Die Insel der wilden Träume - Susanne Braun - E-Book
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Die Insel der wilden Träume E-Book

Susanne Braun

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Beschreibung

Die junge Tierärztin Susanne Braun ist den deutschen Praxisalltag leid und entscheidet sich, ihren Traum zu leben: Sie kündigt, löst ihre Wohnung auf, macht mit dem Freund Schluss und geht auf die Fähre. Ziel: Ihre Herzensinsel Island, die sie schon als Schülerin besuchen durfte. Doch dort erwartet sie kein Urlaub, sondern ein mühsamer Neuanfang – im Beruf genauso wie in der Liebe. Die sagenumwobene Insel gibt ihr Kraft – mittlerweile ist sie zu einer Spezialistin für Islandpferde geworden und wird von den Isländer*innen liebevoll »Knochenknackerin« genannt. Susanne genießt die Freiheit, die das Inselleben ihr bietet, die rauen Naturkräfte mit ihren bemoosten Lavafeldern, tosenden Wasserfällen, eiskalten Gletschern, heißen Geysiren und Vulkanen, den langen, lauen Sommernächten und den klirrend kalten, dunklen Wintern. Und gegen Männer in Strickpullovern ist ja auch nix zu sagen – Klischee hin oder her. Hier hat Susanne ihre Bestimmung gefunden, hier ist ihr Herz zu Hause.

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Seitenzahl: 305

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Inhalt

Stürmische Ankunft

Unterschlupf beim Papageitaucher

Wer wagt, gewinnt

Þetta reddast – Wird schon gut gehen!

Die Knochenknackerin

Ritt auf neuen Wegen

Spannend wie ein Schwedenkrimi: Als Equipe-Tierärztin zur Weltmeisterschaft

Der Schritt über den Großen Teich

Pferde-Lotto: Gewinn oder Niete?

Deutsche Beharrlichkeit und isländische Improvisationskunst

Überflieger mit Stahlkraft

Im freien Fall

Der Weg zurück ins Leben

Liebesschwüre, Luftschlösser und gesunder Menschenverstand

Kälteschock mit Konsequenzen oder ein Pferd aus dem Gewächshaus

Großwildjagd am Polarkreis

Von Grenzgängen und Gegenwind

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust

Fohlenquartett und Zukunftsprojekte

Wandertag mit der Familie

Ehrenspalier

Der Traum vom Haus am Meer

Wie wohnen eigentlich Elfen?

Einzug in ein neues Leben: Selbst ist die Frau

Alte Liebe rostet nicht

Mit dem Blick gen Norden: Zukunftsplanung

Eine heiße Sache

Mit Island im Herzen für das deutsche Team

Schnee von gestern: Heimfahrt mit Hindernissen

Heiß auf Eis: Silvester unterm Nordlicht

Volles Haus

Aus wilden Träumen werden wahre Tränen

Eine runde Sache

 

Danksagung

Hinweise

In Island duzt jeder jeden. Man redet sich nur mit dem Vornamen an. Dies wurde im Buch so beibehalten. Die Schreibung isländischer Namen wurde ebenfalls beibehalten. Die Aussprache der Buchstaben ist wie folgt:

 

Á, á:

au

Ð, ð:

wie ein stimmhaftes th im Englischen

Hj, hj:

ch (wie in »ich«)

Hv, hv:

kv

ll:

dl, wobei das l stimmlos ist; manchmal auch einfach ll gesprochen

U, u:

ü

Ú, ú:

u

Þ, þ:

wie ein stimmloses th im Englischen

Æ, æ:

ai

Stürmische Ankunft

Die Wellen scheinen mit jedem Mal noch wütender gegen das Schiff zu brechen. Der Himmel schimmert in immer tieferen Schattierungen unheilvollen Dunkelgraus, scharfer Wind peitscht mir die Gischt ins Gesicht.

Es ist bitterkalt. Das Wetter auf dem Nordatlantik ist im Februar kein Zuckerschlecken.

Ich bin die Einzige, die noch an der Reling steht, alle anderen haben sich schon längst ins warme Innere der Fähre zurückgezogen. Mit beiden Händen halte ich mich an der Brüstung fest. Meine langen Haare wehen im Wind, meine Augen habe ich gen Westen gerichtet, auf mein Ziel hin, das morgen in Sicht kommen wird: Island!

Die raue See kann mir nichts anhaben, ich stehe da, atme die frische Meeresluft ein, merke, wie sich meine Lungen vollsaugen, und freue mich auf das Abenteuer: Ich will ein neues Leben in Island beginnen und stelle mir vor, wie ich dort als Tierärztin arbeiten, lange Reittouren durch isländische Landschaften unternehmen, das Leben im hohen Norden genießen werde.

Ein Mitglied der Mannschaft kommt auf mich zu und unterbricht meinen Tagtraum: »Bitte gehen Sie jetzt in Ihre Kabine. Der Sturm wird noch stärker werden!«

Die ersten Tage auf unserer mehrtägigen Überfahrt mit kurzem Aufenthalt auf den Färöer-Inseln waren noch recht ruhig verlaufen. Seit heute Mittag aber frischt der Wind immer mehr auf, und unsere Autofähre schaukelt auf den Ozeanwellen eher wie eine Nussschale, als dass sie zielstrebig über das Wasser gleitet.

Als ich die Karten für die Überfahrt buchte, hatte ich Glück, denn dies sollte die vorerst letzte Autofähre vor dem Sommer sein.

Die Kabine teile ich mit einer jungen deutschen Touristin. Der Raum ist schlicht gehalten, die Holzbetten sind schmal. Immerhin haben wir aber eine Kabine mit Fenster bekommen. Um diese Jahreszeit befinden sich außer ein paar Lastwagenfahrern kaum Passagiere an Bord.

Während ich mich aufs Bett lege, rennt meine Nachbarin zum ersten Mal auf die Toilette. Ich höre, wie sie sich übergibt, die Toilettenspülung betätigt und dann wieder zurückkommt. Seekrankheit! Zum Glück geht es mir noch gut.

Ich frage, ob ich helfen könne, und wir kommen zaghaft miteinander ins Gespräch. Tina möchte zwei Wochen in Island bleiben und eine Rundreise machen.

»Ich wandere nach Island aus …«, erzähle ich meiner überraschten Zuhörerin.

»Und du lässt einfach alles und jeden zurück?«, fragt sie ganz erstaunt.

Eine Welle peitscht mit aller Wucht gegen unser Fenster. Tina rennt wieder auf die Toilette, und so habe ich etwas Zeit, um über ihre Frage nachzudenken.

Island! Von der Idee bis zur Tat war es tatsächlich ein großer Schritt. Ich musste so manche schmerzhafte Entscheidung treffen.

Nachdem sie wieder auf ihrem Bett sitzt, erzähle ich ihr, dass ich mich vor der Überfahrt von meinem isländischen Freund in Deutschland getrennt und unseren gemeinsamen kleinen Pferdehof mit der bescheidenen Islandpferdezucht, meine eigenen Pferde und meinen Hund schweren Herzens zurückgelassen habe.

»Mein Leben, wie es bisher war, ist Geschichte. Aber es war schon als Kind mein Traum, nach Island zu ziehen und dort mit Pferden zu arbeiten. Und dieser Wunsch ist dann einfach mit jedem Lebensjahr immer stärker geworden, trotz aller Bindungen, Chancen, Familie und Freunden in Deutschland.«

Das Schiff ächzt immer schwerer, die Maschinen laufen auf Hochtouren, um den Wellen Paroli zu bieten. Der Kapitän gibt über Lautsprecher durch, dass wir bald mit Windstärke zwölf zu rechnen hätten und deshalb die Kabinen nicht mehr verlassen dürften.

»Für ein halbes Jahr probiere ich es nun aus«, erzähle ich weiter, »denn für diese Zeit habe ich eine Stelle gefunden.«

Ich berichte ihr, wie ich vor einigen Monaten bei einem Reitturnier für Islandpferde meinen alten Studienfreund Björgvin wiedergetroffen hatte, der dann kurzerhand vorgefühlt habe, ob ich ihm nicht bei einer Operation helfen könne. Danach fragte ich ihn einfach, ob ich nicht eine Zeit lang in seiner Klinik mitarbeiten dürfe. Und er, der gestandene Tierarzt, spezialisiert auf Islandpferde, mit so viel mehr Praxiserfahrung als ich, bot mir, der angehenden Tierärztin, tatsächlich an, sein reiches Fachwissen mit mir zu teilen.

Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte sich da gerade eine Tür geöffnet? Bot sich mir nun endlich die Chance, nach Island zu ziehen und dort zu arbeiten? Denn eigentlich hatte ich ja bereits 1992 direkt nach meinem Abitur für ein Jahr nach Island gewollt, um auf einem Pferdehof zu arbeiten. Dann war allerdings mein Studienplatz dazwischengekommen, den ich mir hart erarbeitet hatte und auf gar keinen Fall aufs Spiel setzen wollte.

Mein Herz machte nicht einen, sondern gleich mehrere Sprünge. Ich konnte es kaum fassen, strahlte über beide Backen und sagte spontan zu.

»Okay, dann kommst du im Februar! Ich kümmere mich um deine Arbeitserlaubnis und finde eine Wohnung für dich«, freute sich auch Björgvin und lächelte mich einladend an …

»Und das ging so einfach, ohne irgendwelche Nachweise, Zeugnisse oder andere Bescheinigungen?«, reißt mich Tina auf ihre direkte Art aus meinen Gedanken.

»Ja, spontan sind sie, die Isländer, und in diesen Dingen wirklich unkompliziert«, antworte ich. »Eigenschaften, die ich sehr mag und in Deutschland oft vermisse.«

Wieder spielt ihr Magen Achterbahn. Der Sturm hat in der Zwischenzeit seinen Höhepunkt erreicht.

Es ist mittlerweile schon recht spät geworden, und obwohl wir von den mächtigen Wellen, die an unser Fenster klatschen, in unseren schmalen Betten hin- und hergeworfen werden, versuchen wir, etwas Schlaf zu finden.

Doch ich liege noch lange wach und male mir aus, wie es ist, auf dieser magischen Insel aus Feuer und Eis im Nordatlantik ein neues Leben zu beginnen. Welchen Herausforderungen würde ich mich stellen müssen, wie würde sich mein Leben entwickeln? Würde ich als ausländische Tierärztin akzeptiert? Fände ich eine neue Liebe? Käme ich mit Björgvin als meinem Chef in der Klinik klar?

Die Freude in mir überstrahlt alles. Sie zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht. Ach, wie auch immer, ich bin fest entschlossen, mein Leben in Island selbst in die Hand zu nehmen, mich den Herausforderungen zu stellen und die Zeit zu genießen. Mit diesem Lächeln im Gesicht schlafe ich ein.

Am nächsten Morgen ist der Sturm bloß noch ein Stürmchen. Nur leider werden wir nicht wie geplant morgens in Seyðisfjörður anlegen, sondern erst gegen Mittag.

»Schaffst du das dann heute noch bis Selfoss, wo du hinmusst«, meint meine Nachbarin, die in der Zwischenzeit wieder merklich mehr Farbe im Gesicht hat, »das ist doch noch eine ziemliche Strecke, oder?«

»Ich fahre einfach gleich los, sobald wir das Schiff verlassen haben, dann wird das schon«, mache ich mir selbst Mut. Ich hüpfe innerlich vor Vorfreude und habe nur eines im Kopf: Heute Abend schon werde ich bei einer Flasche Rotwein mit meiner Freundin Nicki in deren warmem Wohnzimmer sitzen und über alte Zeiten klönen – und all das Neue, das kommt.

Nicki wohnt im Süden der Insel. Von Seyðisfjörður, der Anlegestelle der Fähre im Osten, sind das um die 670 Kilometer. Die meiste Zeit werde ich im Dunkeln fahren müssen. Im Februar sind die Nächte in Island noch lang. Ab 15 Uhr wird es schon dunkel sein.

Island begrüßt uns dann nach den stürmischen Tagen auf See mit wunderschönem Wetter und ermöglicht so einen wundervollen Ausblick auf den schneebedeckten Berg links und rechts des Fjords, der so heißt wie der Ort, an dem er endet. Wir stehen an der Reling und bewundern mit weit aufgerissenen Augen die nackte Schönheit der Berge, auf denen bei klirrender Kälte der Neuschnee im Sonnenlicht glitzert. Sonne und Wolken zaubern ständig neue Farben auf die Bergrücken.

Ich staune und muss mich kurz selbst kneifen. In diesem wunderschönen Land darf ich jetzt leben! Ich kann es kaum erwarten, bis wir anlegen und ich endlich wieder isländischen Boden unter den Füßen spüre. Zum ersten Mal nicht als Besucherin, wie 1990 auf meiner ersten Islandreise zum Pferdetreffen im Skagafjörður oder bei meinen Tierarztpraktika in Akureyri, sondern wahrhaftig als zukünftige Einwohnerin dieser so besonderen Insel.

Dann dürfen wir auch schon zu unseren Autos, und ich verabschiede mich mit einer kurzen Umarmung von meiner Kabinennachbarin.

Ich hoffe nur, dass die Zöllner nicht allzu streng sind und alles durchsuchen wollen. Denn ich habe meinen alten Audi quattro bis zum Dach vollgepackt. Meine Kleider und Mamas Daunendecke habe ich vor der Abreise in dicke Plastiksäcke gestopft und anschließend mit einem Staubsauger die Luft abgesaugt, sodass ich die Säcke praktisch vakuumverschlossen ins Auto stapeln konnte. So habe ich wertvollen Platz gespart und konnte auch noch Papas alten Schwarz-Weiß-Fernseher und meinen Computer, auf dem ich auch meine Doktorarbeit zum Abschluss gebracht hatte, verstauen. Wenn ich jetzt aber auch nur einen dieser Säcke aufmachen muss, weiß ich nicht, wie ich die Sachen wieder alle im Auto unterbringen soll.

Ein Besatzungsmitglied berichtet am Zoll, dass im Sturm gestern ein Frachtschiff mit vier Seeleuten an Bord mit Mann und Maus untergegangen sei. Da wird es mir doch kurz noch mulmig. Vielleicht sind die Zöllner auch deshalb etwas weniger streng als sonst. Zum Glück, denn das erspart mir eine allzu akribische Kontrolle.

Nach ein paar kurzen Fragen zu meinem geplanten Aufenthalt und dem Anbringen einer Plakette an meinem Auto mit der Genehmigung, für ein halbes Jahr in Island fahren zu dürfen, gibt der Zöllner den Weg für mich frei.

Endlich! Ich atme die eiskalte Seeluft am Hafen ein, und mich erfüllt eine unermesslich große Vorfreude. Das Gefühl, endlich angekommen zu sein, und dass mein Traum Wirklichkeit wird. Ich starte meinen treuen Audi und fahre die ersten Meter im eigenen Auto in Island.

Von Seyðisfjörður geht es gleich in Serpentinen steil den Berg hinauf und dann wieder hinunter nach Egilsstaðir. Schon nach wenigen Höhenmetern und ein paar Kurven in den Berg hinein verschlechtert sich das Wetter. Auf der Straße liegen Schnee und Eis. Zum Glück habe ich Allradantrieb. Sogar Schneeketten habe ich mitgebracht, muss sie aber glücklicherweise nicht verwenden. Ich wüsste auch nicht einmal, wie die anzulegen sind. In der Lüneburger Heide habe ich sie jedenfalls noch nie gebraucht.

Ich fahre langsam und vorsichtig. Den anderen anscheinend zu langsam: Die Isländer überholen mich in kleineren Autos ohne Vierradantrieb. Deshalb wage ich bald auch, etwas schneller zu fahren, aber mehr als neunzig Kilometer pro Stunde ist selbst auf der großen Ringstraße Nr. 1, auf der ich Richtung Süden an der Küste entlang unterwegs bin, nicht erlaubt.

Ich fahre an Supermärkten und großen Tankstellen vorbei. Hunger verspüre ich keinen, mein Tank ist fast voll. Ich möchte ohne unnötige Pause so viele Kilometer wie möglich zurücklegen. Es ist schon später Nachmittag, und ich werde wohl erst mitten in der Nacht bei Nicki ankommen.

Wie schwierig es sein kann, in Island ein Auto über die vereisten Straßen zu steuern, bekomme ich schon auf dieser ersten Fahrt zu spüren. Es beginnt zu schneien, dichter und dichter tanzen die Flocken wild im Scheinwerferlicht vor mir. Von der Straße sehe ich immer weniger. Meine Scheibenwischer bewegen sich auf der schnellsten Stufe. Ich merke, wie ich das Lenkrad immer fester umgreife.

Da muss ich jetzt durch, denke ich, und hoffe, dass das Wetter sich gleich wieder beruhigt. Diesen Gefallen tut es mir jedoch leider nicht. Also fahre ich weiter und immer langsamer durch das Schneegestöber und verliere das Zeitgefühl. Irgendwann fällt mir ein, dass ich so langsam doch mal tanken sollte. Ich schaue auf die Anzeige, die sich tatsächlich schon recht weit Richtung Reserve neigt.

Bei der nächsten Tankstelle will ich anhalten. Ein Sandwich mit Krabbensalat und eine Tasse starken schwarzen Kaffees wären auch nicht verkehrt. Bloß: Es kommt keine Tankstelle. Nicht nach zehn, nicht nach fünfzig Kilometern. Keine einzige, dabei befinde ich mich doch immer noch auf der Hauptverkehrsader des Landes.

Plötzlich fällt mir auf, dass ich in der letzten Stunde praktisch kein anderes Auto mehr gesehen habe. Oh nein, denke ich mir, das ist ein schlechtes Zeichen. Wahrscheinlich gab es eine Wetterwarnung, und nur ich, die keine Ahnung davon hatte, bin hier draußen noch unterwegs.

Endlich kann ich eine kleine Tankstelle ausmachen. Ich fahre an die Zapfsäule, halte an – und stelle fest, dass im Verkaufsraum kein Licht brennt. Es ist schon zu spät, die Tankstelle ist geschlossen, und einen Automaten gibt es nicht.

Notgedrungen fahre ich weiter. Was soll ich nur machen, wenn ich ohne Benzin hier mitten im Nichts im Schneesturm liegen bleibe? Dann würde ja nicht mal mehr die Heizung funktionieren. Und das wäre bei diesen Temperaturen und diesem Wind eine Katastrophe!

Ich halte kurz und sehe auf der Karte, dass ich noch fast fünfzig Kilometer bis Vík í Mýrdal habe. Dies scheint der nächste größere Ort zu sein. Und irgendwie schaffe ich es auch tatsächlich bis dorthin. Zwar finde ich dann gleich eine Tankstelle, aber auch diese ist geschlossen. Es ist in der Zwischenzeit weit nach 22 Uhr, und die Straßen sind natürlich auch hier menschenleer.

Unterschlupf beim Papageitaucher

Während ich durch den Ort irre, sehe ich, dass in einem etwas größeren Gebäude noch Licht brennt. Die Tür ist offen, ich gehe hinein und treffe auf einige Leute, die sich überrascht nach mir umdrehen. Mit meinem eingerosteten Isländisch versuche ich zu erklären, dass ich gern tanken würde.

»Die Tankstelle macht erst morgen früh wieder auf …«, erklärt mir ein Mann, Mitte fünfzig, mit lichtem Haar und großen Fischerhänden. »Was bist du denn so spät noch unterwegs bei dem Wetter? Du willst doch nicht etwa noch weiterfahren?«, fragt er verwundert.

»Eigentlich möchte ich ja schon noch die 130 Kilometer bis Selfoss fahren heute Abend«, erwidere ich kleinlaut.

»Also, hör mal zu, mein Kind«, schaltet sich da eine etwas jüngere Frau ein, »das Wetteramt hat heute Morgen schon eine Wetterwarnung herausgegeben, es wäre also nicht ratsam, dass du jetzt noch weiterfährst. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du es überhaupt bis hierher geschafft hast!«

So langsam dämmert es mir, dass ich heute wohl nicht mehr von hier wegkomme.

»Du hast Glück, dass du uns hier noch antriffst. Wir sind gerade fertig mit der Gemeinderatssitzung«, meldet sich nach einer Pause der Mann wieder zu Wort und wird dann auch gleich praktisch: »Eine Unterkunft hast du ja wahrscheinlich nicht, oder?«

Ich verneine und bin niedergeschlagen, weil ich wohl heute Nacht hier festsitze.

»Jón«, ruft da mein Retter in der Not einen anderen Mann im Raum und winkt ihm, dass er sich zu uns gesellen solle. »Jón gehört hier das Hotel«, erklärt er mir, »es ist im Winter zwar geschlossen, aber vielleicht macht er dir ja ein Zimmer zurecht.«

»Ja, ja«, sagt Jón nur, als sein Gemeinderatskollege ihm die Situation erklärt. »Kein Problem, komm einfach mit mir, dann schließe ich das Hotel auf und bringe dir Bettwäsche. Frühstück gibt es zwar nicht, aber du kannst ja morgen früh etwas im Supermarkt oder in der Tankstelle kaufen.«

»Danke, das ist großartig«, sage ich zerknirscht und bin heilfroh, dass mir die Leute vor Ort so schnell und unkompliziert aus der Bredouille helfen: Gastfreundschaft und Herzlichkeit auf Isländisch.

Wenig später begleite ich Jón zu seinem Hotel. Das zweigeschossige Holzhaus liegt direkt am Strand. Wir gehen an der gemütlich eingerichteten Rezeption vorbei in den oberen Stock. Überall hängen Fotos und Zeichnungen von Papageitauchern.

Jón bemerkt, dass ich stehen bleibe, um sie ausgiebig zu betrachten.

»Das Hotel heißt Lundi, weil hier jedes Jahr im Frühsommer auf dem Felsen gleich hinter dem Haus eine große Papageitaucher-Kolonie brütet. ›Lundi‹ ist das isländische Wort für Papageitaucher …«, erklärt er mir und scheint sich über mein Interesse ehrlich zu freuen.

Dann schließt Jón ein einfaches, aber schönes Zimmer mit Meerblick für mich auf.

»Morgen früh komme ich vorbei und schließe das Hotel wieder ab, wenn du weggehst. Einen Schlüssel brauchst du nicht, du bist ja der einzige Gast«, lächelt er.

»Ich habe noch eine Bitte, dürfte ich kurz meine Freundin in Selfoss anrufen, dass ich heute nicht mehr komme?«

»Ja, natürlich«, brummt Jón geduldig, »das Telefon steht unten.«

Nach kurzem Klingeln höre ich schon Nickis vertraute Stimme: »Ich habe sowieso nicht mehr mit dir gerechnet«, meint sie überrascht. »Dass du überhaupt so weit gekommen bist, hätte ich nicht gedacht. Du hast echt Kampfgeist. Den kannst du hier aber auch gebrauchen …«

Wir verabreden uns für morgen und freuen uns beide auf unser baldiges Wiedersehen.

Ich gehe hoch in mein Zimmer und lege mich gleich ins Bett. Ich merke, wie mich der Schlaf regelrecht übermannt. Endlich habe ich es geschafft, denke ich noch. Ich bin in Island! Dann schlafe ich auch schon ein.

Am nächsten Morgen ist Jón bereits unten, als ich aus dem Zimmer komme.

»Guten Morgen«, begrüßt er mich freundlich. »Du hast Glück, heute soll ein schöner Tag werden. Und die Tankstelle hat auch schon auf«, meint er augenzwinkernd. »Meine Frau kommt gleich und bringt dir eine Kleinigkeit zu essen.«

Nach ein paar Minuten kommt Guðrún mit frisch gebrühtem Kaffee und einem leckeren Fladenbrot, belegt mit geräuchertem Lammfleisch.

»Gleich breche ich zu meinem Morgenspaziergang am Strand auf. Wenn du möchtest, kannst du ja mitkommen«, lädt mich Guðrún ein.

Warum nicht, denke ich. Nicki arbeitet bis 17 Uhr, und nach der langen Fahrt gestern die Beine etwas zu vertreten, ist ja auch kein Fehler.

Am Anblick des Meeres kann ich mich dann kaum sattsehen. Denn während der langen Fahrt gestern war es schon so dunkel, dass ich leider nur sehr wenig von der Küstenlandschaft mitbekommen habe.

Der Strand, der an dieser Stelle recht breit ist, beginnt direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Hotels. Die frische Luft und das Gehen tun mir gut. Ich merke, wie ich wieder zu Kräften komme.

»Der Strand ist ja ganz schwarz«, wundere ich mich.

»Ja«, sagt Guðrún, »das ist alles Lavagestein.«

Die Flut drückt langsam auf das Ufer. »Es kann hier ziemlich stürmisch werden«, erklärt meine Begleiterin. »Deshalb haben wir hier auch keinen Hafen. Der Unterstrom ist einfach zu stark. Auch die haben es übrigens nicht mehr geschafft«, sagt sie und weist mit ihrem Finger auf eine Felsformation rechts von uns, ein paar Meter von der Küste entfernt.

»Wie meinst du das?«, frage ich.

»Na, erkennst du nicht die Form? Das war mal ein Schiff. Ein Troll-Schiff, um genau zu sein. Trolle wohnen in Höhlen und trauen sich nur nachts raus. Sobald sie ein Sonnenstrahl trifft, verwandeln sie sich in Stein.«

»Dann kam dieses Schiff wohl ein paar Minuten zu spät an?«, frage ich.

»Genau«, antwortet Guðrún geheimnisvoll. »Wir sind hier in Vík zwar nur ungefähr dreihundert Einwohner. Aber wir zählen auch nur die Menschen und nicht, was es sonst noch so gibt …«

Sie geht weiter und lässt mich etwas verdutzt zurück.

»Apropos Steine«, sie winkt mich zu sich, »hier lagen gestern noch richtig große Brocken. Die hat der Sturm wohl mit ins Meer hinausgenommen.«

Mir wird klar, dass Isländer viel mehr im Einklang mit der Natur leben, als ich das von Deutschland her gewohnt bin – und darum auch viel mehr wahrnehmen als wir.

So langsam möchte ich dann aber meine Fahrt fortsetzen, denn dem Wetter kann ich sicher auch heute nicht trauen. Schließlich herrscht hier tiefster Winter. Beim wieder vollgetankten Audi angekommen, verabschiede ich mich herzlich von Guðrún.

»Keine Ursache«, sagt sie bescheiden, »wenn Reisende in Not sind, muss man helfen, so einfach ist das. Das haben unsere Vorfahren schon immer so gehandhabt, und das soll auch so bleiben.«

So viel spontane Hilfsbereitschaft gleich an meinem ersten Tag in Island tut richtig gut. Ich werte das als gutes Omen für all das, was noch kommt.

Jetzt freue ich mich aber erst mal auf Nicki.

Nicki kenne ich noch aus Deutschland, wo wir uns als Teenager auf einem Islandpferdeturnier kennenlernten. Sie ist fast gleich alt wie ich, arbeitet bei einem Optiker und lebt glücklich und zufrieden mit ihren Katzen in einer Zweizimmerwohnung in einem modernen Mehrfamilienhaus in dem kleinen Ort Selfoss, der für den Süden Islands wirtschaftlich eine wichtige Rolle spielt.

Ich habe sie schon längere Zeit nicht mehr gesehen, es fühlt sich aber vom ersten Moment so an, als ob wir erst gestern noch zusammengesessen hätten. Mit einer Flasche Rotwein auf dem Tisch machen wir es uns nach dem Essen gemütlich, klönen erst über alte Zeiten und dann über die Monate, die jetzt kommen.

»Und was willst du hier konkret machen?«, fragt mich Nicki und blickt mich dabei mit großen Augen an.

»Ich habe eine Stelle angeboten bekommen, für ein halbes Jahr als Assistenztierärztin in einer Tierklinik«, antworte ich voller Inbrunst, »da arbeiten außer mir nur der Chef und ein anderer Tierarzt. Außerdem sind die dort auf Islandpferde spezialisiert, und das ist ja genau, was ich machen möchte!«

»Du und deine Pferde …«, lacht Nicki. »Na, dann hast du ja endlich bekommen, was du wolltest.«

»Erst mal abwarten, wie es wird. Und es ist ja auch nur bis Oktober.«

»Und wo liegt die Klinik?«

»In Kópavogur, also im direkten Einzugsgebiet von Reykjavík«, erkläre ich ihr.

»Dann kannst du ja über Langeweile nicht klagen. Dort bist du mittendrin im kulturellen und sportlichen Geschehen der Insel«, meint Nicki augenzwinkernd. Und etwas ernster fügt sie hinzu: »Sag mal, hast du denn schon eine Arbeitserlaubnis und eine Wohnung?«

»Um die wollte sich Björgvin, mein Chef, kümmern. Er meinte, das sei alles geklärt, bis ich komme.«

Nicki runzelt die Stirn, schließt kurz ihre Augen und schaut mich dann etwas skeptisch an. »Susi, dir ist aber schon klar, dass du es hier mit Isländern zu tun hast und nicht mit Deutschen?!«

Jetzt bin ich es, die die Stirn in Falten legt und sie fragend anschaut.

»Wenn ein Isländer sagt, er erledige dies und das, dann heißt das noch lange nicht, dass er es auch in die Tat umsetzt. Vor allem, wenn er meint, noch viel Zeit zu haben. Planung und Isländer, das passt einfach nicht zusammen«, macht mir Nicki bewusst.

War ich vielleicht etwas zu leichtgläubig, stehe ich morgen womöglich vor einem Scherbenhaufen und muss gleich wieder zurück, weil ich in Island weder arbeiten darf, noch eine Bleibe haben werde? Plötzlich schießen mir unzählige Fragen durch den Kopf.

»Aber er will doch auch, dass ich gleich loslegen kann?«, versuche ich, meine aufkommenden Zweifel gar nicht erst groß werden zu lassen.

»Das kann schon sein, aber die sind hier halt einfach nicht so organisiert wie in Deutschland.«

Jetzt habe ich es schon so weit geschafft – dann werde ich diese Hürde auch noch nehmen, denke ich trotzig.

»Mit der Arbeitserlaubnis kann ich dir leider nicht helfen«, sagt Nicki, der meine Sorgenfalten nicht entgehen, »aber wenn dieser Björgvin tatsächlich noch keine Wohnung für dich gefunden hat, dann kannst du vorläufig natürlich bei mir schlafen.«

»Das ist wirklich nett von dir«, bedanke ich mich bei Nicki.

»Also fahr dort morgen einfach mal hin, und dann siehst du ja, was Sache ist«, empfiehlt sie mir in versöhnlichem Ton, da sie mir die Verunsicherung wohl ansieht.

Dann nehmen wir beide noch einen Schluck Rotwein.

Bisher überwog bei mir klar die Vorfreude, so langsam sehe ich aber, dass es vielleicht noch weitere Hindernisse zu überwinden gilt, über die ich bisher nicht wirklich nachgedacht habe.

»Apropos: Hast du denn schon eine kennitala?«, holt mich Nicki aus meinen Gedanken.

»Eine was?«

»Na, eine Personenkennziffer. Ohne die läuft hier in Island gar nichts. Ohne diese Nummer kannst du nicht mal einen Film ausleihen, geschweige denn ein Bankkonto eröffnen«, klärt sie mich auf. »Die hat man hier als Neugeborenes schon, bevor man einen Namen bekommt …«

Als ich etwas später ins Bett gehe, mache ich mir nun doch Sorgen. Allerlei Szenarien spuken durch meinen Kopf. Aber es hilft ja alles nichts. Morgen werde ich weitersehen.

Wer wagt, gewinnt

»Ah, da bist du ja endlich, Susi! Bist du gut durchgekommen?«

Björgvin freut sich aufrichtig, mich zu sehen, und begrüßt mich herzlich. Er mustert mich von oben bis unten, und seine Augen blitzen auf.

»Komm, ich zeig dir gleich mal, wie unsere kleine Klinik jetzt aussieht, und stelle dich dabei auch Egill, meinem Kollegen, vor.«

Björgvin ist ein schlanker, drahtiger Kerl. Seine Augen verraten seinen Hang zu Humor und einer fröhlichen Grundhaltung, aber auch die Fähigkeit, sich ganz auf etwas zu fokussieren.

Ich kenne und schätze Björgvin schon seit meiner Zeit an der Uni in Hannover, als wir dort zusammen studiert haben und gemeinsam um die Häuser gezogen sind. Nach dem Studium ist er dann wieder nach Island zurückgekehrt, um dort als Tierarzt zu arbeiten. Ich blieb in Deutschland und war in verschiedenen Praxen und Kliniken angestellt.

Im Sommer 2004, mitten in meiner Ausbildung zur Chiropraktikerin, reiste ich mit Freunden zu den nationalen Meisterschaften für Islandpferde, dem Landsmót. Eigentlich ist es ein Festival, bei dem sich alle Pferdeliebhaber in Island und viele Gäste aus dem Ausland treffen und die Zeit miteinander genießen. Zwischen den Gangprüfungen, den rasanten Passrennen und den Zuchtschauen ist das Ganze ein einziges großes Happening. Die Veranstaltung findet alle zwei Jahre statt und ist der absolute Höhepunkt für Islandpferde-Narren wie mich.

An das Festival angeschlossen ist auch eine Tagung für Pferdetierärzte, für die ich mich damals angemeldet hatte. Dort traf ich, die Welt ist klein, auch meinen alten Kommilitonen Björgvin wieder. Eigentlich kein Wunder, aber wir freuten uns doch sehr. Das musste natürlich gefeiert werden. Wir redeten die halbe Nacht und tranken das eine oder andere Glas zusammen, erinnerten uns an gute alte Zeiten und daran, wie es uns in der Zwischenzeit so ergangen war.

»Ich habe mich als Tierarzt selbstständig gemacht, einen Pferdestall gekauft und den gerade erst zu einer Tierklinik umgebaut«, erzählte Björgvin voller Enthusiasmus. »Komm doch mal auf Besuch und schau es dir an! Das wäre was für dich.«

Das klang schon irgendwie interessant. Ich merkte, dass sich ein Kribbeln in meinem Bauch breitmachte.

Björgvin traf, vielleicht eher unbewusst, einen wunden Punkt bei mir: Ich war das Leben und Arbeiten als Tierärztin, so wie ich es in Deutschland kennengelernt hatte, schon nach ein paar Jahren ziemlich leid. Als junge Angestellte verdient man nicht viel, der Stresslevel ist hoch, permanent kann man zu einem Notfall gerufen werden und muss dann sofort los, manchmal auch mitten im Urlaub, wenn die Klinik unterbesetzt ist – und ein cholerischer Chef hilft in dieser Situation dann auch nicht weiter, ebenso wenig wie Kunden, die oft sehr ungehalten sind und gern herumnörgeln. Den meisten kann man’s nicht recht machen, weil man entweder nicht schnell genug an Ort und Stelle ist oder eben doch keine Wunder vollbringen kann.

Anscheinend machte ich meine Arbeit aber gar nicht schlecht, denn kurz vor den Sommerferien bot mir mein Chef an, Teilhaberin der Pferdeklinik zu werden. Das schmeichelte mir natürlich, und es wäre der nächste Schritt auf der Karriereleiter gewesen. Doch da hielt mich irgendetwas zurück, auf der Stelle Ja zu sagen … und schließlich musste ich im Januar ja auch noch meine letzten Examen zur Chiropraktikerin und die Fachtierarztprüfung für Pferde absolvieren.

Ich vertagte also meine Entscheidung vorerst und nahm mir vor, mir alles gut zu überlegen. Mein Chef stimmte zu, und wir verständigten uns darauf, dass wir erst nach Abschluss aller Examen Nägel mit Köpfen machen würden.

Björgvin hatte zwar bei unserem Treffen nur gemeint, ich solle ihn einmal besuchen kommen. Aber irgendwie schien es mir, als öffnete sich da vielleicht eine Tür für mich, die es mir ermöglichen könnte, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und die vorgegebene Karriere vielleicht doch nicht so geradlinig verlaufen zu lassen, wie sie es bisher tat …

»Und, was meinst du, Susi?«, fragte Björgvin mich stolz, als ich ihn in seiner neuen Praxis besuchte.

»Na ja … wirklich schön – aber eben doch recht klein, meinst du nicht?«, antwortete ich ein wenig zögerlich.

»Du bist halt den Luxus in Deutschland gewohnt. Wir brauchen hier nicht so viel Platz, und so viele Gerätschaften haben wir ja auch gar nicht zur Verfügung«, weist Björgvin auf die tatsächlichen Möglichkeiten in Island hin.

»Und der Operationstisch für Pferde, wo ist der?«, fragte ich.

»Ah, der kommt demnächst!«, verkündete er begeistert.

Irgendwie sah alles doch viel provisorischer und einfacher aus als das, was ich bisher gewohnt war. Und trotzdem, es hatte auch was, man konnte sich fast als Pionier fühlen, und Björgvin hatte die Praxis, das spürte ich, mit viel Herzblut eingerichtet. Wie optimistisch er durch seine neu geschaffene Klinik spazierte, wie begeistert er davon sprach, machte deutlich, wie sehr er seinen Job liebte. Das mochte ich.

Plötzlich sagte er: »Was meinst du, ich habe hier einen etwas verzwickten Fall mit einem Pferd, das einen Bauchbruch erlitten hat. Das muss noch einmal operiert werden. Die Kollegen, die den Eingriff vornahmen, meinen, es bilden sich Fisteln und das Ganze sei doch etwas komplizierter als ursprünglich gedacht … Was hältst du davon, sollen wir das nicht zusammen machen? Für einen allein ist die Operation zu groß. Wir könnten sie in einem Monat durchführen, wenn der Tisch geliefert und alles fertig ist. Ich bezahle dich auch dafür.«

»Wie jetzt«, fragte ich ungläubig, »du bezahlst mir das auch, wenn ich in einem Monat extra für die Operation nach Island fliege und sie mit dir zusammen durchführe?«

Unfassbar, dachte ich, in Deutschland klagten die Leute andauernd, dass alle Behandlungen so teuer seien, und hier würde ich extra für eine Operation eingeflogen und auch noch dafür bezahlt!

»Ja, klar«, meinte Björgvin cool und erklärte mir kurz, worauf es bei der OP ankäme und wie wir sie am besten durchführen könnten.

»Also gut«, sagte ich nach kurzem Überlegen. »Ich komme, und wir ziehen das gemeinsam durch!«

Ein Handschlag besiegelte unsere Absprache.

Einen Monat später saß ich im Flugzeug, um mit Björgvin den Bauchbruch bei dem isabellfarbenen Bjartur durchzuführen.

Als ich tags darauf in der Klinik ankam, traf mich fast der Schlag.

»Björgvin, wo ist denn der versprochene OP-Tisch?«, fragte ich verdattert.

»Ja, also«, begann er etwas ausweichend und schaute auf den Boden, »der ist noch nicht ganz fertig.«

»Noch nicht ganz fertig?« Ich konnte es nicht fassen.

»Na ja, ich hatte mit meinem Schwager, der in einer Stahlbaufirma arbeitet, alles besprochen und ihm die Zeichnungen vorgelegt. Die Firma hat auch sofort angefangen, den Tisch nach meinen Vorgaben zu bauen. Nur fehlte jetzt zum Schluss noch ein Teil für die Hydraulik, und das ist im Moment in ganz Island nicht zu kriegen. Und jetzt sind auch noch Sommerferien …«, erklärte Björgvin.

»Jetzt bin ich extra hierhergeflogen, das Pferd kommt gleich und wir haben keinen OP-Tisch?! Wie soll denn das gehen, auf dem Fußboden etwa?«, fragte ich ihn ratlos.

»Genau das dachte ich mir eigentlich«, erwiderte Björgvin trocken.

»Wie jetzt, auf dem Fußboden?« Ich sah ihn mit großen Augen ungläubig an.

»Ja, das geht schon«, meinte er nur.

»Aber Björgvin«, wandte ich ein, »wir sollen eine Bauchhöhlen-Operation durchführen, da muss extrem steril gearbeitet werden.«

»Ach, das wird schon …«

Entweder war Björgvin supercool – oder er hatte keine Ahnung, was uns da bevorstand.

»Und wer kümmert sich um die Narkose?«, fragte ich weiter. »Bisher sind wir ja nur zu zweit, oder täusche ich mich?«

»Das macht Raggi, der Besitzer.«

»Der Besitzer?« Ich konnte es nicht fassen. »Das darf doch nicht wahr sein. Wir machen eine Bauchhöhlen-OP, und der Besitzer, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, soll die Narkose übernehmen?« Mir wurde schwindelig. In was bin ich da nur hineingeraten, dachte ich. Das konnte niemals gut gehen.

»Wir haben hier sowieso nur eine Injektionsnarkose, und der Besitzer macht das dann mit dem Tropf«, meinte Björgvin schulterzuckend, was mich aber nur wenig beruhigte.

»Ja, ja, das wird schon. Wir sind halt nicht so ausgerüstet wie ihr in Deutschland, hier müssen wir häufig einfach improvisieren«, resümierte er. »Ah, da kommt Raggi ja schon mit seinem Pferd.«

Okay, Susi, machte ich mir Mut, du bist schließlich für diese Operation hierhergekommen, jetzt ziehst du sie auch durch. Gib dein Bestes, wenn es klappt, prima, wenn nicht, lag es jedenfalls nicht an dir, und du bist übermorgen sowieso wieder weg, also was soll’s.

»Auf geht’s«, sagte ich, »lass uns loslegen. Wenn ich es richtig verstanden habe, sollen wir einen Abszess aus der Bauchdecke entfernen, der schon recht groß ist.«

»Richtig«, antwortete Björgvin, und Raggi nickte zustimmend.

»Dann lasst uns aber absprechen, dass wir die Operation abbrechen und das Pferd nicht mehr aufwachen lassen, wenn der Abszess schon bis zur Bauchhöhle vorgedrungen ist. Denn sollte das der Fall sein, dann haben wir eigentlich keine Chance mehr, dass wir die Wunde wieder verschließen können, und eine tödliche Bauchhöhleninfektion ist vorprogrammiert.« Erst recht, weil wir eigentlich völlig unverantwortlich auf Knien auf dem Fußboden operieren werden, denke ich im Stillen.

»Da sind wir uns doch einig, oder?«, wandte ich mich mit entschlossener Stimme an die beiden.

»Ja, das ist in Ordnung«, bestätigten beide wie aus einem Munde.

»Dann lasst uns mal anfangen.«

Raggi hielt tapfer den Tropf mit dem Narkosemittel hoch, Björgvin und ich knieten beide auf dem Boden, beugten uns über den narkotisierten Bjartur und begannen mit der schwierigen Operation.

»Man, das ist ja wirklich ein Ding«, wunderte sich Björgvin, als wir auf den Abszess stießen, »der ist ja riesig, bestimmt kindskopfgroß!«

»Na, dann machen wir uns mal dran, den Klumpen vorsichtig rauszuschneiden«, empfahl ich, und wir führten die Skalpelle vorsichtig Millimeter für Millimeter an der Bauchwand vorbei.

»Au, verdammt«, rief Björgvin plötzlich, »mein Rücken, ich kann mich nicht mehr bewegen.«

»Wie jetzt, was soll das denn heißen?«, fragte ich, ohne den Blick von dem sensiblen OP-Feld abzuwenden.

»Ich glaube, ich habe einen Hexenschuss, ich kann mich wirklich überhaupt nicht mehr rühren«, klagte Björgvin, noch immer halb über das Pferd gebeugt und mit dem Skalpell in der Hand.

Ich schluckte hörbar.

»Soll das heißen, ich muss jetzt ganz allein weitermachen?« Mir schoss noch mehr Adrenalin ins Blut. Ich versuchte, Ruhe zu bewahren und mir gegenüber Björgvin und dem Besitzer des Pferdes meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.

»Tut mir leid, aber ja, das heißt es wohl.«

Björgvin schaffte es noch irgendwie, sich hinter das Pferd zu setzen, und lehnte sich gegen die Wand. »So kann ich dir wenigstens noch Tupfer und Instrumente anreichen«, krächzte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Der Pferdebesitzer stand immer noch da, hielt stoisch den Narkosetropf hoch, schluckte und sagte lieber nichts.

Ich schnitt vorsichtig weiter. Irgendwann stellte ich fest, dass der Abszess sogar noch größer war, als wir zunächst angenommen hatten, und sich tatsächlich bis in die Bauchhöhle erstreckte.

»Jungs, es tut mir leid, aber da haben wir keine Chance mehr. Wir brauchen nicht mehr zuzunähen. Lasst uns die Narkosedosis erhöhen und das Tier erlösen«, sagte ich bedauernd.

»Nein!«, riefen die beiden unisono. »Mach einfach weiter!«

»Ja, sagt mal, wir haben doch vorhin gemeinsam entschieden, dass wir es für sinnlos erachten, in so einem Fall noch weiterzuoperieren«, erinnerte ich sie an unsere Abmachung.

»Lass es uns auf jeden Fall versuchen, komm, bitte. Wir schaffen das«, baten mich die beiden.

»Oh Mann, also gut, aber nur, weil ihr darauf besteht.« Zwei gegen einen, was sollte ich dagegen sagen. Ich gab dem Patienten zwar überhaupt keine Überlebenschance, versuchte aber mein Bestes.

Mit aller Kraft schaffte ich es dann tatsächlich ganz allein, Bjarturs kräftige Bauchmuskeln wieder zusammenzunähen. »Uff, Leute, so, das war’s.« Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, stand mit zitternden Knien endlich auf und streckte mich erst mal.

Die beiden bedankten sich überschwänglich bei mir. Ich glaubte zwar noch immer, dass es unnötig gewesen war, die Operation zu Ende zu führen, aber gut. Jetzt war es vollbracht, und ich fühlte mich auch ein bisschen stolz, dass ich das wirklich allein geschafft hatte. Und natürlich hoffte ich trotz der Zweifel nichts mehr, als dass Bjartur zügig wieder auf die Beine käme.

Wir unterstützten das Pferd beim Aufstehen, sodass die frischen Narben nicht gleich wieder aufrissen. Damit war die erste Hürde schon einmal genommen. Wir atmeten alle erleichtert auf.

Trotzdem flog ich kurz darauf mit einem unguten Gefühl nach Deutschland zurück. Der Abszess war einfach zu groß gewesen, dachte ich bei mir, und glaubte immer noch nicht daran, dass das Pferd eine große Überlebenschance hatte.