Einhaltung der Menschenrechte erreicht werden.

Das ist auf lange Sicht auch im Interesse ausländischer Investoren, sonst wird der Westen sein Geld – nicht anders als ich – verlieren. Es hilft nichts, die Augen vor dieser Herausforderung zu verschließen.

Schon seit meiner Jugend beschäftigen mich die Gedanken über unser Volk, doch jedes Mal, wenn ich behauptet habe, dass ich in Zukunft für die Freiheit Ostturkestans kämpfen wolle, haben das die Menschen aus meiner Umgebung missbilligt: Ich sei nur eine kleine Frau und hätte zu viel Fantasie.

Als ich später meinen zweiten und über alles geliebten Mann gefunden und ihm von diesem Wunsch erzählt habe, hat er mich ermahnt, keine so großartigen Worte vor seinen Freunden zu sprechen. Er würde sich sonst vor ihnen schämen. Solch »großartigen Worte« aber waren für mich ganz normal. Weil ich so leben wollte, wie ich sprach, habe ich es auch als normal empfunden, so zu reden, wie ich fühlte.

Sehe ich mich heute als 59-Jährige im amerikanischen Kongress sprechen – dem Ort, an dem die Politik der Welt bestimmt wird –, dann fällt mir wieder ein, wie ich als kleines Mädchen über die Tollkühnheit der kleinen Ameise gestaunt habe.

Wenn ich einmal nicht weiterweiß, rufe ich mir all diese Stimmen ins Gedächtnis, die versucht haben, mich über Jahrzehnte hinweg zu entmutigen. Denn allen Widerständen zum Trotz bin ich im Jahr 2007 zum dritten Mal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden. Und jedes Mal, wenn ich so einen großen Tag für unser Volk erlebe, habe ich auch die Ameise aus der Fabel im Kopf – denn heute reise ich durch Europa und Amerika und erzähle den Zuhörern meine Geschichte aus vollem Herzen.

Kein Uigure zuvor hat unser Land aus so unterschiedlichen Perspektiven erlebt wie ich: als Flüchtlingskind, als arme Hausfrau, als Multimillionärin, als hohe Abgeordnete im Volkskongress und als langjährig politisch Inhaftierte. Damit man uns Uiguren und mich verstehen kann, möchte ich nun meine Geschichte erzählen und mit meinen Großeltern beginnen.

Schon unsere Großeltern waren auf der Flucht

Seit über tausend Jahren war unsere Heimat das Land der mehrheitlich turkstämmigen Uiguren sowie der mit ihnen verwandten Turkmenen, Kirgisen, Kasachen, Usbeken und weiteren Minderheiten. Das Land der Muslime! 1760 gelang es den Chinesen zum ersten Mal, Teile Ostturkestans für etwa hundert Jahre zu erobern. Yakub Beg bereitete dem ein Ende und führte das Land in die Unabhängigkeit. 1876 aber besetzten mandschurische Herrscher wieder den »Wilden Westen«, den sie gewaltsam unter dem Namen Xinjiang (»Neue Grenzgebiete«, früherer Name: Sinkiang) in das chinesische Reich eingliederten.

Im Jahre 1911 überwältigten chinesische Nationalisten die Mandschu-Regentschaft und gründeten eine Republik. Das chinesische Kaiserreich hatte endgültig aufgehört zu existieren. Zornig versuchte das uigurische Volk, die neue Fremdherrschaft der Kuomintang (Nationale Volkspartei) abzuschütteln. Die nächsten Jahrzehnte waren die Zeit der Banditen und der Warlords.

Bevor meine Großeltern väterlicherseits nach Norden fliehen mussten, lebten sie entlang der südlichen Seidenstraße in Khotan. Dieser Ort, so hatten mir meine Großeltern berichtet, lag am Rande der schrecklichsten Wüste der Welt, der Taklamakan, dem »Ort ohne Wiederkehr«. Wo im Sommer die Hitze glühte und im Winter die Kälte klirrte. Tausendundeine Stadt sei in ihrem Inneren verborgen, erzählten sich die Alten. Die »Kara Buran«, die schwarzen Sandstürme, die das Licht der Sonne tagelang verfinstern, hätten indes Schätze und Gold unter sich begraben.

Großvater gehörte zu den Aufständischen, die den Palast der Mandschuren in Khotan in Brand gesetzt hatten. Um dem Zugriff seiner Verfolger zu entgehen, beschloss er, sich und seine Familie, wie unzählige andere Landsleute, über den knapp 4000 Meter hohen Muzart-Pass, im Himmelsgebirge (Tian Shan) gelegen, bis nach Ily (Ghulja) zu retten.

Nur mit Eseln und Pferden war den Großeltern der Aufstieg durch das Eis des Tian Shan möglich. Kahle Eiswände, steil abfallende Schluchten und flache Eiszungen galt es zu überwinden. Sie waren zu dreizehnt, als sie loszogen, doch nur sieben von ihnen gelangten ans Ziel.

Etwa zur gleichen Zeit schnürte auch mein Großvater mütterlicherseits in Merket, ostwärts von Kashgar, seine Bündel. Wie fast jeder Uigure war auch er im Widerstand aktiv. Er war ein Lebemann, liebte das Würfelspiel mit Lammknochen – und die Frauen. Vielweiberei war zwar unüblich und schlecht angesehen unter unseren Landsleuten, aber vom Islam hat Großvater scheinbar nur wahrgenommen, dass man mehrere Frauen gleichzeitig ehelichen könne.

Bei der mörderischen Überquerung nahm er seine kleine Tochter und seine neue Freundin mit, sein angetrautes Weib aber ließ er in der Heimat zurück. Vor Sehnsucht nach ihrem Kind schloss sich unsere Großmutter der nächsten Karawane an. Unterwegs, schilderten ihre Begleiter, habe sie immer wieder den Namen ihrer Tochter gerufen: »Tatachahun!« Eines Nachts ist sie erfroren. Über dem Herzen ihres steif gefrorenen Körpers fand man ein Amulett mit der dunkelblonden Haarsträhne ihrer Tochter. Diese Geschichte hat Mutter uns Kindern später oft erzählt. Und jedes Mal hat sie dabei geweint und laut geklagt: »Sie hat mich gesucht! Nicht mal ihren Leichnam durfte ich sehen!«

In Ily gab es keinen Jadeabbau wie in Khotan. Deswegen verdienten beide Großeltern – wie die Nomaden – ihren Lebensunterhalt mit der Zucht von Tieren, vor allem Pferden. Vater wuchs genauso wie Mutter als Flüchtlingskind im Norden auf, und längst schon hatten ihre Eltern die Eheschließung der beiden Kinder miteinander vereinbart. Mutter war ein uigurisches Mädchen wie aus dem Bilderbuch: diskret, gehorsam, geschickt in der Handarbeit und bereit, für die Familie alles zu opfern.

Zur Hochzeit trug sie ein flammendrotes Kleid und über ihren 40 geflochtenen, hüftlangen Zöpfen einen weißen Schleier. Nach der religiösen Zeremonie erblickte Vater zum ersten Mal das schmale Gesicht seiner Braut. Hellhäutig war es, indoeuropäisch wie das unserer Vorfahren. Vater, drahtig und klein, mit Schnurrbart um den Mund, war etwa 18 Jahre alt, Mutter höchstens 16, als der Imam ihnen seinen Segen gab.

Kadir lautete der Vorname meines Vaters. Sein Nachname war Kenchi, wie der Vorname meines Großvaters. Mutter hieß fortan Tatachahun Kenchi. Ruhe und Glück war dem frisch vermählten Paar nicht vergönnt. »Seit dem Umzug von Khotan nach Ily haben die Uiguren niemals mehr Ruhe gefunden«, sagte Vater mehrmals zu uns Kindern, »immer waren wir Spielball der Interessen anderer Großmächte.«

Adoption in schweren Zeiten

Seit jeher hatte unser Volk gegen die Machtgelüste von Peking aufbegehrt. Nach dem Scheitern der letzten ostturkestanischen Republik, 1933, fochten England, Russland und China das »Great Game«, das Spiel um die Vormachtstellung in Zentralasien, aus. Kashgar war mit einem Mal Zentrum von Diplomaten und Spionen, ebenso wie von Forschern und Entdeckern aus aller Welt.

Von bis zu 7000 Meter hohen Gebirgsketten umschlossen, grenzt Xinjiang nicht nur an Russland und die muslimisch geprägten Staaten Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Afghanistan, sondern berührt auch Indien und Pakistan. In Xinjiang war China dem fernen Europa am nächsten. Ostturkestan war jedoch nicht nur von herausragender strategischer Bedeutung, in der Erde schlummerten auch unermessliche Schätze, wie Erdöl, Gold, Uran, Eisenerze und die größten Kohlevorkommen der Welt.

In diesen Jahren, in denen ein Menschenleben nicht viel zählte, wuchs im Altay-Gebiet der Kasache Osman Batur zu einem neuen Führer heran. Als die Sowjetunion 1941 von der deutschen Wehrmacht überfallen wurde, zog sie ihre bei uns stationierten Einheiten ab, auch in Erwartung eines möglichen Angriffs durch Japan. Mit den veränderten Machtkonstellationen änderten sich auch die Verbündeten. So fochten unsere Truppen einmal für, dann gegen die Russen, einmal für, dann gegen die Militärdiktatur der Kuomintang. Mutter gebar eine Tochter und einen Sohn, aber beide starben noch im Kleinkindalter. Meine Schwestern Zohre, die 1940 das Licht der Welt erblickt hatte, und Hejer, die drei Jahre später geboren wurde, kamen durch.

Um seinen Traum von der Unabhängigkeit Ostturkestans zu erfüllen, griff Vater zum Gewehr. Die »Drei-Provinzen-Revolution« nahm ihren Anfang, benannt nach den drei Provinzen Ily, Altay und Tarbagataj. Im Juli 1944 riefen die Uiguren, Kasachen und die anderen turkstämmigen Völker in Ily erneut eine »Unabhängige Republik Ostturkestan« aus. Dieser Staat war jedoch so instabil, dass seine Führung Gespräche mit der chinesischen Zentralregierung unter Chiang Kaishek aufnehmen musste. In einer so festgefahrenen Situation bot die Sowjetunion Waffen und Beratung an.

Im Sommer 1946 führten die zähen Verhandlungen in Xinjiang – dabei verschwand unser Präsident Ali-Khan Tura spurlos – zur Auflösung der Ostturkestanischen Republik und zu einer Autonomieregelung für Xinjiang. Die Macht in unserem Land lag nun in den Händen sowjetischer Vertrauensleute wie dem uigurischen Vizegouverneur Ahmedschan Kassimi.

In Ily zu bleiben wäre aufgrund der Wirren zu gefährlich für Vater gewesen. Er beschloss, im Norden Altays Pferde für die Rebellen zu organisieren. Als Vater einmal unterwegs zur Jagd war, bot sich ihm ein trauriger Anblick. Zwei chinesische Soldaten trieben 30 Kinder mongolischer, kasachischer und uigurischer Herkunft auf die Berge zu. Es waren Waisen, deren Eltern während der Aufstände umgekommen waren, die Jüngsten unter ihnen vier, die Ältesten elf Jahre alt. Am Fuße des Berges sollten sie exekutiert werden.

Hinrichtungen dieser Art waren zu jenen Zeiten alltäglich. Es gab keine stabile Regierung. Angehörige der Kuomintang, der Kommunistischen Partei, teilweise auch sowjetische Verbände sowie unsere eigenen Provinztruppen zogen marodierend durchs Land. Eine Gruppe aufsässiger Kasachen raubte aus den Dörfern Essen und Tiere. Die Soldaten der Volkspartei wiederum machten die einheimische Bevölkerung für ihre Verluste verantwortlich und löschten ganze Familien aus. Entweder man wurde Opfer oder man hat andere dazu gemacht.

Es war durchaus üblich, Gefangene freizukaufen, deshalb hielt Vater den Soldaten zwei Goldstücke hin. Nach einigem Hin und Her schaffte er es, die Kinder auszulösen. Mutter hat sich sehr gefreut, aber sie hat auch viele Tränen vergossen, als sie die armseligen Gestalten vor sich sah. Sie setzte sich mit den Nachbarsfrauen zur Beratung zusammen. Mein Onkel adoptierte zwei kasachische Kinder, die anderen Freunde und Nachbarn nahmen auch jeweils ein oder zwei der Waisen auf. In unserem Haus blieben ein sechsjähriger Kasachenjunge und ein elfjähriges Mongolenmädchen, das jedoch bald zu Verwandten im Ort zog und uns nicht mehr oft besuchte. Wenn ich von meinen sieben Geschwistern spreche, zähle ich sie deshalb nicht mit. Jumak aber, mein großer Bruder, ist genauso aufgewachsen wie wir.

Geburt unter Goldgräbern

Ich bin am 15. November 1946 unter Goldsuchern im Gebirge des Altay zur Welt gekommen. Meine Mutter muss etwa 30 Jahre alt gewesen sein. Vater hatte eine Gruppe von 20 Mann zusammengestellt, denn Altay war bekannt für seinen Reichtum an Gold. Das felsige Hochland, auf dem der Trupp unterwegs war, nannten wir auch »Altunluk« (Goldberg). Vater hatte seinen Helfern versprochen, alles, was sie an Gold finden würden, mit ihnen zu teilen. Falls sie leer ausgingen, würde er ihnen ein Gehalt aus eigener Tasche zahlen. Mutter, mit mir im fünften Monat schwanger, und eine Kasachin begleiteten als einzige Frauen die Goldsucher. Sie kochten und wuschen für sie. Meine Geschwister waren bei einem Onkel in der Stadt in guten Händen. Zwei Monate lang hackten und hämmerten, siebten und schwitzen die Männer, aber sie fanden kein Gold. Die Stimmung wurde von Tag zu Tag gereizter.

Der Herbst rückte näher. Es kann mit Minustemperaturen bis zu 30 Grad Celsius unerträglich kalt werden im Altay. Entmutigt entschloss sich Vater zur Rückkehr. Vielleicht war es der Kummer oder die Strapazen des Rückwegs, auf jeden Fall setzten kurz darauf bei Mutter die ersten Wehen ein. Es war noch zu früh für eine Geburt, denn Mutter war erst im siebten Monat. Unter diesen Umständen, das war allen Beteiligten klar, hätte ein Neugeborenes keine Überlebenschance. Vater wollte eine Pause einlegen, obwohl der Lagerplatz, an dem sie Nahrungsmittel deponiert hatten und wo es frisches Wasser gab, nicht mehr weit von ihnen entfernt war. Murrend richteten die Männer die Zelte auf.

Ich hatte es eilig, das Licht der Welt zu erblicken. Kaum streckte sich Mutter auf ihrem Lager aus, war ich schon da. Klein, zart und dünn wie ein Wurm, aber mit der Stimme eines ausgewachsenen Raben. Die kasachische Frau band meinen Nabel ab und wickelte mich in ein Tuch. Ich überlebte, und alle betrachteten es als ein Wunder. Vater, ein tiefgläubiger Mensch, fiel auf die Knie und bedankte sich, mit Blick zum Himmel, für sein drittes Mädchen. »Danke, Allah, für dieses Geschenk!«

Auf die blutigen Laken, auf denen das Neugeborene zur Welt gekommen war, durfte unserer Tradition gemäß kein Strahl der Sonne fallen. Deshalb nahm Vater die Tücher und hob hinter dem Zelt, nahe an einer Felswand, ein Loch aus. Schaufel für Schaufel schleuderte er die Erde nach oben. Doch plötzlich hielt er mitten in der Bewegung inne. »Gold«, schrie er sich heiser, »ich habe Gold gefunden!« Nachdem Vater seinen Arbeitern ihren Anteil an diesem Fund ausbezahlt hatte, blieb ihm noch genug übrig, um davon für unsere Familie eine neue Existenz aufzubauen. Die Männer, die sich monatelang über Vater beschwert hatten, ließen ihn und seine Tochter nun hochleben. Zum Zeichen ihrer Dankbarkeit warf jeder von ihnen in der Moschee kleine Goldnuggets ins Wasserbecken.

Von diesem Augenblick an betrachteten meine Eltern mein Leben als Spende an das Volk: »Du gehörst nicht uns, du gehörst dem Volk.« Was das für mich im Einzelnen bedeuten sollte, würde ich noch erfahren.

Viele Russen, aber kein Chinese

Ich war ein Jahr alt, als die Kommunisten unter Mao im Sommer 1949 Xinjiang eroberten und anschließend den Einmarsch nach Tibet planten. Das Reich der Mitte hatte das »Große Spiel« für sich entschieden. Die riesige Nordwestregion war für die Chinesen ein weitgehend unbekanntes Gebiet, auch unsere Sprache, die der türkischen ähnelt, und unsere Kultur waren ihnen fremd.

Die muslimische Führung weigerte sich, diesen Machtwechsel anzuerkennen. Einen Monat vor der Kapitulation der Kuomintang folgten Kassimi und drei weitere Regierungsvertreter der »Republik Ostturkestan« einer Einladung zur Teilnahme an der Volksversammlung der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes in Peking. Kassimi wollte weiter auf einen unabhängigen, selbstbestimmten Staat bestehen. Ende August bestieg die Delegation das Flugzeug in Alma-Ata. Erst im Dezember gab die chinesische Regierung bekannt, dass die Maschine gegen einen Berg in der Mandschurei gerast sei und keiner der Insassen überlebt habe. Ob der Absturz ein Unfall oder Sabotage war, wurde nie geklärt – er kam den chinesischen Kommunisten in jedem Fall nicht ungelegen. Der Tod ihrer Führungsschicht versetzte den Aufständischen in Ily einen schweren Schlag, sie kapitulierten.

Nach der sogenannten friedvollen Befreiung übernahm zunächst General Wang Zhen die Oberhand in Xinjiang. Mit zu seinen ersten Maßnahmen zählte die »Säuberung« des Ily-Gebiets. Weit über tausend Menschen wurden verhaftet oder erschossen. Wang Zhens nächstes Augenmerk galt der Rekrutierung und Ausbildung örtlicher turkstämmiger Kader.

Unter dem wachsamen Auge unserer Mutter wuchsen meine Geschwister und ich in der etwa 50 000 Einwohner zählenden Kleinstadt Sarsumba heran. Wir waren Kinder und verstanden nicht viel von dem, was um uns herum vor sich ging. Für uns war das Leben im Altay wie ein himmlisches Geschenk. Unser Haus, mit großem Innenhof, befand sich mitten in der Stadt. Dahinter war ein Obstgarten mit vielen Bäumen. Davor hatte Vater nach und nach einen Imbiss, einen Friseursalon und eine Bäckerei aufgebaut. So etwas konnte man sonst in der Stadt nirgends finden. Besonders stolz war er aber auf sein türkisches Bad, ein Hamam, für rund 50 Personen. Insgesamt beschäftigte Vater 30 Angestellte.

In den folgenden Jahren wurde Mutter noch dreimal schwanger und gebar 1950 meine Schwester Arzigul, 1951 meinen Bruder Mehmet und 1954 meine Schwester Heljem. Ich verbrachte viel Zeit bei meinem Großvater mütterlicherseits, der bei uns wohnte. Er war sehr lebhaft, tanzte, sang und beherrschte viele Instrumente. Der alte Herr starb vor unserer Vertreibung aus Sarsumba. Jedes Mal, wenn wir sein Grab besuchten, streuten wir Korn auf die Erde. Pickten die Vögel das Getreide weg, würden die Sünden, die der Verstorbene auf Erden begangen hatte, getilgt. Vielleicht würde Allah ihm auch die Geschichte mit Großmutter verzeihen.

Unsere Landsleute hatten so etwas wie einen eigenen Islam entwickelt, geprägt durch unsere Traditionen, die sich über viele Jahrhunderte hinweg aus den verschiedensten Einflüssen heraus gebildet hatten. Denn entlang der Seidenstraße wurden nicht nur Handelswaren ausgetauscht – die Reisenden kamen auch mit unterschiedlichen Philosophien und Religionen in Berührung. Unsere Vorfahren bekannten sich so in der Vergangenheit zum Schamanismus, Buddhismus, Manichäismus oder Christentum. Erst im 10. Jahrhundert wandten sie sich allmählich dem Islam zu.

Die Frauen gingen nicht verschleiert. Die meisten banden sich nach der Hochzeit ein Kopftuch um oder rückten ihre bestickten Käppchen, die Doppas, auf der Frisur zurecht. Zupfte sich eine Frau die Augenbrauen oder schminkte sich, erkannten wir, dass sie bereits in festen Händen war.

Im Altay gab es einige schwerreiche Geschäftsleute, die mit dem Ausland Handel trieben, Goldgruben oder große Schafherden ihr Eigen nannten. Wir gehörten nicht zu dieser elitären Schicht. Das war unser Glück, denn die Kommunisten löschten bald darauf all diese »kapitalistischen Klassenfeinde« in einem blutigen Handstreich aus.

Jeden Tag brachten unsere Arbeiter weiterhin das Geld in drei kleinen Kisten ins Haus, und wir Kinder haben es gezählt. Brot, Eier oder Milch tauschten wir untereinander oder gaben sie einfach ohne Gegenleistung her. Das Altay-Gebiet war nicht sonderlich dicht besiedelt, und jeder fand hier sein Auskommen. Ende der 1940er-Jahre stellten die Uiguren in unserem bunten Völkergemisch noch drei Viertel der Bewohner Xinjiangs. Die größte Gruppe im Norden Altays jedoch waren die Kasachen, aber auch viele Russen hatten sich hier niedergelassen. In der Bezirkshauptstadt gab es eine russische Grundschule und ein russisches Konsulat.

Im Jahr 1950 unterzeichnete Mao in Moskau einen Beistandspakt mit Stalin. Xinjiang wurde im Austausch gegen Waffenlieferungen an China der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen. Vertraglich wurde die gemeinsame Nutzung der Bodenschätze zwischen Chinesen und Russen vereinbart. Fast alle Ingenieure vor Ort waren Russen. Wir respektierten sie, weil sie fortschrittlicher als wir waren und weil wir dachten, dass sie unser Volk unterstützen würden. Manche Landsleute meinten sogar, dass sie eine höhere Kultur als wir selbst hätten, und schickten ihre Kinder auf die russische Schule. Dabei hatte keines unter den Turkvölkern eine so hohe Kultur wie die Uiguren: Literatur, Malerei und Musik hatten bei uns immer eine bedeutsame Rolle gespielt, und gebildete Uiguren wirkten im Mittelalter als Gelehrte in ganz Mittelasien.

Wir hatten viele Freunde russischer Nationalität. Vater hat sogar mit unseren wolfsähnlichen Hunden, die er einigen Russen abgekauft hatte, russisch gesprochen. Als Kind habe ich ständig Russen gesehen, viele davon waren Nachfahren von Flüchtlingen, die sich während der Oktoberrevolution zu uns über die Grenze gerettet hatten. Aber keinen einzigen Chinesen hatte ich bislang zu Gesicht bekommen. Nur der Begriff »Chinese« war mir damals schon mehr als geläufig. Wenn wir unsere Eltern necken wollten, riefen wir ihnen zu: »Vorsicht, da kommt ein Chinese!« Für uns hatte das ungefähr die gleiche Bedeutung wie »ein Dämon«.

Nach der Theorie der Kommunistischen Partei sollten alle Menschen so einfach leben wie die große Mehrheit der Bevölkerung, die Bauern. Innerhalb der nächsten Jahre war General Wang Zhen hauptsächlich damit beschäftigt, Reiche, Intellektuelle und Oppositionelle zu vernichten. Jeder, der sich gegen seine Reformen aussprach, wurde an die Wand gestellt. 150 000 Landsleute flüchteten überstürzt nach Indien.

Im Februar 1951 hängten die Machthaber den kasachischen Freiheitskämpfer Osman Batur als Konterrevolutionär in Ürümqi. Hörte ich fortan, dass jemand getötet worden sei, dachte ich zuerst an Wang Zhen. Ich wusste nicht, wer sein Vorgesetzter war und dass dessen Name Mao Tse-tung lautete.

1956: Wir werden zum ersten Mal vertrieben

Als das 28. Bataillon der Ersten Feldarmee in den Altay verlegt wurde, war ich vier oder fünf Jahre alt. Ich spielte gerade mit einem Nachbarskind auf der Straße, da kam ein chinesischer Soldat auf uns zu. Der Mann sah asiatisch aus, hatte eine sehr platte Nase sowie Augen wie Schlitze und war kleiner als unsere Landsleute. Der Uniformierte hielt uns eine kleine Süßigkeit hin, aber wir liefen laut kreischend nach Hause. Das war meine erste Begegnung mit einem Chinesen. Im Innenhof eilte Mutter auf mich zu, sie brachte mich gleich zur Vernunft: »Du musst keine Angst haben, diese Menschen sind sehr nett.« Sie nahm mich an die Hand, begleitete mich nach draußen und machte mich dort mit einigen Soldaten bekannt. Die chinesischen Pioniere waren technisch begabt und dazu angehalten, die einheimische Bevölkerung ihre Fähigkeiten zu lehren, weshalb sie allgemein willkommen geheißen wurden. Fortan haben meine Eltern uns auch nicht mehr erzählt, dass ungehorsame Kinder von den Chinesen aufgefressen würden.

Mao hatte bereits im März 1950 ein Programm zur Masseneinwanderung von Han-Chinesen nach Xinjiang befohlen, um dort den Sozialismus auszubauen, indem der uigurischen Bevölkerung »gegenseitige Hilfe« von der chinesischen »Bruder-Nation« gewährt wurde. Den Anstoß zur gezielten Einwanderungspolitik hatte Stalin ihm gegeben. Doch der erste Zustrom war gering, im Gegensatz zu dem, was noch folgen sollte. Im Jahr 1949 lebten noch weniger als 300 000 Chinesen in Xinjiang, heute sind es bereits sieben oder acht Millionen. Verlässliche Zahlen existieren leider nicht.

Die kommunistischen Apparatschicks »reformierten« die gesamte muslimische Elite. Grundbesitzer, Geldverleiher oder Geistlichkeit unterteilten sie in »Schafe« und »Ziegen«. »Schafe« galten zum Teil als Klassenfeinde aus der Mittelschicht, die sich jedoch freikaufen konnten, oder sie gehörten zu den »Freunden«, zum unbefleckten Proletariat. An der Spitze der »Ziegen« standen Grundbesitzer sowie erbberechtigte muslimische Adelige. Diese wurden automatisch liquidiert. Als Nächstes folgten Gutseigentümer oder kleinere Grundbesitzer, die ihres Eigentums beraubt wurden, aber wenigstens am Leben blieben, falls ihr Besitz eine bestimmte Größe nicht überstieg. Zu Letzteren zählte Vater.

Formal erklärte Mao Tse-tung 1955 unsere Heimat zur »Autonomen Region Xinjiang-Uigur« der Volksrepublik China und parlierte vom Selbstbestimmungsrecht der Nationalitäten bis hin zum Recht der Sezession aus dem chinesischen Staatsverband. Faktisch jedoch hatten wir in unserem Land nichts mehr zu sagen. In dem neuen kommunistischen System kontrollierte jeder jeden. Die Menschen wurden dazu ermutigt, andere zu beschuldigen. Im Juli 1955 folgte die Kollektivierung der Landwirtschaft. Die gewaltsame Verstaatlichung von Industrie und Handel, die bis dahin in privater Hand gewesen waren, ging damit einher.

Aufgrund seiner Größe sollte Xinjiang einen wesentlichen Beitrag zur Getreideversorgung Chinas liefern. Zu dem Zweck baute man Militärfarmen auf, »bingtuang« oder auch »Produktions- und Aufbau-Corps« genannt. Alles, was die uigurischen Bauern und Hirten seit Jahrhunderten im Umgang mit der empfindlichen Oasennatur gelernt hatten, wurde von heute auf morgen als rückständig oder reaktionär betrachtet. Die gewaltsame Veränderung unserer Kulturlandschaft durch die chinesischen Militärfarmen sollte unser Land noch an den Abgrund führen.

Die kommunistische Regierung wickelte die Bevölkerung mit falschen Versprechungen ein. Ihr Ziel sei die gerechte Verteilung der Grundnahrungsmittel, denn niemand dürfe hungern, während andere Nahrungsmittel horteten. Wenig später verjagten uns 20 Soldaten des 28. Bataillons an einem Regentag aus unserem Haus. Unsere winselnden Hunde zogen sie an ihren Halsbändern mit sich fort. In dem Durcheinander brüllte einer der Männer meinen Vater an: »Wir haben dir einen Zeitpunkt gesetzt, aber du bist nicht weggezogen. Deshalb haben wir jetzt das Recht, dich rauszuwerfen.«

Ich erinnere mich, wie sie Kleider und Möbel zu den Fenstern hinaus auf die Straße warfen. Ratlos setzten wir uns auf unsere Koffer. Wegen des starken Regens hatte Mutter mir eine Decke über den Kopf gelegt. Meine zwei Jahre jüngere Schwester Arzigul klammerte sich schluchzend an meine Hose. Sie sah aus wie ich, nur kleiner und noch zarter. Ich war damals acht Jahre alt. Mutter hielt die zweijährige Heljem in ihren Armen, um sie zu beruhigen. Meine älteren Geschwister Jumak, Zohre und Hejer nahmen den fünfjährigen Mehmet zu sich und wollten weinend wissen, was das für Männer seien, die uns unser Haus weggenommen hätten. Mutter erklärte ihnen, dass das die gleichen Chinesen seien, die uns damals auf der Straße Süßigkeiten angeboten hätten.

Die erste Nacht verbrachten wir im Freien, am Morgen danach nahmen uns Nachbarn auf. All das hat mich als Kind nicht so sehr verstört. Doch bei unserer zweiten Vertreibung empfand ich den Schmerz dafür doppelt stark. Hätte die chinesische Regierung damals ihre Versprechen des Selbstbestimmungsrechts und des friedlichen Zusammenlebens gehalten, hätte ich meine Geschichte niemals erzählen müssen.

Neuanfang in einem Bergdorf

Etwa drei Kilometer außerhalb von Sarsumba errichtete Vater mithilfe von Freunden in einem Dorf am Fuß des Gebirges ein einstöckiges Holzhaus mit fünf Zimmern für uns. Der Ort zählte vielleicht hundert Einwohner. Er hieß »Dum-bazar«, das bedeutet so viel wie »Handel auf dem Berg«. Während Vater im Hof ein Badezimmer mit Ofen und Wasserboiler für uns zusammennagelte, redete er uns gut zu: »Wir werden nicht sterben. Wir werden wieder glücklich sein …« Geschäftig pflanzte Mutter Blumen und behängte innen die Wände mit gewebten Teppichen. Unterdessen riss in der Stadt eine chinesische Truppe all unsere Läden ab und errichtete auf dem Grundstück ein Lebensmittelgeschäft für Soldaten.

Neben unserem neuen Haus legten Vater und Jumak ein großes Feld an, auf dem wir Kartoffeln, Kohl, Zwiebeln und anderes Gemüse anbauten. Händler nahmen uns unser Gemüse ab, und Vater musste in der Stadt jeden Tag acht Stunden lang bei einem Friseur Haare schneiden, putzen und das Schmutzwasser wegkippen. Bekannte, die auf unser Gemüse angewiesen waren, halfen bei der Feldarbeit mit. Unser Lebensstandard war besser als der anderer Einwohner.

Jumak und Mehmet teilten sich ein Zimmer, die Eltern nahmen unsere Jüngste mit in ihr Schlafzimmer. Heljem und meinen Bruder Mehmet mochte ich am liebsten. Er war allerdings sehr temperamentvoll und hielt Mutter ständig auf Trab. Ich schlief mit Arzigul zusammen, die sich im Gegensatz zu mir nicht sonderlich für die Hausarbeit interessierte. Die größeren Schwestern, Zohre und Hejer, nahmen Arzigul jedes Mal vor mir in Schutz, wenn ich sie rügte, weil sie wieder einmal ihre Kleider achtlos auf den Boden geworfen hatte.

Die Stoffe um die Bettrahmen und auch die Kopfkissen bestickten Mutter und wir Mädchen liebevoll mit bunten Blumen, Trauben, Vögeln und Blättern. Am liebsten übernachteten Arzigul und ich bei unserer großen Schwester. Zwischen unseren Zimmern war eine offene Wand, dort bullerte ein Kachelofen. Selbst wenn im Winter draußen klirrende Minustemperaturen herrschten, hielt er das Haus angenehm warm. Ich passte immer gut auf, dass das Feuer nicht ausging.

In einem der kleineren Zimmer waren unsere fünf Hunde untergebracht, die uns die Soldaten gelassen hatten. Der Klügste unter ihnen war Shark. Wir hielten die Meute als Wach- oder Jagdhunde, aber auch deshalb, weil wir sie mochten.

Hatten wir Besuch, nahm Vater meist nah an der Tür Platz, immer bereit, Hilfe anzubieten. Mutter hielt den Gästen handbestickte runde Kissen als Sitzunterlage für die Mauervorsprünge rund um die Wände hin. Mit dem Finger vor dem Mund lobte ich im Nebenzimmer Shark: »Du warst sehr höflich, du hast die Besucher nicht gestört.«

Hinterm Hof meckerten Ziegen, miauten Katzen, schnatterten Gänse, Enten und Hühner. Meine Eltern betrachteten Tiere, Pflanzen, ja die ganze Natur mit all ihren Erscheinungen als Gottes Schöpfung, der eine Seele wie uns Menschen innewohnt. Wie jeder Stein und jedes Tier war auch der Mensch den Gesetzen der Natur unterworfen.

Was unseren Eltern am Herzen lag

Mutter kontrollierte Vaters Kleidung, bevor er das Haus verließ, aber Vater kümmerte sich nicht sonderlich um sein Äußeres. Kehrte er bei Sonnenuntergang müde nach Hause zurück, hatte Mutter längst das Abendessen angerichtet und die Decken auf dem Mauervorsprung glatt gezogen, damit Vater uns nach dem Essen, wie gewohnt, seine Geschichten erzählen konnte.

Es kam gelegentlich vor, dass Vater nach einem langen Arbeitstag bissig auf meine Mutter reagierte, doch diese antwortete dann nur mit den Worten: »Kadir Khan, unsere Kinder sind hier. Wenn Sie sich über mich geärgert haben, können Sie mir das bitte auch alleine sagen.« Vater zeigte sich daraufhin meistens einverstanden. »Gut, das mache ich, Tatachahun.« Mutter siezte Vater, da sie das für vornehm hielt, Vater aber duzte seine Frau.

Ruhe im Haus war oberstes Gebot! Vor Besuchern war es sogar verboten, ein Huhn im Hof mit einem energischen »Geh weg!« zu verscheuchen. Der Gast war König. Mutter lehrte uns Mädchen, aufrecht dazusitzen und nur wenig zu gestikulieren. In Anwesenheit anderer Männer legte eine uigurische Frau die Hände in den Schoß und schlug die Augen nieder.

Von Charakter und Aussehen kam ich mehr nach Vater. Klein, leicht bronzefarbener Teint, große samtbraune Augen und eine breite, nach unten gebogene Nase. Vater, der alte Soldat, zerbrach sich dauernd den Kopf über die Zukunft unseres Landes. Und er träumte von großen Umwälzungen. Mutter tat das nicht. Sie liebte vor allem drei Dinge: die Hausarbeit, die Musik und ihre Blumen im Garten. Einmal in der Woche versammelte sie Frauen aus dem Dorf um sich, dann musizierten und tanzten sie miteinander.

Von Mutter aber habe ich etwas anderes übernommen: ihre Aufopferungsgabe und die Liebe zu uns Kindern. Sie hat niemals geklagt, dass ihr etwas zu viel sei. Bildung, Höflichkeit und Achtung vor jedermann, darauf wurde bei uns zu Hause größter Wert gelegt. Kritiklos akzeptierten wir, was uns von den Eltern angeordnet wurde. Derjenige, der mehr zu essen hatte, gab den Bedürftigeren davon etwas ab. Unsere Regeln waren dieselben, die auch in den Zehn Geboten der Bibel stehen. Moralisch stützte mich die Religion, die Vater uns lehrte. Mit sechs Jahren hatte ich angefangen, die Suren aus dem Koran auswendig zu lernen. Durch meinen Glauben fühlte ich mich von einer sehr starken, außergewöhnlichen Kraft geführt und geborgen. Vielleicht war das ein Grund, warum die chinesische Regierung als Erstes daranging, uns von unserer Religion zu lösen.

Meine Eltern haben meine Geschwister mir gegenüber bevorzugt, und häufig lobte meine Mutter meine Schwestern ob ihrer Höflichkeit und ihrer eleganten Art, sich zu kleiden oder sich zu bewegen. Ich hatte nicht dasselbe Interesse wie meine Schwestern, mich so herauszuputzen, und ich hatte auch keine Zeit dafür. Ich war zu sehr mit der Hausarbeit beschäftigt, was in den Augen meiner Eltern auch meine Aufgabe war.

Vater und Mutter hatten es aber auch nicht immer leicht mit mir, denn ich habe ihnen viele Sorgen bereitet. Es gab oft Ärger mit der Lehrerin, weil ich alles aussprach, was ich dachte. Aus all diesen Gründen haben meine Eltern meinen Rang innerhalb der Familie niemals höher gestuft. Ich stand immer ganz unten. Doch umso heftiger strengte ich mich an, ihre Liebe zu erlangen.

»Du gehörst nicht uns, du gehörst dem Volk!«

»Du gehörst nicht uns, du gehörst dem Volk!« Unter dieser Weisung meiner Eltern bin ich herangewachsen. Mutter rügte mich jedes Mal, wenn ich mit fliegenden schwarzen Zöpfen über den Hof flitzte: »Wenn du anderen Leuten nicht hilfst, wird unsere ganze Familie ein großes Unglück erleben.« Erkrankte einer unserer Angehörigen, bedachten mich meine Geschwister mit einem vorwurfsvollen Blick. Und ich fühlte mich schuldig. War ich nicht fleißig und hilfsbereit genug gewesen?

Brachte ich unser Vieh zur Weide, nahm ich die Tiere der anderen Familien mit. Kehrte ich abends nach Hause zurück, pflückte ich Blumen und verteilte die Sträuße an unsere Nachbarn. Für die Alten sammelte ich Holz. Jedes Mal, wenn ich solch gute Taten vollbracht hatte, reckte ich vor der Haustür das Kinn in den Wind und lachte in mich hinein.

Stürzte ich im Winter beim Schlittschuhlaufen aufs Eis, durchzuckte es mich: Hatte ich vielleicht etwas übersehen? Mit dieser Art zu denken bin ich groß geworden. Wenn ich mich heute daran zurückerinnere, wird mir bewusst, unter welch großer Anspannung ich als Kind gestanden habe. Aber letztlich hat mir das geholfen, meinen Charakter zu formen. Ich war überzeugt, jemand zu sein, der anderen die Arbeit abnehmen müsse.

Vater hatte mir einen Esel, 20 Teller und mehrere riesige Tischtücher für große Festessen gekauft. Ich sollte lernen, diese Dinge nicht für mich, sondern für andere zu verwenden. Feierte jemand eine Hochzeit, lieh ich ihm meine Teller und Tücher. Brauchte jemand einen Esel für die Arbeit, zog ich das Tier am Strick dorthin. Wohlwollend beobachtete Vater das.

Ich habe die Gewohnheit beibehalten, andere an meinem persönlichen Besitz teilhaben zu lassen. Ein Großteil dessen, was ich in meinem Leben verdient habe, gehörte immer dem Volk. Die Worte meiner Eltern ließen sich nicht abstreifen, sie hafteten an mir wie ein Mal. Bei meiner Geburt herrschte Streit unter den Goldsuchern. Bis heute hat sich in meinem Leben nichts geändert. Ich lebe in einer von Kampf und Auseinandersetzungen geprägten Umgebung. Und immer noch fühle ich mich dabei für die Situation meines Volkes verantwortlich.

Die Geschichte über meine Geburt habe ich als Kind nie gerne gehört, denn dadurch fühlte ich mich wie eine Außenseiterin, nicht als richtiges Mitglied der Familie. Aber als ich heranwuchs, erzählte Mutter sie mir, wenn sie mich ermutigen wollte. Und so habe ich allmählich auch ihren positiven Sinn erfasst.

Die Erzählungen meines Vaters

Nach dem Abendessen begann die Zeit der Märchen und der Abenteuer. Wir Kinder machten es uns um den niedrigen Tisch am Boden gemütlich. Mit tiefer Stimme begann Vater zu erzählen. Ein echter Uigure, das lehrten uns seine Worte, war ehrenvoll und furchtlos. Es war, als kehrte Vater jedes Mal selbst an die Orte zurück, von denen er uns berichtete. »Die Uiguren führen einen alten Kampf«, begann er stets, die Hand ausgestreckt wie einen Zauberstab, der uns direkt an die Kriegsschauplätze zu versetzen schien. Jede Nacht habe man Schüsse und gellende Schreie gehört. Manch einer hätte auf Nägeln stehen müssen, bevor man ihm den Kopf abschlug. Gebannt saßen wir da und wagten kaum zu atmen.

»Warum aber haben wir unser Land immer wieder verloren?«, fragte Jumak. Vater nickte ihm zu. »Der Grund dafür ist, dass die starken Nationen der Welt uns gezwungen haben, in der jetzigen Situation zu leben. Um uns unsere Bodenschätze zu nehmen, werden uns die herrschenden Völker auch in Zukunft in Bedrängnis bringen.« Und er sprach weiter, als ob wir gar nicht mehr anwesend wären. »Wir haben den Sieg zweimal vor Augen gehabt. Hunderttausende von uns sind nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Wir waren glücklich zu kämpfen oder zu sterben, weil wir glaubten, dass das Land bald unser wäre. Und mithilfe dieses Glaubens gelang es nur wenigen Männern, gegen eine gewaltige Übermacht zu gewinnen. Jeder Mann, der eine Waffe tragen konnte, schloss sich uns an. Denn wir wussten, welch wichtige Aufgabe wir zu erfüllen hatten. Nur ahnten wir nicht, nach welchen Spielregeln um uns herum gespielt wurde.«

Nach dieser letzten Niederlage marterte Vater immer die gleiche Frage, auf die er keine rechte Antwort fand. Warum hatten die Russen uns verkauft? Warum hatten sie unseren Sieg blockiert? Unser Familienoberhaupt wirkte sehr zerknirscht, und schließlich fing Vater an, laut über die Russen zu schimpfen. Er versank in Grübeleien und murmelte wirre Dinge vor sich hin, bis ihn schließlich ein Weinkrampf schüttelte. Uigurische Männer verbargen in der Regel ihre Gefühle, aber mein Vater war ein besonderer Mann, denn er umarmte uns und redete mit uns. Für mich war er der Inbegriff der Liebe.

Jedes Mal, wenn uns Vater etwas über all diese Massenmorde erzählte, durchfuhr mich ein großes Entsetzen. Ich habe viele Albträume durchlebt als Kind. Die Dunkelheit brachte diese erbarmungslosen Mörder zurück, bis ich mich schwitzend unter der Decke verkroch. Von meinen Eltern hörte ich nur den Namen Ostturkestan, später erst haben wir uns an den chinesischen Namen Xinjiang gewöhnt.

Nach dem Abendessen gesellte sich Mutter nie zu uns. Sie war immer sehr beschäftigt. In ihren wenigen freien Minuten aber spielte sie am liebsten auf ihrer zweisaitigen langhalsigen Dutar und sang dazu. An Politik zeigte sie kein sonderliches Interesse.

Glückliche Tage

Die glücklichen Tage meiner Kindheit waren kurz, aber unbeschreiblich schön. »Komm mit zur Jagd, Rebiya!« Mein großer Bruder Jumak zog mich hinter sich auf den Sattel. Shark stürmte freudig voraus, wir setzten hinterher, mitten durch die nebelverhangenen sattgrünen Täler. Der Sommer war die Traumzeit für uns Kinder. Mit mehreren Familien zogen wir für ein paar Tage ins Grüne. Wir hatten unsere Instrumente dabei, die Männer hielten Jagdfalken auf den Armen, und ein paar blökende Schafe begleiteten uns. Wie jedes uigurische Kind verstand ich es zu tanzen wie eine kleine Göttin. Egal, ob wir uns freuten oder trauerten – ohne Musik konnten wir Uiguren nicht leben.

Wollten wir Abstand von unserer Gemeinschaft bekommen, ritten wir hinaus zu den Kasachen in die weite Steppe. Das Gesicht im leichten Wind, berauscht von Düften, Geräuschen und Sonnenschein, lagen etwa 30 Kilometer Wegstrecke vor uns. Wir brauchten nicht darüber nachzudenken, ob wir jemanden von den Kasachen da draußen kannten oder nicht, weil das keinen Unterschied machte, denn sie nahmen uns immer herzlich auf. Die Kasachen waren wie Geschwister für uns. Sie verstanden unsere Sprache, wir die ihre. Wir bereiteten unser Essen, sie das ihre vor. Dann tauschten wir die Gerichte aus. Ihr Lammfleisch zerschmolz fast auf der Zunge, so zart war es. Während unsere Verwandten Schnaps tranken, hielten wir uns an ihre Stutenmilch. Süß und warm durchflutete sie den Körper.

Mit Einzug des Winters veränderte sich das Leben. Tief und fest versteckt unter unseren wärmenden Fellmützen, bretterten wir auf Skiern die Hänge herunter oder ließen uns im Pferdeschlitten durch die verschneite Landschaft ziehen. Ach, ich wünsche mir so oft diese kurzen, glücklichen Tage meiner Kindheit zurück.

Der Schein trügt

Den chinesischen Besatzern war klar, dass sie einen schlechten Ruf bei unserem Volk genossen. Sie gaben sich deshalb zunächst alle Mühe, das zu ändern. An einem klaren Sommertag sah ich acht Chinesen auf unserem Feld hacken und Wassereimer schleppen. In unserem Innenhof haben sie sogar das Laub zusammengekehrt. Bei den Nachbarn gegenüber versorgten zwei von ihnen in weißen Arztkitteln die kranken Kinder. Auf der Straße stellten sie Stühle bereit, forderten die älteren Herren zum Niedersitzen auf und schnitten ihnen die Haare. Uiguren und Kasachen, die vorher jeden Kontakt mit den Chinesen vermieden hatten, stellten daraufhin ebenfalls Stühle, Tische und Teetassen vor ihre Höfe.

Die Gastfreundlichkeit war uns heilig. Wenn jemand kostenlos für uns arbeitete, war es für uns undenkbar, dafür keine Gegenleistung zu erbringen. Hie und da wurden sogar zarte Freundschaftsbande geknüpft. Doch als wir erkannten, was die chinesische Regierung wirklich mit unserem Land vorhatte, gingen unsere Landsleute sofort wieder auf Distanz.

Die Eltern gestatteten ihren Kindern nicht, mit chinesischen Gleichaltrigen zu spielen, obwohl wir uns das gewünscht hatten. Die chinesischen Eltern wollten das allerdings genauso wenig. Vater erwähnte uns gegenüber sehr häufig: »Wir können eine Weile mit diesen Besuchern leben, aber es wird die Zeit kommen, in der sie uns wieder verlassen müssen.« Da sich die ausländischen Soldaten so vorbildlich zeigten, habe auch ich ihnen gerne meine Hilfe angeboten, und meine Schwestern und ich brachten ihnen Wasser, wenn sie durch unsere Gegend streiften. Sie sahen in ihren Uniformen auch sehr schmuck aus.

Marschierte eine Truppeneinheit durch unseren Ort, ließ der Dorfvorsteher uns Kinder immer in einer Reihe aufstellen und befahl uns, die herannahenden Soldaten klatschend zu begrüßen. Der Einzige aber, der es wagte, sich lautstark über die Fremden zu empören, war unser Hund Shark. Sobald er einen Chinesen sah, fing er laut an zu kläffen. Das hatte ihm niemand beigebracht. Knurrte Shark mal einen Landsmann an, riefen wir ihn zur Ruhe. Nahte jedoch ein Chinese, dann half nur noch die Kette.

Die Beziehung zwischen Chinesen und Uiguren kühlte schlagartig ab, nachdem im Altay erneut mehrere tausend Landsleute verhaftet und getötet worden waren. Weiterhin aber plärrte es durch die Lautsprecher, die mittlerweile an jeder Straßenecke hingen, dass die einheimische Bevölkerung und Chinesen Freunde seien und ewig miteinander in Eintracht und Harmonie leben sollten …

Die gewünschte Freundschaft ist niemals zustande gekommen. Die Regierenden schienen der Ansicht zu sein, dass sie nur dann in Ruhe leben könnten, wenn alle Einheimischen entweder vertrieben oder liquidiert worden seien.

Eines Nachts warnten sich Vater und seine Freunde gegenseitig in unserem Gäste- und Speisezimmer: »Wir müssen aufpassen, sonst bringen sie auch uns um.« Einer unserer Nachbarn senkte die Stimme: »Überall findet man Geheimdienstmitarbeiter der Regierung.« Ein paar Atemzüge lang lauschten sie nach draußen. »Wir müssen genau abwägen, mit wem wir sprechen. Am besten reden wir auf der Straße gar nicht mehr über solche Themen.«

Ich werde nie vergessen, wie Vater uns in dieser Nacht ermahnte, leise zu sein und ins andere Zimmer hinüberzugehen. »Ihr dürft nicht vor die Tür und nicht laut sprechen.« Arzigul lehnte ihren Kopf an meine Schulter, Mehmet und Heljem schliefen bereits. Zohre atmete leise neben Hejer, die unserer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Wir horchten angespannt, aber tiefe Stille herrschte im ganzen Haus. Jeden Moment könnte die Türe aufspringen, jeden Moment könnten wir wieder draußen im strömenden Regen sitzen. Vater legte mir eindringlich nahe, dass ich das, was wir zu Hause hörten, niemals auf der Straße weitererzählen dürfe. Aber er verheimlichte solche Gespräche nicht vor uns.