Oleandermond über Elba - Florian W. Huber - E-Book

Oleandermond über Elba E-Book

Florian W. Huber

3,9

Beschreibung

Raffaella ist neunzehn, lebt seit ihrer Geburt auf der Insel Elba und steht kurz vor ihrem Studium in Florenz. Als ihr der Zufall ein Bündel poetischer Briefe in die Hände spielt, taucht sie in einen Zauber ein, der sie auf eine ganz eigene Reise durch ihre Heimat und am Ende in den zarten Anfang einer neuen Liebe führt. Oleandermond über Elba ist Florian W. Hubers zweiter Roman und weiß ebenso fein vom Erbe längst vergangener Zeiten zu erzählen wie von der Romantik mediterraner Gegenwart.

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Für meinen Vater

In einem Buch ich Weisheit such

und finde dort doch einen Ort,

an dem Glück und ich sich

Spiegel stehn, nur um uns still

dort anzusehn.

F.W.H.

Wenn du die Geschichte einer jungen Frau erzählen willst, beginne bei ihrer Großmutter, verriet mir eine Stimme, die ich bis dahin nicht kannte, und ich war frei genug, ihr zu folgen, alle Pläne für dieses Buch beiseite zu legen und nur noch zu hören.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Epilogo

1

„Woher stammen all diese Briefe?“, wollte Raffaella wissen, während sie gemeinsam die letzten Sachen aus dem Zimmer räumten. „Sind sie von dir?“

Florentina lächelte, als hätte sie gehofft, dass ihre Enkelin genau dieses Kästchen in die Hände bekam.

„Nein, sind sie nicht“, gab Florentina bestimmt zurück, „aber sie sind schön.“

„Und alt.“

„Ja, das stimmt“, antwortete Florentina, die nun endlich genug vom Leben an der Küste hatte. Fünfzig Jahre am Meer mussten reichen! Jetzt, mit Ende sechzig, hatte das kühle Bergland mehr zu bieten. Es hatte Kraft und Atem, den sie nun immer öfter brauchte, als müsste sie in ihrem Alter eben doch noch lernen, was importieren heißt. Und: Bäume. Da oben gab es sie noch, die alten Kiefern und Akazien, und die Elbaner wussten: Die Menschen regieren den Raum, die Bäume und das Meer aber herrschen über die Zeit. Doch vom Meer und den alljährlich wachsenden Touristenschwärmen hatte sie nun endgültig genug. Die Wellen, die doch nur ihre immer gleichen Choreografien formten, waren ebenso gut von dort oben aus zu sehen, und was war il mare denn am Ende mehr als ein riesiger Spiegel?

Alles in Florentina war bereits darauf eingestimmt, in das grünere Herz der Insel zu ziehen, zurück in ihr Elternhaus, umrahmt von wedelnden Eukalyptusbäumen, blumig duftenden Orangenhainen und den wandernden Schatten alter Steineichen.

„Wenn sie nicht von dir sind, woher sind sie dann?“, holte Raffaella ihre Großmutter in das fast leere Zimmer der Gärtnerei zurück.

„Lies doch“, winkte Florentina ungeduldig. Es war lange her, dass sie so einen turn – wie Raffaella diesen Umzug nannte – gemacht hatte. Ja, wenn sie genau überlegte, konnte sie sich überhaupt nicht erinnern, schon einmal so bewusst umgezogen zu sein. Nicht als sie mit neunzehn aus dem Haus ihrer Eltern in die kleine Wohnung an der Piazza gezogen war, und auch nicht, als sie später die Gärtnerei in Porto Azzurro, nur einen halben Kilometer vom Hafen entfernt, übernommen hatte.

Doch Raffaella zuckte nur mit den Schultern, während ihre Nase bereits in der Aura der alten Briefe tauchte. Entschlossen hielt sie die Blätter in der Hand. Nur eine lange Strähne, die es sich nicht nehmen ließ, ihre Wangen zu necken, hielt sie noch vom Lesen ab. Doch der Geruch der alten Briefe war stärker. Geführt vom Zauber der ersten Worte, wandelte sie in den Garten hinaus.

„Hast du mein Haarband gesehen?“, sprach sie noch im Gehen zu Florentina ohne sich nach ihr umzudrehen.

„Hängt es nicht im Auto über der Sonnenblende, Liebes?“ Stimmt, Florentina hatte recht, aber sie wollte jetzt nicht eigens dafür zum Auto gehen. Diese Briefe waren so anders!

Neugierig sank sie in den sonnengebleichten Stuhl auf der Veranda, der mindestens so alt wie ihre Nonna war, und steckte das schwarzhaarige Biest von Strähne, das noch immer um ihre Aufmerksamkeit buhlte, einfach zurück hinters Ohr, fest entschlossen, jetzt für ein paar Minuten ungestört zu lesen.

Das alte Papier warb mit all seiner Kunst. Die Zeichen darauf waren so fein! Hier hatte kein Kugelschreiber seine Worte gegen die Faser gepresst, um seinen Willen auch noch auf der anderen Seite hinauszuschreien. Nein, dieses Papier war nicht bedrängt worden! Es fühlte sich an, als hätte jemand einfach alles darüber fließen lassen, was in diesem Moment über ihn gekommen war, und der Schrift nach mussten es zwei gewesen sein, die dieses Schicksal teilten.

„Da ist ja alles durcheinander!“, rebellierte Raffaella ungeduldig, nicht ahnend, dass ihre Nonna noch in der Nähe war.

„So ist das eben, wenn man verliebt ist“, zwinkerte Florentina ihr neckisch zu, während sie die letzten kleinen Töpfe von der Veranda in die leere Orangenkiste packte.

„Sind das Liebesbriefe?“ Florentina nickte.

Andächtig glitt Raffaellas Blick zurück aufs Papier. Ein Teil in ihr suchte noch immer nach der geheimen Ordnung, während ein anderer längst begonnen hatte zu lesen.

„Wie alt sind diese Briefe denn?“

„Was sagst du, Schatz?“, hallte es durch den Gang zurück. Raffaella hatte gar nicht bemerkt, dass Florentina bereits wieder auf dem Weg zum Wagen war.

„Wie alt sind diese Briefe?“, fasste Raffaella etwas lauter nach, als müsste sie dabei gleich ein paar Jahrhunderte überwinden.

„Keine Ahnung. Macht das denn einen Unterschied?“, gab Florentina matt zurück, während sie sich den Schweiß von der Stirn wischte. Der Sommer hatte die Insel gleich mit einem Schirokko überfallen.

„Ich weiß nicht. Sie sind sehr poetisch.“

„Wie Liebe eben ist, oder?“

Raffaella blickte verwundert auf. Die Selbstverständlichkeit mit der ihre Nonna über diese Dinge sprach, irritierte sie. Und der Anblick des erdfarbenen Topfes, den sie dabei wie ein Kind vor ihrem Bauch in den Armen hielt, weil er nach all den Jahren hier in der Gärtnerei immer noch nicht laufen gelernt hatte, tat sein Übriges dazu.

„Das ist doch ...“

„... altes Deutsch.“

Raffaella nickte. Ihre Gedanken befanden sich nun wieder auf sichererem Terrain. Wenn sie etwas in der Schule gelernt hatte, dann waren es Sprachen, und Deutsch hatte sie immer gemocht, auch wenn sie damit in ihrer Klasse ziemlich alleine war. In dieser Sprache gab es so viele Gelegenheiten, über sie zu diskutieren. Im Italienischen gab es das nicht. Italienisch war ihre Muttersprache, und Muttersprache stand eben nicht zur Diskussion, schon gar nicht, wenn einen die eigene Mutter verraten hatte – so kurz vor der maturità – sie und ihr Architekten-Guru aus Florenz, der einfach eines Tages mit seinem silberfarbenen Cabrio auf den kleinen Parkplatz ihrer Gärtnerei gestromert kam. Er und sein Akita. Doch was im ersten Moment so verspielt klang, war gar kein Hundename, sondern eine Rasse. Eine, die klug genug war, sich ihre Besitzer selbst auszusuchen, wie sie dieser für die Insel viel zu gut gekleidete Mann Anfang fünfzig wissen ließ, ohne dass sie danach gefragt hatte. Verdammt, dass so ein Umzug auch immer alles aufwühlen musste! Sie konnte sich sogar noch an den Namen des Hundes erinnern.

„Yuuukon“ hatte sie ihm damals leicht gebückt zugeflötet, nicht ahnend, dass dieser Mann nur wenige Stunden später Hand in Hand mit ihrer Mutter die letzte Fähre in Richtung Festland besteigen würde.

Wie sehr hatte sie sich in diesen Tagen Regen gewünscht! Regen, der das Haus, die Scheune, die Parkplätze und das Gewächshaus wusch. Tagelang hatte es nach dem Ekel der Markierungen gerochen, den dieser Mann und sein Akita hinterlassen hatten. Doch der Regen, er blieb aus, und sie hatte Monate gebraucht, um zu verstehen, wer sich hier für wen entschieden hatte, und warum das alles an einem ganz normalen Mittwochnachmittag geschehen war, ohne dass sie jemand davor hätte warnen können.

Wehmütig warf Raffaella einen scheuen Blick über die Schulter, sah durch die offene Terrassentür in das nun fast leere Zimmer. Ihre Nonna hatte hier gelebt, seit sie denken konnte. Es war eben doch ein Abschied. Aber anders als der ihrer Mutter damals. Damals hatte es keinen Abschied gegeben. Nur ein paar hastig verdruckste Worte, Gegluckse, das selbst die Hühner, die den langen Streifen am Gewächshaus bewohnten, besser hätten deuten können. Aber das alles lag nun fast ein Jahr zurück. Ein Jahr, an das sie keine Erwartungen gehabt hatte, weil sie nie damit gerechnet hatte, so eine jemals zu brauchen.

Ihr Blick fiel zurück auf die Briefe. Regungslos weilten sie zwischen ihren Fingern und ertrugen gelassen die Bedeutungslosigkeit, mit der sie sie gerade behandelte. Ihr Kopf war nicht frei genug für etwas Schönes. Doch die Briefe hatten Anstand, gestatteten ihr den Anflug von Wehmut. Sie hatten etwas Weises an sich, so weiß wie sie dort in ihren rot getünchten Fingern lagen. Verdammt, das hatte sie gar nicht bemerkt! Die Töpfe, die sie ein paar Minuten zuvor noch geschleppt hatte, hatten also doch abgefärbt! Rasch wischte sie das Rot in ihr dünnes Kleid. Kleider konnte man waschen. Briefe nicht. Sie musste vorsichtig sein!

Verschwiegen lächelten die ersten Zeilen sie an. Das Papier war so fein! Es musste kostbar sein. Ja, ein wenig fühlte sie sich in ihrer Anwesenheit wie eine feine Dame. Doch die rotbraune Erde, die am Blattrand durch ihre Fingernägel schimmerte, wusste noch von ihrer wahren Herkunft zu erzählen. Nein, sie war gewiss keine Lady! Erde war unbestechlich! So wie damals, als sie trotz Lernstress in der Abschlussklasse gleich nach der Schule bei der Ernte der Agrargenossenschaft geholfen und alles für die kleinen Verkaufsstände an der Straße verpackt hatte, damit die Touristen es von dort tütenweise an den Strand schleppen konnten! Ja, bella vita, das hatten die anderen. Doch in jenen Wochen hatte sie das Wühlen in der Erde gebraucht! Sie musste einfach etwas Neues wachsen sehen, etwas, das hier auf dieser Insel wuchs und nicht anderswo.

Die Erde und das Meer, Nonna und Papà, sie waren ihr Halt gewesen, als Mamma ihre Gärtnerei für diese städtische Fassade von Mann verlassen hatte. Es war, als hätte jemand das Meer geteilt und die Fährbrücke zum Festland gleich mit zerschlagen. Keiner von ihnen wollte die ersten Wochen freiwillig dort hinüber. Seit der Architekt mit seinem Akita über ihre Gärtnerei hereingebrochen war, waren auch die Grenzen neu vermessen. Piombino war nun das Tor zu einer anderen Welt, und sie versuchten es zu meiden wie das Gift, das niemand gerne nahm, um seine Pflanzen vor den Schädlingen zu schützen, und es doch tun musste, wollte er überleben.

Raffaella blickte sich noch einmal um. Das Zimmer in ihrem Rücken war noch immer leer. Es tat gerade gut, allein zu sein.

Papà hatte um dieses Gift gewusst. Trotzdem war er mindestens zwei Mal abends mit der letzten Fähre aufs Festland gefahren, nur um am nächsten Morgen mit rot verquollenen Augen zurückzukehren. Von diesen beiden Malen hatte sie gewusst, die anderen wusste sie nicht und sie hatte sich geschworen, ihn auch nie danach zu fragen. Zu sehr liebte sie ihn, und daran änderte sich auch nichts, als Mamma ein halbes Jahr später zurück auf die Insel kam. An einem Dienstagmorgen, es war leicht bedeckt, und die Maturaprüfungen hatten gerade begonnen – nur einen Tag, nachdem sie zur Frau geworden war. Doch davon konnte Mamma ja nichts wissen.

Raffaella atmete tief durch. Yoga wäre jetzt gut! Es war eines der Rituale, das aus der Zeit nachdem stammte. Nachdem. Dieses Wort hatte seitdem eine ganz eigene Bedeutung in ihrem Lebenswörterbuch: Nachdem; temporale Präposition, die die Zeit einleitet, in der Mamma uns verlassen hat. Und in Klammern dahinter: [einstweilen]. Für die Wiederkunft gab es kein Wort in diesem intimen Buch, das nur in ihren Gedanken existierte. Aber sie erinnerte sich noch genau, als sie nach der ersten Prüfung nach Hause kam – ausgerechnet Mathe! – und den silbrig glänzenden Koffer, der einem Astronauten hätte gehören können, im Hausgang stehen sah, umgarnt von einem Haarspray, das sie hier noch nie gerochen hatte.

Raffaella schnappte nach Luft. Jetzt brauchte sie doch einen Break! Mit geschlossenen Augen ging sie dem Fluss ihres Atems nach, faltete ihre Hände vor der Brust und wartete, bis all der schwere Honig von den Gärten von Boboli in der Erde verschwunden war. In diesen Bildern bestimmte sie das Tempo! Sie ließ ihn aus Blüten tropfen, dick und zäh, langsam genug, dass sie wieder entspannt atmen konnte. Dann ließ sie die Erde sich öffnen und all den Honig, der nach Haarspray und viel zu teuren Boutiquen roch, einfach in der Erde versickern. Und mit ihm all die Spuren von hellrotem Lippenstift, der sich so naiv an die von Prosecco perlenden Gläser gepresst hatte, die es speziell auf Vernissagen gab. Dann ließ sie die Erde sich wieder schließen, wartete noch einen Augenblick, ob sie auch nichts vergessen hatte, ließ alles unter der Grasdecke verschwinden, pflanzte ein paar schöne Blumen darauf und kehrte in ihrem eigenen Tempo auf die noch immer leere Veranda zurück. Bilder-Yoga nannte sie das. Und sie ließ es tropfen, ohne sich selbst zu bewegen. Jetzt war sie ganz hier.

Geduldig warb das alte Papier noch immer um das Blitzen ihrer Augen. Dieser harte und klare Duktus des Deutschen, den man sich nur so schwer gesungen vorstellen konnte, stand jetzt ganz nah bei ihr. Nicht, dass sie daran zweifelte, dass man in deutschen Lettern nicht auch lieben konnte, aber Lieben war das eine, Tanzen eben etwas ganz anderes. Und doch musste es diesen Tanz auch in dieser Sprache geben, so wie es ihn in jeder Sprache gab.

In wenigen Wochen würde sie endlich einen der alten Hörsäle in Florenz betreten und wenn sie dabei ein leichtes Wippen in ihrer Hüfte hätte, würde ihr das sicher nicht schaden. Ja, diese Briefe waren eine Aufforderung. Antipasti vom Feinsten! Der Tanz hatte begonnen!

„Frag mich ruhig, wenn du etwas wissen willst“, bot Florentina lächelnd an, während sie sich schnell noch ein paar Sachen unter den Arm klemmte. „Ich bringe das hier inzwischen ins Auto. Meinst du, Babbo kocht uns was?“

Raffaella zuckte unbeteiligt mit den Schultern. Papà, Essen, Auto. Das alles war mit einem Mal so weit weg. Sie war froh, endlich ganz hier zu sein, und war doch bereits dort, wo es keine Eltern und keine Autos gab.

Du Schöne,

hier, neben deinen Kleidern, ein paar Zeilen, verwahr sie gut, wenn sie dir nur teuer genug erscheinen. Allein, viel näher kann ich dir nicht sein.

Oh, wie freut mich dieses Stück Papier! So oft schon waren wir gemeinsam hier und doch bleibst du mir sicher fern. Wie kommt‘s?

Glaube mir, ich würd sehr gern ein Stück noch näher bei dir sein! Allein, die Tugend unterbindet‘s. Doch zieh nur weiter deine Kreise, im stillen See und lass uns leise spannen dieses lieb‘ Geflecht. Die Vögel geben auf uns acht. Der Habicht ist ein guter Freund.

Ein kleines Spiel? Das steht uns gut. Ist doch die Welt schon starr genug! Oh, wie ich das Wasser liebe, wenn es prickelnd um mich greift, in Wellen meine Schenkel streift! Ich wünschte nur, es wärest du! Doch nein, ich will dich nicht verführen! Lieber halt ich hier in Ehren dieses eine Stück Papier, ein Teil der Welt, der ich gehör, oh, komm bald wieder, treuer Freund. Der Farnwald gibt uns beiden Schutz.

Meine Teure,

hör nur gut, du brauchst mich gar nicht lang zu bitten! Wie könnt ich morgens Sonnlicht sehen, ohne an den See zu gehen. Allein, die Kirche hält mich auf, ich suche sie, sie gibt mir Raum und viele neue Fragen auch. Fragen, die der See – ich fürcht – mir nicht bereden kann. Ich trag sie trotzdem, stumm und gern.

Oh, mein Treuer,

komm und nimm nur alle Fragen mit! Und will die Sonne mal nicht scheinen, will ich doch für dich das Wasser teilen. Wie sehr ich es doch jetzt schon liebe, dich durch das hohe Gras zu sehn. Die Fragen, fürcht ich, stehn dir gut. Trag sie nur, ein schicker Hut, am Ende ist es wohl der Kopf, der über unser Glück entscheidet.

Oh, wie klug du hier von allem sprichst! Und doch verspielt so wie ein Reh, das über feuchte Moose tanzt, eins mit den Erlen und den wilden Rosen.

Rosenduft, das hör ich gern, doch wie weit bin ich dir fern! Allein, der See, er ist so weich und doch die Welt den Stacheln gleich. Wie ist es nur um uns bestellt, wie eng‘s mir wird in dieser Welt. So komm nur bald und ruf mich wieder. Alleine, fürcht ich, wird mir kalt.

Meine Schöne,

darfst der Welt nicht gram schon sein. Du bist zu jung, zu stark, zu fein. Lass uns nicht von Grenzen sprechen! Wie gern würd ich ins Wasser eil‘n! Allein, mein Stand gebietet es nicht. Hier, die Böschung, mein Revier, hier bin ich sicher, bleib bei dir, bin ein paar Stunden aus der Stadt. Mein Reich ist wohl von dieser Welt.

Dein Reich ist nicht von dieser Welt, das weißt du ebenso wie ich, doch will ich dich nicht dafür tadeln. Wie gern würd ich dich atmen hören, mit deinem Kopf an meinem Busen. Du bist das Ufer, ich der See. Zusammen sind wir die Natur und können beide nichts dafür.

Natur, mein Liebes,

bin ich gern und doch so weit der helle Stern. Oh, wie frech sind doch die Farne, die dort am weichen Waldesrand um deine hellen Waden buhlen! Drum sei nur See, wenn du es fühlst, ich trage meinen Teil in Ehren, bin Ufer, schweigsam und auch leer und nehme still das Wasser auf, das überläuft auf meinen Bauch, wenn du dort nackt ins Wasser steigst.

Oh, mein Ufer, Sonnenstern,

wie hab ich dich doch jetzt schon gern. Im Wasser dort bin ich dir nah. Ich kann dich spüren, an mich zieh‘n, mit bloßem Munde runter führ‘n, nur um dich wieder auszuspeien, als wäre nichts gewesen.

So ist die Vorsicht hohe Zier. Die Gier, wer weiß, längst hätt sie uns schon weggeschafft. Die Kirch allein, Gott weiß, sie könnt uns nicht mehr helfen.

Ach, mein Teurer,

Zier wie diese steht mir nicht und doch werd‘ ich sie für dich tragen. Morgen bin ich in der Stadt, verkaufe meine Kleider dort, andere als diese hier, und hoffe dann, du kennst mich noch.

Erstaunt blickte Raffaella von den Briefen auf.

„Nonna?!“

Den Stimmen nach war Florentina irgendwo dort draußen vor dem Haus. Vermutlich half ihr Papà gerade, die letzten Kisten in den R4 zu laden.

„Nonna?“, setzte sie beherzt noch einmal nach, während sie gleichzeitig dem kleinen Pfad von der Terrasse durch den Garten folgte. Sie musste sich ganz schön strecken, um über die Hibiskushecke auf die Straße blicken zu können.

„Was ist mein Schatz?“, gab Florentina noch immer schwer bepackt zurück. Raffaella musste wie ein Blumengeist ausgesehen haben, mit all den blassblauen Blüten in ihrem Gesicht.

„Gibt es Farne oben am Haus?“

„Farne?“

„Ja, Farne.“

„Nicht, dass ich wüsste. Warum fragst du?“

„Nur so.“

„Wenn du Farne willst, fahr doch zur Quelle bei Antonio. Dort findest du ein ganzes Meer. Es gibt auch Adlerfarne dort.“

„Felce Aquilina“, flüsterte Raffaella. Adlerfarn war das erste Wort, das ihr Florentina als Kind in den Bergen beigebracht hatte. Zumindest das erste, an das sie sich erinnern konnte. „Eigentlich ziemlich ungewöhnlich“, kommentierte sie leise, noch immer auf gespitzten Zehen. Vielleicht waren frech wedelnde Pflanzenarme für Kinderaugen aber auch nur einfach gesprächiger als dieses ewig wiegende Blau von Meer. Immerhin hatte man neun Monate in so einem Meer verbracht. Farne gehörten zu der Welt dort draußen und genau da wollte sie jetzt hin!

„Bei Antonio?“

Die Blüten des Hibiskus kitzelten sie noch immer frech an der Nase.

„Ja, bei Antonio. Oben bei der Fonte Emilia. Hattest du nicht eine Schulfreundin dort oben? Wie hieß sie doch gleich ...“

„Maria.“

„Ja, Maria.“

„Kann sein. Ich war nie bei ihr zuhause. Kann ich deinen Wagen haben?“

Florentina zögerte einen Moment. Ihr Kopf war schon ein wenig müde von dem ganzen Packen und Sortieren, und so musste sich die Frage erst an all den Schubladen vorbeidrängen, die sie seit Tagen für den Umzug in ihrem Kopf angelegt hatte. Doch für Raffaellas Frage wollte gerade keine so richtig passen.

„Was ist?“, hakte Raffaella ungeduldig nach. Etwas in ihr hatte bereits Angst, den Markt in der alten Stadt am See zu verpassen. Doch die Terrasse hinter dem kleinen Häuschen der Gärtnerei war hierfür nicht der richtige Ort.

„Kulisse ist alles!“, hatte Roberto Fini sie gelehrt. Viele ihrer nun ehemaligen Lehrer hatten so eine Instant-Meta-Weisheit in ihr hinterlassen, und es war Raffaellas Idee gewesen, ihnen ein ganzes Kapitel ihrer letzten Schülerzeitung zu widmen. Die Weisheit von Fini saß noch erstaunlich gut, irgendwo zwischen Hippocampus und limbischem System. Kein Wunder, war ja auch erst ein paar Wochen her! Sie musste sich erst noch an den Gedanken gewöhnen, keine Schülerin mehr zu sein.

„Ich weiß nicht“, holte Florentina sie in die Gegenwart zurück. „Wollen wir nicht erst etwas essen? Papà hat Fisch ...

„... Spada!“, stahl sich Federico findig dazwischen, bepackt mit der letzten Kiste Küchenutensilien. „Zur Feier des Tages gibt es Schwertfisch.“

Vorsichtig bog Raffaella die kitzelnden Zweige aus ihrem Gesicht.

„Oh, Babbo“, tröstete sie ihn mit wachen Augen, während sie gleichzeitig ihre nackten Zehen streckte, um sein Gesicht besser sehen zu können. „Ich hab grad keinen Hunger, aber wenn ich zurück bin, ja? Ich bin nicht lange aus.“

„Meinetwegen“, willigte Federico ein. Sein Vaterherz war schon immer groß genug für all die bezaubernden Raffaellas, die in seiner Tochter wohnten. „Aber fahr vorsichtig, ja? Das Sammelsurium im Kofferraum schiebt ganz schön. Du musst im kleinen Gang die Straßen runterfahren. Hörst du?“

„Certo.“

Und nur wenig später schlüpfte Raffaella so erquickt aus dem Haus, als wäre sie eben selbst einer Quelle entsprungen, und die alten Briefe in ihrer Hand trieben sie aufgeregt wie kleine Flügel an.

„Ach, ja. Kann ich die mitnehmen? Ich möchte gerne noch ein bisschen darin lesen.“

„Kannst du“, gab Florentina feierlich zurück, während sie ihr die fein klingelnden