Die Hüter der fliegenden Inseln - Friedrich Koppe - E-Book

Die Hüter der fliegenden Inseln E-Book

Friedrich Koppe

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Beschreibung

Sein ganzes Leben hat der 17-Jährige Jeris auf Alpatu verbracht, einer fliegenden Insel inmitten der großen Leere. Doch eines Tages erkrankt Mael, der Schutzpatron der Insel und Hüter des Lebensbaums. Gemeinsam mit dem charismatischen Piloten Valon und Maels stummer Schülerin Cosma, bricht Jeris auf, um ein Heilmittel zu finden. Eine abenteuerliche Reise bis zur legendären Insel Ytara beginnt. Jeris muss den Mut aufbringen, den er sich immer gewünscht hat, und erlebt zum ersten Mal die Kraft der Freundschaft. Allerdings ahnt Jeris nicht, dass die Bedrohung größer ist, als angenommen. Denn nicht nur er sucht nach dem Heilmittel - und nicht alle wollen Alpatu retten... Eine fantastische Abenteuergeschichte über Freundschaft und den Mut, alles für diese zu tun.

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‚Bäume sind Gedichte,

die die Erde an den Himmel schreibt.‘

Khalil Gibran

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil: Aufbruch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Zweiter Teil: Reise

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Dritter Teil: Ankunft

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Erster Teil

Aufbruch

Aus der ersten Legende der Heldin Sura, deren Lied das Menschenvolk vor dem bitteren Ende bewahrte

Vor dem Beginn der Zeit, die in Umkreisungen der Tiefe bemessen wird, bewohnte das Menschenvolk eine Welt, die keinen Mangel kannte. Wo auf ihren Boden ein Same fiel, da spross und gedieh, was immer ein Menschenherz begehrte. Wem die Früchte von Feld, Hain und Wiesen nicht genügten, dem boten sich die Weite der Meere für den Fischfang und jene der Wälder für die Jagd. Die Musik jener Tage klang heiter, und in ihren Sprachen gab es kein Wort für Hunger.

Durch seinen Reichtum kam das Menschenvolk voran. Aus seinen Katen und Gehöften wurden Siedlungen, aus den Siedlungen Dörfer und aus den Dörfern glanzvolle Städte, deren Häuser und Türme weit in den Himmel ragten.

Jedoch lebten in jener Zeit zwei weitere Völker, mit denen die Menschen ihre Heimat, nicht aber den Reichtum teilten: die Dämonen der Tiefe und die Geister des Wurzelreiches. Die Dämonen hausten im Inneren der Weltkugel, ernährten sich von kleinem Getier und von Pflanzenteilen, die nur im Dunkel wuchsen. Auch sie selbst sahen nie einen Funken dieses Lichts, nicht einmal eine schmale Spur, wie sie die Sonne an einem schönen Morgen auf nachtkühle Erde zeichnet.

Die kleinen Geister des Wurzelreichs hingegen lebten zwischen der Sphäre der Menschen und jener der Dämonen, und vermochten sowohl in die eine als auch in die andere zu gelangen. Sie errichteten ihre Behausungen in den Verästelungen der Wurzeln, mit denen die riesenhaften Bäume in der Erde verankert waren, und krochen dazwischen umher wie Maulwürfe. Die meisten von ihnen beschieden sich mit ihrem Schicksal. Doch in einigen, die dort im Zwielicht zwischen Helligkeit und Finsternis geboren wurden, lebte eine gefährliche Sehnsucht.

Den Dämonen der Tiefe waren die kleinen Geister verhasst. Die Dämonen begehrten die Welt der Menschen, eines Tages wollten sie durch die Erde nach oben dringen und ihnen ihr Reich des Überflusses und des Lichterglanzes aus den Händen reißen. Doch das verzweigte Wurzelwerk des Lebensraumes der kleinen Geister stellte einen Wall dar, der die Herren der Dunkelheit von den Menschen fernhielt.

Sobald eines jener vorwitzigen Geschöpfe das Köpfchen allzu tief hinunter in die Schwärze senkte, erwischte ein Dämon es mit seiner klauenbewehrten Pranke und machte ihm mit einem Schlag den Garaus.

Die Menschen ahnten nichts von der schützenden Bedeutung der kleinen Geister, sondern verachteten sie als stumpfsinnige, tierhafte Kreaturen aus Dreck und Morast. An der Oberfläche drohte ihnen zwar kein Tod durch Mörderhand, doch es hätte sich auch kein Mensch des hilflosen Gastes erbarmt und ihn auf seinem Land geduldet. Allein, ohne Dach über dem Kopf, hätte er in einer Welt, die kein Wort für Hunger kannte, hungers sterben müssen.

So verboten die Eltern des Geistervolkes ihren Söhnen und Töchtern jeden Traum von den zwei anderen Welten. Die meisten Kinder gehorchten und begnügten sich mit dem knappen Raum, den die Gleichgültigen Götter ihnen zugewiesen hatten. Dies taten sie auch dann noch, als ihr Reich sich immer weiter verengte, nicht nur, weil Dämonen die Klauen in die Wurzeln der Bäume schlugen, sondern mehr noch, weil die Menschen die Bäume fällten. Sie brauchten den Platz, um ihre Städte zu bauen, und das Holz, um ihre Wohnungen zu heizen.

Bald lebten die Geister zwischen den verbleibenden Wurzelsträngen dicht aneinandergedrängt. Sie fanden kaum noch Nahrung und mussten zusehen, wie ihre Kinder von Tag zu Tag schmächtiger, bleicher und kränklicher wurden.

Dann aber wurde unter ihnen, an der Hauptwurzel des größten Baumes, der den Namen Ta-talaha – Hüter aller Hüter – trug, ein Kind geboren, das anders war als sämtliche übrigen. Es war nicht schwach, sondern stark wie der Baum selbst und nicht bleich, sondern schön wie eine der Blüten, die im Frühling seine Zweige übersäten. Jenes Kind war die Tochter von Reon, dem Ältesten, den die Menschen in ihrem Spott den Lumpenkönig nannten, und ihr Name war Sura.

Kapitel 1

„Du bist klein“, hatte Mael gesagt. „Aber du versuchst zu kämpfen wie ein Großer. Wenn du je einen Kampf gewinnen willst, musst du lernen, ihn als ein Kleiner anzugehen. Bestehe deine Kämpfe als der, der du bist, Jeris.“

Mael sah nicht aus wie ein Mann, der in seinem Leben je einen Kampf ausgefochten oder gar gewonnen hatte, und doch vertraute Jeris seinem Wort. Er war der Schutzpatron. Der, der mehr wusste. Die Legenden der Heldin Sura, die mit ihrem Singen die Menschen aus der ewigen Tiefe errettet hatte, erzählten von einem Erben, der Suras Lied von Generation zu Generation weitertragen sollte. Dieser Erbe war Mael. Manche Menschen auf den fliegenden Inseln waren sogar überzeugt, er sei die wiedergeborene Heldin Sura selbst und die Macht über sämtliches Leben ruhe in seinen knochigen Händen.

Mael sprach nicht leichthin wie so viele, deren Worte dem Geraschel des Laubes im Winde glichen. Zu ihm kamen Scharen von Hilfesuchenden und wenn er jemandem einen Rat gab, dann hatte dieser Gehalt.

Jeris hatte sich bemüht, Maels Lehre zu verinnerlichen. Statt der Schlagkraft hatte er seine Schnelligkeit trainiert und täglich Übungen absolviert, um seinem Körper mehr Wendigkeit zu verleihen. Erst jetzt aber, da er seinem Bruder auf dem Kampfplatz im Hof der väterlichen Villa gegenüberstand und auf Taros’ geballte Fäuste starrte, begriff er, wie recht der greise Schutzpatron gehabt hatte.

Taros überragte ihn um einen vollen Kopf und auf jeder Schulter hätte er einen Sarg balancieren können. Er war so schwer und muskelbepackt, wie Jeris sehnig und schmächtig war.

Jeris hasste sich dafür. Er hasste seinen Körper, der sich weigerte, sich in die Länge zu strecken und in die Breite zu dehnen wie die seiner Gefährten. Sie waren alle miteinander kleine Jungen gewesen, den Schikanen der Älteren ausgeliefert, doch während aus den anderen so rasch Männer wurden, wie an den Zweigen des Lebensbaumes Knospen aufbrachen, steckte er selbst in seinem mickrigen Jungenkörper fest.

Mit seinem Selbsthass kam er jetzt jedoch nicht weiter. Wenn er nicht gerupft werden wollte wie ein altersschwacher Kampfhahn, musste er sich auf das besinnen, was er besaß.

„Ohne Waffen“, lautete die einzige Regel, die ihr Vater für die Kämpfe seiner Söhne ausgab. „Nichts ist verboten, nichts ist verpönt, solange ihr einzig und allein die Kraft eurer Körper einsetzt.“

Das war es, was er wollte – Sebero, den die Bewohner der Insel den König der klingenden Münze nannten: Seine Söhne sollten sich mit bloßen Händen die Haut zerfetzen, mit nackten Füßen niedertrampeln, und wenn einer dem andern die Kehle, die Stirn, das Herz zertreten hätte, hätte der mächtige Sebero es vermutlich ohne eine Träne hingenommen.

Nein, verbesserte sich Jeris in Gedanken. Nur wenn Taros sein Herz zertreten und sein Leben ausgelöscht hätte, hätte der Vater keine Träne vergossen. Taros’ Arme und Schultern zitterten, so sehr gierte er darauf, auf den Kleineren loszustürmen und seinen ungeheuren Zorn an ihm auszulassen. Jeris hingegen waren diese Kämpfe aus tiefstem Herzen zuwider. Noch schlimmer war, dass er sich vor ihnen fürchtete, denn wer Furcht zeigte, wem in Nacken und Achseln der Angstschweiß ausbrach, der verriet seinem Gegner, dass er sich für besiegbar hielt.

„Na, wird’s bald?“ Taros tänzelte mit erhobenen Fäusten vor Jeris auf und ab. „Komm schon, mein Brüderchen, mein klitzekleines. Die Ehre des ersten Schlages überlasse ich dir.“

Die Frühlingsonne fiel schräg in den Innenhof der Villa. Jeris verfolgte das Spiel, das ihre Strahlen auf den Steinen des Pflasters trieben. Dies könnte ihm helfen. Rasch vollführte er drei kurze Schritte zur Seite, als wolle er Taros’ Fäusten ausweichen.

Dieser jagte wie von der Sehne geschnellt hinterher. In dem Moment, in dem die blendenden Sonnenstrahlen ihm frontal in die Augen prallten, holte Jeris mit der Linken aus und hieb seinem Bruder die Handkante gegen die Kehle.

Taros gab ein gurgelndes Wutgeheul von sich und stürzte sich auf Jeris.

Der nutzte sein geringes Gewicht und die gewonnene Wendigkeit aus, schoss wie eine Peitschenschnur um seinen Bruder herum und landete einen Treffer im Rücken unterhalb der Taille. Wieder schrie Taros wutentbrannt auf, doch auch sein nächster Schlag traf ins Leere, weil Jeris ihm erneut entschlüpfte.

Es war ein Tanz, kein Kampf. Wenn Jeris sich an diesem Gedanken festhielt, verlor die Furcht in ihm die Kraft. Von klein auf hatte er tief verzaubert den Sura-Tänzern zugesehen, wenn sie an den Tagen des Gedenkens ihre Tanzrituale zum Dank für die Errettung der Welt darbrachten. Sie bewegten sich zu Suras Lied wie Zweige im Wind, wie Schilf, das mit den Wellen wogte, wie Blütenblätter, die sich entfaltend aus ihren Knospen sprangen.

Ein paarmal streifte Taros’ Faust ihn an der Schulter, doch kein Aufprall brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Sobald der Bruder mit einem Wutschrei herumschwang, duckte sich Jeris unter der niedersausenden Hand hinweg, schlug einen Haken und landete selbst einen Treffer an Taros’ anderer Seite. Wäre es ihm nicht so zuwider gewesen, einem Menschen wehzutun, hätte er geradezu Spaß daran finden können.

Je länger der Kampftanz andauerte, desto höher stiegen Jeris’ Chancen. Um seine Ausdauer war es nicht übel bestellt, während Taros, dessen Beine weit mehr Gewicht zu tragen hatten, rasch ermüdete. Schon glaubte er, die Bewegungen des Bruders würden schwerfälliger und langsamer, da ertönte dreimal hintereinander ein kurzes, scharfes Klatschen.

Taros hielt mitten in der Bewegung inne. „Ha!“, rief er triumphierend und wies über Jeris’ Schulter hinweg, auf den Arkadengang am Rand des Hofes. Jeris wirbelte herum, um zu sehen, was vor sich ging – und im nächsten Augenblick traf die Faust seines Bruders in vollem Schwung auf seine Wange.

Jeris taumelte zur Seite, und in seinem Ohr begann es schrill und stechend zu ringen. Der zweite Hieb war so heftig, dass er glaubte, seinen Kiefer krachen zu hören. Der Schmerz nahm ihm die Sicht, tauchte die Welt in ein Schwarz, durch das Funken blitzten. Er streckte den Arm aus, um die Balance zu halten, doch er kippte zur Seite wie ein Halm.

Durch das Ringen in seinem Ohr hallte Taros’ Gelächter.

„Zum Lachen kann ich daran nichts finden“, knurrte der Mann, der aus dem Rundgang in den Hof getreten war. „Du hast einen ordentlichen Kampf geboten, Taros, auch wenn deine Beinarbeit der Verbesserung bedarf. Dein Bruder hingegen hat sich zu meinem Leidwesen wieder einmal aufs Peinlichste blamiert. Und nicht nur sich allein, sondern umso mehr die Familie unerschrockener Kämpfer, der er entstammt.“

Natürlich war es Sebero, der mit dem Klatschen hatte testen wollen, welcher seiner Söhne sich davon ablenken ließ. Und natürlich war es Jeris, der ihm wie ein argloses Murmeltier in die Falle gerannt war. Er hätte sich ohrfeigen wollen.

Seberos breiter Schatten fiel auf ihn. Mit der Stiefelspitze trat der Vater gegen sein Schienbein, als wolle er etwas Lästiges, das keinen Aufwand wert ist, aus dem Weg treten.

„Wenn du dich nicht änderst, wird nie ein ernstzunehmender Kämpfer aus dir“, sagte er verächtlich. „Und weißt du was, Jeris? Allmählich frage ich mich, ob du überhaupt in der Lage bist, dich zu ändern.“

„Ist Bruder Klitzeklein nie im Leben!“, höhnte Taros.

„Als du klein warst, war ich überzeugt, nur deine Sturheit brechen zu müssen“, fuhr der Vater an Jeris gerichtet fort. „Ich hatte keinen Zweifel, dass dann aus dir doch noch ein Mann werden würde, der seiner Familie Ehre macht. Je älter du jedoch wirst, desto mehr fürchte ich, dass du schlicht und einfach ein Einfaltspinsel bist und bleibst. Ein versponnener Nichtsnutz, der zu nichts taugt.“

Jedes Wort war ein Schlag, der Jeris an Stellen traf, an denen er sich nicht schützen konnte. Unter die Haut, unter Sehnen und Knochen, dorthin, wo scheu und verletzlich sein Ich sich verbarg. Er lag ganz still. Hätte er sich vor Schmerzen gekrümmt, hätte er sich noch eine weitere Blöße gegeben.

„Für dein heutiges Versagen werde ich dich nicht bestrafen“, sagte Sebero. „Es lohnt sich nicht. Genauso gut könnte man seine Zeit damit vergeuden, den Dorftrottel Farnas höhere Mathematik zu lehren.“

Taros lachte auf, doch ein Blick des Vaters brachte ihn zum Verstummen.

„Steh auf und wisch dir das Blut und den Rotz vom Gesicht“, sagte Sebero zu Jeris. „Danach gehst du nach unten in den Hafen und holst bei Schneider Tendu meinen Anzug für die Tage des Gedenkens ab. Bezahlt ist er schon, du brauchst ihn also nur in Empfang zu nehmen und heil nach Hause zu tragen. So viel solltest selbst du bewältigen, ohne etwas zu verpatzen. Taros, du komm mit mir ins Besprechungszimmer. Ich habe mit dir über ein paar geschäftliche Angelegenheiten zu reden.“

So rasch er konnte, rappelte Jeris sich auf die Füße. „Sollte ich nicht auch dabei sein, wenn es um Geschäfte geht?“, rief er und richtete sich hastig die Kleider. Obwohl jünger als Taros, war er längst alt genug, um in das Handels-Imperium des Vaters eingewiesen zu werden. Sebero war der reichste Händler der Insel. Er war groß, er war stark und gerissen, er besaß das prachtvollste Haus von ganz Alpatu, und die Leute flüchteten zur Seite, wann immer er auf dem Bock seines Zweispänners durch die Gassen preschte.

„Wisst ihr, warum sie mich den König der klingenden Münze nennen?“, hatte er die beiden Jungen gefragt, als Jeris gerade ein Kind von sechs Jahren gewesen war. „Weil Reichtum Macht bedeutet. Wer seinen Reichtum unentwegt mehrt wie ich, der braucht sich mit der Macht eines Königs nicht zufriedenzugeben. Er kann weit mehr sein. Ein Gott, wenn er will.“

Damals hatte Jeris sich geschworen, dem Vater nachzueifern. Jenem gottgleichen Mann, der sich vor nichts fürchtete, dem kein Dämon je etwas anhaben könnte. So wollte Jeris auch sein.

Jetzt aber stand er vor dem großen Sebero wie ein Häufchen Elend, das die eigenen Schultern nicht gestrafft bekam und sich den schmerzenden Kiefer betastete.

Kein Wunder, dass der Vater ungläubig schnaubte. „Nach dem, was du eben hier geboten hast, soll ich dich an einer geschäftlichen Besprechung teilnehmen lassen? Ich bedaure, mein Freundchen. Die Welt des Handels ist ein Schlachtfeld, das noch weniger Erbarmen kennt als die Arena. Da braucht es Männer. Keine Milchmädchen.“

„Und außerdem bin ohnehin ich der Erbe, Brüderchen Klitzeklein“, wandte Taros hämisch ein. „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich ausgerechnet dich ins Geschäft nehme, wenn ich einmal König der klingenden Münze bin? Die Gleichgültigen Götter bewahren mich! Ich will schließlich nicht in den Sand setzen, was Generationen meiner Väter aufgebaut haben.“

Bitterkeit kam in Jeris auf. Er erinnerte sich an keine Gelegenheit, zu der Taros und er miteinander gespielt, gealbert, einander beigestanden oder verschwörerisch Geheimnisse ausgetauscht hatten, wie es gewöhnliche Geschwister taten.

Erwartungsvoll blickte Taros auf den Vater, doch der sprach das begehrte Lob nicht aus. „Kein Mann sollte es nötig haben, auf einen schon besiegten Gegner einzutreten“, wies er Taros zurecht, ehe er sich wieder Jeris zuwandte. „Du geh und mach, dass ich bis heute Abend meinen Anzug habe“, sagte er viel sanfter, als er zuvor mit ihm gesprochen hatte. „Wenn du bei Mael vorbeischaust, lass dich von ihm nicht zu lange aufhalten, aber sprich ihm meinen Respekt aus.“

Einen Herzschlag lang fühlte Jeris des Vaters Blick auf sich ruhen, nicht abschätzig, sondern beinahe versonnen, als verliere er sich in einer Erinnerung. Dann gab Sebero sich einen Ruck, schwang herum und ging in schnellen Schritten mit Taros zum Haus.

Kapitel 2

Missmutig trottete Jeris die Gasse hinunter. In seinem Kiefer pochte ein dumpfer Schmerz, doch zumindest war der Knochen nicht gebrochen. Um sein Herz stand es schlimmer.

Das holperige Kopfsteinpflaster war für den eleganten Zweispänner seines Vaters ungeeignet, doch zumeist rumpelten hier Bauernkarren entlang, denen die Stöße nichts anhatten. Der größte Teil der Menschen auf Alpatu lebte von den Erträgen der Äcker rund um den Ortskern, von den Reben an den Hängen, die einen starken, beinahe sämigen Wein hervorbrachten, und von Milch und Fleisch der Ziegen- und Schafsherden, die sie von einer Weidefläche zur nächsten trieben.

Nicht wenige Jungen in Jeris’ Alter verdienten sich ihren Unterhalt als Hirten, obwohl sie für einen langen Tag Arbeit selten mehr als einen kleinen Laib Ziegenkäse und zwei Kupferpfennige erhielten. Wer kein Land besaß und in keinem gesuchten Handwerk Geschick aufwies, musste zusehen, dass er sich über Wasser hielt und konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein.

Neben Bauern und Handwerkern gab es die Klasse der Händler, die auf Alpatu das Geld und damit die Macht in Händen hielt. Neben den Offizieren der Schutztruppen und den Besatzungen der Schiffe waren sie die Einzigen, die die Insel verließen, um mit den Händlern anderer Inseln Geschäfte abzuschließen. Wie Jeris’ Vater Sebero bewohnten sie mit ihren Familien weiße, von Gärten umgebene Villen vor der Ortsgrenze, wo die Luft klar und sauber war und kein Lärm das beschauliche Leben störte.

Dieses Leben war Jeris gewohnt. Die zerlumpten Söhne der Tagelöhner, die ihm aus dem Hafen entgegenkamen, bedachten ihn mit neidischen Blicken, und in ihm wallte Scham auf. Jungen wie diese mussten von klein auf mit anpacken, damit ihre Familien überlebten. Sie hatten keine Zeit, zu lesen, zu träumen und auf erdachten Abenteuerreisen durch die Wildnis um das Dorf zu streifen wie er selbst. Er sollte dankbarer sein, das Los der Gleichgültigen Götter mehr zu schätzen wissen.

Er verbrachte die eisigen Winter in einer gut beheizten Villa, hatte reichlich zu essen und musste keine niederen Arbeiten verrichten. Die beiden spindeldürren Jungen, die an ihm vorbeischlichen, schleppten auf ihren gekrümmten Rücken Säcke mit Getreide, waren gewiss schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen gewesen und würden sich nicht niederlegen dürfen, ehe die Sonne wieder unterging.

Wollte er mit denen vielleicht tauschen?

Ja!, begehrte es so heftig in ihm auf, dass er selbst erschrak. Ja, denn wenn sie heute Abend in ihre windschiefe Kate zurückkehren, stehen ihre Eltern an der Tür und breiten lächelnd die Arme aus. Sie schämen sich nicht für ihre Kinder, sondern sind stolz auf sie, und ihre Kinder sind keine Nichtsnutze, sondern tragen zum Erhalt der Familie bei. Sie mögen wenig auf ihren Tisch zu stellen haben, aber sie haben einander. Während sie das Wenige teilen, lachen und reden sie und haben sich gern.

Er selbst hingegen konnte froh sein, wenn eine Mahlzeit schweigend, ohne Spott und Vorwürfe verlief. Oft genug nahm der Vater gar nicht daran teil, und nur ihre stille, seltsam teilnahmslose Mutter saß ihren Söhnen gegenüber und löffelte Nahrung in sich hinein, bis nichts mehr da war. Trotz ihrer großen Gestalt wirkte sie, als wäre sie gar nicht da. Als Kind hatte Jeris an seine Mutter Erera denken müssen, wenn die Leute von den Gleichgültigen Göttern sprachen, die Geschöpfe in die Welt gesetzt hatten, ohne sich um ihr Befinden zu scheren.

Sie hatte ihn in die Welt gesetzt, sie stellte ihm seinen Teller hin und wies das Hausmädchen an, seine Kleider sauber zu halten. Aber wie er sich fühlte, schien sie nicht im Mindesten zu berühren.

Die lange Gasse mündete in einen nach drei Seiten hin offenen Platz mit der steinernen Statue Suras im Zentrum. Von hier aus erkannte er bereits die Gebäude des Hafens und hatte nur noch ein paar Minuten die breite Straße entlangzugehen. Jeris aber schlug einen unbefestigten Seitenweg ein, der ihn geradewegs bis vor das niedrige, hölzerne Tor von Maels Garten führte. Es war nie verschlossen. Wer einen Rat suchte, einen Streit zu schlichten, ein Problem zu lösen hatte, brauchte nur die verrostete Klinke hinunterzudrücken und auf den verschlungenen Wegen zwischen wuchernden Pflanzen nach dem Schutzpatron zu suchen. Mael fürchtete keine Einbrecher und Diebe. „Wenn ich in Furcht lebe, jemand könnte mir etwas nehmen, dann hänge ich zu fest an Besitz“, hatte er Jeris einmal erklärt.

Es war, als trete man in eine andere Welt ein. Alpatus Boden war karg und verschloss sich den Menschen, die im Schweiß ihres Angesichts darauf schufteten. Um ihm das Lebensnotwendige abzuringen, waren die Bauern von früh bis spät mit Hacken, Pflügen, Düngen und Wässern beschäftigt.

Es war die Strafe, die die Gleichgültigen Götter den Menschen dafür auferlegt hatten, dass sie die Dämonen der Tiefe in die alte Welt hatten eindringen lassen – der Verlust der fruchtbaren Erde, der paradiesischen Haine, in denen alles, was ein Hungriger sich wünschte, ihm sogleich in den Mund wuchs. Die Bewohner der fliegenden Inseln mussten sich für ihren Unterhalt plagen, und sogar die Parkanlagen der Villen der Händler bedurften der ständigen Pflege durch kundige Gärtner.

In Maels Garten hingegen schien allein der Gedanke an eine Pflanze zu genügen, um sie aufs Üppigste sprießen zu lassen. Der Schutzpatron bewegte sich zwischen Bäumen und Sträuchern, Stauden und Röhrichten geschmeidig wie ein Tier, das in den Urwäldern geboren war, und die Versorgung der prachtvollen Wildnis ging ihm trotz seines Alters leicht von der Hand.

Bereits als kleiner Junge hatte Jeris mit weiten Augen und offenem Mund hier am Zaun gestanden und die Fülle der Farben, Formen, Texturen und Düfte in sich aufgenommen. Geheimnisvoll schimmernd hatten die Blätter und Blüten ihn zu sich gerufen, und in der Mitte war der gewaltige Baum aufgeragt, den die Bewohner von Alpatu den Lebensbaum nannten. All seine Äste erhoben sich wie Hände gen Himmel, als wollten sie die Gleichgültigen Götter beschwören, sich ihrer gequälten Geschöpfe zu erbarmen. In die Rinde seines Stammes schienen Gesichter geprägt, die an keinen zwei Tagen gleich aussahen, sondern sich änderten wie das Wetter, das Licht und die Laune eines Menschen.

So wie sein Freund Valon, der Pilot, farbig schillernde Steine von sämtlichen Inseln sammelte, sammelte Jeris Bilder von Maels Garten, die er wie kostbare Einzelstücke in seinem Gedächtnis speicherte. Er bekam nicht genug davon, und mit jedem Tag am Zaun war seine Sehnsucht gewachsen, das rätselhaft lockende Anwesen eines Tages auf eigene Faust zu erkunden.

Bis an einem dämmerigen Nachmittag im Herbst Mael aus dem Dickicht des Blattwerks aufgetaucht war und ihn in seinen Garten eingeladen hatte. Er hatte Jeris dreimal ermutigen müssen, ehe dieser zögernd und ungläubig eingetreten war. Mael hatte ihn nicht geführt, ihm nichts gezeigt, ihn weder auf dieses noch auf jenes hingewiesen, sondern ihn gehen lassen, wohin es ihn zog.

In einigem Abstand war er ihm gefolgt und hatte nur gesprochen, wenn sein Gast ihm Fragen gestellt hatte, Fragen nach den Namen jener Bäume, nach der Art jener Staude, nach der Beständigkeit im Winter jener Sträucher. Mael gab auf alles geduldig Antwort, und zuletzt wagte es Jeris, ihm die Frage zu stellen, die ihn tatsächlich beschäftigte:

„Wie kommt es, dass in Eurem Garten alles viel größer, schöner und üppiger wächst als überall sonst?“

„Mein Garten gedeiht, solange alles Leben darin bekommt, was es braucht“, hatte Mael erwidert. „Das ist bei Pflanzen nicht anders als bei Mensch und Tier, nur müssen wir den Pflanzen genauer zuhören, weil sie weder bellen noch zwitschern, weder knurren noch lautstarke Forderungen stellen können. Die Sprache der Pflanzen ist leise. Wenn du Schweigen erträgst und geduldig genug bist, wirst du lernen, worum sie dich bitten.“

Damit hatte Mael im Grunde bestätigt, was die Leute im Dorf von ihm behaupteten: Dass er mit den Pflanzen sprechen konnte, ja dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit über magische Fähigkeiten verfügte.

„Er ist Suras Erbe“, hörte Jeris die Älteren in Gassen und Geschäften reden. „Dafür, dass der Boden unter unseren Füßen nicht in die Tiefe stürzt, haben wir ihm und seinen Kräften zu danken.“

Jeris wusste nicht, wie weit diese Kräfte reichten, so wie ja auch niemand wusste, wie viel Wahrheit in den Legenden von Sura steckte und was die Dichter einer versunkenen Zeit hinzufabuliert hatten, um am abendlichen Feuer ihr Publikum zu unterhalten. Mit Sicherheit wusste er jedoch, dass Mael mit seinen Pflanzen in ständiger Verbindung stand und dass diese Verbindung nirgends so stark war wie zwischen ihm und dem Baum des Lebens.

Umso überraschter war er gewesen, als Mael ihn nach jenem ersten Besuch gefragt hatte, ob er wiederkommen und ihm bei der Pflege des Gartens helfen wollte.

„Ich?“, hatte Jeris ausgerufen. „Aber warum wollt Ihr als Gehilfen denn ausgerechnet mich?“

„Weil du noch staunen kannst“, war alles, was Mael ihm zur Antwort gegeben hatte.

Seitdem war Jeris an den meisten Nachmittagen in den Garten gekommen und hatte dem Schutzpatron geholfen, die Pflanzen zu wässern und ihre Erde locker und durchlässig zu halten. Es gab immer viel Arbeit, weil der Garten so weitläufig war, aber Jeris tat sie gern. Er war gern mit Mael zusammen, und er liebte die stumme Dankbarkeit der Pflanzen, die ihn mit einer leuchtenden Blüte oder einem frischen Trieb dafür belohnten, dass er ihnen Wasser brachte und ihren Boden umgrub.

Mehr Pflege ließ Mael seinem Garten nicht angedeihen. Er jätete kein Unkraut und beschnitt keinen Wildwuchs, sondern beharrte darauf, die Pflanzen würden ihr eigenes Gleichgewicht finden, wenn man sie dieser Fähigkeit nicht beraubte. Anfangs hatte Jeris diese Einstellung verwirrt, weil sie von allem, was er kannte, abwich, doch mit der Zeit hatte er gelernt, dem Alten einfach zu vertrauen.

Das fiel ihm umso leichter, da Mael seinerseits ihm vertraute. Er hatte nie versucht, aus ihm einen anderen zu machen, sondern nahm ihn als den an, der er war. Neben Valon und Cosma, den besten Freunden, die ein Junge haben konnte, war Mael der Einzige, der in Jeris nicht nur Schwächen, sondern vor allem Stärken erkannte. In Maels Gesellschaft gelang ihm das sogar selbst: Er sah über das, was er nicht konnte, hinweg, und entdeckte die Dinge, zu denen er fähig war.

Weil du noch staunen kannst.

Was Sebero an seinem Sohn verachtete, war in Maels Augen eine wertvolle Eigenschaft: Er wusste zu schätzen, dass Jeris ohne Scheuklappen durch die Welt ging, dass er für alles, was ihm begegnete, Interesse aufbrachte und dass er dadurch bemerkte, was anderen entging. Was er allerdings heute bemerkte, sobald er das Tor des Gartens erreicht hatte, wäre höchstens einem Blinden entgangen.

Die Zweige des majestätischen Lebensbaumes, der das Herz des Gartens bildete, ragten nicht länger wie betende Hände in den Himmel, sondern hingen herunter, als hätte das turmhohe Gewächs seit Tagen kein Wasser bekommen. Das jedoch war ausgeschlossen. Wenn es überhaupt eine Pflanze gab, deren Wohl Mael mehr am Herzen lag als das der übrigen, so war es jener Baum.

Jeris stieß die Tür auf und vergaß seine eigenen Sorgen. Er hastete den Weg hinunter, tauchte ins Dickicht ein und rief mit gedämpfter Stimme Maels Namen. Im Laufen stellte er fest, dass der Lebensbaum nicht die einzige Pflanze war, um die es nicht zum Besten stand. Der Frühling hatte begonnen. Für gewöhnlich explodierten die Gewächse um diese Zeit geradezu vor Kraft, trieben aus und brachten pralle Knospen hervor. Über dem Garten hätte die überwältigende Süße junger Blüten liegen und aus jedem Flecken Erde hätte frisches Grün sprießen sollen.

Stattdessen wirkten die Pflanzen schlaff und saftlos, ließen welke Köpfe hängen und verloren Blätter, als bereiteten sie sich nicht auf die Zeit des Wiedererwachens, sondern auf den großen Stillstand des Winters vor.

„Mael!“, rief er viel lauter, als der Schutzpatron es sonst duldete. „Verflucht, wo steckt ihr?“

Meist genügten schon seine Schritte und das Rascheln der Zweige, um Mael aus dem Blätterwald hervorzulocken. Heute aber musste Jeris dreimal rufen, ehe der Alte sich blicken ließ.

„Hier bin ich ja.“ Ein Gebüsch teilte sich, und Mael trat heraus, wobei er sich an den dornigen Zweigen festhielt. „Warum schreist du? Ist dir etwas zugestoßen?“

Dabei sah er aus, als sei ihm selbst etwas zugestoßen. Unvermittelt sprang Jeris ins Auge, wie alt, ja gebrechlich der Schutzpatron war. Unter dem dünnen, knöchellangen Leinengewand ließ sich jeder Knochen zählen. Sein Gesicht war eingefallen und von Falten zerfurcht, und seine Hand, die er an den Zweig des Strauchs krallte, zitterte. Wenn sie sonst Seite an Seite gearbeitet hatten, hatte Jeris nie etwas von körperlichem Verfall an Mael bemerkt. Jetzt aber schien sein Alter ihn auf einmal einzuholen.

„Nein, mir ist nichts zugestoßen“, erwiderte Jeris.

„Dein Gesicht ist geschwollen“, sagte Mael. „Hast du dich wieder mit deinem Bruder schlagen müssen?“

„Das ist nichts“, tat er die Frage ab. „Mehr Sorge macht mir, dass der Lebensbaum so elend aussieht. Den anderen Pflanzen geht es auch nicht viel besser – ist mit den Quellen etwas nicht in Ordnung?“

Zwei Quellen begrenzten den Garten im Norden und im Süden und lieferten ausreichend frisches Wasser, um die gesamte Anlage zu versorgen.

Mael gab keine Antwort, sondern sah an Jeris vorbei in das Dickicht. Das war nicht seine Art. Alpatus Bewohner fühlten sich in seiner Gegenwart so wohl, weil er einen jeden von ihnen ernstnahm, ihm zuhörte und auf Gesagtes einging. „Bist du gekommen, um zu arbeiten?“, fragte er schließlich, als hätte Jeris überhaupt nicht gesprochen.

Jeris hatte vorgehabt, nur rasch die Grüße seines Vaters auszurichten und sich dann auf den Weg zum Schneider zu machen. Jetzt aber nickte er. Der Zustand des Alten beunruhigte ihn nicht weniger als der seiner Pflanzen. Zudem war Sebero seltsamerweise nie sonderlich erbost, wenn Jeris im Garten des Schutzpatrons die Zeit vergaß. Er schien es regelrecht zu begrüßen, dass sein Sohn dort aushalf, und versäumte es nie, ihm Grüße auszurichten.

„Ich denke, ich bringe als erstes dem Lebensbaum Wasser“, sagte er und wollte loslaufen, um aus dem Schuppen bei Maels Hütte das Tragegestell mit den zwei Eimern zu holen.

Der Alte aber hob die Hand und hielt ihn zurück. „Wasser hilft ihm nicht. Nichts, was wir ihm hier und jetzt geben könnten, würde helfen.“ Matt schüttelte er den Kopf. „Könntest du das Laub zusammenharken?“, fragte er und reichte Jeris einen kleinen Rechen.

Auch das war neu: Für gewöhnlich ließ Mael alles, was die Pflanzen verloren liegen und verwesen, sodass Tiere sich davon ernähren und die Reste sich in neue Erde verwandeln konnten. Er selbst ging in die Hocke und untersuchte an mehreren Pflanzen die Wurzelteile, die aus der Erde herausragten. Zärtlich und besorgt betastete er mit zitternden Fingern das Holz, wie eine liebevolle Mutter die Glieder eines fiebernden Kindes nach Spuren einer Krankheit abgetastet hätte.

Jeris konnte sich auf seine eigene Arbeit nicht konzentrieren. Sein Blick flog zwischen dem hohen Baum und Mael hin und her. Beide schienen ihm auf dieselbe Art krank. Als wiche der Lebenssaft so schnell aus ihnen, dass man zusehen konnte, wie sie verfielen. Die Zweige des Baumes neigten sich, und die robusten, dunkelgrünen Blätter verfärbten sich grau und rieselten zu Boden.

Ein leiser, erstickter Laut ließ ihn von Neuem herumfahren. Mael war auf die Knie gefallen. Er klammerte sich an den Wurzeln eines Blütenstrauchs fest, fand jedoch keinen Halt. Jeris sprang hinzu und packte ihn unter den Achseln, ehe sein zarter Körper zur Seite kippte.

„Mael, was ist mit Euch?“ In seiner Panik rüttelte er den alten Mann an den Schultern.

Der hing leblos in seinen Armen und sah aus großen, verschleierten Augen zu ihm auf. „Nichts, Jeris“, rang er sich mühsam ab. „Ich bin nur nicht mehr jung.“

„Unsinn“, rief Jeris, der nie zuvor anders als mit äußerstem Respekt mit dem Schutzpatron gesprochen hatte. „Letzte Woche wart Ihr noch so flink auf den Beinen, dass kaum ein Jüngerer mithalten konnte. Was ist das für eine Krankheit, Mael? Wie habt Ihr sie euch so rasch zugezogen, hat sie mit der Erkrankung der Bäume zu tun?“

„Geh und erledige, was dein Vater dir aufgetragen hat“, krächzte Mael, der nicht zum ersten Mal erriet, was Jeris vorhatte. „Mich lass hier liegen, ich erhole mich schon wieder. Nachher bereitet mir Cosma eine Suppe zur Stärkung.“

Um nichts in der Welt hätte Jeris den Mann, den er verehrte, in solchem Zustand im Gestrüpp liegen lassen. Cosma aber war eine gute Idee. Das Mädchen war ein Findelkind, das Mael irgendwo aufgelesen und in sein Haus genommen hatte. Er hatte für sie gesorgt, solange sie ein Kind gewesen war, und jetzt sorgte im Gegenzug sie mit aller Hingabe für ihn.

„Ich bringe Euch zu Cosma in Eure Hütte“, sagte Jeris.

Kapitel 3

„Er hat sich gebückt, um ein paar Wurzeln zu untersuchen. Ich hatte mich nur kurz umgedreht, da fiel er auf die Knie und stürzte um.“

Mit Cosmas Hilfe bettete Jeris Mael auf sein Lager. Er hatte die Augen geschlossen und sein Atem ging in rasselnden Stößen. Jeris war nicht sicher, ob er bei Bewusstsein war, doch die verkrampften Muskeln des Gesichts kündeten von schwer erträglichem Schmerz.

Cosma nickte. Sie war klein und schmächtig wie ein Kind, obwohl sie nur ein Jahr jünger war als Jeris. Das einzig Kräftige an ihr war ihr wilder, ölschwarzer Haarschopf, den sie mit einem Band aus dem Gesicht gehalten trug. Und ihre Augen. Groß und beinahe so dunkel wie das Haar blickten sie fragend zu Jeris auf. Mit einer flinken Bewegung wies sie in die Richtung, aus der er mit Mael gekommen war.

„Ja, wir waren vorn am Torweg“, sagte Jeris. „Ich habe mit Mael über den Lebensbaum gesprochen. Er sieht aus, als würde ihm Wasser fehlen, aber Mael hat gesagt, ihm fehlt überhaupt nichts, was wir ihm geben könnten.“

Cosma sprang auf, durchquerte mit lautlosen Schritten die Hütte und holte aus dem Regal neben dem Herd eine kleine Flasche. Sie kniete vor dem Lager nieder und setzte Mael die Flasche an die Lippen. Der alte Mann hustete, aber Cosma stützte ihm behutsam den Nacken und ließ nicht ab, ehe Mael ein wenig von der gelblichen Flüssigkeit geschluckt hatte. Erst dann bettete sie seinen Kopf wieder auf das Kissen und trocknete ihm mit einem Tuch die Lippen.

Was die Flüssigkeit enthielt, wusste Jeris nicht. Cosma braute alle erdenklichen Tränke und Substanzen aus Teilen der Pflanzen, die rund um die Hütte wucherten. Sie hatte Jeris einmal einen solchen Trank mitgegeben, als seine Mutter an hartnäckigem Husten litt, aber diese hatte es abgelehnt, davon zu trinken.

„Mit dem, was die kleine Hexe da in ihrem Kessel braut, vergifte ich mich nicht“, hatte sie gesagt.

Nichtsdestotrotz hatte Sebero darauf bestanden, dass sie sich mit einem Geschenkkorb voll feinster Waren gefüllt bei Mael bedankte.

„Was ist das, was du ihm da gibst?“, erkundigte sich Jeris, wohlwissend, dass die Frage sinnlos war.

Cosma war stumm. Die zahllosen Handzeichen, die sie zur Verständigung vollführte, verstand nur Mael in ihrer Gänze. Auch Jeris begriff genug, um sich mit ihr über den Garten und viele andere Dinge auszutauschen. Doch er war sich nicht sicher, ob er einer Erklärung über die Zutaten des gelben Tranks hätte folgen können. Es war ihm schon immer so vorgekommen, als hätte sie ein tiefes, wunderbares Geheimnis, als verfüge sie über Fähigkeiten, die anderen Menschen abgingen, und wäre klüger, als irgendwer ahnte.

Cosma war keine Magd in Maels Haus. Viel eher hatte sie die Stellung einer Tochter inne, und noch mehr kam ihr die Rolle eines Lehrlings zu. Was sie braute und mischte, lernte sie von ihm. Wenn er sich nicht weigerte, das Tonikum zu trinken, wusste er vermutlich, dass es ihm guttat.

Jeris trat näher an das Lager und betrachtete das zerfurchte Gesicht. Es hatte seine Farbe verloren, wirkte fahl wie Asche. Cosma hatte ihm das Gewand am Kragen geöffnet, und auf der eingefallenen Brust lag ein Amulett, das er an einem ledernen Band um den Hals trug. Auf den ersten Blick hielt Jeris es für einen der seltsamen Steine, die sein Freund Valon sammelte. Als er sich jedoch tiefer darüber beugte, erkannte er, dass der wie ein Blatt geformte Anhänger höchstwahrscheinlich emailliert war. Er war dunkelgrün und mit einem eigentümlichen, in Schwarz gehaltenen Symbol geschmückt, das eine Wünschelrute oder eine Gabel mit nur zwei Zinken darstellen mochte.

Das Band an Maels Hals hatte Jeris zuvor schon bemerkt, doch das Amulett sah er zum ersten Mal.

Cosma, die dem alten Mann den Schweiß von der Stirn gewischt hatte, drehte sich nach ihm um. In rascher Folge vollführte sie mit ihren schmalen, kleinen Händen Zeichen.

„Er hat das nicht zum ersten Mal?“, vergewisserte sich Jeris, dass er richtig verstanden hatte. „Es ist in letzter Zeit öfter vorgekommen?“

Cosma nickte. Dann vollzog sie die Geste des Wegwerfens, die ‚ist nicht so schlimm‘ bedeuten sollte.

„Wie kannst du das sagen?“, fuhr Jeris auf. „Unter den Pflanzen im Garten breitet sich ohne Zweifel eine Krankheit aus, und es ist möglich, dass Mael sich damit angesteckt hat. Ich werde ihm Darat, den Arzt schicken, der soll sich ansehen, was ihm fehlt.“

Heftig schüttelte Cosma den Kopf. In ihren schwarzen Augen glomm Angst auf, und sie vollführte von Neuem eine rasche Folge Handzeichen.

Jeris erkannte sofort, wovor Cosma ihn warnen wollte. „Du meinst, die Leute geraten in Panik, wenn sie den Arzt vor Maels Haus sehen? Sie glauben, Mael könnte schwerkrank sein und sterben?“

Cosma nickte.

„Aber so ist es doch auch“, erklärte ihr Jeris. „Er ist alt, er ist geschwächt, und nicht einmal er ist unsterblich. Er braucht sichtlich Hilfe, Cosma. Und wenn es tatsächlich so ist, dass Alpatus Sicherheit von seinen Kräften abhängt, dann …“

Er brach ab und ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, weil er nicht wusste, wie er ihn beenden sollte. Sein Vater hatte ihn und Taros gelehrt, dass Mael als Schutzpatron das Schicksal der Insel in der Hand hielt. Vor seinem Tod würde er jedoch seine Macht – das Erbe der Heldin Sura – einem neuen Schutzpatron übergeben, der dann ebenso wie er zuvor für den Fortbestand der Insel sorgen würde.

Natürlich eignete sich für diese Rolle kein anderer besser als Sebero selbst, der König der klingenden Münze, den jeder auf der Insel respektierte. Sah aber Cosma das ebenso? So oft Jeris seinen Vater in ihrer Nähe erlebt hatte, hatte die kleine Waise, die sich sonst von ihrem Platz in Maels Haus nicht vertreiben ließ, die Flucht ergriffen und sich versteckt. Sie hatte Angst vor Sebero, womöglich aufgrund seiner schieren Größe und Breite. Jeris wollte nicht mit ihr über seinen Vater diskutieren, er wollte auch nicht an das denken, was nach Maels Tod geschehen könnte, sondern alles tun, um diesen Tod zu verhindern.

Mael war sein Freund. Sein Mentor. Er fühlte sich nicht stark genug, ohne ihn zu leben.

Cosma vollführte wiederum Zeichen, aber diesmal schüttelte Jeris den Kopf. Er ergriff ihre Hände und drückte sie sanft. „Ich hole den Arzt“, sagte er. „Vertrau mir, überlass mir die Entscheidung. Mit allem, was jenseits dieses Gartens vor sich geht, kenne ich mich besser aus als du, und du weißt, dass Maels Wohlergehen mir nicht weniger am Herzen liegt als dir.“

Er wollte gehen, doch sie hängte sich an seinen Arm. Aus ihrer Kehle drangen stimmlose, unverständliche Laute.

Jeris befreite sich, darauf bedacht, ihr nicht wehzutun. „Cosma, nimm doch Vernunft an. Der Arzt wird Mael untersuchen und hoffentlich ein Heilmittel für sein Leiden wissen. Um die Leute kümmere ich mich. Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf.“

In der Hoffnung, sie ein wenig beruhigt zu haben, ging er zur Tür, doch eine kaum hörbare Stimme rief ihn zurück.

„Jeris – nicht.“

Mael. Die Mühe, die jedes Wort ihn kostete, war nicht zu überhören.

Jeris drehte sich um und sah, wie der alte Mann sich mit Cosmas Hilfe zum Halbsitz aufrichtete. Der Schweiß brach ihm aus, und seine Augen rollten in den Höhlen, als hätte er keine Kontrolle darüber.

„Der Arzt“, presste Mael heraus. „Der Arzt kann mir nicht helfen. Geh deine Aufgaben erledigen. Cosma kümmert sich um mich. Mir geht es bald besser. Sorg dich nicht.“

„Aber Ihr seid schwer krank, und der Baum des Lebens …“

„Nur ein Schwächeanfall“, unterbrach Mael ihn mit seiner Stimme wie ein Reibeisen. „Der Lauf der Welt. Nichts, wobei du helfen könntest. Geh, Jeris. Wenn du Streit mit deiner Familie hattest, mach ihn nicht um meinetwillen schlimmer.“

Jeris zögerte. Der Alte war schwach, doch er respektierte seine Entscheidungen.

„Also schön“, gab er schließlich nach. „Ich gehe zum Hafen, damit mein Vater seinen Anzug bekommt. Aber wenn es nicht besser wird, schickt mir Cosma hinterher, versprecht Ihr mir das?“

Mael verzog einen Herzschlag lang den Mund – es mochte nur ein Zucken der angespannten Muskeln sein, doch es sah aus wie ein Lächeln. „Ich verspreche es.“

„Und morgen komme ich wieder, um nach Euch zu sehen“, sagte Jeris.

„Auch das.“

Jeris nahm Cosma kurz in den Arm und versuchte ihr ein Lächeln zu schenken. Dann ging er schweren Herzens. Den Mut, sich noch einmal nach dem Baum des Lebens umzudrehen, brachte er nicht auf.

Kapitel 4

Hätte ein Fremder das Hafenviertel von Alpatu betreten, so hätte er wie zuvor in Maels Garten das Gefühl gehabt, er gerate in eine andere Welt. Duftete es oben nach dem süßen Nektar der Blüten und dem jungen, taubenetzten Gras, so stieg dem Besucher hier der beißende Geruch nach Öl und Treibstoff in die Nase, und das Summen, Zirpen und Rascheln wich dem Hämmern, Bohren und Sägen der industriellen Arbeit.

Einschüchternd erhoben sich die großen Fabrikhallen der Werft, in denen Luftschiffe gewartet, überholt und wenn nötig repariert wurden. Die Fahrtüchtigkeit eines jeden Schiffs musste erhalten bleiben, denn nur solange eine Insel Schiffe besaß, waren ihre Bewohner in der Lage, andere Inseln zu besuchen und mit ihnen den Handel zu treiben, der zum Überleben nötig war. Ging ein Schiff verloren, so ließ es sich durch kein neues ersetzen.

Denn die Materialien, aus denen die kapselförmigen, mit dicken Metallplatten ummantelten Fahrzeuge gebaut waren, stammten aus einer Welt vor Anbeginn der Zeit. Die Ressourcen, um vor allem die mächtigen Rotoren nachzubauen, gab es nicht mehr, sie waren auf keiner der Inseln zu beschaffen. Aus diesem Grund wurde ein jedes Schiff gehütet wie ein göttlicher Augapfel, und ein Pilot, der durch eigene Schuld ein Gefährt beschädigt hatte, verlor auf Lebenszeit seine Lizenz.