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Man könne dieses Buch von Dorothee Sölle nicht aus der Hand legen, ohne von der Unabdingbarkeit der Aussage berührt zu sein - nicht ohne persönliche Betroffenheit, schrieb Liselotte Funde in einer Rezension der "Zeit", als das Buch 1975 gerade neu erschienen war. Die Jahrzehnte, die seitdem verstrichen sind, haben die Gedanken von Dorothee Sölle (1929-2003) nur noch aktueller werden lassen: Die "Reise" als altes Bild für die Erfahrungen der Seele auf dem Weg zu sich selbst, die aber nicht als Reise weg von der Welt und der Verantwortung in ihr verstanden werden sollte.
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Seitenzahl: 208
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Dorothee Sölle (1929-2003), eine bedeutende Theologin und Sprachwissenschaftlerin mit besonderem Augenmerk für feministische und politische Theologie, die Theologie der Befreiung und für Mystik, deren Leben und Arbeit sich aber jeder vorschnellen Zuschreibung und Einordnung entzieht: »Sie konnte weder von den Frommen noch von den Politischen, weder von den Konservativen noch von den Aufklärern ganz eingefangen werden. Sie erlaubte sich, die jeweils andere zu sein – den Frommen die Politische, den Politischen die Fromme, den Bischöfen die Kirchenstörerin und den Entkirchlichten die Kirchenliebende« (Fulbert Steffensky).
Entnommen der Internetseite: www.dorothee-soelle.de
Statt eines Geleitwortes
Die Reise
Der Tod am Brot allein
Die Angst davor, Religion zu haben
»Erfahrung nannte man früher Seele«
Stationen der Hinreise
Der goldene Vogel,
Brüder Grimm
Elia am Horeb (1. Könige 19)
Die Übung der Meditation
Gott lassen um Gottes willen
Zum Problem der Identität
Brief eines Studenten
Geht aber der helle Morgenstern auf …
Heinrich Seuse
Wer bin ich?
Dietrich Bonhoeffer
Psalm 139
Der Wunsch, ganz zu sein
»Die Idee, dass Bücher ›auf den aktuellen Stand‹ gebracht werden müssen, ist eigenartig. […] Ideen sind kaum Maschinen, die zwangsläufig überholt werden müssen. Ideen, welche Kernfragen der Seele widerspiegeln, leiden ebenso wenig an Überalterung wie die Seele selbst.«
James Hillman
Aus: James Hillman, Die Suche nach Innen: Psychologie und Religion (1967), Einsiedeln 52016.
Die »Reise« ist ein altes Bild für die Erfahrungen der Seele auf dem Weg zu sich selbst. Die »Hinreise«, die in Meditation und Versenkung angetreten wird, ist die Hilfe der Religion auf dem Weg der Menschen zu ihrer Identität. Christlicher Glaube akzentuiert die »Rückreise« in die Welt und ihre Verantwortung. Aber er braucht eine tiefere Vergewisserung als die, die wir im Handeln erlangen: eben die »Hinreise«.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, er stirbt sogar am Brot allein, einen allgegenwärtigen, schrecklichen Tod, den Tod am Brot allein, den Tod der Verstümmelung, den Tod des Erstickens, den Tod aller Beziehungen. Den Tod, bei dem wir noch eine Weile weitervegetieren können, weil die Maschine noch läuft, den furchtbaren Tod der Beziehungslosigkeit: Wir atmen noch, konsumieren weiter, wir scheiden aus, wir erledigen, wir produzieren, wir reden noch vor uns hin und leben doch nicht. In dem Stück »Glückliche Tage« von Samuel Beckett sehen wir Winnie, eine Frau von 50 Jahren. Im ersten Akt ist sie bis zur Taille im Sand vergraben, aber sie redet noch, sie putzt sich die Zähne, sie kramt in ihrer Tasche, sie bedauert ihren Mann. Im zweiten Akt ist sie bis zum Hals vergraben, sie kann den Kopf nicht mehr bewegen. Es gibt keine Kommunikation, aber das Gerede, das sich selber bestätigt und sich selber ernst nimmt, fließt weiter … Das ist eine Art Tod, so sieht die Hölle aus: Im Sand vergraben, unfähig, die eigene Lage zu ändern, alleingelassen, aber ohne Schmerzen, glückliche Tage, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, das ist die Hölle. Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren … das ist der Tod am Brot allein.
Alleinsein und dann alleingelassen werden wollen; keine Freunde haben und dann den Menschen misstrauen und sie verachten; die anderen vergessen und dann vergessen werden; für niemanden da sein und von niemandem gebraucht werden; um niemanden Angst haben und nicht wollen, dass einer sich Sorgen um einen macht; nicht mehr lachen und nicht mehr angelacht werden; nicht mehr weinen und nicht mehr beweint werden: der schreckliche Tod am Brot allein.
Mein Nachbar, ein älterer kinderloser Herr, der seine Frau vor einigen Wochen verloren hatte, rief mich heraus, um mir zu zeigen, dass die Kinder ihre Fahrräder an sein frisch verputztes Haus gelehnt haben. »Sehen Sie den Kratzer«, sagte er, »sehen Sie nur, wo doch das Eigentum das einzige ist, was wir noch haben.« Der Mensch stirbt am Brot allein. Mein Nachbar hat gearbeitet für das Haus, er bewohnte es, er vermietete es, er renovierte es, er beschützte es, das Eigentum war »doch das einzige, was wir haben«, und ich sah und hörte, dass er tot war; der furchtbare Tod, kein Verhältnis zu haben und in keiner Beziehung mehr zu stehen.
Das ist der Tod, von dem die Bibel spricht; der Mensch, für den die anderen nicht Reichtum bedeuten, Herausforderung, Glück, sondern Angst, Bedrohung, Konkurrenz, der Mensch, der von Brot allein lebt und daran stirbt, am Brot allein, von dem man nicht leben kann. Das ist der Tod, von dem die Bibel spricht und vor dem sie Angst hat und Angst macht, nicht der Exitus, an den wir meistens denken, sondern der Tod, den ein sinnloses und leeres Leben bedeutet, der Tod im Beziehungslos-Sein, in der Angst, in der Sprachlosigkeit, in der Verlassenheit. »Unter den Toten muss ich wohnen«, so klagt der Verlassene im Psalm, er sieht sich selber als tot an, in die Grube gelegt, im Finsteren wohnend, im Unglück, ohne Freunde. »Schon zähle ich zu denen, die zur Grube fuhren, ich bin geworden ein kraftloser Mann. Unter den Toten muss ich wohnen, Erschlagenen gleich, die im Grabe liegen, deren du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hilfe geschieden sind. Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in Finsternisse, in Meerestiefen. Meine Freunde hast du mir entfremdet, hast mich ihnen zum Abscheu gemacht. Ich bin gefangen und kann nicht heraus, mein Auge verschmachtet vor Elend« (Psalm 88,5-10).
Der Schmerz macht uns einsam, tötet uns ab, zerstört die Kommunikation, von der wir leben. Wie der Psalmist die Schmerzen, die Krankheit, die Niederlage erfuhr, so erleben wir den Tod am Brot allein. Das ist der Tod, von dem die Bibel spricht, der furchtbare Tod mitten im Leben, der Leerlauf, die Langeweile, das Funktionieren, in dem das Leben ein Dahinleben wird und der Mensch zu einem arbeitenden Tier verkommt. Das ist der Tod, von dem die Bibel spricht: Der verlorene Sohn lebt allein in der Fremde, er hütet die Schweine eines anderen, er arbeitet für einen Hungerlohn, er lebt fürs Brot allein und er lebt vom Brot allein. Darum sagt sein Vater von ihm, er war tot. Er lebte ohne Beziehungen, er konnte mit niemandem sprechen, seine Arbeitskraft wurde benutzt, und so vegetierte er dahin, ohne alle Hoffnung auf eine Veränderung seines Zustandes. Das ist kein Leben, sagt die Bibel, das kann man nicht Leben nennen, diesen Zustand des Weiterfunktionierens. Der verlorene Sohn atmet und arbeitet noch, aber Leben kann man das nicht nennen, diese Existenz bei den Schweinen; Leben wäre etwas anderes, dies ist hier Totsein mitten im Leben. So urteilt der Vater in der Geschichte, so urteilt Jesus, so wollen wir auch urteilen lernen. »Survivre n’est pas vivre«, Überleben ist nicht Leben, das schrieben die Studenten im Mai ’68 an die Mauern in Paris. Weitermachen, überleben, sich durchschlagen, das ist kein Leben. Das ist der Tod, der uns bedroht.
»Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen«, da brauchen wir nicht an den Krebs zu denken und an den Straßenverkehr, da sollen wir uns nicht in ein Vergänglichkeitsbewusstsein einüben, das eine heidnische, ästhetische Sache bleibt. Der Tod, der uns wirklich bedroht, der uns mitten im Leben umfängt, das ist der Tod der Beziehungslosigkeit. Nicht das Abschiednehmen von einer Stufe des Lebens fällt uns schwer; für viele wird es überhaupt unmöglich, den Zustand zu erreichen, in dem Wörter wie Abschied und Schmerz noch Sinn haben. Die Beziehungslosigkeit als das alles beherrschende Totsein lässt den einzelnen Schmerz, der bitter und süß schmeckt, gar nicht erst aufkommen. Das ist die Hölle, die uns verschlingt, mitten im Leben, mitten im Produktionsprozess. Der Tod ist der Sünde Sold, das heißt die Konsequenz des falschen Lebens, der Tod der Beziehungslosigkeit und der Angst voreinander, der Tod an einem Leben, das nur noch Überleben war.
Am Brot allein sterben wir, weil wir fürs Brot allein leben. Dieser Tod ist nicht natürlich, sondern gewaltsam, er tut den Lebenden Gewalt an. Ein angeordneter Tod, befohlen von der strukturellen Gewalt, unter der wir leben, und willig übernommen von unserer eigenen Sucht, lieber tot zu sein und zu töten als uns den Gefahren des Lebendigseins auszusetzen. Diese Gefahren sind außerordentlich: wer lebendig ist, wer nicht im Sand eingegraben vor sich hinredet, wer sich noch bewegt, wer berührt wird und sich berühren lässt, der läuft Gefahr, verrückt zu werden in einer Gesellschaft, die fürs Brot allein lebt und alles dem Profit unterordnet.
Ich spreche hier für die wachsende Anzahl von Menschen in den Anstalten und Behandlungszimmern,, die wir psychisch gestört nennen, weil sie sich dem allgemeinen Tod widersetzen. Stellvertretend für uns Gesunde, die weiter mitspielen, verkörpern sie eine Art Leben – oder richtiger einen Schrei nach Leben – in einer vom gewaltsamen Tod beherrschten Welt. Sie sind Abel und sie werden beseitigt. Der erste Tod, von dem in der Bibel erzählt wird, ist eine Tötung, ein Aus-dem-Wege-Räumen des anderen. Kain beseitigt den Abel. In der alten Geschichte ist das personelle Gewalt, aber in unserer Welt ist sie strukturell geworden, anonym und übermächtig. Sie beseitigt das Leben, sie räumt es auf, ordnet es ein, macht es kaputt.
Bertolt Brecht schreibt: »Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Selbstmord treiben, einen in den Krieg führen, und so weiter. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.«1
Wir können die Liste dieser verschiedenen Arten zu töten beliebig verlängern: Man kann einem Kind die Kindheit nehmen, wenn man ihm verbietet, sich zu bewegen und Lärm zu machen; man kann es mit vierzig anderen einsperren und ihm die Freude zu lernen und die Neugier, etwas wissen zu wollen, für immer zerstören. Es gibt viele Arten zu töten. Man kann Wohnungen so bauen und Städte so planen, dass möglichst wenig Menschen auf möglichst engem Raum miteinander in Berührung kommen. Man kann an das Fließband für ausländische Arbeiterinnen immer eine Griechin neben eine Türkin, neben eine Jugoslawin setzen, damit keine Kommunikation entsteht und der Produktionsablauf nicht gestört wird.
Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einen Ausländer bürokratisch so lange in Angst versetzen, bis er sich das Leben nimmt. Man kann die Verhältnisse in der Produktion, in der Verwaltung und in der Ausbildung so gestalten, dass Menschen möglichst reibungslos funktionieren und möglichst wenig Verhältnis zueinander entwickeln.
Denn anders als in der Geschichte vom verlorenen Sohn begeben sich die Menschen nicht freiwillig oder aus Leichtsinn in die beziehungslose Fremde, um die Schweine anderer zu hüten, sondern das wird ihnen von der strukturellen Gewalt her verordnet. Die Beziehungslosigkeit, die die Bibel Tod nennt, wird im wichtigsten Lebensbereich verordnet und eingeübt, in dem der Arbeit. Das Totsein wird gelernt, zum Totsein wird ausgebildet. Die Zerstückelung des Lebens in überschaubare, beherrschbare, aber zugleich sinnlose Bruchstücke ist eine Gewöhnung an den Tod, die wir von klein auf verpasst bekommen. Das ist der Tod, von dem die Bibel spricht.
Wenn das Interesse, dem alles andere untergeordnet wird, die Erhöhung des Profits ist, so zerfallen alle anderen Lebensinteressen zu Belanglosigkeiten: Man kann sie haben, man kann sie lassen; man kann dafür sein, man kann dagegen sein; der eine interessiert sich mehr für Obdachlose, der andere für Motorsport; einer mag Tiere, ein anderer Kinder gern; einer mag die Adria, einer die Nordsee … Das Leben ist ein großer Supermarkt, man kann alles haben, aber es gibt keine Begründungen mehr, sich für bestimmte Dinge besonders zu interessieren. Wenn man zu allem im Verhältnis des Kaufens steht, dann gehen alle Beziehungen nur so weit, wie sie zu käuflichen Dingen gehen können. Heute erfahren viele die Welt als einen Supermarkt: Konzentriert und geistig abwesend zugleich schieben sie ihre Wagen durch die Gänge, der Tod der Beziehungslosigkeit beherrscht die Szene. 4 ½ Stunden Fernsehen pro Tag kommen auf einen Bundesbürger; wo soll da eine Einübung in Beziehung, Spontaneität, eigenen Einsatz entstehen? Die Welt ist ein Supermarkt und eine Fabrik, vom Brot allein und fürs Brot allein, daran sterben wir den täglichen schrecklichen Tod.
Es ist dieser Tod, von dem die Bibel spricht, sie nennt ihn: der Sünde Sold oder der letzte Feind. Gegen diesen Tod hat Jesus Widerstand organisiert. Die Geschichten von der Wiedererweckung von Toten wie Lazarus oder dem Töchterlein des Jairus handeln vom Kampf gegen den hingenommenen Tod. Sie rufen uns auf gegen den Tod, sie ermutigen uns zum Glauben, und das bedeutet zur Parteinahme für das Leben. Die Überwindung der Herrschaft des Todes kündigt sich an, nicht erst in der Auferstehung Jesu, sondern in den Geschichten aus seinem Leben. Wo Gewalt ist und wo Beziehungslosigkeit herrscht, da herrscht der Tod. Je beziehungsloser wir leben, desto mehr anerkennen und tolerieren wir den Tod. Was geht uns schon Angola an, obwohl es deutsche Waffen sind, die da den Tod hinbringen; was geht uns die schwarze Säuglingssterblichkeit in der Südafrikanischen Union an, obwohl es unsere Aktien sind, die mit Hilfe der Ausbeutung und dieser Art von Tod steigen! Beziehungslos sein, ohne Schmerzen leben wollen, fürs Brot allein funktionieren und vom Brot allein leben, die Gewalt dulden und aufrechterhalten, die Ordnung lieben, die diesen Zustand weiter garantiert: so richten wir unser Leben ein. Es ist eine Liebe zu allem, was erstarrt und geordnet ist, was eine Nummer geworden ist, eine Liebe, die der Psychoanalytiker Erich Fromm »Nekrophilie« genannt hat, die lustbesetzte Bindung an alles, was tot, geordnet, überschaubar, ohne Spontaneität und ohne Wünsche ist.
Die Nekrophilie herrscht nicht nur im Bereich des Staates und der Bürokratie, auch unsere Kirchen sind erfüllt von Nekrophilie: alles, was geordnet und registriert, dogmatisch fixiert und kirchenrechtlich risikolos ist, wird hochgeschätzt. Als Christus wird ein Wesen geliebt, das Thomas Müntzer vor 450 Jahren den »honigsüßen Christus« genannt hat, »wohlgefällig unserer mörderischen Natur«. Dieser honigsüße Christus garantiert den Wohlstand und kostenlos das ewige Leben dazu; er tastet die Rüstungsindustrie nicht an und bietet zusätzlich eine Sinnvergewisserung im unabänderlichen Alltag an. Als Gott wird im Rahmen der nekrophilen Orientierung ein Wesen verehrt, dessen wichtigste Tätigkeiten »erhalten«, nicht schaffen, »beherrschen«, nicht verändern, »beschützen«, nicht freisetzen sind, ein überparteiliches Wesen, das einem Computer gleicht, den man mit Daten über die Menschen vollgestopft hat. Aber der Gott, von dem die Bibel spricht, ist parteiisch, er hat die Partei des Lebens ergriffen, er hat gegen den Tod Partei ergriffen, gegen den Napalmtod und gegen den Hungertod und gegen den Tod am Brot allein, gegen das Ersticken.
An Gott glauben bedeutet, auf die Seite des Lebens übergehen und aufhören, ein Komplice des Todes zu sein, den Mordwunsch lassen und die ihm so ähnliche Gleichgültigkeit, die Angst davor, zu sterben, und die Angst davor, zu kurz zu kommen, zwei Ängste, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Auf die Seite des Lebens übergehen bedeutet, sich nicht neutral halten zwischen den Mördern und den Opfern und aufhören, die Welt als einen Supermarkt anzusehen, wo man dieses und jenes und alles kaufen kann, wenn nur die Kasse stimmt und die Ordnung erhalten bleibt.
Auf die Seite des Lebens überzugehen ist nichts Selbstverständliches oder gar Leichtes, es ist der immer wieder zu vollziehende Akt, in dem wir uns selber als Tote und vom Tod Faszinierte verlassen und frei werden, das Leben zu lieben. Dieser Akt und die Erfahrung, dass es möglich ist, sich selber zu transzendieren, hat viele Namen und Gesichter; mit einem Wort aus der bisherigen Geschichte der Menschheit kann man in diesem Zusammenhang von »Religion« sprechen und darunter den radikalen Versuch verstehen, auf die Seite des Lebens überzutreten. Es liegt mir fern, den über hundert bisher gegebenen Definitionen der Religion noch eine weitere hinzuzufügen oder den Begriff der Religion zu diskutieren. Dieses Buch ist ein Versuch, religiöse Erfahrungen darzustellen und zu vermitteln. Der Übergang aus dem normalen Totsein in das Leben ist sein Thema, und Religion wird als ein wesentliches Medium, innerhalb dessen sich dieser Übergang vollzogen hat und vollzieht, verstanden. In welchem Zusammenhang steht die religiöse Erfahrung mit dem Gewinnen der eigenen Identität von Menschen? Inwieweit hilft Religion zum richtigen Leben?
Ich spreche von einem Standort innerhalb einer bestimmten religiösen Tradition aus, der christlichen. Wenn ich mich nach Hilfe gegen den allgegenwärtigen Tod am Brot allein umsehe, so legt es sich für mich nahe, mich auf Christus zu beziehen und von ihm zu lernen, wie der Tod zu bekämpfen und zu überwinden ist. Aber diese Beziehung enthält keine Ausschließlichkeit, ich kenne genug jüdische, humanistische, sozialistische Menschen und Gruppen, die mit Hilfe anderer Schutzbilder oder Heiliger denselben Kampf kämpfen und ähnliche Erfahrungen machen. Es ist mir nicht wesentlich, sie zu subsumieren, und sei es unter eine Menschheitsreligion, wohl aber müssen Erfahrungen der Religionen mitteilbar bleiben.
Der Sinn einer Berufung auf Religion kann nicht Abgrenzung, sondern nur Kommunikation sein. Indem ich zu sagen versuche, was Christus für mich, der vom Ersticken bedroht ist, bedeutet, versuche ich, über die Schritte, die uns gemeinsam aus dem herrschenden Totsein herausführen können, zu sprechen. Die Erinnerung an Jesus bezieht ihre Kraft nicht aus One-way-Parolen, sondern aus den Inhalten von Glück und Frieden, von Liebe und Gerechtigkeit, die hier artikuliert worden sind, nicht als bloße Forderungen oder Ansprüche, die man an die Menschheit stellt, sondern als Lebensvollzüge für jeden, die bestimmte Konsequenzen mit sich bringen. Dass Liebenlernen auch und wesentlich Sterbenlernen bedeutet, ist ein solcher Inhalt, der sich innerhalb der Jesustradition sagen lässt und der ein Identifikationsangebot enthält.
Jesus hat sich radikal auf die Seite des Lebens gestellt und den Tod bekämpft, wo er ihn antraf: den Tod der Aussätzigen, mit denen niemand sprach und die niemand berührte, den sozialen Tod der Zöllner, die wie die Gastarbeiter bei uns nichts galten, und den physischen Tod derer, die noch nicht gelebt hatten. Dabei ist aber eine Beobachtung zu machen, ohne die man Jesu Verhältnis zum Tode nicht verstehen kann: Diejenigen nämlich, die wie Jesus und seine Freunde den gewaltsamen Tod, der von Menschen für Menschen gemacht wird, den sozialen Tod und den physischen Tod, bekämpften, haben für sich selber das Sterben nicht als das Schlimmste angesehen, was einem passieren kann. Sie haben das vom Tod beherrschte Leben mehr gefürchtet als den Tod. Sie fanden es schlimmer, von dem von Menschen für Menschen gemachten Tod in Unterdrückung und Erstickung allen Lebens beherrscht zu sein, als zu sterben. Ihr größter Feind war nicht der natürliche Tod, sondern der gewaltsame, der schleichende Tod, das Ohne-Leben-Sein, wie wir es in den Gesichtern so vieler Menschen in dieser Gesellschaft täglich sehen. Diesem Sterben und dieser Art Tod – am Brot allein und fürs Brot allein – gebührt der äußerste Widerstand, der leidenschaftliche Kampf.
Das Verhältnis Jesu und seiner Freunde zum Tode ist aber dem unseren genau entgegengesetzt. Wir halten uns an den honigsüßen Christus und wollen den bitteren Christus nicht. Den gewaltsamen Tod, der uns umgibt, den Tod als soziales Ereignis, den Tod durch Kriege, durch Unterernährung, durch Verdummung, den Erstickungstod am Brot allein, den täglichen schrecklichen Tod des Gar-nicht-Lebens akzeptieren wir mehr oder weniger als ein Schicksal. Den natürlichen Tod dagegen, den Krankheitstod des einzelnen bekämpfen wir mit großem Aufwand als vermeidlich. Hinnahme und mehr oder weniger Einverstandensein leisten wir uns dem allgegenwärtigen langsamen Ersticken gegenüber; Kampf und Protest gilt bei uns dem natürlichen und dem privaten Ereignis des Todes. Bis in die Traueranzeigen hinein spiegelt sich dieser Kampf und dieser Aufwand, auch der 80-jährige stirbt heute »plötzlich« und »unerwartet« oder »unfassbar«. Es ist, als habe niemand gewusst, worauf er sich einließ mit dem Leben. Der sexuellen Aufklärung und Dauervorbereitung durch Erziehung, Wissen und technische Mittel wie die Pille entspricht eine kindisch anmutende Nichtvorbereitung auf den Tod, der nicht erwartet, gewusst, besprochen werden darf. Es gibt Altersheime, in denen das Gespräch über den Tod ein Kündigungsgrund ist, die Erwähnung des Sterbens oder der Sterbenden ist unerwünscht und kann mit dem Verlust des Platzes im Altersheim bestraft werden. Ärzte und Pfleger arbeiten mit daran, den Tod tabu werden zu lassen; sie können den Tod in ihrem Machtbereich nicht dulden, wohl aus Verdrängung des eigenen Todes. Die Angst, über den Tod zu sprechen, mit einem Sterbenden zu sprechen, das Faktum des Sterbens ins Auge zu fassen, wächst an. Wir müssen diese Verdrängung als ein Zeichen des ungelebten Lebens auffassen: Je weniger ein Mensch gelebt hat, sich verwirklicht hat, seine emotionalen, kognitiven, sexuellen Möglichkeiten gelebt und erfahren hat, um so schwerer ist es für ihn, zu sterben. Man kann die Todesangst verstehen als das Gefühl eines Individuums, dass das Leben ihm noch etwas schuldig geblieben sei. Der Mensch, der sich wesentlich im Haben, im Leisten und im Konsumieren ausdrückt, muss sich gegen das Sterben wehren, er muss den Tod verdrängen und verleugnen. Die Verdrängung ist eine Form der sprachlos gewordenen Angst. Unter diese Todesangst duckt sich der Mensch, solange er vom Brot allein lebt und nicht frei geworden ist. Das Ich, das nicht zur Identität mit sich selber gekommen ist, muss sich gegen das Sterben wehren; nur physisch gezwungen kommt es zur Annahme, während es doch das christliche Ziel des Sterbenlernens wäre, den Tod annehmen zu können.
Hier, beim Sterben der Menschen, die nicht satt am Leben geworden sind, hat der Wunsch nach individuellem Weiterleben sein tiefstes Recht im Protest gegen den Tod derer, die zu wenig – nicht zu kurz, aber zu wenig – intensiv und authentisch gelebt haben. Es gibt nichts gegen den Tod – außer der Liebe; und darum ist der Tod von Menschen, die in diesen Strom der Liebe nicht eingetaucht sind, ohne Hoffnung. Gegen diesen Tod ohne Leben können wir unsere Parteinahme für das Leben nur als Protest und als Klage formulieren, annehmen lässt sich der Tod nur von denen, die wissen, was Leben bedeutet.
Dass wir nicht mehr hassen müssen und nicht mehr Angst zu haben brauchen, dass wir in das große Ja, das der Glaube bedeutet, einstimmen können, das schließt unser Sterbenlernen ein. Indem wir angstfreier leben, werden wir angstfreier sterben lernen. Je mehr wir ein Teil der Liebe werden, mit der wir uns eins wissen, desto unsterblicher sind wir. Christlich gesprochen liegt der Tod immer hinter uns, vor uns aber die Liebe. »Wir wissen, dass wir aus dem Tod ins Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tode.« (1. Joh. 3,14). Christsein heißt: Wir sind hinübergegangen, wir haben den Tod transzendiert. Unser Weg kann nicht biologisch beschrieben werden: erst geboren werden und dann sterben, sondern umgekehrt: aus dem Tode ins Leben übergehen. Der einzelne braucht dann auch jene Krücken des Glaubens nicht mehr, die sich als Hoffnung auf ein Wiedersehen oder auf individuelle Fortdauer formulieren. Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, auch nicht das Wissen von der Vergänglichkeit unserer individuellen personalen Existenz. Nichts kann uns scheiden von dem unendlichen Leben, in das wir im Glauben eingewilligt haben; nichts kann den Tropfen vom Strom trennen, in den er gehört, nicht als etwas Überflüssiges oder Wesenloses, sondern als das, was den Strom überhaupt konstituiert. Was wäre der Strom ohne Tropfen, was wäre Gott ohne uns, was wäre die Liebe ohne die, die an ihr Anteil haben, die in ihr, von ihr und auf sie hin leben.
Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes. Als Ungeschiedene und Untrennbare leben wir und können es ertragen, nicht mehr dazusein. Wir können unsere aggressiven Kräfte und Fähigkeiten auf den Tod werfen, von dem die Bibel spricht, den Tod am Brot allein, der uns ersticken macht und die beiden anderen Drittel der Weltbevölkerung verhungern lässt. Wir werden sein wie Jesus war, der für das Leben der anderen eintrat und den eigenen Tod doch annehmen konnte. Wir lernen, wie Jesus zu sein und den Tod hinter uns zu haben. Unsere Kräfte sind dann nicht in den Widersprüchen der Angst, die wir nicht zeigen können und dürfen, gefesselt, sondern frei geworden. Unsere Frage lautet dann nicht mehr: Ist mit dem Tode alles aus? So können nur die fragen, deren Ich in den Grenzen des Individuums gefangen ist, die sich abkapseln von der großen, berührenden und verwandelnden Wirklichkeit.
Ist mit dem Tode alles aus? ist eine gottlose Frage. Was ist denn dieses »alles« für dich? Du kannst deinen eigenen Tod nicht mit der Formel »dann ist alles aus« beschreiben, eben weil es zur Definition eines Christen gehört, dass er für sich selber nicht alles ist. Nein, es ist nicht alles aus, sondern es geht alles weiter. Was ich wollte, was ich mit anderen versucht habe, was ich angefangen habe und woran ich gescheitert bin – es geht weiter. Ich esse nicht mehr, aber es wird Brot gebacken und gegessen; ich trinke nichts mehr, aber der Wein der Brüderlichkeit wird weiter getrunken. Ich atme nicht mehr als dieser einzelne, diese Frau des 20. Jahrhunderts, aber die Luft wird da sein, für alle.