Die Hochzeit des Chronos - Florian W. Huber - E-Book

Die Hochzeit des Chronos E-Book

Florian W. Huber

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Beschreibung

Völlig unerwartet wird der junge Hirte Astacho in das Schicksal scheinbar vergangener Zeiten entführt. Die überraschende Hochzeit seines Königs lässt ihn eine Liebe erfahren, die ihn über Leere und Einsamkeit bis in die Fremde treibt. Doch er findet Mut und einen Weg zurück. Die Hochzeit des Chronos ist Florian W. Hubers Romandebüt, und eine zauberhafte Geschichte über Sinnsuche und Liebe im Wandel der Zeit.

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Für Christine

PROLOG

Zeitlos treiben die Wellen ihr Wasser auf die Felsen am Strand. Hier, vor den Toren Parousías, reichen sich Ebbe und Flut jeden Morgen die Geschichte, die das Meer wohl für immer in seinem Schoß bewahren wird. Die Geschichte von Astacho und Zaphira.

Ebbe und Flut hatten als einzige gesehen, was für niemandes Augen je zu sehen bestimmt war. Sie allein waren Zeuge. Zeugen der Gegenwart, die beteuern, dass von ›gegen‹ in jener Nacht niemals die Rede war. Nur das Meer kennt die ganze Geschichte. Nur das Meer weiß, was in jener Nacht geschah – im Rhythmus der Gezeiten.

Inhaltsverzeichnis

I

Der Ruf des Königs

Ein verblühter Ritus erwacht

Araxos

Zaphira

Paroúsische Verse

Die Macht des Zaphirs

Abschied von Parousía

In einem fremden Land

II

Datsun

Zeichen der Lüfte

Ein fremder Sog

Wi Wi Makee

Tanz der grünen Hälse

Wüstenfieber

Heimatkur

Zuspruch

III

Auf nach Parousía!

Zurück in der Fremde

Salz und Tränen

Portomaios

Der letzte Tag im Morgen

Schwellenreiter

Ja, weißt du denn nicht ...?

Ein Lied der Liebe

Heimkehr

All die Jahre

ERSTER TEIL

DER RUF DES KÖNIGS

Astacho war gerade dabei, sich von seinem Mittagslager zu erheben, als er durch die knorrigen Arme der Bäume eine Staubwolke auf sich zujagen sah. Bis er seinen Hirtensack verschnürt hatte, war sie auch schon bei ihm angekommen. Der Reiter war ein Bote des Königs, das hatte er sogleich ersehen.

»Bist du Astacho?«, wollte der junge Mann wissen, als er sein Pferd endlich zum Stehen gebracht hatte.

»Ja«, antwortete Astacho mit freundlicher Vorsicht. »Was wollt ihr?«

»Der König lässt bitten, ihn bald möglichst aufzusuchen!«

Astacho wunderte sich über die eilige Nachricht. »Bald ist unmöglich. Wir sind zwei Tagesmärsche von der Stadt entfernt! Was ist denn so dringend?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich soll dir das hier überreichen mit dem Gesuch, so bald wie möglich im Palast zu erscheinen.«

Der Reiter übergab Astacho ein feuchtes Tuch, das er sorgfältig an seinen Sattel gebunden hatte. Astacho rollte das Leinen auseinander. Er hielt es so, dass sein Gegenüber nicht gleich sehen konnte, was sich darin verbarg, und er wäre sicher nicht weniger erstaunt gewesen als er. Eine Lilie! Eine langstielige, weiße Lilie! Der dünne Staubmantel, der noch auf ihren Blüten lag, verriet die Eile, mit der sie gekommen war.

›Eine seltsame Botschaft‹, dachte Astacho, ›einem Hirten, der tagein, tagaus nichts anderes sieht als würzige Gräser und Sträucher, eine Blume zu schicken. Gewiss, sie war anders als die, die er kannte, aber ...‹

Der Bote schickte einen wartenden Blick in die Ferne. Astacho nutzte die Gelegenheit, um seine Nase in den weißen Kelch zu tauchen. Mit geschlossenen Augen drang er in den Schoß der Lilie ein. Als er mit seiner Nasenspitze den Boden berührte, öffnete er erstaunt die Augen. Die Blüten waren so zart, dass er seine staubigen Füße durch sie hindurch sehen konnte. Wie Storchenbeine sahen sie aus. Und wenn er seine Nase aus dem Kelch zurückzog, wurden sie immer länger. Drei Mal spielte er dieses Spiel, dann zwang er sich los und wartete, bis die Storchenbeine wieder Hirtenbeine waren. Eine Weile drehte sich noch alles um ihn, dann stand die Welt wieder still.

Astacho wusste, dass sein König eine Vorliebe für außergewöhnliche Gesten hatte, aber er wusste auch, dass Chronos ihn nicht ohne Grund von so weit würde holen lassen. Auf die Schnelle ließ sich das Rätsel jedoch nicht lösen und so wandte er sich entschlossen wieder dem Boten zu:

»Reite zu Theodoros! Du kennst doch Theodoros, oder?«

Der Bote nickte.

»Sag ihm, er soll morgen Abend am Fluss bei der alten Steineiche auf mich warten! So weit kann ich bis morgen ziehen. Und deinem Herrn sage, dass ich übermorgen noch vor Mittag bei ihm sein werde!«

Der Bote wiederholte das Gesagte, versicherte seine Ausführung und verabschiedete sich mit einer Staubwolke, die nur ungleich lichter war als die, mit der er gekommen war.

Astacho sah ihm noch eine Weile nach, dann packte er rasch seine Sachen und trieb die Herde zusammen. Den ganzen Tag über folgten die Tiere nun dem süßlichen Schleier, den das fremde Gewächs in seiner Hand hinter sich herzog. Immer wieder musste er die Herde zu mehr Tempo und Geschlossenheit mahnen. Der fremde Geruch schien sie zu verwirren, und als sie abends endlich eine geeignete Stelle für das Nachtlager gefunden hatten, war auch ihm der Appetit vergangen. Der schwere Duft seiner langbeinigen Begleiterin hatte ihn so satt gemacht, dass er nur Wasser zum Abendmahl nahm.

An diesem Abend hielten die Tiere einen größeren Abstand als sonst.

»Ihr habt wohl Angst, morgen keinen aufrichtigen Hunger mehr zu haben!«, scherzte Astacho ihnen lächelnd zu.

Doch nur vereinzelt kam ein dumpfes Gemecker als Antwort zurück. Die Nacht hatte bereits ihr dämpfendes Tuch über das Land gezogen. Hier und da rupfte ein Tier nervös an einem Büschel Gras. Veränderung lag in der Luft.

Das ungewöhnliche Verhalten seiner Tiere amüsierte Astacho noch eine Weile, bis er mit einem erwartenden Lächeln in die Nacht entschlief.

Als er am nächsten Morgen erwachte, war es bereits hell. So lange hatte er noch selten geschlafen! Blinzelnd schälte er sich aus seiner dünnen Decke. Noch immer hing der Schleier der Nacht vor ihm. Gar seltsam hatte er doch geträumt! Ihm war, als wäre er mit einer riesigen Herde quer durch fremdes Land gezogen. Mindestens zehn Mal so viele Tiere wie die, die ihn an diesem Morgen so fragend von unten herauf anstarrten. Es war ein reiches Land, durch das er gezogen war, und doch fehlte ihm etwas. Angestrengt versuchte er die nächtliche Szenerie noch einmal zu holen, doch so sehr er sich auch bemühte, das Verlorengefühlte kam nicht wieder.

Gegen Mittag hatten sie den Fluss erreicht, der sich gemächlich in Richtung Stadt schob. Noch immer stapfte Astacho leicht trunken von Lilie und Traum neben seinen Tieren her. Die Bilder der Nacht wollten einfach nicht von ihm weichen. Den ganzen Tag über blickte er auf die riesige Herde, die vor seinem geistigen Auge in Richtung nirgendwo zog. Manchmal glaubte er, am Horizont eine junge Frau zwischen den Tieren zu sehen, doch jedes Mal, wenn er sich um sie bemühte, gab der bildliche Schleier die Landschaft wieder frei und zog Frau und Lämmlein in das Reich des Unsichtbaren zurück. So verging die Zeit wie im Flug und schon bald hatten sie das untere Ende des Flusses erreicht.

Wie erwartet saß Theodoros auf dem großen Stein unter der alten Eiche. Astacho hatte ihn schon von weitem ersehen.

»Auf dich ist Verlass!«, rief er ihm freudig zu. Theodoros erwiderte den Gruß und ging ihm raschen Schrittes entgegen. Nach kurzer Zeit hatten sie sich erreicht.

»Warum kehrst du schon zurück? Wolltet ihr nicht weiter in die Berge ziehen?«

»Der König verlangt nach mir. Ich muss morgen schon in Parousía sein.«

Theodoros machte einen besorgten Blick.

»Was hast du denn ausgefressen, dass man dich von so weit holen lässt?«

»Ich weiß nicht. Vermutlich hat es mit dem Erntefest zu tun. Du weißt ja, dass unser Herr eine Vorliebe für besondere Feste hat. Kannst du solange bei den Tieren bleiben? Morgen Abend bin ich wieder zurück.«

Theodoros nickte. Beäugend umkreiste er seinen Freund.

»Was ist denn das für ein süßer Duft? Hast du letzte Nacht in einem Harem geschlafen?«

Astacho lachte verlegen. Dann zog er die Lilie aus seiner Tasche hervor.

»Schau, die hat mir Chronos geschickt!«

Theodoros prustete seine Verwunderung heraus.

»Junge, den Alten hat's aber ganz schön erwischt!«

»Das kannst du wohl sagen!«

Dann legte er seinen Rucksack ab und nahm einen kräftigen Schluck von dem Wein, den ihm Theodoros entgegenhielt. Und da es sich ohne Essen schlecht trinken ließ, packten sie alles hervor, was ihre Beutel und Taschen zu bieten hatten und erklärten den restlichen Tag zum Feierabend.

Bis zum Anbruch der Dunkelheit saßen die beiden unter der alten Eiche am Fluss und sprachen über das bevorstehende Fest. Das liebestolle Gesuch des Königs ermunterte Theodoros, immer bizarrere Aufgaben für seinen Freund auszumalen. Beide mussten deswegen einige Male so herzhaft lachen, dass es im ganzen Tal zu hören war. Doch außer ihnen war ohnehin niemand hier und so kam das Echo alleine zurück.

Von seinem Traum erzählte Astacho nichts. Und als sie das frische Brot verspeist hatten, das Theodoros aus der Stadt mitgebracht hatte, brach er noch nachts nach Parousía auf.

EIN VERBLÜHTER RITUS ERWACHT

Es war kurz vor zehn, als Astacho am nächsten Morgen durch das Stadttor ging. Eiligen Schrittes überquerte er den Marktplatz und schlüpfte durch die großen Tore in den Palast. Der Weg zum Thronsaal war ihm vertraut. Chronos erwartete ihn bereits.

»Ah, Astacho! Dass du gekommen bist, zeigt mir, dass ich meine Wahl gut getroffen habe.«

Astacho schloss die Tür und trat in den Raum. Jeder seiner Schritte hallte von den hohen Wänden zurück.

»Sei gegrüßt, werter Chronos.«

Die schweren Dielen verliehen seinen Worten ein ungewohntes Gewicht. Er hatte ganz vergessen, wie es sich anhörte im Thronsaal zu reden. In diesen Räumen sprach es sich deutlicher als anderswo. So war sein Gruß von einem Ton getragen, der freundlich zu verstehen gab, dass er erwartete, was denn der Grund für dieses eilige Treffen sei.

Chronos war dieser Ton nicht entgangen und so kam er gleich zur Sache.

»Nun, wie du dem hektischen Treiben der Stadt entnommen hast, wird das diesjährige Erntefest ein ganz besonderes. Ich habe mich nun doch noch entschlossen zu heiraten.«

Astachos Augen blitzten neugierig.

»Ihr Name ist Zaphira. Und wie du stammt sie nicht von hier.«

Astacho konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. Er hatte schon immer geahnt, dass Chronos seine Gemahlin einmal aus einem anderen Land wählen würde. Das war Tradition, und Tradition hatte in Parousía Geschichte.

»Doch es gibt auch andere Männer, die nicht in Paroúsien geboren sind«, gab er schneidig zurück. »Warum verlangt ihr nach mir?«

»Nun, du bist der einzige, von dem ich weiß, dass er noch nicht verheiratet ist, und dem ich trotzdem trauen kann.«

Diesmal lächelte der König.

»Stimmt«, erwiderte Astacho. »Und was das Vertrauen anbelangt, so seid unbesorgt.«

Chronos blickte durch die hohen Fenster hinunter aufs Meer. Von hier aus konnte man die ganze Küste überblicken. Aufmerksam streiften seine Augen über die Dächer der Stadt, als wollten sie sich versichern, dass noch alles beim Alten war. Dann wandte er sich wieder dem Jüngling zu.

»Du kennst die Erzählungen über Zeus und Hera?«

Astacho nickte. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Mit rücklings verschränkten Armen stand der große Chronos vor ihm.

›So angespannt habe ich ihn noch nie gesehen‹, wunderte sich Astacho.

Doch noch ehe er seiner Verwunderung nachgehen konnte, wandte sich der König wieder dem Fenster zu. Beschwörend strich sein Blick über die Mauern der Stadt. Astacho konnte seine Brust im Kegel der Sonne atmen sehen. Dann presste er seinen ganzen Stolz in einen Satz.

»Astacho, ich bin ein alter Mann!«

Astacho zuckte überrascht zusammen.

Doch Chronos war so mit sich selbst beschäftigt, dass er es gar nicht bemerkt hatte. Entschlossen fuhr er fort, ohne den Blick noch einmal nach ihm zu wenden:

»Ich möchte den Glanz von Zaphiras Jugend nicht schon in der ersten Nacht vertreiben. Ich habe mich entschlossen, den alten Ritus zu Ehren von Zeus und Hera noch einmal lebendig werden zu lassen.«

Astacho wusste immer noch nicht so recht, was das alles mit ihm zu tun hatte. Doch er sollte nicht länger auf seine Antwort warten.

»Du, Astacho, sollst die Blüte Zaphiras mit all deiner Kraft und Jugend für das Glück meiner Ehe öffnen. Dir vertraue ich sie an. Und mit ihr mein kostbarstes Gut.«

Damit hatte Astacho nicht gerechnet! Natürlich kannte er den Kult um Zeus und Hera! Doch in Paroúsien wurde die Entjungferung der Braut durch einen Jüngling, wie in anderen Ländern auch, schon lange durch den sittlicheren, symbolischen Brauch des Brautstehlens ersetzt. Er musste an Theodoros denken. Nein, auf diese Idee wäre auch sein Freund nicht gekommen! Er sollte für seinen König die Rolle des Zeus spielen? Und das vermutlich so gewissenhaft und würdig, wie es nur ein Gott konnte!

Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich betroffen. Er war es so sehr, dass er nicht wusste, ob er sich überhaupt jemals betroffen gefühlt hatte.

Süßer Duft umspannte das männliche Schweigen. Nervös umklammerte Astacho die Lilie, die er noch immer fest in seinen Händen hielt. Tief gruben sich die Finger in das feuchte Leinen. Gar erhaben griff der Duft nach dem Raum, als wollte er zuerst den Palast und von hier aus die ganze Welt erobern.

Chronos blickte noch immer durch die hohen Fenster hinaus aufs Meer. Astacho fühlte sich nicht zu einer Antwort gedrängt, doch er wusste, dass es für eine solche Antwort nur einen richtigen Zeitpunkt gab. Und der war jetzt! Dieser Moment war zeitlos, weil Chronos selbst nicht anwesend war. Sein Blick tauchte noch immer – irgendwo dort draußen. Kein Wind blies, kein Vogel schrie, nicht einmal das Gewerk der Stadt war zu hören. Die Zeit hatte sich zurückgezogen und je mehr er sich ihr ergab, umso deutlicher konnte er das Atmen hören. Seines und das der stillen Beobachter. Astacho kam es vor, als würden die alten Götter noch einmal ihre Ohren spitzen; als würden Zeus und Hera gespannt dem Spiel seiner erregten Gedanken folgen. Dann sprach er aus, was das Schicksal für ihn bestimmt hatte.

»Gut. Ich werde sie bis zum Tag Eurer Hochzeit behalten.«

Und er hob die Lilie wie ein Zepter empor. Es war die Geste eines Jungen, der noch immer nicht wusste, wie ihm eigentlich geschah.

»Doch, ob sie sich an meiner Seite öffnet«, fügte er hinzu, »will ich nicht entscheiden. Ich kenne weder ihr Wesen, noch ihr Herz. Ich kenne nur ihren Geruch und allein er hat mich heute hierher geführt.«

Astacho war selbst erstaunt über seine Worte. Hatte wirklich er das gesagt? Um das herauszufinden, blieb jedoch keine Zeit. Chronos kehrte aus den Tiefen des Meeres zurück. Sein zufriedenes Lächeln verriet, dass er glücklich über Astachos Entscheidung war. Und er fügte einen Satz hinzu, der ihn noch weit übers Stadttor hinaus begleitete:

»Dann kennst du schon mehr als ich.«

ARAXOS

Nur wenige Minuten später hatte Astacho den Palast verlassen. Zügig eilte er zur Stadt hinaus. Er wusste gar nicht, was er zuerst denken sollte! Er lief und lief, bis er nicht mehr konnte. Erschöpft sank er an einem Baumstamm nieder.

›Oh Zeus!‹, rief er stumm zu den Göttern auf. ›Was habe ich dir nur getan, dass du mich so in dein Schicksal drängst! Hättest du keinen Besseren dafür gewusst? Wie viele Männer dort draußen warten nur darauf, dass du sie rufst!‹

Und doch konnte er die Neugier nicht ersticken, die in seinem Herzen wuchs. Das alles war so frisch, so neu, so unverhofft, dass er gar nicht wusste, wie er das je in sein bescheidenes Leben packen sollte. Er und die Königin? Nein, beim besten Willen konnte er sich das nicht vorstellen! Doch er war sich sicher, dass er das alles nicht geträumt hatte. Er brauchte nur seine Nase an den blumigen Kelch zu halten, um zu wissen, dass er nicht schlief. Nein, er war ganz sicher bei Sinnen! Zu sehr drängte die ängstliche Unruhe in seine Brust.

›Oh ihr Götter!‹, rief er abermals zum Himmel. ›Was seid ihr doch für ein närrisches Pack! Spielt mit dem Leben der kleinen Menschen, macht sie zu Kriegern und Helden, für Stunden nur. Ihr, ihr lebt ja ewig, doch für uns ist eine Stunde ein Tag, ein Tag ein Jahr und ein Jahr vielleicht ein ganzes Leben! Oh Zeus, wie tue ich nur, damit ich nicht fehle!‹

Tief fraß sich der Unmut in sein Herz hinein. Und nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, machte er sich noch zur selben Stunde auf in die Berge. Sein Besuch im Palast hatte Spuren hinterlassen und er hoffte, Araxos könnte ihm helfen sie zu lesen.

Gut zwei Stunden brauchte er für den Aufstieg und als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, war er bereits am Plateau unterhalb des Gipfels angekommen. Hier wollte er auf Araxos warten. Erschöpft sank er an der schattigen Felswand nieder. Erst jetzt bemerkte er, dass er die Bilder, die ihn schon seit Tagen begleiteten, in der Hitze des Aufstiegs kaum mehr wahrgenommen hatte. Doch als er nun so tief atmend in die karge Landschaft starrte, stiegen sie von neuem empor. Es war, als hätten sie beim Aufstieg ihre ganze Kraft gesammelt, nur um ihn dort oben umso deutlicher zu umfangen.

Plötzlich hörte er seinen Namen! Doch wer sollte ihn hier oben rufen? War ihm gar jemand gefolgt? Nein, das konnte er nicht glauben! Doch abermals ertönte sein Name. »Das gibt’s doch nicht!«, flüsterte er erregt.

Unruhig wetzten seine staubigen Füße am Felsen hin und her. Dann übermannte ihn doch die Neugier und mit wachen Augen trat er aus der schattigen Nische hervor. Jetzt konnte er die Stimme hören. Es war die Stimme einer jungen Frau. Ja, das »Astacho!« hatte einen weiblichen Klang! Doch noch immer konnte er niemanden sehen. Dann, mit einem Mal, fing die Landschaft an sich zu bewegen. Zuerst die Wipfel der Bäume, dann der ganze Wald. Ein hoher Ton staute sich direkt vor ihm zu einem lauten Surren. Selbst das Flimmern der stehenden Luft begann zu rauschen. Die Gräser zuckten nervös. In großen Schritten kam der Wald den Berg herauf. Astacho traute seinen Augen nicht. Die Zedern streckten ihre langen Federn nach ihm aus! Der ganze Wald schien sich zu erheben. Noch nie hatte er Bäume tanzen sehen! Überkommen rang er nach Luft. Doch sein Puls hatte seinen Takt bereits an das Surren verloren. Sie tanzten und trieben es so wild mit ihm, dass er schon bald ohnmächtig zu Boden ging.

Als er wieder erwachte, stiegen bereits die ersten Schatten vom Tal herauf. Einige Stunden musste er dort oben wohl gelegen haben. Benommen stand er auf und streifte sich mit seinen kalten Händen den Staub vom Leib. Ihm war noch immer ein wenig schwindlig. Hatte er geträumt, dass jemand seinen Namen gerufen hatte? Nein, er war sich sicher, eine Stimme gehört zu haben. Trotzdem beschloss er, an diesem Tag nicht länger auf Araxos zu warten. Seine Kehle brannte und Theodoros wartete schon auf ihn.

Er hatte gerade den felsigen Steig unterhalb des Gipfels verlassen, als er mit einem Mal einen bekannten Schatten vor seinen Füßen sah. Er musste noch einmal zwischen den Bäumen heraustreten, um sich ganz sicher zu sein. Ja, es war Araxos! Majestätisch zog er seine Kreise. Da flog er, der Erwartete, dessen Umriss seine Ankunft bereits verraten hatte! Freudig schnellte Astacho auf einen der umliegenden Felsen.

»Araxos, mein Freund! Schön, dass du gekommen bist!«

Der Adler stieß zwei kurze Schreie aus und zog noch einmal den gleichen Kreis. Astacho musste für einen Moment den Blick senken. Das Sonnenlicht blendete ihn und als er nun so demütig auf die Erde sah, wurde ihm bewusst, dass er gar nicht wusste, warum er eigentlich hier hergekommen war. Seine Rolle bei der Hochzeit des Königs war klar. Er hatte Chronos sein Wort gegeben! Es gab also nichts mehr zu entscheiden. Allein das Unbehagen, das mit dieser Entscheidung einherging, hatte ihn den Berg heraufgetrieben.

Verunsichert blickte er wieder nach oben. Eine Weile sah er Araxos Kreisen zu. Dann wusste er, was ihn bewegte:

»Wohin, sag mein Freund, wohin wird mich diese Entscheidung führen? Weißt du’s? Dann sag’s mir! Zeige es mir!«

Der Vogel zog einen weiteren unscheinbaren Kreis. Lange kam es Astacho vor, denn er blickte noch immer mit vorgehaltener Hand gegen die Sonne. Doch dann spitzte der Adler seine Federn. Mit drei kräftigen Schlägen hob er sich eine Etage höher, zog dort noch einmal einen Kreis und drehte dann nach Norden ab. Ein letztes Mal konnte Astacho die kurzen Schreie hören. Dann war es still. Araxos war in der Luft des Nordens verschwunden.

Lange sah er dem Adler nach. Fragend blickte er in den Himmel. Der Norden Paroúsiens war nur dünn besiedelt und wenn man in dieser Richtung durch das Tal der unzählbaren Olivenbäume ging, hatte man bereits nach drei Tagen die Landesgrenze erreicht. Was sollte ihn dort erwarten? Vermutlich hatte Araxos seine Frage nicht verstanden! Enttäuscht wandte er sich dem Abstieg zu.

Den ganzen Heimweg musste er daran denken, wie es wohl war, in ein fremdes Land zu ziehen. Auch sein Großvater hatte damals seine alte Heimat verlassen. Ob er wohl wirklich nur wegen des Geldes gegangen war? Astacho war sich da plötzlich nicht mehr so sicher.

Ein harziger Geruch stieg mit einem Mal in ihm hoch. Es war der würzige Geschmack des Öls, mit dem er und sein Großvater immer die Planken der Boote gestrichen hatten. Oft hatte er ihm dabei als Kind geholfen und mit seinen kleinen, von Sonne und Salz gegerbten Armen die riesigen Bretter sortiert. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er minutenlang ein Brett von der einen Seite auf die andere wandte, weil er sich einfach nicht entscheiden konnte, welche er dem Meer und welche den Füßen der Menschen zugedacht wissen wollte. Dieses unentschlossene Kind lud er zum Bleiben ein und streckenweise hüpften und rannten sie nun so unbeschwert, dass sie schon bald den Wald verlassen hatten.

Noch vor der Dämmerung war Astacho im Tal zurück. Die Tiere und Theodoros erwarteten ihn bereits. Ihn, der ihnen wie ein liebestoller Bock entgegentanzte. Ja, die Lust auf das Abenteuer war erwacht und schon in ein paar Tagen sollte es geschehen. Das verriet der Mond.

ZAPHIRA

Seitlich eingefaltet wie ein Kind war Astacho an jenem viel erwarteten Morgen dem Reich der Träume entstiegen. Nach einem spartanischen Frühstück schlüpfte er auf die Straße hinaus. Viele ließen an diesem Tag ihre Arbeit ruhen oder verlegten sie auf die ohnehin kühleren Abendstunden, denn heute war der Tag, auf den alle gewartet hatten. Man wollte endlich sehen, welches Gesicht Parousía in Zukunft zierte!

Auch Astacho trieb die Neugier auf die Straße hinaus. Doch sie blickte tiefer als die der vielen Menschen, die ihm an diesem Morgen scharenweise entgegenströmten. Schließlich war er der einzige, der auszog, um das zu sehen, wovon er noch mehr zu sehen bekommen sollte.

Theodoros erwartete ihn schon vor seinem Haus. Gemeinsam gingen sie die Straße hinauf in die Stadt und schon bald hatten sie die Schmiede am Stadtplatz erreicht. Von hier aus hatte man den besten Überblick und Zacharias, so wussten sie, würde ihnen das Warten sicher mit einem guten Wein verkürzen. Pfeifend schleppte ihr Freund das einzig hölzerne Inventar seiner Schmiedehöhle die Treppen herauf.

»Ah, da seid ihr ja!«, brummte Zacharias vergnügt. »Wo habt ihr denn die Königin gelassen? Auf dieser Bank ist genug Platz für vier!«

Dann zwang er mit zwei kräftigen Schlägen den Ruß aus dem Holz und bat seinen Freunden einen Platz in bester Lage an.

»Wir wollen das Warten doch nicht zu sehr verkürzen«, hielt Theodoros gut gelaunt entgegen. »Dein Wein erwartet uns schon.«

Astacho stimmte dem Gesuch seines Freundes nickend zu.

Murmelnd stieg Zacharias in seine Grotte zurück, um kurz darauf mit einem Krug und drei Gläsern wiederzukehren. Mit einem kräftigen Zug blies er ihnen den Staub aus den Bäuchen. Jetzt konnte das Fest beginnen.

»Was glaubt ihr, wie sieht sie wohl aus?«, wollte Zacharias wissen, während er schwungvoll die Gläser füllte.

»So groß wie ein Pferd, so stolz wie meine Ziegen und so süß wie dein Wein!«, stürzte es sogleich aus Theodoros heraus, der bereits einen kräftigen Schluck gekostet hatte.

Astacho nahm einen kleineren Schluck und blickte nachdenklich über den Platz. Der König hatte einen alten Ritus wieder zum Leben erweckt, doch er wollte ihn in stummer Leidenschaft vollzogen wissen. Dafür hatte er ihm sein Wort geben. Deswegen hatte er seine Freunde in der weniger aufregenden Annahme gelassen, dass er tatsächlich wegen der Auswahl der Opfertiere in den Palast gerufen wurde. Doch nun hatte er Angst, sich durch sein Schweigen zu verraten.

»Wir werden sehen«, warf er mit einem verschwiegenen Lächeln in die gut gelaunte Runde.

Zweieinhalb Stunden dauerte es, bis das erste Jubeln über das Pflaster der Gassen herauf zum Stadtplatz rollte. Ihm folgte eine lächelnde Frau in wallenden Tüchern auf einem weißen Pferd, gerahmt von den Rappen ihrer Begleiter.

Verstohlen suchte Astacho ihren Blick. Er fühlte, dass sie den für sie Erwählten in der Menge ahnte. Doch als sie endlich in Sichtweite war, fixierte er nur beschämt die Stirn ihres Pferdes. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Noch nicht. Und da er nun wusste, wie schön sie war, wollte er den Blick vor ihr erst wieder heben, wenn die Nacht den Glanz ihrer Augen für sein Herz weniger gefährlich machte.

Noch eine ganze Stunde hob sich der Jubel in Wellen durch die Stadt. Dann war die künftige Königin im schattigen Hofgarten des Palastes verschwunden. Die Wogen des Jubilierens mündeten allmählich in ein plätscherndes Gerede und schon bald erreichte eine Nachricht von einem Geschenk zu Ehren des Brautpaars die Ecke des Schmieds.

»Habt ihr gehört? Man will zu Ehren des Brautpaars ein Gedicht verfassen! Xeranophas wird es verlesen!«

»Das kann doch nur wieder dem verworrenen Geist unseres Barden entsprungen sein«, rief Zacharias sichtlich erregt. Seine vom klirrenden Eisen geschädigten Ohren waren besonders empfindlich, wenn es um Kostas Stimme ging. So war der liebestrunkene Gesang des städtischen Barden, der sich zu allem Übel in einer grotesken Liaison mit einer näselnden Stimme befand, nur schwer für ihn zu ertragen.

Astacho und Theodoros mussten herzhaft lachen, weil Zacharias das knallende Rot des Weins ins Gesicht schoss, als er über den Sänger schimpfte. »Ist doch mal was Neues«, gab Theodoros leichtfüßig zurück, in der freudigen Erwartung, dass ihm sein Freund sogleich mit einer weiteren Wallung feurigen Gemüts antworten würde.

Mittlerweile hatten sie erfahren, dass man sich schon am nächsten Tag treffen wollte.

»Ich werde dort sein!«, rief Zacharias mit heiserer Stimme in die Menge. »Mit mir könnt ihr rechnen!« Dann wandte er sich in gemäßigterem Tonfall wieder seinen Freunden zu.

»So ein Unternehmen kann man doch nicht einem singenden Vogel wie Kosta überlassen. Wir müssen schon ordentlich dagegen steuern, damit wir nicht gleich am ersten Tag auf dem Schmalz seiner lyrischen Exkurse im königlichen Festhafen havarieren!«

Astacho träumte vor sich hin. Würde er Zaphiras Bild in einem Gedicht fassen können? Nein. Noch schwamm es zu sehr vor seinen Augen.

PAROÚSISCHE VERSE

Mehrere hundert Parousiáner waren am folgenden Tag zum Hain im Norden der Stadt gekommen. Man wollte nun hören, was am Tag der Hochzeit in ihrem Namen verlesen werden sollte. Zacharias war froh, dass Xeranophas und nicht Kosta sprach. Denn wenn überhaupt, waren die Stimmbänder des Barden nur für das tönende Wort bestimmt. Beim Sprechen kratzten sie wie der Kiel der Fischerboote, die jeden Tag mit dem gleichen Stöhnen über den groben Sand an Land gezogen wurden.

Andächtig stand Xeranophas auf einem Stein unter einem der alten Bäume. Die Schatten der silbrig schimmernden Zweige zeichneten ihm Leopardenflecken ins Gesicht. Ein wenig wirkte die Szenerie tatsächlich wie eine Bühne.

Es dauerte eine Weile, bis sich alle um den Redner versammelt hatten. Die winkenden Äste der Olivenbäume mahnten zur Ruhe. Allmählich wurde es still. So still, wie es an einem Tag wie diesem nur sein konnte.

»Die Liebe ist ein Gold ...«, fing Xeranophas an, mit tiefer Stimme zu verkünden.

Doch sein lyrischer Atem wurde sogleich von einem weitaus profaneren erstickt.

»Was ist mit dem Gold?«, hörte man es aus einer der hinteren Reihen rufen.

»Die Liebe ist ein Gold!«, wiederholte Xeranophas. Diesmal etwas lauter. Dann fuhr er fort.

»... das heute so glänzt ...«

Doch weiter kam er auch im zweiten Anlauf nicht.

»Warum nur heute?«, unterbrach ihn Dimitra, die seine Augen mit hüftgestemmtem Blick fixierte.