Die letzte Stunde - Florian W. Huber - E-Book

Die letzte Stunde E-Book

Florian W. Huber

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Beschreibung

Sokrates hängt im Hof des Gerichts von Athen seinen letzten Gedanken nach. Unruhig, wütend und zerfahren. Doch durch die Hilfe seiner klugen, verständigen Begleiterin findet er einen neuen, ganz anderen Weg nach Hause. Eine literarische Reise durch die Welt der Ego-State-Therapie. Ein Buch nicht nur für Coaches, Therapeuten und Klienten. "Die letzte Stunde" ist nach "Die Hochzeit des Chronos", "Highway to Ataraxia" und "Oleandermond über Elba" Florian W. Hubers vierte literarische Buchveröffentlichung

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Seitenzahl: 60

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Für alle, die sich immer wieder auf die faszinierende Reise nach Innerwelt begeben. Möge diese Reise Herz, Heilung und Integration auf die Erde bringen.

Der Kapitän

Identität ist eine Reise und kein Ort.Sten Nadolny

Das eiserne Tor zum Innenhof fiel entschieden ins Schloss. Eine Stunde würde ihm noch bleiben. Er hatte sie alle weggeschickt. Zuerst die Frauen, dann die Freunde, schließlich seine Schüler und mit ihnen seine Söhne. Schon morgen würde er nicht mehr mit den Händlern am Markt debattieren, junge Männer auf dem Weg zu ihrer Arbeit mit spitzen Fragen rasend machen und die Advokaten vor allen lächerlich. Er würde kein Schiff mehr nach Athen kommen sehen, keine Kriege mehr kämpfen, keine Schüler mehr lehren. Eine Stunde, das war die Gnade, die sie ihm zugesprochen hatten.

Die Dämmerung leuchtete den Sandstein in warmen Tönen aus. Sokrates, der Mann mit der gedrungenen Nase, saß dort, die Sandalen weit mit seinen stämmigen Beinen von sich geschoben, die Füße haltlos im warmen Staub. Etwas in ihm suchte die Erde, und seine Zehen wollten nicht aufhören, in dem goldenen Sand zu graben.

Der Wind hatte den Sand, der einst vom Meer gekommen war, zu Stein werden lassen. Nun war er mit dem Felsen des Hofes verwachsen, wie Sokrates Schicksal besiegelt war. Doch seine kräftigen Zehen wurden nicht müde, das alles anzuzweifeln. Die Welt schien ihm allmählich zu entgleiten, und das Lächeln, mit dem er noch vor wenigen Minuten aus dem Gerichtssaal geschritten kam, war plötzlich einem leeren Gefühl gewichen. So viel Luft hatten seine Worte bewegt, so viele Gemüter erregt, und jetzt saß er regungslos auf dem Stein unter dem einzigen Baum im Hof und starrte durch die hellen Sandsteinmauern hindurch ins Leere. Sokrates, der Mann, der niemals Worte verlor.

Sieben pralle Stunden hatte er den Richtern Rede und Antwort gestanden, ohne ein einziges Mal zu wanken. Doch jetzt war ihm schwindelig und übel vor Hitze. Seine Kehle brannte wie seine Fußsohlen, die noch immer ruhelos im Sand scharrten. Obwohl man ihm zu Trinken gegeben hatte, war sein Durst nicht zu stillen. So wenig wie es in ihm still war. Ein ganzes Leben lang war es laut in seinem Inneren gewesen, hatte etwas in ihm debattiert, gezweifelt, gerungen, verworfen, verschlungen – und war doch noch immer durstig. Sokrates, dessen Seele niemals ruhig war.

„Gottlos? Gottlos nennt ihr mich?“, rief er, noch immer aufgeheizt von der Stimmung im Gerichtssaal, in die brennende Nachmittagssonne hinein. „Ihr wisst gar nicht, wie sehr ihr meiner Seele dient! Was habe ich schon zu verlieren? Ihr, die ihr euch Richter nennt! Den wahren Richtern werde ich folgen, und sie wohnen in Häusern, die Paläste sind, den homerischen Hymnen gleich so wie Minos und Rhadamanthys. Wahrlich, sie würden euch die Ehrfurcht lehren, wo Vernunft euch nicht bekehren konnte! Ja, ich zweifle an eurer Vernunft, doch nicht an meinem Glauben! So erwarte ich nun das Urteil der wahren Richter. So oder so habe ich – hört ihr, ich – die Wahl getroffen. Und meine Wahl lässt mich gewinnen, während ich mein Leben verliere. Denn entweder erwartet mich auf der anderen Seite ein empfindungsloser, ewig schlafloser Traum oder aber ein Wiedersehen mit all den Göttern und Heroen, den Großen der Geschichte, den Dichtern und Sängern. Jawohl, ich werde Odysseus und seinen Sohn Telemachos sehen! Ich werde mich mit Homer und Orpheus in die Fluten der Erzählung stürzen. Ja, mit ihnen wird diese undankbare Last des irdischen Lebens schnell vergessen sein! Eure Engstirnigkeit wird am Ende verblassen wie ein Segel auf hoher See, das zu einem Schiff gehört, das den Kurs verloren hat und ganz in die falsche Richtung steuert. Nein, ich bin kein Wissender! Aber ich glaube an einen Gott, der wahrhaft richtet, und ich werde mich meinem Schicksal und nur ihm ergeben. So wahr ich hier unter der Sonne Athens sitze!“

So sprach Sokrates in dieser Stunde, in der er noch immer von der ewigen Ruhe sprach und doch keine Ruhe fand. Mochten seine Füße auch noch so tief im Sand danach graben. Seine Gedanken kreisten wie ein Mühlrad, das sich mit jeder Bewegung von der einen in eine andere, weniger kontrollierbare Welt schaufelte. Der Schweiß an seinem Nacken und in seinen Händen war abwechselnd heiß und kalt. Er begann zu zittern. Unruhig rieben seine Finger an der Nasenwand entlang hinauf zu den Tränen, die einfach nicht kommen wollten.

Dann, plötzlich, staute sich etwas in ihm zu einem großen Unheil, und er konnte nicht fassen, was es war. Etwas näherte sich, und sein Verstand konnte sich ihm nicht erwehren, weil er es nicht kannte. Immer wieder musste er sich zwingen zu schlucken, um wenigstes seine Ohren wieder zu öffnen, die, so schien ihm, jetzt endgültig ihren Dienst quittierten.

Er fühlte sich mit einem Mal zerrissen. Er beobachtete unruhig seine Füße, die in monotonen Zügen wie in Zeitlupe in immer gleichen Bahnen den Sand vor ihm hin- und herschoben. Er hatte Angst, vielleicht zum ersten Mal bewusst in seinem Leben. Er war sich fremd. Er war kurz davor, seiner eigenen Person zu entrücken.

Noch nie war er sich selbst so gegenübergestanden. Ja, er kannte sich wütend, leidenschaftlich, aufbrausend, derb und laut, ja auch krank, das alles kannte er. Aber so zerfallen in Geist und Körper kannte er sich nicht. Ihm war, als würde ihm sein Körper nicht mehr gehorchen. Und das, obwohl er das Gift noch gar nicht getrunken hatte, zu dem er verurteilt war! Was wussten seine Beine schon, die sich von ihm entfernten? Was seine Ohren, die sich von selbst verschlossen? Was das laute Surren in seinem Kopf? Die pochenden Schmerzen in den Schläfen? Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er tatsächlich Angst, verrückt zu werden. Wie ungerecht das Leben doch war! Ein Leben lang der Vernunft zu dienen und auf den letzten Metern verrückt durchs Ziel zu taumeln? Nein, das hatte er nicht verdient! Bei aller Frechheit, die ihm ein Leben lang ein guter Gefährte gewesen war. So etwas hatte er nicht verdient. Es war unwürdig.

In diesem Zustand, in dem er sich nahezu selbst verlor und mehr noch seine Kraft, dagegen anzukämpfen, begann sich mit einem Mal der ganze Hof um ihn herum zu drehen. Der Wind peitschte wütend die Blätter durch den Hof. Und der Stein, auf dem er saß, schien unter ihm wegzugleiten. Nein, es war nicht der Tod! Der Tod kam leise. So viel hatte ihn das Sterben derjenigen gelehrt, die vor ihm gegangen waren. Die, die jetzt entweder in unendlicher Ruhe waren oder mit den Großen an einem Tisch saßen. Dieses Unheil hier jedoch, es kam laut wie ein brüllendes, verletztes Tier, das sich bis zu diesem Augenblick irgendwo in seinem Körper versteckt hatte und jetzt einen Ausgang aus seiner Höhle suchte. Er hielt den Atem an.

Ein fürchterlich stechender Schmerz fuhr ihm mit einem Mal gleichzeitig in Rücken und Brust. Das Tier in ihm, oder was immer es war, wollte ihn zerreißen. Doch kurz bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er eine Stimme, ganz leise, über seiner linken Schulter.

„Sokrates“, sprach sie, sanft und gleichzeitig bestimmt. „Sokrates, bleib bei mir!“

Sokrates blickte überrascht auf. „Wer ist da?“, fragte er ungläubig.