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Ein aufregendes Abenteuer in einer Welt magischer Alchemie: bedrohlich, fesselnd und mysteriös. Als die 18-jährige Jara ihre Eltern bei einem alchemistischen Experiment verliert, bleibt ihr nur noch ihre jüngere Schwester Tuli. Fortan hasst Jara die Alchemie, tritt aber in die Dienste eines Alchemisten, um für Tuli sorgen zu können. Trotz aller Bemühungen, ihre kleine Schwester zu schützen, wird Jaras größte Angst schreckliche Realität: Tuli verschwindet unter geheimnisvollen Umständen. Jara schließt sich mit der ehrgeizigen Adeptin Kiko zusammen und gemeinsam kämpfen sie gegen Elementare, um Tuli zu retten. Dabei stoßen sie auf einen Verrat, der weitaus gefährlicher ist als die Alchemie selbst.
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Seitenzahl: 369
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Friedrich Koppe
Eisermann Verlag
Friedrich Koppe, geboren 1987 in Potsdam, ist ein leidenschaftlicher Autor phantastischer Literatur. Schon früh entdeckte er seine Liebe zu magischen Welten, als ihm im Alter von zwölf Jahren der erste Band von »Harry Potter« geschenkt wurde. Kurz darauf entdeckte er die Werke der Gebrüder Strugatzki, die seine Begeisterung für das Genre weiter entfachten. Seine ersten literarischen Schritte unternahm er bereits in der Grundschule mit ersten Kurzgeschichten. In den folgenden Jahren feilte er an Gedichten und Romanen, stets getrieben von seiner Faszination für das Unbekannte und das Fantastische. Nach seinem Pharmazie-Studium in Berlin zog es ihn nach Nord-Sachsen, wo er heute mit seiner Familie lebt und schreibt. 2021 veröffentlichte er seinen Debüt-Roman »Die Hüter der fliegenden Inseln«, der von den Lesern sehr positiv aufgenommen wurde.
www.instagram.com/friedrich.koppe
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96173-236-4
E-Book-ISBN: 978-3-96173-287-6
Copyright (2024) Eisermann Verlag
Lektorat: Sabrina Milazzo
Korrektorat: Tanja Bochmann
Buchsatz: Grit Richter, Eisermann Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter, Eisermann Verlag
Bilder und Grafiken von www.shutterstock.com
Stockfoto-Nummer: 2249009659
Hergestellt in Deutschland (EU)
Eisermann Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
‚Diese Welt ist nicht von Magie erfüllt, die mit Zauberstäben bewirkt wird, und auch nicht durch das Schwingen von Händen, sondern durch die Verbindung des Fantastischen mit dem Alltäglichen mittels der Kraft der Alchemie.‘
Buch des Gildenmeisters. Erstes Kapitel.
Zunder
Naranel, Königreich Tenjah, Kontinent Dalar
im 125. Jahr seit Gründung der Erhabenen Gilde
»In die Beeren, Jara, in die Beeren!«
Tuli konnte noch immer kaum sprechen. Als Jara in ihrem Alter gewesen war, hatte sie in klaren, geraden Sätzen gesprochen wie eine Erwachsene. Ihr Vater hatte ihr immer wieder stolz davon erzählt, solange Jara und ihre Eltern nur zu dritt in ihrem Haus gelebt hatten. Seit jedoch Tuli Teil ihrer Familie war, hatte er es nie wieder erwähnt, wohl damit Tuli es nicht zu hören bekam und sich deswegen gekränkt fühlte.
Denn Tuli mit ihren bald vier Jahren sagte weder ‚Mutter‘ noch ‚Vater‘, weder ‚Ja‘ noch ,Nein‘, weder ‚Bitte‘ noch ‚Danke‘. Sie wünschte niemandem ‚Guten Morgen‘ und niemandem ‚Gute Nacht‘, äußerte keine Wünsche und sprach nicht aus, wenn etwas ihr missfiel.
Tuli war anders.
»Mit dieser kleinen Schwester von dir stimmt was nicht«, hatte Helo, der Chili-Schoten-Händler einmal zu Jara gesagt, als diese vor seinem Verkaufskarren auf die Tüte mit den brandroten Chilis, die im Mund ihre Flammen verströmten, gewartet hatte. »Die ist anders, hab ich recht? Wenn da mal nur nicht was schief gegangen ist – das allmächtige Schicksal rächt sich eben, wenn man ihm allzu sehr ins Handwerk pfuscht.«
Die anderen Leute im Ort sagten nichts dergleichen. Aber Jara sah ihnen an, dass sie es dachten.
Alles in allem beherrschte Tuli noch immer nicht mehr Worte, als man an seinen Fingern abzählen konnte, und eines davon, das allererste Wort, das je aus ihrem Mund herauskam, war Jaras Name.
Eines Morgens im frühesten Sommer war Jara in dem Bett erwacht, das ihr Vater für sie gezimmert hatte und das sie nun mit der kleinen Schwester teilen musste, und hatte in Tulis weit geöffnete Augen gesehen. Tuli hatte den Mund gespitzt, wie sie es tat, um die leisen, halb singenden, halb pfeifenden Laute auszustoßen, mit denen sie sich für gewöhnlich bemerkbar machte. Doch statt einen dieser Laute zu formen, hatte sie klar und verständlich »Jara« gesagt.
Es hatte geklungen, als vertraue sie Jara ein Geheimnis an, das sie von nun an gemeinsam bewahren würden. Jara hatte andächtig geschwiegen und es war ihr vorgekommen, als wäre es nun Tuli und nicht länger sie selbst, die weit über ihre Jahre hinaus klug und erwachsen war.
Jara war alles andere als glücklich gewesen, als ihre Eltern ihr erzählt hatten, dass sie die kleine Kammer, die sie als ihr Reich betrachtete, künftig nicht mehr allein, sondern mit einem Bruder oder einer Schwester bewohnen würde. Hatte ihren Eltern das Leben, das sie zu dritt in der Hütte am Waldrand führten, denn nicht genügt? Für Jara hatte diese verträumte, weltentrückte Zeit alles beinhaltet, was sie sich jemals hätte wünschen können. Die kleine Schwester, die obendrein so verwirrend sonderbar war und nicht wie die anderen Kinder, war nicht mehr für sie gewesen als ein Störenfried.
Nach jenem Morgen zu Beginn des Sommers aber, als Tuli ihren Namen zu ihrem ersten gesprochenen Wort gewählt hatte, änderte sich alles. Jara liebte Tuli. So sehr, dass ihr manchmal, wenn sie die kleine Schwester ansah, das Herz in der Brust wehtat. Sie wollte ihr ihre Welt zeigen, und wenn sie niemals richtig sprechen und auch nichts anderes lernen würde, dann würde Jara sie beschützen und niemandem gestatten, sie zu verhöhnen oder ihr ein Leid anzutun.
Jara nahm Tuli mit, wenn sie ins Innerste des Waldes aufbrach, wo ein Teppich von krautigen, immergrünen Pflanzen den Boden bedeckte. Darunter verborgen wuchsen Rispen mit prallen, blauvioletten Trauben, die süßer als Honig und zugleich so scharf wie Chili-Schoten schmeckten. Ehe Tuli geboren worden war, hatte Jara hier an Sommertagen, wenn ihre Eltern zum Arbeiten in den Schuppen gingen, endlose Stunden zugebracht, sich Beeren in den Mund gestopft, wann immer sie Lust darauf hatte, und sich Geschichten erzählt, die spannender waren als die in sämtlichen Büchern.
Jetzt schob sie die Beeren behutsam in den Mund ihrer Schwester, die so dünn wie ein Zweig war und aß wie ein kleiner Vogel, und erzählte ihr die Geschichten.
Tuli mochte kaum sprechen können, doch ihre weit geöffneten Augen, deren Blick an Jaras Lippen hing, verrieten, dass sie jedes Wort verstand. Tuli liebte das schattige Versteck zwischen den kühlenden Blättern der Pflanzen, wie Jara selbst es liebte, und inzwischen vermochte sie dies auch in Worten zum Ausdruck zu bringen:
»In die Beeren, Jara, in die Beeren!«
So rief sie, sobald an einem Sommermorgen die Eltern die Hütte verlassen hatten, um im Schuppen an ihre Arbeit zu gehen, und Jara sich die aus Binsen geflochtene Tasche umhängte, in der ihre Flasche mit Wasser und ein kleines Buch zum Pressen von Pflanzenteilen Platz fanden. Andere Menschen mochten in Tulis Worten keinen Sinn erkennen, hielten sie für nicht mehr als das Gemurmel des Windes, aber Jara verstand sie klar und deutlich.
»Ja, Tuli«, sagte sie und nahm die Kleine bei der Hand. »Wir gehen in die Beeren.«
An ihrer Hand allerdings blieb Tuli nicht lange, sondern riss sich los und rannte einmal voraus, dann wieder blieb sie zurück und stahl sich von hinten unverhofft an Jara heran wie eine sanfte Brise, die ihren Körper umspielte. Sie musste immer frei sein, von nichts und niemandem gehalten, selbst in der Nacht konnte sie nicht schlafen, wenn nicht das Fenster ihrer Kammer weit offen stand. Ihr Haar war fein und blass und flatterte hinter ihr her, selbst wenn kaum Wind herrschte. Von ihren kräftig gebauten Eltern sah sie keinem ähnlich.
Es war schön, mit Tuli durch die Unberührtheit des Waldes zu streifen, als wären sie beide die einzigen Menschen auf dem Planeten. Tenjah, das Königreich, in dem sie lebten, war von Wald überzogen. An dieser Stelle wucherte er so dicht, dass die Spuren, die die beiden Schwestern im Gestrüpp hinterließen, bereits wieder bis zur Unkenntlichkeit von Pflanzen überwuchert waren, wenn sie sich ein paar Stunden später auf den Heimweg machten.
Dieser Heimweg war die Rückkehr in die Welt der Menschen, wo ihre Eltern auf sie warteten, wo ihre Mutter schon Käse, Brot und eingelegte Früchte auf den Tisch gestellt hatte, während ihr Vater am Herd in einer Pfanne Chili-Schoten röstete, deren Schärfe die Luft erfüllte. Wenig später würden sie alle um den Tisch sitzen, zu dritt durcheinanderreden, während Tuli ihnen schweigend lauschte. Ein Gefühl von Sicherheit würde Jara erfassen, von Gewissheit, in ihrer Welt zuhause und geborgen zu sein.
Ihre Eltern waren Wissenschaftler. Alchemisten nannte man sie. Sie arbeiteten für die Erhabene Gilde. Als Erkennungszeichen hatten sie jahrelang ein Lederband mit einem eigentümlich geformten Medaillon um den Hals getragen, und auch wenn ihre Tätigkeit streng geheim war und die Eltern nichts darüber preisgeben durften, war Jara stolz darauf. Sie hörte in der Ortschaft, mit welcher Ehrfurcht die Leute von der Gilde sprachen, und hatte erlebt, dass sie ihrem Vater und ihrer Mutter mit Bewunderung und Scheu begegneten.
In letzter Zeit waren ihre Eltern aber kaum noch im Ort gewesen und hatten auch die Gilde nicht mehr erwähnt. Zuweilen war es Jara sogar so vorgekommen, als würden die Bewohner der Ortschaft sie und ihre Schwester meiden und zu tuscheln beginnen, wenn sie auftauchten. Dass Vater und Mutter ihre Medaillons seit einiger Zeit nicht mehr trugen, hatte vermutlich mit der Pflicht zur Vertraulichkeit zu tun.
In jedem Fall verrichteten ihre Eltern höchst wichtige Arbeit. Der Geheimhaltung wegen zogen sie sich dazu grundsätzlich in den Schuppen zurück, doch Jara war sicher, dass alles, was sie dort in langen Stunden zuwege brachten, dem Wohl und Gedeihen des gesamten Volkes von Tenjah diente.
Davon erzählte sie Tuli an diesem Tag in den Beeren. Sie spann die Wunderwerke, die die Eltern in der Verborgenheit des Schuppens erschufen, in leuchtenden Farben aus, beschrieb den Segen für Tenjahs Arme, Kranke und Verzweifelte, denen auf einen Schlag geholfen werden würde. Die Tinkturen, die Seuchen heilen. Die alchemistisch verbesserten Gerätschaften, die dem Boden seine Früchte abringen und Hunger stillen und die Elixiere, die jeglichem Kummer ein Ende bereiten würden. Die stille Tuli stellte nie eine Frage und forderte mit keinem Wort, dass die Geschichte weiterging, aber ihr Blick ließ keinen Zweifel daran, dass ihr nichts entging und dass sie genauso wenig wie Jara selbst jemals genug davon bekam.
Sie aßen Beeren und tranken das Wasser dazu, das Jara in ihrer Flasche aus buntem, schillerndem Glas mitgebracht hatte. Wenn die Flasche leer war, lief Jara hinüber ans Ufer des nahen Flusses und schöpfte sie wieder voll. Sie hätten leicht beide hinlaufen und Wasser aus ihren Händen trinken können, aber es schmeckte nie so gut, so süß und erfrischend wie aus der schillernden Glasflasche, die der Vater Jara vor Jahren zu ihrem Geburtstag geschenkt hatte.
Der Vater war unglaublich geschickt mit allen erdenklichen Materialien. Er hatte die Flasche selbst aus flüssigem Glas für sie geblasen. Er schenkte seinen Töchtern mit Vorliebe Dinge, die er mit seinen eigenen Händen geschaffen hatte. Auch das geheimnisvoll funkelnde Halsband, das Tuli als Schmuck trug, gehörte zu seinen Arbeiten - er hatte es aus verschiedenen Metallen geschmiedet.
Sie sammelten noch einen Gutteil Beeren in Jaras Tasche, die sie den Eltern zum Abendessen mitbringen wollten. Dann begannen die Schatten der Bäume, die auf sie fielen, allmählich länger zu werden und es wurde Zeit nach Hause zu gehen.
»Komm, kleiner Luftgeist.«
Jara nahm Tuli bei der Hand und sie machten sich auf den Weg. Wie gewohnt riss sich Tuli schon nach wenigen Schritten los und umkreiste Jara in beinahe lautlosen Sprüngen, während jene Zeit hatte, ihren Gedanken nachzuhängen. Sie liebte diese Stunde, wenn der Himmel so sacht anfing sich zu röten, dass man es mehr ahnte als erkannte und doch die Welt schon in ein anderes Licht getaucht war. Eines, das nicht länger blassem Gold glich, sondern den viel tieferen Ton von Tannenhonig annahm. Das Zirpen der Grillen und das Summen der Insekten, die sich über den Blüten der Wildblumen tummelten, waren die einzigen Geräusche in der sommerlichen Stille. Das Gras stand so hoch, dass Tuli darin verschwand. Weiche Halme streichelten mit jedem Schritt Jaras Beine und Hüften.
Hätte sie sich später gefragt, was ihr als Erstes aufgefallen war, ihr als Erstes verraten hatte, dass etwas anders war als sonst, hätte sie keine Antwort gefunden. Ein Geräusch, das nicht passte? Eine Veränderung am Himmel, die zu schnell kam? Sie wusste es nicht und spürte doch, wie sich der zarte Flaum an ihren Unterarmen unvermittelt aufrichtete, wie bei einem Tier, dem sich das Fell im Nacken sträubte.
Etwas war nicht, wie es sein sollte. Wie es die Hunderte von Malen gewesen war, wenn Jara und Tuli aus dem Wald nach Hause geschlendert waren.
Wo steckte Tuli?
Plötzlich wollte Jara nicht länger, dass sie ihr wie der Wind davonlief. Sie wollte sie bei sich haben, dicht an ihrer Seite, um sie schützen zu können vor dem, was ihnen bevorstand.
»Tuli!«, rief sie über die Ebene hinweg, »Tuli, komm zurück!« Sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme, denn das Zittern darin schien zu besiegeln, dass etwas nicht in Ordnung war.
Ihre kleine Schwester gehorchte ihr nicht. Sie war nirgends zu entdecken und keine Bewegung im Gras verriet ihren Aufenthaltsort.
»Der Wind lässt sich eben nicht zähmen«, pflegte ihr Vater zu sagen, sooft es ihm mit seiner jüngeren Tochter genauso erging, und lachte dabei.
Jara aber konnte nicht lachen. Eine Gefahr war im Verzug, vielleicht ein wildes Tier oder eine Horde Wegelagerer, und ihre Schwester war ahnungslos und auf sich gestellt!
Ahnungslos bin ich auch, durchfuhr es Jara. Ihre Eltern hatten ihr erklärt, welche Gefahren ihr auf ihren Streifzügen begegnen mochten und wie sie sich durch Vorsicht vor ihnen schützen konnte, doch bisher war ihr nie etwas begegnet, das ihr Angst gemacht hatte. Dalar war ein riesiger Kontinent und Tenjah ein sich weit erstreckendes Reich, doch ihre eigene Welt kam ihr in der Erinnerung klein vor – klein, behütet und sicher wie eine Spielzeugschachtel.
Bis heute.
Blindlings rannte sie durch das hohe Gras und rief Tulis Namen. Und dann sah sie es: Dort, wo die grasbewachsene Ebene endete, wo recht steil ein Hang abfiel und auf eine zweite Ebene hinunterführte, an deren Ende ihr Haus lag, wälzte sich ihr etwas entgegen, das wie eine gewaltige Welle aussah. Im nächsten Augenblick vernahm sie das Brausen und Rauschen, mit denen die Massen von Wasser heranrollten.
Aber wie war das möglich? Wie konnte Wasser – noch dazu in solcher Menge und mit solcher Wucht – bergauf fließen?
Es war unbedeutend. Sie musste Tuli finden. Wenn die Flutwelle ihre kleine Schwester ergriff und mit sich riss, war sie verloren.
Und sie selbst auch.
Sie konnten beide nicht schwimmen, und selbst wenn sie es gekonnt hätten, wären sie gegen die Kraft dieses Wassers machtlos gewesen.
Jara rannte weiter und rief mit der ganzen Kraft ihrer Verzweiflung wieder und wieder den Namen ihrer Schwester: »Tuli! Tuli! Tuli!«
Das Rauschen des Wassers verschluckte die Worte. Selbst wenn Tuli nicht weit weg war, hatte sie keine Chance, Jaras Rufe zu hören.
Und dann war sie plötzlich wieder bei ihr, kam wie ein kleines Tier herangesprungen und klammerte sich an ihre Hand. Vor Erleichterung wurden Jara die Knie schwach und um ein Haar wäre sie ins lange Gras gestürzt. Aber sie durfte sich nicht gehen lassen, jetzt, da sie Tuli wieder bei sich hatte, weniger denn je. Sie musste laufen, so schnell sie konnte um sich und Tuli aus der Laufbahn des Wassers bringen, die sich mit jedem Schritt, den es zurücklegte, zu verbreitern schien. Sie packte Tuli, die zum Glück federleicht war, und lief mit ihr nach links davon, ohne sich darum zu scheren, wohin sie trat. Nur weg. Nur so weit wie irgend möglich weg.
Gerade als sie sicher war, dass ihre Kräfte sie verließen, erhob sich vor ihnen ein mächtiger Baum. Seine Zweige ragten so weit in den Himmel hinauf, dass das Wasser sie nicht erreichen würde. »Da hoch, Tuli!«, krächzte Jara mit dem letzten bisschen Atem, den sie ihren schmerzenden Lungen abringen konnte. Ihre Schwester hinauf in die Krone zu tragen, war unmöglich, aber wenn es Tuli gelang, sich selbst in die Höhe zu hieven, waren sie in Sicherheit.
Behände wie ein Äffchen ergriff Tuli den Stamm und kletterte so rasch nach oben, dass Jara Mühe hatte, hinterherzukommen. Auf einem starken, knorrigen Ast mit zahlreichen Seitenzweigen machte sie Halt und sah sich fragend nach Jara um. Die nickte zustimmend. »Auf dem sind wir sicher, mein Luftgeist, hier lass uns bleiben.«
Nebeneinander kauerten sie sich auf den Ast und Tuli schmiegte sich in Jaras Arm. Jara bekam noch immer schwer Luft. Jeder Atemzug brannte wie Feuer. Rührte das nur von der Angst und der Anstrengung her? Sie hielt inne, lauschte, reckte sich vorsichtig ein Stück in die Höhe und spähte nach dem Wasserstrom, der inzwischen fast die gesamte Ebene ausfüllte. In seinem Innern leuchtete er seltsam - nicht wie Wasser, sondern brandrot, als lodere mitten in den Wogen eine Flamme.
Das aber war doch nicht möglich.
Die gewaltige Flut hätte jeden Funken auf der Stelle auslöschen müssen.
Warum aber roch die Luft dann verbrannt, warum fiel es ihr so schwer, ihre Lungen mit Sauerstoff zu füllen? Sie zog Tuli dichter an sich, hielt den schmächtigen Körper der Kleinen schützend im Arm. Dass ihr Tuli so sehr vertraute, sich bei ihr sicher fühlte, verlieh ihr Kraft. Mit jedem Atemzug schien die Luft sämiger und bitterer zu werden, sie brannte in den Augen, und in der drückenden Hitze, die aufkam, brach Jara am ganzen Körper der Schweiß aus.
»Keine Angst, kleiner Luftgeist.« Wieder und wieder, wie um zugleich sich selbst zu beruhigen, strich sie über Tulis Arm. »Hier oben droht uns keine Gefahr. Wir warten einfach ab, bis alles Wasser davongeflossen ist, dann gehen wir nach Hause. Das Schlimmste, was wir uns dann noch holen können, sind ein paar nasse Schuhe und Strümpfe.«
Ihre Stimme sollte heiter klingen, aber Jara fand, sie klang geradezu hysterisch. Das Licht des Tages schwand jetzt allzu rasch und in der plötzlichen Dunkelheit leuchtete das Wasser. War das normal? Das Innere des Stromes war rot wie glühende Lava. Tuli schien ihr nicht zuzuhören. Ihr kleiner Körper in Jaras Arm wurde starr.
»Was hast du denn, mein armes Kleines? Es ist bald vorbei und alles wird wieder gut. Bist du schon müde? Frierst du?«
Aber wie konnte sie frieren, wo eine Hitze in der Luft lag, die Jara die Haut versengte? Tuli verhielt sich, als hätte sie die Worte ihrer Schwester gar nicht gehört. Sie starrte ins Dunkel, über die rasenden Wassermassen hinweg, und schien etwas zu sehen, das außer ihr niemand wahrnahm.
»Tuli, was ist denn? Sag mir, was mit dir los ist!«
Vor Angst packte Jara ihre Schwester bei den Schultern und schüttelte sie, besann sich aber gleich darauf und hielt inne.
Tuli blickte weiter unverwandt in die Leere der Nacht. Dann aber öffnete sie unvermittelt den Mund und brachte ein Wort heraus. »Zuhause«, sagte sie. Nicht mehr als diese drei Silben: »Zuhause.«
Sie hatte dieses Wort nie zuvor verwendet.
»Wir können noch nicht gleich nach Hause, Kleines«, rief Jara und schloss von Neuem ihren Arm um sie. »Wir warten besser hier oben, wo wir es trocken und gemütlich haben, bis dieses Unwetter oder was auch immer vorbei ist. Und dann machen wir uns auf den Heimweg, einverstanden?«
Im nächsten Augenblick bemerkte sie, dass sie ihre Tasche mit der gläsernen Flasche verloren hatte. Sie konnte nur hoffen, dass sie sie noch finden würde und die Flut sie nicht mit sich fortgerissen hatte.
Auch dieses Mal verriet Tuli mit keinem Zeichen, dass sie Jaras Worte gehört hatte. »Zuhause«, wiederholte sie und starrte unverwandt geradeaus. Dann hob sie jäh einen Arm und wies hinaus in die Dunkelheit, in die Richtung, in der das kleine Haus lag, wo sie mit ihren Eltern lebten.
Jara schaute endlich in die Richtung, in die Tuli wies. Ein helles Licht, das plötzlich erstrahlte, zwang sie, die Augen zusammenzukneifen. Aber sie musste sehen, was Tuli sah, sie trug für Tuli die Verantwortung. Jara schlug die Augen wieder auf und sah zugleich eine grell leuchtende Flamme und eine schäumende Woge, die nebeneinander aufloderten und sich im Bruchteil einer Sekunde über den Nachthimmel ausbreiteten. Über ihren Köpfen formten sie sich zu zwei gigantischen Gestalten – einem monströsen Riesen aus Wasser und einem drachenartigen Ungeheuer aus Feuer. Beide umschlangen sich und es war nicht zu erkennen, ob sie sich zu einer Einheit des Grauens verbündeten oder daran gingen, sich in einem mörderischen Kampf zu zerfleischen.
Eines aber erkannte Jara überdeutlich: Die beiden Schreckensgestalten schossen aus der Senke am Ende der Ebene auf, in der ihr Haus stand.
»Zuhause«, murmelte Tuli.
Dann begann sie, unhörbar in dem tosenden Rauschen, zu weinen.
Funken
Naranel, Königreich Tenjah, Kontinent Dalar
im 132. Jahr seit Gründung der Erhabenen Gilde
Verfluchter Schlamm!
In jahrelanger Übung hatte Jara gelernt, ihre Flüche lediglich in Gedanken auszustoßen. Man wusste nie, was aus dem nur scheinbar seichten Wasser des Teiches hervorschoss, wenn ein plötzlicher Laut es aufschreckte, oder welche Bestie im Wildwuchs, der den stillgelegten Steinbruch überwucherte, auf Beute lauerte. Wer hierherkam, um unter der schillernden Oberfläche des Tümpels nach Algen zu fischen, musste in der Lage sein, sich so still zu verhalten wie die Zeit, die verstrich, ohne dass jemand es merkte.
Heute aber fiel es Jara schwerer denn je, einen laut herausgeschmetterten Fluch zu unterdrücken. Nahe dem Ufer war das Wasser des Teiches fast klar, als hätte hier vor ihr schon jemand sämtliche freischwebenden Algen abgesammelt. Sie musste sich noch weiter vorbeugen, ihr Fangnetz über den lichtdurchlässigen Streifen am Ufer hinausstrecken, um zu den Gewächsen auf dem Grund zu gelangen. Nur einen einzigen Herzschlag lang neigte sie sich zu weit nach der Seite, glitt an der verschlammten, steil abfallenden Uferwand ab und stürzte ins Wasser.
Die plötzliche Kälte und die Ahnung der bodenlosen Tiefe unter ihren Füßen versetzten ihren ganzen Körper in Panik, trieben Herz- und Pulsschlag in die Höhe und sandten an sämtliche Muskeln das Signal, sich zu verkrampfen. Einzig ihr Verstand reagierte kühl und blitzschnell. Sie zwang sich, Arme und Schultern aus der Starre zu lösen und nach zwei Schilfbündeln auf der Böschung zu greifen, ehe ihr Kopf unter Wasser tauchte. Mit aller Kraft, die ihre sehnigen, durchtrainierten Glieder aufbringen konnten, zerrte sie sich in die Höhe, bereit, das nächststehende Bündel zu packen, sobald eines von denen, an denen sie sich festhielt, aus der Erde riss.
Jara wusste: Wenn es ihr nicht gelang, sich wieder nach oben zu hieven, war sie verloren. Das Wasser mochte nicht sonderlich tief sein, aber es war bei Weitem zu tief für einen Menschen, der darin weder stehen noch schwimmen konnte. Sie spürte, wie ihr Körper sich anspannte, wie er in die Höhe schnellte, seine Stärke befeuert von Todesangst. Ihre Armmuskeln gaben noch einmal alles und mit einem mächtigen Satz landete ihr Körper seitlings zwischen den Schilfhalmen im Schlamm. Ihre Atemzüge jagten einander, der Brustkorb hob und senkte sich mit heftigem Pumpen. Dennoch gönnte sie sich nicht mehr als ein paar Augenblicke der Erholung, ehe sie von Neuem aufsprang. In unübersichtlicher Wildnis Schwäche zu zeigen, war gefährlich. Schwäche zu zeigen, war ohnehin gefährlich. Jara hatte es sich bereits vor langer Zeit abgewöhnt.
Sie stand auf, wrang sich das Wasser aus den Kleidern und hob ihr Fangnetz auf. Ohne viel Hoffnung suchte ihr geübter Blick noch einmal den Wasserstreifen nahe dem Ufer ab, doch wie erwartet ließ sich nicht die kleinste Alge erspähen. Es kamen in letzter Zeit einfach zu viele Substanzsucher in diese Gegend, und binnen Kurzem würden sie all ihre geheimen Plätze ausfindig gemacht haben.
Die meisten von ihnen benutzten transmutiertes Werkzeug, wie auch Jaras Auftraggeber Ezeos es zum Verkauf anbot. Jara hätte eine Weile sparen und sich selbst mit so etwas ausstatten können. Dann wäre sie ohne größere Probleme an die Algen auf dem Teichboden gelangt. Für derlei Hilfsmittel hatte sie jedoch nur Verachtung übrig. Sie arbeitete für einen Mann, der mit alchemistisch bearbeiteten Tinkturen und Gegenständen handelte, weil sie keine andere Möglichkeit hatte, für sich und Tuli den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie beschaffte ihm die Substanzen, die er für seinen faulen Zauber benötigte, aber sie würde sich nie dazu herablassen, das Teufelswerk selbst zu verwenden.
Missmutig blickte sie über das Wasser, folgte dem grünen Schillern, an das sie nicht herankam. Wenn sie sich ohne die bestellten Algen bei Ezeos blicken ließ, würde sie für den ganzen Nachmittag Arbeit keinen müden Taler erhalten und musste mit leeren Händen zu Tuli zurück. Ihr Verdienst war ohnehin lächerlich und reichte gerade für das Allernötigste. Jara sandte einen weiteren Fluch gen Himmel. Sie wollte hier weg. In eine der blühenden Hafenstädte, wo geschickte Substanzsucher händeringend gesucht und bei Weitem besser bezahlt wurden. Sie hatte das alles hier satt. Den Ort, den Wald, sogar ihr eigenes Haus.
Nur Tuli nicht.
Tuli würde sie niemals satthaben, das war unvorstellbar. Aber genauso wie Tuli den Sinn ihres Daseins darstellte, war sie zugleich auch ihr größtes Problem.
Während Jaras Gedanken wanderten, begann eine handtellergroße Spinne zwischen zwei Schilfhalmen ihr Netz zu spinnen, dass die feinen Fäden in der Sonne glitzerten. Jara folgte dem rasch wachsenden Gewebe und plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie gab ihr Bestes, um einzig und allein in der Gegenwart zu leben, hatte die Vergangenheit zu verbotenem Terrain erklärt und mied jede Übertretung der Grenze. Heute aber kam ihr die gefährliche Erinnerung zupass. Vage stieg ein Bild in ihr auf: Sie war mit ihrer Mutter hierhergekommen und hatte ihr beim Tragen des Werkzeugs helfen dürfen. Es war das gleiche Werkzeug gewesen, das sie heute selbst benutzte: ein Eimer, ein Fangnetz und ein aufgerollter Strick.
Auch ihre Mutter hatte für ihre Arbeit Algen benötigt und sie hätte sich gewiss nicht gescheut, transmutierte Gerätschaften einzusetzen. Vermutlich hatte sie jedoch einfach kein passendes besessen oder es für nicht nötig befunden.
»Man braucht kein Fisch zu sein, um sich mit dem Wasser zurechtzufinden«, hatte sie mit ihrem hellen Lachen zu Jara gesagt. Dann hatte sie den Strick mit ihren Alchemistenknoten an einem toten Weidenstamm, der ins Wasser ragte, befestigt und sich das andere Ende um die Taille geknotet. Ihre Mutter konnte so wenig schwimmen wie Jara und diese glaubte, sich zu erinnern, dass die Mutter vor Furcht gezittert hatte. Sie hatte die Furcht jedoch niedergekämpft, sich an dem Strick ins tiefe Wasser gleiten lassen und war darin untergetaucht. Keine zehn Atemzüge später schnellte ihr Kopf wieder in die Höhe. Flink und geschickt zog sie sich an dem Strick an Land und zeigte Jara mit triumphierendem Lachen den Eimer, der bis an den Rand mit dem begehrten Gut gefüllt war.
Jara hatte jenes kleine Ereignis verdrängt, wie sie alles verdrängte, was sie mit ihrer Mutter erlebt hatte. Einen Strick trug sie trotzdem bei sich. Ehe sie morgens das Haus verließ, schlang sie ihn sich um die Taille. Sie betrachtete ihn. Es war ein guter, solider Hanfstrick und er würde für die Aufgabe taugen. Nass war sie ohnehin schon und die Knoten, die sie zu knüpfen imstande war, konnten es mit den transmutierten ihrer Mutter spielend aufnehmen. Jahrelang hatte Jara sich in allem geübt, was die Alchemisten als unerreichbar und allein ihrer Kunst vorbehalten erklärten, und das meiste davon hatte sie zur Zufriedenheit erlernt. Einst hatte Ezeos, ihr Auftraggeber, ihr prophezeit, sie werde samt ihrer Schwester ohne die Hilfsmittel aus seinem Geschäft elendig zugrunde gehen, doch inzwischen hatte er den Versuch längst aufgegeben, ihr die viel gepriesenen Gerätschaften und Hilfsmittel anzubieten.
Und Jara und Tuli lebten immer noch.
Mit einem Seufzen wickelte Jara sich den Strick von der Taille und wand ihn mehrmals um den toten Weidenstamm, der noch immer ins Grün des Teiches ragte, als wäre hier nie etwas geschehen, als hätte sich nie etwas verändert. Mit einem ihrer erprobten Knoten befestigte sie das Seil und zog es dann auch um ihren Körper fest. Sie holte tief Atem, schloss die Augen und ließ sich mit dem Eimer in die Tiefe des Teiches gleiten. Unten musste sie die Augen wieder öffnen, ignorierte das Brennen des Wassers und begann, mit fliegenden Fingern die Algen zu pflücken, die zu Hunderten auf dem sandigen Boden tanzten. Als der Strauß in ihrer Hand so dick war, dass sie ihn nicht länger umfassen konnte, stopfte sie ihn in den Eimer und schloss flugs den Deckel. Alsdann hangelte sie sich an dem Strick zurück nach oben, tauchte nach Luft schnappend aus dem Wasser und zog sich leichthin mit ihrer Beute ans Ufer.
Ihre Mutter hatte recht: Man brauchte kein Fisch zu sein, um sich mit dem Wasser zurechtzufinden. Man brauchte so manches nicht zu sein, und fand sich dennoch zurecht, wenn man nur fest entschlossen war und sich von nichts und niemandem von seinem Weg abbringen ließ. Sie würde auch das Andere noch schaffen, würde Tuli von ihrer sturen Weigerung abbringen und mit ihr in ein neues Leben aufbrechen.
Wenn dieser Ort und alles Grauen das damit verbunden war, erst hinter ihnen lag, wenn Jara genug verdiente, um sich etwas Neues aufzubauen, würde auch das Gewicht der Düsternis, das auf ihrer Seele lastete, zu schmelzen beginnen und eines Tages würde sie sich wieder frei fühlen.
Sie löste den Strick, nahm den Eimer und machte sich auf den Weg in die Ortschaft. Ezeos’ Haus, in dessen Anbau sein Geschäft untergebracht war, stand ein gutes Stück von der Ortsgrenze entfernt und war von einem weitläufigen, mit blühenden Sträuchern und Bäumen bewachsenen Garten umgeben. Wer die Blütenpracht zu Gesicht bekam, musste Ezeos für einen leidenschaftlichen Gärtner halten, doch in Wahrheit ging es ihm lediglich darum, niemandem Einblick in seine Gefilde zu gewähren. Die Kunden, die zu ihm in den Laden kamen, benutzten einen eigens angelegten, gesicherten Weg, auf dem man Garten und Haupthaus nicht erreichen konnte.
Alles auf Ezeos’ Anwesen war vom Wasser geprägt. Zwei schmale Läufe säumten den Weg und die Gebäude waren von einem mit Wasser gefüllten Graben umgeben wie bei einer Burg. Auf dem Gelände des Gartens fanden sich Quellen, Teiche, Brunnen und Wasserfälle und unentwegt vernahm der Besucher ein Sprudeln, Rauschen und Plätschern. Auch Ezeos selbst hatte etwas Wässriges an sich, fand Jara. Seine Augen waren blassblau und durchsichtig, seine Bewegungen fließend, der Rhythmus seiner Sprache geprägt von einem ständigen Auf und Ab wie von Wellen. Alles in Jara begann sich zu sträuben, sobald sie sich der seltsamen Wasserwelt näherte. Zwischen Ezeos und ihren Eltern hatte irgendeine Verbindung, vielleicht sogar Freundschaft bestanden, aber Jara wäre es weit lieber gewesen, sie hätte mit dem Mann nichts zu tun haben müssen.
Mit ihrem Eimer eilte sie den Weg zwischen den Wasserläufen entlang zur Tür des Ladens. Jetzt hab dich nicht so, befahl sie sich stumm. Sie brauchte den Mann schließlich nicht zu mögen, es genügte völlig, wenn sie seine Aufträge zur Zufriedenheit erfüllte und ihr Geld dafür erhielt. Als Substanzsucherin trieb sie auf, was Ezeos zur Herstellung seiner Tinkturen, Essenzen und Arzneien brauchte. Er wog ab, was sie ihm brachte, und bezahlte sie entsprechend. Auch jetzt erwartete sie, ihn hinter dem Verkaufstresen mit der großen Waage anzutreffen, bereit, die erbeuteten Algen entgegenzunehmen und die Ladenkasse aufspringen zu lassen.
Ezeos war jedoch nicht im Laden.
Hinter dem Tresen stand einzig Kiko, eine junge Frau in Jaras Alter, die als Adeptin in Ezeos’ Haushalt lebte, für ihn arbeitete und von ihm ausgebildet wurde. Sie war klein, schmal gebaut und hatte unter ihrem kurzen schwarzen Haar ein scharf geschnittenes Adlergesicht, das zu einem Jungen besser gepasst hätte als zu einem Mädchen. Im Augenblick war sie damit beschäftigt, eine ältere Kundin zu bedienen, säbelte mit einem Messer schmale Scheiben von einem Block durchscheinender, mit Blüten und Kräutern gefüllter Seife.
Die Kundin verwickelte Kiko in ein ausuferndes Gespräch über die zahlreichen Warzen und Furunkel ihres Mannes, denen ein Vollbad in einer aus der Seife bereiteten Lauge den Garaus machen sollte. Nach einer kleinen Ewigkeit zückte sie endlich einen ledernen Geldbeutel und zählte Kiko die geforderten Münzen hin.
Jara wartete, bis die Frau aus dem Geschäft geschlurft war. »Wo ist Ezeos?«, fragte sie dann.
Eine Begrüßung oder ähnliche Formeln der Höflichkeit waren zwischen ihnen nicht üblich. Der Blick, mit dem Kiko Jara bedachte, sprach Bände. Statt einer Antwort wies sie mit einem Schwenk ihres Kopfes in Richtung des Hauses.
»Drinnen bei Adras?«, fragte Jara.
»Wo wohl sonst?«, gab Kiko herablassend zurück. »Benutzen Menschen wie du ihren Kopf gelegentlich auch einmal zum Denken, Giftzwerg?« Gleich darauf wies sie auf die Pfütze, die aus Jaras nassen Hosenbeinen auf die Bodendielen getropft war. »Und dass du uns hier den gesamten Laden verdreckst, ist dir gleichgültig, richtig? Wie alles, was andere Menschen betrifft und nicht dich selbst.«
Ohne die Adeptin noch einer Erwiderung zu würdigen, drehte Jara sich um und verließ das Geschäft. Dass Kiko sich ihr gegenüber auf diese Weise betrug, war nichts Neues. Jara kümmerte sich nicht darum. Sie legte auf Kikos nähere Bekanntschaft so wenig Wert wie jene auf die ihre. Unter einer dicht bewachsenen Pergola, an deren Pfeilern Wasserströme herunterrannen, lief sie hinüber zu dem verborgenen Tor, das zum Haupthaus führte. Dort zog sie an einem Klingelstrang, der ein Signal hinüber ins Gebäude sandte:
Dreimal lang, zweimal kurz, noch einmal lang.
Wer sich beim Ziehen irrte oder gar das Signal nicht kannte, blieb vor verschlossener Tür stehen und wurde durch einen geheimen Mechanismus mit Eiswasser übergossen. Jara aber hatte Glück: Die Verriegelung löste sich fast ohne einen Laut und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Schnell schlüpfte sie hindurch und sprang über Bäche und Gräben hinweg bis zum Portal des Hauses.
Ezeos empfing sie bereits auf der Treppe vor der Tür. Er wirkte müde. Obwohl er nicht älter sein konnte, als Jaras Eltern jetzt sein würden, kam er ihr mit seinem ergrauten Haar und der gebeugten Haltung an manchen Tagen vor wie ein Greis.
Als krümme die Last seines Lebens ihm die Schultern, durchfuhr es Jara.
Mit einer schlaffen Geste streckte er ihr die Hand entgegen. »Und? Wie viel hast du gesammelt?« Von seiner Stirn und sogar die Unterarme hinunter perlten Schweißtropfen. Für einen Wasseralchemisten wie Ezeos war Letzteres nicht ungewöhnlich. So viel Wasser, wie er in sich aufnahm, musste er es auch wieder von sich geben. Jaras Vermutung nach waren ihre Eltern oder zumindest ihr Vater ebenfalls Wasseralchemisten gewesen. Aber daran mochte sie nicht denken, und sie wusste es auch nicht mit Sicherheit.
»Der Eimer ist voll«, antwortete sie ihm. »Du wirst es drüben im Laden auswiegen müssen.«
Ezeos schüttelte den Kopf. »Adras hat keinen guten Tag, ich lasse ihn besser nicht allein. Gib her. Ich zahle dir eine Pauschale.«
Adras war Ezeos’ Sohn. Sein einziger Verwandter, soweit es Jara bekannt war, und vermutlich der einzige Mensch, für den Ezeos etwas empfand. Der Junge war krank und ans Bett gefesselt. Schon seit Jahren, oder vielleicht schon sein ganzes Leben. Ezeos sprach mit niemandem darüber, aber Jara hatte scharfe Ohren und bekam mit, was die immer neuen Ärzte, die ins Haus kamen, untereinander tuschelten. Adras war verloren, die rätselhafte Krankheit nicht heilbar, all die kostspieligen Behandlungen und Mittel blieben ohne Wirkung. Der letzte Quacksalber, der hier gewesen war, um ihn zu untersuchen, gab ihm nicht einmal mehr einen Sommer zum Leben.
»Die Mutter ist ja schon an dem Übel gestorben«, hatte Jara den sogenannten Wunderheiler mit seinem Gehilfen wispern hören. »Und das arme Würmchen wäre besser dran gewesen, wenn’s gleich mitgestorben wäre.«
Ezeos nahm ihr den Eimer ab. Er warf einen flüchtigen Blick hinein, dann stellte er das Gefäß auf der Treppe ab. Aus der Tasche des leinenen Kittels, den er über seiner braunen, bodenlangen Kutte trug, fischte er eine Handvoll Münzen, die er Jara entgegenhielt.
Die steckte sie ein, ohne sie zu zählen. Ezeos war alles andere als der Auftraggeber, den sie sich gewünscht hätte, und obendrein war er ein Geizkragen sondergleichen, aber immerhin verhielt er sich bei der ausgehandelten Entlohnung stets korrekt.
»Ich hab einen neuen Auftrag für dich«, sagte er. »Wurzeln vom blauen Traubenklee brauch ich. Mindestens zwei Pfund. Kannst du mir die besorgen?«
Jara zuckte mit einer Schulter. »Die sind schwer zu finden.« Tatsächlich kam der blaue Traubenklee, der sich zwischen anderen, dichter wachsenden Pflanzen versteckte, in dieser Gegend kaum noch vor. Allzu viele Alchemisten begehrten das zarte Gewächs für ihre Experimente und sandten Substanzsucher danach auf die Jagd.
»Behauptetest du nicht, eine Substanz, die du nicht finden könntest, gibt es nicht?«, fragte Ezeos.
Er hatte recht. Selbstbewusst hatte sich Jara mit dieser Behauptung seinerzeit bei ihm beworben. Sie hatte Geld gebraucht und kannte sich in der Gegend aus wie keine andere. Zudem war sie furchtlos, geschickt und zu fast allem entschlossen. Dass sie die beste Substanzsucherin war, die er in dieser Gegend bekommen konnte, war keine leere Behauptung, doch das bedeutete nicht, dass sie Wunder wirken konnte.
»Ich finde sie für dich«, sagte sie. »Aber nicht mehr heute. Ich muss nach Hause, meine Schwester wartet auf mich und braucht ihr Abendessen.«
»Ach ja, deine Schwester.« Ezeos nickte. »Tuli. Geht es ihr gut?«
»Es geht ihr bestens«, gab Jara abweisend zurück.
»Keine Krankheiten? Appetitlosigkeit, schlechte Träume, nichts dergleichen?«
»Nein, nichts dergleichen«, erwiderte Jara. »Warum willst du das wissen?«
»Ich interessiere mich nun einmal für euch«, sagte Ezeos. »Du bist zwar schlecht erzogen und undankbar, aber dafür kann ja die Kleine nichts, und ihr beide seid immer noch Herebos und Wulfas Kinder. Die beiden haben sich aufs Schwerste versündigt, doch sie sind einst meine Freunde gewesen und das verpflichtet mich in gewisser Weise, mich ihrer Kinder anzunehmen. Außerdem fälle ich über Menschen, die sich versündigen, nicht allzu leicht ein Urteil. Meiner Ansicht nach hat selbst der verworfenste Frevler es verdient, dass man zunächst nach seinen Gründen fragt.«
Jara wusste nicht, was er mit diesen Worten sagen wollte, und es interessierte sie auch nicht. Ohnehin schienen sie nicht an sie gerichtet, sondern eher für ihn selbst bestimmt. Sie schwieg und wenig später riss er sich aus seiner Versunkenheit. »Es ist übrigens ein Geschenk, wenn ein Kind sich einer so robusten Gesundheit erfreut wie deine Schwester Tuli, ist dir das überhaupt klar?«, fragte er in einem abrupten Wechsel des Themas. »Ein Segen, der beileibe nicht jedem vergönnt ist und den du zu schätzen wissen solltest.«
Er seufzte und wandte einen Herzschlag lang den Kopf nach der Tür. »Also bring mir die Wurzeln in drei Teufels Namen morgen. Aber reichlich. Und komm nicht zu spät.«
»Ich komme nie zu spät«, beschied ihn Jara. »Da wäre noch die Frage meines Lohnes.«
»Wir haben einen Preis ausgemacht.«
»Nicht für Traubenkleewurzeln.«
Ezeos knirschte hörbar mit den Zähnen. »Denkst du eigentlich niemals an etwas anderes als Geld? Steckt denn überhaupt keine Spur Idealismus in dir, nicht das geringste Interesse, einer großen Sache zu dienen und dafür Opfer auf dich zu nehmen, wie wir alle es tun?«
»In meinen Augen ist die Alchemie keine große Sache«, gab Jara zurück und wandte sich zum Gehen. »Ich betrachte sie als die niedrigste, verächtlichste Sache, die ich mir vorstellen kann. Und wenn du willst, dass ich dir Substanzen für deine alchemistische Arbeit finde, dann wirst du sechzehn Taler für das Pfund bezahlen müssen. Oder du musst jemanden finden, der es für weniger tut.«
»Halsabschneiderin.«
»Dir auch einen schönen Abend.«
Jara schwang herum und begann, durch den von Wasser durchzogenen Irrgarten zurückzugehen, als er ihr noch einmal hinterherrief.
»Grüß deine Schwester!«, ertönte seine Stimme lauter und kräftiger als zuvor. »Mit ihrem sanften, biegsamen Wesen war sie mir immer lieber als du in all deiner alles verbrennenden Selbstgerechtigkeit. Sag ihr, wenn sie jemals einen Menschen braucht, dem sie vertrauen kann – sie findet ihn in mir.«
Der Weg, den Jara zu ihrem Haus zu gehen hatte, lag wie die Furche eines Pflugs vor ihr. Der Druck der Wassermassen hatte ihn einst tief in die Erde gegraben. Der Boden war hier noch immer schwarz versengt und nichts wuchs darauf. Zu beiden Seiten des Weges hatte sich das weniger stark geschädigte Erdreich jedoch erholt, und Gestrüpp und Wildkraut wucherten wie einst in die Höhe. Eine Ziege hätte sich hier Tag für Tag satt fressen können, aber Jara besaß keine Ziege und keine Ersparnisse um eine zu kaufen.
Wenn sie von hier weggingen, in eine der Hafenstädte, wo ihre Verdienstmöglichkeiten besser waren, wäre es darum vielleicht anders bestellt. Sie könnten Hühner und Milchvieh halten und ihre eigenen Früchte und Kräuter anbauen. Mit ein wenig Glück und Geschick könnten sie ihr eigenes Leben führen, ohne von irgendeinem Menschen abhängig zu sein.
Ihr Haus kam in Sicht. Wie gewöhnlich fiel Jara auf den letzten Metern ins Rennen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und ihr Atem ging in Stößen. Wenn sie die Tür der kleinen, verfallenen Hütte endlich erreichte, zitterten ihr die Finger so heftig, dass es ihr kaum gelang, die drei Riegel aufzuschieben, mit denen sie den Eingang gesichert hatte. Die Furcht, Tuli könne in ihrer Abwesenheit etwas zugestoßen sein, ließ sie niemals los. Sie war ein Teil von ihr, in ihr Wesen eingegraben wie ihr Hass auf die Alchemie und ihre Liebe.
Ihre Liebe zu Tuli.
Dem einzigen Menschen, der ihr geblieben war.
Sie stieß die Tür auf und rief schon den Namen ihrer Schwester: »Tuli, bist du da?«
»Wo soll ich denn sonst sein?«, kam es mürrisch aus dem Winkel neben dem Herd zurück. »Du sorgst doch dafür, dass ich von morgens bis abends in diesem Gefängnis hocken muss, ohne die Sonne zu sehen, ohne meine Freunde zu treffen und mit ihnen spielen zu können, wie alle anderen Kinder.«
Ihre Schwester saß auf ihrem Schemel und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Das Haar, das einst fast weiß gewesen, jedoch rot wie Jaras eigenes Haar nachgedunkelt war, hing ihr wild zerzaust ins Gesicht und der Blick, den sie Jara darunter hervorsandte, war düsterer als ein Wintertag.
Jara tat das Herz weh. Aus Tulis Sicht musste sich ihr Leben tatsächlich wie eine Gefangenschaft anfühlen. Es war nicht fair, dass sie hier eingesperrt bleiben musste und nur am Abend für eine kurze Stunde zum Spielen ins Freie durfte. Aber Jara hatte nun einmal die Pflicht, für ihren Unterhalt zu sorgen, und wenn sie nicht zu Hause war, um auf ihre Schwester aufzupassen, konnte sie diese unmöglich dort draußen in der Wildnis sich selbst überlassen.
»Du weißt, dass es zu gefährlich ist«, sagte sie. »Wenn wir erst von hier weg sind und in der Stadt in einer ordentlichen Gegend leben, sieht alles anders aus.«
»Ich will aber nicht in die Stadt!« Tuli sprang auf und warf ihr feines Haar über die Schulter zurück. Ja, sie war immer gesund gewesen, was tatsächlich ein Segen war, aber sie war so zart gebaut, als könnte der nächste Windstoß sie umstoßen. Auch ihre Stimme war zart. Allein der Zorn darin war es nicht. »Ich will hierbleiben, hier, wo meine Freunde wohnen, wo mein Zuhause ist. Wenn du in die Stadt gehen willst, kannst du es allein tun. Ich komme nicht mit. Ich laufe dir davon!«
»Und wo läufst du hin?«, herrschte Jara sie an. »Wovon willst du leben?«
»Mir fällt schon etwas ein«, schrie Tuli zurück. »Und wenn ich mich von Beeren und Wurzeln ernähre – alles ist besser als mich noch länger von dir herumkommandieren zu lassen.«
Betroffen schwieg Jara. Das Wort ‚Beeren‘ beschwor Erinnerungen, die zu schmerzlich waren, um sie zuzulassen. Tuli war der letzte Mensch auf der Welt, mit dem sie Streit anfangen, den sie anschreien und tyrannisieren wollte, und es fühlte sich an wie ein Schlag, dass Tuli so sehr unter der Art ihres Daseins litt. Jara hatte ihr Bestes gegeben, sie gab noch immer jeden Tag ihr Bestes, um ihr trotz allem eine schöne Kindheit zu bereiten. Aus den Trümmern des Hauses und des Schuppens hatte sie in mühevoller Arbeit diese kümmerliche Hütte errichtet und aus den Trümmern ihres Lebens hatte sie ihnen eine neue Existenz geschaffen.
Ihre eigene Kindheit war in jener Nacht zu Ende gegangen. Seither trug sie die Verantwortung, war ständig auf der Hut und schlief schlecht, weil sie um Tulis Sicherheit besorgt war. Dass diese sich dafür nicht dankbar zeigte, konnte Jara ihr nicht zum Vorwurf machen. Sie war erst elf Jahre alt, ein kleines Mädchen, das hinaus in den herrlichen Sommertag laufen und sich gemeinsam mit ihren Altersgenossen ihre Welt erobern wollte. Um zu begreifen, dass das nicht möglich war, war sie zu jung, und dennoch schmerzte es Jara, dass von der Liebe und innigen Vertrautheit, die sie einst verband, nichts mehr übrig zu sein schien.
Damals konnte Tuli noch kaum ein Wort sprechen, sondern pfiff und säuselte nur und doch kam es Jara gelegentlich vor, als hätte sie ihre Schwester in jenen Tagen weit besser verstanden als jetzt. Das ganze Leben hatte sie besser verstanden. Keine Fragen gestellt, sondern die Dinge hingenommen, wie sie waren, und sich geborgen gefühlt. Jenes Weltvertrauen war innerhalb einer Nacht zerbrochen und würde sich nie mehr wiederherstellen lassen.
Aber sie hatten immer noch einander, sie konnten zusammen eine Art von Glück erleben. Jara musste sich einfach mehr Mühe geben auf Tuli einzugehen!