Die Illusion der perfekten Kontrolle - Bernd Sprenger - E-Book

Die Illusion der perfekten Kontrolle E-Book

Bernd Sprenger

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Alles im Griff?

Der Wunsch nach Orientierung und Kontrolle gehört zu den seelischen Grundbedürfnissen. Wer aber nur auf Kontrolle setzt, erreicht häufig das Gegenteil dessen, was er sich wünscht: Das Leben wird nicht sicherer, sondern angstbesetzter. Bernd Sprenger verfolgt diese Paradoxie an vielen Beispielen und zeigt eindrucksvoll, dass weniger Kontrolle zu mehr Sicherheit im Leben führen kann.

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Seitenzahl: 268

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Inschrift
 
Einstimmung: Die Sehnsucht nach Kontrolle und die Erfahrung der Machtlosigkeit
Kontrollwünsche als Basisbedürfnis
Die Verleugnung der Unkontrollierbarkeit
 
Angstbewältigung durch Kontrolle in unserer Gesellschaft
Angst als biologisch verankertes Grundgefühl
Das psychologische Grundbedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
Kontrolle in verschiedenen Lebensbereichen
 
Copyright
Für Dorle
Life is what happens to you while you‘re busy making other plans.
John Lennon
 
(Leben ist das, was einfach passiert, während du eifrig andere Pläne schmiedest)
Einstimmung:Die Sehnsucht nach Kontrolle und die Erfahrung der Machtlosigkeit
»Alle, die es nun wirklich besser wissen als ich, haben es gesagt: Das ist eine ganz sichere Sache. Die Prüfungsinstitute (gemeint sind die Ratingagenturen, die große Unternehmen bewerten; B.S.) haben nur gute Noten für dieses Investment vergeben. Wissen Sie, ich war in Finanzdingen eigentlich nie eine Spielerin; ich habe immer nach dem Motto gehandelt: ordentlich arbeiten, gut leben, was zurücklegen - ›Sparst du in der Zeit, dann hast du in der Not‹, hat schon meine Oma immer gesagt. Und jetzt das.«
 
Die etwa 45-jährige Kollegin, die vor mir saß, war es als Ärztin gewohnt, viel zu arbeiten. Persönlich eher bescheiden, hatte sie sich bemüht, neben der Rentenversicherung eine Rücklage aufzubauen, um vielleicht ein bisschen eher mit ihrer Praxis aufhören zu können, falls sie das in 20 Jahren einmal wollte. Ein Finanzberater hatte ihr zu zweifelhaften Anlagen geraten, in die sie erhebliche Mittel investiert hatte - »redlich verdientes und versteuertes Geld«, wie sie ein ums andere Mal sagte. Im Herbst 2008, als die internationale Finanzkrise sich abzuzeichnen begann, musste sie erkennen, dass der weitaus größte Teil dieses Geldes verloren war. Sie war zu mir gekommen, weil sie in der Folge immer häufiger in depressiven Grübelschleifen gefangen war, unter zunehmender Schlaflosigkeit litt und das Gefühl hatte, nicht mehr aus eigener Kraft aus einer beginnenden Depression herauszukommen.
Am bemerkenswertesten für mich war bei dieser Kollegin, dass ihr die Tatsache des verlorenen Geldes weniger auszumachen schien als die Erfahrung, trotz aller Vorsicht und aller »Sicherheiten«, die sie sich hatte geben lassen, völlig machtlos zu sein gegenüber dem Verlust. Ich habe mir genauer schildern lassen, wie sie sich um »Sicherheit« bemüht hat. Sie hatte herkömmlichen Bankberatern von vornherein misstraut und sich auf einen Finanzmakler verlassen, der ihr von mehreren Bekannten als seriös und redlich empfohlen worden war. Dessen Ratschläge hatte sie versucht »gegenzuchecken«, durch eigene Recherchen im Internet, wobei sie viel Zeit investiert hatte, da sie sich mit der Materie nicht auskannte. Schließlich hatte sie fast ein Jahr nach dem ersten Kontakt zu ihrem Finanzberater verstreichen lassen, bis sie zum ersten Mal einen Vertrag zur Geldanlage unterschrieb. Dabei ist ein Detail wichtig, was uns noch beschäftigen wird: Letzten Endes schenkte die Frau einem Berater Vertrauen, weil der ihr von Menschen, denen sie vertrauen konnte, empfohlen worden war. Das Thema »Kontrolle« hat viel mit dem Thema »Beziehung« zu tun, wie wir noch sehen werden.
In der Lebensgeschichte dieser Frau waren die Fragen nach Sicherheit und Kontrolle immer wieder zentrale Themen gewesen. Sie war nicht eigentlich ängstlich, aber versuchte bei allem, ein möglichst hohes Maß an Kontrolle ausüben zu können, bevor sie etwas unternahm, einen Entschluss fasste oder eine Entscheidung in die Tat umsetzte. Das Thema der Erfahrung der Machtlosigkeit bei gleichzeitig hohem Kontrollbedürfnis ist dann auch das zentrale Thema in der Therapie geworden.

Kontrollwünsche als Basisbedürfnis

Der Wunsch nach Kontrolle der eigenen Lebensumstände ist ein psychologisches Basisbedürfnis: Ich möchte, so weit das irgendwie möglich ist, sozusagen der Autor meiner eigenen Lebensgeschichte sein. Wie bei allen psychologischen Variablen ist auch hier die Spannbreite dessen, was der oder die Einzelne braucht, um sich wohlzufühlen, individuell sehr verschieden. Es gibt Menschen, die mit einem hohen Grad an Unsicherheit gut zurechtkommen, und es gibt andere, die schon bei der kleinsten Unwägbarkeit ängstlich reagieren und sich unwohl fühlen. Wird der Wunsch nach Kontrolle der einzige und das Leben dominierende Impuls, droht eine krankhafte Entwicklung. Dann kann es zu einer Angststörung oder einer Zwangskrankheit kommen. Bei den Angststörungen kommt es zu ständigen Ängsten, die nicht mehr der äußeren Lebenswirklichkeit angemessen sind und die Betroffenen erheblich im alltäglichen Lebensvollzug behindern können. Zwangskrankheiten sind dadurch gekennzeichnet, dass der Wunsch nach Kontrolle zu einem inneren Zwang geworden ist, der den Betroffenen im Griff hat - diese Patienten verlieren die Freiheit, über die Ausführung einer bestimmten Kontrollhandlung zu entscheiden (zum Beispiel bei Verlassen des Hauses zu überprüfen, ob die Tür geschlossen ist). Ein Zwangskranker muss solche Kontrollhandlungen zwanghaft zigmal wiederholen, ohne dass das Ergebnis der Kontrollhandlung dazu führt, beruhigt seiner Wege gehen zu können. Wird der Patient daran gehindert, seine Zwangshandlungen auszuführen, reagiert er in der Regel mit massiver Angst. Folgerichtig gehören in den diagnostischen Systemen der psychischen Erkrankungen die Zwangskrankheiten und die Angststörungen auch zusammen.
Es geht mir in diesem Buch aber nur am Rande um die krankhaften Extreme des Wunsches nach Kontrolle, sondern eher um das alltägliche Dilemma: Einerseits wäre möglichst viel Kontrolle gut und wünschenswert, andererseits mache ich die Erfahrung, dass ich in vielen Bereichen, die mich unmittelbar betreffen, sehr wenig wirkliche Kontrolle ausüben kann. Dazu kommt, dass zu viel Kontrolle tatsächlich das Leben behindert - und damit kontraproduktiv wird; wir werden das an vielen Beispielen sehen. Das fängt bei der eigenen Körperlichkeit an: Für viele Leute ist es sehr verblüffend, wenn sie sich einmal wirklich vor Augen führen, dass der Organismus im Wesentlichen funktioniert, ohne dass wir uns groß einmischen müssten. Das ist auch biologisch sinnvoll: Stellen Sie sich vor, Sie müssten all die Abläufe in Ihnen, die gleichzeitig vonstattengehen, während Sie diesen Text lesen, bewusst und aktiv steuern. Vom Herzschlag über den Blutdruck und die Atmung zur Spannung der Muskulatur und dem Zusammenwirken der einzelnen Organe, ganz zu schweigen der einzelnen Zellen - wenn Sie das alles bewusst steuern müssten, kämen Sie nicht mehr zum Lesen oder gar zum Verstehen dieses Textes. Und ich habe jetzt nur physiologische Abläufe aufgezählt - wenn man die psychologischen noch dazu nimmt, wird es noch ein bisschen komplizierter.
Es steht uns nur ein schmales »Fenster des Bewusstseins« zur Verfügung, das uns gewahr werden lässt, wie es in uns aussieht. Man schätzt, dass nur fünf Prozent dessen, was im Organismus geschieht, uns wirklich bewusst wird. Fünf Prozent! Der Rest, also 95 Prozent, bleibt unbewusst. Das heißt aber nicht, dass diese 95 Prozent unwichtig sind - im Gegenteil, sie bestimmen unser Erleben und Verhalten sehr deutlich mit. Das ist der Grund, warum Menschen Dinge tun, die sie selbst eigentlich nicht wollen, wenn sie bewusst nachdenken. Dieses Problem ist schon im Römerbrief des Paulus im Neuen Testament sehr treffend formuliert: »Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich«. (Römer 7,19)

Die Verleugnung der Unkontrollierbarkeit

Wir leben in einer Kultur, die zwar weiß, dass das so ist, aber immer noch so tut, als wäre dem nicht so. Mit anderen Worten: Die Kräfte, die nicht unserer Kontrolle unterliegen und trotzdem wirkmächtig sind, werden entweder gleich ganz verleugnet oder aber gewaltig unterschätzt.
Jeder Mensch stößt früher oder später an den Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Kontrolle und der Erfahrung, diese nicht ausreichend - das heißt dem eigenen Wunsch entsprechend - ausüben zu können. Das fängt bei der Kontrolle der eigenen Körpervorgänge an, wird aber noch viel deutlicher, wenn die Mitmenschen ins Spiel kommen. Menschen sind durch und durch »Beziehungstiere«, das heißt, wir sind elementar auf die anderen angewiesen. In der frühen Kindheit sowieso: Im Gegensatz zu anderen Säugetieren brauchen Menschen eine verhältnismäßig lange Periode, in der sie komplett auf die körperliche und seelische Versorgung durch andere, in der Regel die Eltern, angewiesen sind. Gelingt diese Versorgung nicht in ausreichendem Maße, sind schwere Entwicklungsdefizite die Folge. Das ist heutzutage ausgiebig erforscht.
Aber auch im späteren Leben ist die Art und Weise, wie wir unsere Beziehungen zu anderen Menschen gestalten, absolut ausschlaggebend für die seelische (und damit zu einem guten Teil auch körperliche) Gesundheit. Da kann die Erfahrung, die Kontrolle (in diesem Fall über die anderen) nicht zu haben, durchaus schmerzvoll sein. Viele Beziehungsdramen, die ich in meiner therapeutischen oder beraterischen Tätigkeit zu sehen bekomme, haben direkt mit dem Thema der Kontrolle in Beziehungen zu tun. Dabei gibt es im Wesentlichen zwei Irrtümer: Der eine zeigt sich darin, dass jemand meint, er müsse seinen Beziehungspartner möglichst gut unter Kontrolle halten. Dabei sind der Fantasie darüber, wie das gemacht werden könnte, keine Grenzen gesetzt - das geht von ganz plumper Gewalt bis zu höchst subtilen emotionalen Manipulationen. Im anderen Irrtum meint man, sich gar nicht absprechen zu müssen und alles funktioniere von allein. Ich werde auf das Thema »Kontrolle in Beziehungen« später noch ausführlich eingehen.
Die Liebe und der Tod, die beiden großen Themen der Weltliteratur und der bildenden Kunst, sind auch bei unserem Thema die Bereiche, wo die Frage nach der Kontrolle jeden Einzelnen existenziell berührt. Eine nicht erwiderte Liebe, das Ende einer Liebesbeziehung und natürlich der Tod eines geliebten Menschen führen uns drastisch vor Augen, dass das Leben selbst nicht kontrollierbar ist, sosehr wir uns auch anstrengen mögen, dies zu verleugnen.
Es ist das große historische Verdienst Sigmund Freuds und der von ihm begründeten Psychoanalyse, die Tatsache ins kulturelle Bewusstsein zu rücken, dass es unbewusste Faktoren gibt, die gleichwohl für das Erleben und Verhalten von bestimmender Bedeutung sind. Wenn auch einige der freudschen Theorien und Konstrukte im Einzelnen heute als wissenschaftlich überholt gelten müssen, ist diese fundamentale Tatsache der Stachel im Fleisch der technischen Zivilisation geblieben, die so gerne glauben würde, dass letztendlich alles machbar sei.
Als Psychotherapeut habe ich praktisch täglich mit der Unterschätzung dieses Themas in unserer Kultur zu tun. Es gibt nicht wenige Patientinnen und Patienten, die auch dann noch an der Illusion der Kontrolle festhalten, wenn sie in ihrem eigenen Leben sehr reale schmerzhafte gegenteilige Erfahrungen gemacht haben. Am deutlichsten wird mir das immer wieder bei den Menschen, die in eine stoffliche oder nicht stoffliche Abhängigkeit geraten sind. Fast regelhaft ist es bei ihnen so, dass sie sich ungeheuer anstrengen, ihre Abhängigkeit »mit dem eigenen Willen« in den Griff zu bekommen - nur um wiederholt die Erfahrung zu machen, dass die Sucht sie im Griff hat und nicht umgekehrt. Das ist eine sehr bittere Erfahrung und verheerend für die eigene Selbstachtung und das Selbstwertgefühl. Es findet oft ein regelrechter Kampf darum statt, sich selbst zu beweisen, dass man die Kontrolle doch noch hat. Paradoxerweise kann ein Heilungsprozess erst dann einsetzen, wenn die betroffenen Patienten akzeptieren, dass sie machtlos sind. Dieses Paradox - die Kraft, die in der Akzeptanz der Machtlosigkeit liegt - wird uns noch beschäftigen.
Angstbewältigung durch Kontrolle in unserer Gesellschaft

Angst als biologisch verankertes Grundgefühl

Vielleicht ist es notwendig, zunächst noch einmal zu betonen, dass sowohl Angst als auch der Wunsch nach Kontrolle der eigenen Lebensumstände zum Leben dazugehören - und zwar sozusagen »natürlicherweise«.
Angst gehört zu den basalen, biologisch verankerten Grundgefühlen. Die Wahrnehmung von Gefühlen hilft uns dabei, uns in unserer Umwelt und im zwischenmenschlichen Bereich zu orientieren. Dabei sind die Teile des Nervensystems, die mit der Wahrnehmung von Gefühlen und deren Bewertung zu tun haben, stammesgeschichtlich älter als die Systeme, die mit Rationalität und Denken befasst sind - und sie sind schneller, was die Signalverarbeitung betrifft. So dient die Angst dazu, dem Individuum zu signalisieren, dass eine bestimmte Gefahr droht. Wenn Angst im Spiel ist, wird der Organismus quasi auf »Achtung!« geschaltet, damit er im Zweifel alles mobilisieren kann, was zu einer Flucht (oder auch zu einem Angriff) nötig ist. Dabei kommt es zu einem faszinierenden Zusammenspiel vieler Organe und Organsysteme; das geht von der vertieften Atmung über den beschleunigten Herzschlag und den erhöhten Blutdruck bis zur Veränderung des Blutspiegels bestimmter körpereigener Hormone, etwa des Cortisols und des Adrenalins, von der Veränderung der Darmtätigkeit bis zur erhöhten Anspannung der Muskulatur, um nur einige Beispiele zu nennen.
Diese Reaktionen haben eine lange Evolutionsgeschichte hinter sich und sind eigentlich dazu gedacht, den Organismus in einer akut drohenden Gefahr optimal »einzustellen«, um der Gefahr begegnen zu können. Diese Gesamtkörperreaktionen bei Angst sind daher auch bei Tieren nachweisbar. Sie sind entstanden in einer Phase der menschlichen Entwicklung, als die menschliche Spezies noch sehr viel mehr unter Wildnisbedingungen gelebt hat, als wir das heute tun. Die meisten Ängste, die wir heute hegen, sind anderer Natur als die Angst unserer Vorfahren vor einem wilden Tier. Die »ursprüngliche« Angstreaktion ist auch heute noch hilfreich, wenn ich etwa in der Nacht durch eine unbekannte Großstadtstraße gehe und mir eine Horde Betrunkener aggressiv begegnet - dann ist die organismische Angstreaktion genauso hilfreich, wie sie für unseren Vorfahren gewesen ist, der sich unerwartet einem Bären oder einem Wolf gegenübersah.
Bei der Angst um den Arbeitsplatz, der Angst vor Verlust der Rente oder ähnlichen »modernen« Ängsten ist die organismische Angstreaktion aber eher hinderlich als hilfreich. Nicht umsonst sagt man, Angst sei ein schlechter Ratgeber: In der Tat hilft die Angstreaktion, wie ich sie oben beschrieben habe, gar nicht, wenn es darum geht, ein komplexes Problem in Ruhe zu überdenken und Lösungsstrategien zu entwickeln. Angst drängt zu unmittelbarer Aktion - und deshalb sind angstgesteuerte Reaktionen bei Problemen komplexerer Art häufig nicht nur nicht problemlösend, sondern sogar kontraproduktiv. Wenn dann eine gewisse Ängstlichkeit zur - in der Regel nicht einmal bewussten - Grundeinstellung wird, kann dies zu einer erheblichen Beeinträchtigung der eigenen Lebensmöglichkeiten führen. Dann ist das eigentlich sinnvolle Navigationsinstrument »Angst« für den Betroffenen zu einem Hemmschuh für das erfolgreiche Bewältigen des eigenen Lebens geworden.

Das psychologische Grundbedürfnis nach Orientierung und Kontrolle

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Kontrolle. Der 2005 verstorbene Psychotherapieforscher Klaus Grawe sprach von vier psychologischen Grundbedürfnissen, deren eines das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle ist - die anderen drei sind: das Bindungsbedürfnis, das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz sowie das Bedürfnis nach Unlustvermeidung und Lustgewinn.
Orientierung und Kontrolle haben unmittelbar mit dem Gefühl von Sicherheit zu tun. Wenn ich chronisch desorientiert bin oder keinerlei Kontrolle über mein eigenes Leben ausüben kann, ist das mit einem andauernden Empfinden von Unsicherheit verbunden. Mit anderen Worten: Der Organismus befindet sich in einem Zustand von Dauerstress, wenn die Orientierung und die Kontrolle fehlen. Aber auch hier gilt das Gesetz der Dosis: Wenn zu viel Kontrolle ausgeübt wird, kann dies dazu führen, dass sinnvolle Kontroll- und Steuerungsmaßnahmen umschlagen in ein Gefängnis für den Betroffenen. Im Extrem sieht man das bei Menschen, die unter einem Kontrollzwang leiden. Das ist eine Variante der Zwangskrankheit, bei der der Patient immer wieder bestimmte Kontrollrituale durchführen muss, um nicht von Angst überschwemmt zu werden; das Beispiel des Patienten, der immer wieder zur Haustür zurückgehen muss, um sich zu überzeugen, dass sie auch wirklich geschlossen ist, hatte ich schon erwähnt. Zwanghafte Kontrollrituale können dann ganze Tage ausfüllen und sind die Quelle großen Leides bei den betroffenen Patienten.

Kontrolle in verschiedenen Lebensbereichen

Die Frage ist also nicht: dauernde Angst oder völlige Angstfreiheit beziehungsweise Kontrolle über jedes Lebensdetail oder Verzicht auf jede Kontrolle, sondern die Frage lautet: Welches Maß an Kontrolle in welchen Lebensbereichen ist sinnvoll und zuträglich, und wo wird Kontrolle zum sinnlosen und vor allem vergeblichen Ritual, um Angst zu bannen?
Hierzu möchte ich einige Bereiche unseres Lebens genauer unter die Lupe nehmen.

Heilkunde und Medizintechnik

Aufgabe der Medizin ist und war es seit Menschengedenken, Leid zu lindern und den Tod zurückzudrängen, wo dies nur möglich ist. Das führt naturgemäß dazu, dass die Medizin versuchen muss, bestimmte Bereiche der biologischen und psychologischen Funktionen des Organismus und der natürlichen Umwelt kontrollieren zu können. Dazu gehört auch, dass der einzelne Mensch sich möglichst so verhält, dass dies seiner Gesundheit zuträglich ist und Krankheiten verhindert. Die alten Griechen hatten dafür sogar eine Göttin: Hygieia, die Tochter des Asklepios. »Hygienisch« zu leben hieß, die Regeln zu beachten, derer man sich damals schon bewusst gewesen ist, um die Gesundheit zu erhalten. Das ging von Speiserichtlinien über die Art des Zusammenlebens bis zur Reinlichkeit, war also viel umfassender, als der Begriff der Hygiene heute gebraucht wird, wo er praktisch ausschließlich die Reinlichkeit meint. Seither haben sehr viele medizinische Errungenschaften der letzten zwei Jahrtausende mit Kontrolle zu tun. Es ging historisch dabei zunächst um die Kontrolle einfachster Dinge, wie bei der Ernährungslehre oder der Reinlichkeit; inzwischen geht es auch um die Kontrolle viel komplexerer Zusammenhänge. Wenn wir uns impfen lassen, versuchen wir gewisse Aspekte des Immunsystems zu kontrollieren, indem wir es so beeinflussen, dass es Antikörper bildet gegen die Infektionskrankheit, gegen die wir impfen. Inzwischen haben noch ganz andere Dimensionen Bedeutung gewonnen - etwa die Diskussion um Gentechnologie und Stammzellforschung. Es ist ja heute tatsächlich möglich, in ein Genom (die Gesamtheit der Erbanlagen) technisch einzugreifen - der »designte Organismus« ist nicht mehr reine Science-Fiction, sondern in erreichbarere Nähe gerückt.
Im Bereich der Intensivmedizin können wir sehen, dass Menschen, die noch vor 50 Jahren bei bestimmten Erkrankungen unweigerlich gestorben wären, heute eine ganz gute Überlebens- und manchmal sogar eine Heilungschance haben.
Wir sind längst angekommen bei den Fragen der Kontrolle über das Leben selbst. Das ist auch das Thema bei den Fragen von Intensivmedizin und passiver beziehungsweise aktiver Sterbehilfe. Bis zu welcher Grenze darf die Medizin gehen bei ihrem Wunsch nach Kontrolle? Es ist Skepsis angezeigt, wenn behauptet wird, es gebe diesbezüglich eine absolute Grenze - die Geschichte hat gezeigt, dass die Medizin diese Grenze immer wieder verschoben hat. So hat sich zum Beispiel das Geburtsgewicht, ab dem ein früh geborener Mensch eine Überlebenschance hat, in den letzten 30 Jahren deutlich verringert - heute überleben dank der Möglichkeiten der perinatalen Medizin auch Frühgeborene, die eine Generation früher unweigerlich hätten sterben müssen.
Seit Menschen Medizin betreiben, gibt es den Wunsch nach Kontrolle über lebendige Prozesse, und wir sind im Verlauf der letzten beiden Jahrtausende dabei ohne Frage auch ein ziemliches Stück vorangekommen. Problematisch
Copyright © 2009 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlagmotiv: Fotolia/Sedlacek
 
eISBN : 978-3-641-03663-8
 
www.koesel.de
 
Leseprobe
 

www.randomhouse.de