Die Inszenierung - Martin Walser - E-Book

Die Inszenierung E-Book

Martin Walser

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Augustus Baum, ein berühmter Theaterregisseur, liegt nach einem Schlaganfall im Krankenhaus. Herausgerissen aus der Inszenierung der «Möwe» von Tschechow, inszeniert er weiter, vom Krankenzimmer aus. Nicht nur das Stück, sondern auch sich selbst. Die Nachtschwester Ute-Marie, seine Frau Dr. Gerda und er sind die Personen, die er so handeln lässt, dass ein Roman draus wird. Es ist ein Roman, der ohne Erzähler auskommt. Die Figuren handeln durch Rede und Gegenrede, mit einander und gegen einander redend handeln sie. Sie stehen auf dem Spiel, darum müssen sie sprechen. «Die Inszenierung» ist der Roman der direkten Rede, aber nicht nur das. Obwohl er von nichts als Liebe handelt, ist er eine Seltenheit, wenn nicht sogar Sensation: Dr. Gerda, die Ehefrau, und Ute-Marie, die Nachtschwester, sind bei aller Lebensverschiedenheit gleich gut, gleich bedeutend, gleich zurechnungsfähig und auch gleich schön. Das gibt dem Uralt-Thema eine überraschende, ja faszinierende Aktualität. Nicht erst seit seinem flammenden Roman «Ein liebender Mann» kreist Martin Walser um Themen wie Leidenschaft, Abhängigkeit und Wahn. «Die Inszenierung» ist ein zwischen Ironie und Tragik oszillierendes Kammerspiel über das Kunstwerk der Verheimlichung, die Ehe und das seriöseste und zugleich lächerlichste Leiden überhaupt: die Liebe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 174

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martin Walser

Die Inszenierung

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Augustus Baum, ein berühmter Theaterregisseur, liegt nach einem Schlaganfall im Krankenhaus. Herausgerissen aus der Inszenierung der «Möwe» von Tschechow, inszeniert er weiter, vom Krankenzimmer aus. Nicht nur das Stück, sondern auch sich selbst. Die Nachtschwester Ute-Marie, seine Frau Dr. Gerda und er sind die Personen, die er so handeln lässt, dass ein Roman draus wird.

Es ist ein Roman, der ohne Erzähler auskommt. Die Figuren handeln durch Rede und Gegenrede, mit einander und gegen einander redend handeln sie. Sie stehen auf dem Spiel, darum müssen sie sprechen. «Die Inszenierung» ist der Roman der direkten Rede, aber nicht nur das. Obwohl er von nichts als Liebe handelt, ist er eine Seltenheit, wenn nicht sogar Sensation: Dr. Gerda, die Ehefrau, und Ute-Marie, die Nachtschwester, sind bei aller Lebensverschiedenheit gleich gut, gleich bedeutend, gleich zurechnungsfähig und auch gleich schön. Das gibt dem Uralt-Thema eine überraschende, ja faszinierende Aktualität.

Nicht erst seit seinem flammenden Roman «Ein liebender Mann» kreist Martin Walser um Themen wie Leidenschaft, Abhängigkeit und Wahn. «Die Inszenierung» ist ein zwischen Ironie und Tragik oszillierendes Kammerspiel über das Kunstwerk der Verheimlichung, die Ehe und das seriöseste und zugleich lächerlichste Leiden überhaupt: die Liebe.

Über Martin Walser

Martin Walser, geboren 1927 in Wasserburg, lebt in Überlingen am Bodensee. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Zuletzt veröffentlichte er den Roman «Das dreizehnte Kapitel», den die Süddeutsche Zeitung als «ein Meisterwerk der Schreib- und Empfindungskunst, eine der bewegendsten Liebesgeschichten auf der Richter-Skala der Literatur» feierte, und «Meßmers Momente».

Inhaltsübersicht

Die Inszenierung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel

Die Inszenierung

1

Niemand wird bestreiten, dass es in Deutschland zur Zeit einen Regisseur namens Augustus Baum gibt. Er hat oft genug von sich reden gemacht durch die Inszenierung von Theaterstücken in Städten, von denen man häufiger wegen Theateraufführungen als aus anderen Gründen spricht. Augustus Baum war oft der Regisseur solcher über die Stadt hinaus bekannt werdenden Inszenierungen. Auch wenn man mit seinen Einfällen nicht einverstanden war, darüber schreiben musste man. Er selber war mit sich auch nicht immer einverstanden. Wenn er wieder einmal war, wie er selber nicht wollte, musste er das in einer Inszenierung ausarbeiten. In einem der zahllosen Interviews sagt er einmal: Meine Inszenierungen sind ein Selbstgespräch. Und das öffentlich! Das sei, sagt er, das Paradox, aber auch das Peinliche, von dem das Theater lebe, dass es öffentlich mache, was ganz im Inneren stattfindet.

Er war sich auch nie zu gut, in Fragen des Zeitgeschehens mitzureden. Als Theatermann.

Kein Theatermann ist schon bei Lebzeiten aufgenommen in einen Himmel unverderbbarer Anerkennung. Aber dass Augustus Baum heute zum Abenteuer Kunst gehört, darf der sagen, der hier für ihn steht, nämlich ich.

(Frei nach Tschechow.)

2

Du glaubst doch nicht, dass ich dieses Zimmer mit offenen Haaren verlassen kann.

Ich habe dich wieder nicht fotografiert. Mit hochgesteckten Haaren fotografier ich dich nicht.

Er schaut zu, wie sie sich anzieht. Sie setzt sich noch einmal auf den Bettrand. Ihre Hände finden zusammen.

Ach, Marie.

Ute!

Sie korrigiert ihn so, dass er verstehen soll, so korrigiere sie ihn nicht zum ersten Mal.

Schon bei der leisesten Berührung weiß ich nicht mehr, wie du heißt.

Aber wie du heißt, weißt du noch! Und dass du der Regisseur bist, vergisst du nie. Augustus Baum, der mit Prominenz gepanzerte Regisseur! Und die Krankenhausmaus! Die hat Ärztin werden wollen. Dann hat es nicht gereicht. Trotzdem. Nachtschwester bleib ich nicht!

Wenn du Ärztin wärst, hätten wir uns nicht gefunden. Nachtschwester, das hat’s gebracht. Und auch das nur mit Hilfe einer Niederlage.

Es war ein Zweikampf, kein Duell. Hast du gesagt.

Ja, keine Regeln, kein Ritual, einfach: Wer ist der Stärkere. Und das war er, der andere. Und ich der Schwächere, der Verlierer. Der mit Prominenz Gepanzerte!

Verstanden habe ich das nicht. Da du doch der Regisseur bist und der andere der Schauspieler, hast doch du das Sagen gehabt, du, der Regisseur.

Ach, Ute-Marie! Regisseur! Ein Regisseur, der die Möwe inszeniert, muss merken, dass ein Regisseur auch nur eine Rolle ist. Auch wenn er diese Rolle schon öfter gespielt hat, vielleicht sogar mit Erfolg. Genauso die Schauspieler. Das ist auch eine Rolle, Schauspieler sein. Und weil alle vor allem unsicher sind, treten alle auf, gepanzert mit irgend einer Prominenz. Max Stallhofer weiß, wie prominent er ist, und er spielt im Stück den Trigorin, den Schriftsteller, der weiß, wie berühmt er ist. Aber im Unterschied zu Max Stallhofer beschreibt Trigorin im langen Monolog, wie wenig ihm das hilft, berühmt zu sein. Und hört dann so auf: Eigentlich bin ich doch nur ein Landschaftsschilderer, alles andere ist verlogen, verlogen bis ins Mark. Verstehst du? Wie sagt ein berühmter Schauspieler diesen Satz? Sagt er ihn wirklich so, dass die Leute verstehen: Eigentlich bin ich nur ein um Beifall bettelnder Schauspieler, alles andere ist verlogen, verlogen bis ins Mark? Vorher hat er als Trigorin gesagt: An seinem Grab wird man sagen: Hier liegt Trigorin. Ein guter Schriftsteller, aber Turgeniew war besser. Wird Max Stallhofer das so sagen, dass man hört: Eigentlich bin ich ganz wacker, aber Kinski war besser? Darum ging der Kampf. Wie spricht der zur Spitzenklasse gehörende Max Stallhofer den Satz: Eigentlich bin ich so und so, alles andere ist verlogen, verlogen bis ins Mark?

Zu wem sagt er denn das?

Zu Nina, die ihn anschwärmt, die ihn verehrt, die nicht einmal halb so alt ist wie er und die Schauspielerin werden will.

Dann weiß er doch, dass sie ihn gar nicht verstehen kann.

Stallhofer hat die Nina, also die Corinna Demski, hat sie an den Schultern gepackt, hat ihr das Gesicht zu sich heraufgedreht, hat den Ton halbiert, hat ihr ganz leise, ganz intensiv ein Geständnis geliefert. Also ungeheuer pathetisch, pianissimo, gesteht er, gesteht er nur ihr: Verlogen bis ins Mark. Das hieß: Noch ehrlicher geht es nicht.

Und sie?

Hilflos. Sie spielt die Erschütterte. Er so prominent, und dann so ein Geständnis.

Und du?

Ich habe mich nicht beherrscht! Ich habe gesagt: Das ist Stallhofer! Wir spielen Tschechow. Das war furchtbar falsch. Er wurde nervös. Bot dann nur noch Imitate an. Die lehnte ich ab, die muss ich ablehnen. Bis er erledigt ist. Kapituliert. Dann schafft er den Verlogen-Satz glaubhaft. Denk ich. Aber auf einmal wurde es dunkel. Ich merke noch, dass ich zu Boden gehe. Nicht stürze. Ich sinke. Sinke ins Dunkel. Aber in diesem Dunkel blitzt es noch. Mehr als einmal. Ich denke noch: Schade. Und fühl mich leicht, ganz komisch leicht. Und: Anton Pawlowitsch. Das denk ich auch noch: Anton Pawlowitsch. Dann ist Schluss.

Anton Pawlowitsch? Wer ist denn Anton Pawlowitsch?

O Kind. Es wird Zeit, dich zu entführen. Anton Pawlowitsch. Ich bin mit ihm per Du. Ja, und dann wach ich auf, hier in einer Klinik. Und Max Stallhofer, hat mir Lydia nachher gesagt, habe sich, als ich da lag, über mich gebeugt und habe gesagt: Das tut mir aber leid. Und das sei, sagt Lydia, ganz und gar glaubhaft gewesen.

Also haben wir es Max Stallhofer zu verdanken, dass wir einander gefunden haben.

Beziehungsweise meinem KO. Dass ich umgefallen bin, in die Schwärze versunken bin. Wenn ich diesen Zweikampf nicht so krass verloren hätte, wäre ich nicht in die Klink gekommen, hätte ich dich nicht getroffen.

Hätten WIR uns nicht getroffen. Obwohl, das glaube ich nicht. Ich hätte dich unter allen Umständen entdeckt, getroffen …

Wie denn?

Du glaubst, wir hätten weiter an einander vorbeigelebt. Das glaubst du doch selber nicht. Ich habe gewartet. Auf dich. Wenn ich dich nicht getroffen hätte, hätte ich ewig gewartet. Das passiert öfter, als man glaubt. Vinze hätte es nie erfahren, dass ich auf dich warte. Wir hätten geheiratet, Kinder gekriegt, wir wären eines der zahllosen glücklichen Paare gewesen. Aber man hält es nur aus mit einander, weil man wartet. Du hast mir gefehlt. Zum Glück hat man nicht den Mut zu gestehen, dass einem jemand fehlt. Dann wirst du eingeliefert. Seit dem weiß ich, was mir gefehlt hat. Und es bricht aus eine Gefühlssicherheit, vor der die ganze Welt kapitulieren muss. Schatz. Wir sind Schicksalszwillinge!

Deine Wörter, Marie …

Ute-Marie!

Und wie recht du hast. In gar allem. Ich mit meinem verdorbenen Kultur-Gehör wehre mich zuerst dagegen, dass du Ute heißt. Weißt du noch?

In der zweiten Nacht wolltest du mich umtaufen. Vanessa, Lea, Sophia, lauter so schmucke Namen aus deiner Kulturboutique!

Und wie du mir die weggefegt hast, die Kulturboutique. Ute, tonlos, farblos, und du hast den Namen intoniert wie ein Trompetensignal.

Wie eine Soprankoloratur. Bitte.

Das gibst du zu, dass ich in dir die Marie geweckt habe.

Mein Vater hat Marie verlangt. Aber meine Mutter hat mich zur Ute erzogen.

Was war dein Vater?

Es gibt ihn noch. Er lebt jeden Tag noch lieber. Und hat jedes Jahr einen anderen Beruf. Aber immer Historiker.

Was macht er zur Zeit?

Consulting. Aber seine Lebensarbeit ist das Buch über die Reichsgründung. Er will beweisen, dass die Reichsgründung ein Fehler war. DER verhängnisvolle Fehler überhaupt. Richtig wäre gewesen ein deutscher Staatenbund nach dem Vorbild Amerikas. Kein Kaiserpomp, sondern VSD, Vereinigte Staaten Deutschlands!

Ein Wintermärchen.

Er glaubt an mich.

Ich auch.

Er hat mich einmal geohrfeigt.

Augustus kann darauf nicht antworten.

Als ich sagte, ich wolle Steuerberaterin werden.

Ich liebe deinen Vater. Dass er dich Marie genannt hat, spricht für ihn. Das war unsere erste Intimität, dass wir erlebten, wie richtig das ist: Ute-Marie.

Seitdem möchte ich nur noch so heißen. Aber du lässt die Ute immer wieder weg! Das geht auch nicht!

Nie, nie mehr. Ich schwör’s!

Noch mal!

Was noch mal?

Das ICH SCHWÖR’S war nicht gut. Nicht glaubhaft! Los, probier’s noch mal.

Du führst Regie!

Mir liegt daran, dass es glaubhaft ist.

Du bringst mich auf fürchterliche Gedanken. Glaubhaft klingen! Das ist lächerlich. Glaubhaft sein.

Das wär’s.

Er küsst sie. Vorsichtig. Es ist eine Erkundung. Die führt zu einem Kuss, der eher eine ausführliche Zärtlichkeit ist als ein Kuss. Dann fällt er aufs Bett zurück. Er buchstabiert jetzt die Wirkung dieses Kusses.

Dieses Gefühl einer ungeheuren Berechtigung. Es durchströmt mich. So deutlich wie noch nie. Ich möchte Blüten erfinden. Gesten, die erst in fünfzig Jahren üblich sein werden. Atemraubend kühne Gesten. Die Schauspieler, denen ich sie anbiete, erleben sie wie eine Levitation. Ich möchte mich bewegen, wie ich mich noch nie bewegt habe.

Er steht wieder auf. Er kann jetzt nicht mehr liegen bleiben. Plötzlich wieder ganz auf sie konzentriert. Er will sie bekannt machen mit einem Sachverhalt. Und es wird dann mehr als ein Sachverhalt.

Was in mir Zärtlichkeit ist und hinaus will zu dir, ist, bis es bei dir ankommt, nichts mehr wert. Es ist eine Temperatur. Eine Spannung. Eine Fülle. Ein nicht bei sich selbst bleiben wollender Zustand. Ein Bedürfnis, das sich erst kennenlernt, wenn es sich mitteilt. Ein Ungenügen. Ein Selbst-nichts-Sein. Und alles durch dich. Aber wie TEIL ich’s dir MIT. Dass du eine Ahnung hättest, wie ich dich liebe!

Ich mag es, wenn du so redest. Bald hätte ich gesagt: Singst! Dass Stallhofer gesagt hat, es tue ihm leid, finde ich sympathisch.

Ich auch. Und auch noch glaubhaft. Lydia muss seinen Ausdruck genau wiedergeben. Vielleicht können wir das benützen.

Du musst immer alles benützen.

Stimmt. Da bin ich wie der Schriftsteller Trigorin, der im Stück mit einem Eimer und einer Angelrute rumläuft, aber andauernd hat er auch sein Notizbuch dabei, das er herauszieht, und dann notiert er, was gerade wieder ein anderer oder eine andere gesagt hat. Und gesteht jedesmal: Das könne er brauchen für eine kleine Erzählung.

Ohne dich würde mich das alles nicht interessieren.

Aber in die Oper rennst du ganz von selbst.

Da wird gesungen, Schatz.

Das möchte ich eben erreichen. Dass gesungen wird. Musik ist ganz direkt. Inhaltslos direkt. Das wäre mein Ideal. Verständlich werden nicht durch Inhalt, sondern durch Direktheit.

Am Anfang hat mich das gestört, dass du immer alles aufgeschrieben hast! Bin ich für den ein Versuchskaninchen, habe ich gedacht. Inzwischen freut es mich, wenn du etwas brauchen kannst von mir.

Du bist unerschöpflich.

Mindestens. Und dieses Stück les ich jetzt.

Darauf wart ich seit Tagen beziehungsweise Nächten.

Die Nina, sagst du, glaube dem Trigorin nicht, dass er verlogen sei bis ins Mark. Warum sagt er das nicht einfach dem Publikum. Das ist doch auch noch da! Wenn er es nicht ihr sagt, glaubt sie es vielleicht eher.

Darf ich mir das notieren? Für Lydia!

Immer alles für diese Lydia. Von vier bis sechs jeden Tag hab ich das Gefühl, ich habe Fieber. Jeden Tag von vier bis sechs ist die bei dir. Und die Klinik ist informiert: Von vier bis sechs darf Herr Professor Baum nicht gestört werden. Sie legt sich zu dir, sie zieht sich aus und legt sich zu dir ins Bett! Klar!

Schatz! Lydia ist meine Assistentin. Das weißt du. Zum Glück hat sie diesen himmlischen Ehrgeiz, die Inszenierung am Leben zu erhalten, bis ich wieder zurück bin. Nur durch sie, weil sie jeden Tag kommt und berichtet und mitnimmt, was ich sage zu dem, was sie berichtet, nur dadurch existiert die Inszenierung noch und entwickelt sich sogar. Lydia war einmal meine Freundin vor … ach … das war in Wuppertal und Osnabrück. Da haben wir Romeo und Julia gemacht. Und wurden vorübergehend ein Paar. Ohne sie wäre jetzt meine Inszenierung verkracht. Aus. Amen. Eine Katastrophe. Für mich. Nach den Erfahrungen, die sie jetzt macht, wird sie selber inszenieren. Das spüre ich. Ihr Ehrgeiz ist grell.

Trotzdem. Von vier bis sechs geht es mir schlecht. Unglaublich schlecht. Es kann sein, dass ich einmal hereinstürme und euch überrasche!

Du weißt: Professor Baum darf von vier bis sechs nicht gestört werden! Andererseits kann ich es nicht fassen, dass du glaubst, Lydia lege sich zu mir ins Bett. Solange Lydia da ist, bin ich auf, wir arbeiten, das heißt, ich gehe herum, das Zimmer wird zur Bühne. Lydia liebt mich immer noch. Liebe gibt es eben in Tonarten, die mit einander nicht verwandt sind. Du hast mich in der ersten Nacht kassiert. Und ich war noch so gut wie blind. Du bist eine Kassier-Virtuosin!

Sag mir, wie ich das geschafft habe, vielleicht kann ich’s noch brauchen.

Dann muss ich dich leider umbringen.

Sag’s trotzdem.

Du hast gesagt: Setzen Sie sich mal aufrecht hin. Jetzt nach vorne beugen. Nicht so weit. Locker bleiben. Nur ein bisschen nach vorne. Dann hast du mich massiert. Den Rücken. Nur an einer Stelle. Unter dem linken Schulterblatt. Als hättest du die Stelle gefunden, auf die es ankommt. Obwohl ich doch noch richtig blind war, habe ich unter deinen Händen auf einmal gespürt, dass ich lebe. Dass ich noch leben will.

Und ich habe gerubbelt. Unterm linken Schulterblatt. Schatz, das mach ich immer.

Wo IMMER?

Bei allen Patienten. Allerdings wirkt es bei Männern mehr als bei Frauen. Ich rubble, wie wenn ich unterm Schulterblatt eine Zahl freirubbeln müsste. Tatsächlich ist das dann auch so. Ich rubble und rubble und spüre, wie etwas entsteht, unter meinen Händen, keine Zahl, aber ebenso deutlich eine Antwort, ein Gefühl, ein Erwachen.

Das machst du bei allen?

Ja.

Machen das alle bei allen?

Das macht außer mir niemand. Das ist meine Rubbelei. Ich hab Professor Overath das mitteilen wollen. Es hat ihn nicht interessiert. Aber die Patienten schon. Ich habe dann einfach einen Kontakt zu den Gerubbelten. Und verboten hat’s der Professor nicht.

Schade.

Aber wie es bei uns weiterging, so ist es noch nie, nie, nie weitergegangen.

Trotzdem schade.

Du hast gesagt, dass du wieder angefangen hast zu sehen, das kommt vom Rubbeln.

Trotzdem, trotzdem, trotzdem! Du versprichst, dass du bei keinem mehr rubbelst.

Dann muss ich kündigen! Und dann?

Das wird sich zeigen. Ich weiß, wie das tut, dein Rubbeln.

Tatsächlich führt es bei männlichen Patienten öfter zu Heiratsanträgen. Sie sind verheiratet. Wie du. Schon beim zweiten oder dritten Rubbeln legen sie los. Tun gebildet, sagen aber Sachen, das glaubst du nicht. Alte Männer. Kranke, alte Männer!

Wie ich.

Ich muss dann immer abwiegeln, kämpfen, zumachen. Der Gebrauch, den Gebildete von ihrer Bildung machen, ist oft vernichtend.

Warum hast du das Rubbeln überhaupt angefangen?

Wegen Siegfried. Es ist doch die Stelle, wo er ungeschützt ist. Zuerst im Drachenblut gebadet, das ihn unverletzbar macht. Dann ist da unterm Schulterblatt das Lindenblatt hängen geblieben, kam also kein Drachenblut hin, also war er da verletzbar, der böse Hagen konnte da den Speer hineinstoßen. Diese Stelle ist mir geblieben. Dann hab ich’s probiert, und habe erlebt, dass es wirkt und wie es wirkt. Und Wagner in seiner Siegfried-Oper hat das weggelassen. Ich war sehr enttäuscht. Hab mir sogar den Text gekauft. Tatsächlich, da kommt nur vor, dass Siegfried, wenn er einem den Rücken zukehrt, getroffen werden kann, das Lindenblatt hat der Wagner einfach weggelassen!

Da hast du’s. Das ist die Oper! Hättest du meine Inszenierung gesehen, Siegfrieds Tod, Hebbel, der finstere Hagen ruft: Ein Lindenblatt muss selbst der Blinde treffen. Er will sich trauen, ruft er, eine Haselnuss auf fünfzig Schritt mit diesem Speer zu öffnen. Und tut’s!

Und das weißt du noch nach …

… fast dreißig Jahren! Den Text weiß ich von jedem Stück, das ich machte. Ich bin ein Computer, dem die Löschtaste fehlt. Menschen vergess ich. Texte nie. Und das Lindenblatt, ich bitte dich, das Lindenblatt unter Siegfrieds Schulterblatt! Du hast es ja auch nicht vergessen. Und rubbelst es wach, ach, lass dir’s verbieten! Versprich es mir: Kein Lindenblatt mehr! Nirgends! Versprich’s, sonst …

Er hört auf.

Sonst?

Bring ich dich um.

Bitte. Aber davor gibst du mir die Bilder zurück. Dass die bei deiner Verurteilung im Gerichtssaal öffentlich werden, wäre mir noch im Grab eine Folter.

Ich kann ohne diese Bilder nicht leben. Auch die, auf denen du Kleider trägst. Ich muss, wenn meine Sehnsucht mich strangulieren will, in die Schublade greifen …

In die Schublade! Bist du wahnsinnig! Du hast versprochen, sie in den Safe zu sperren.

Wenn ich aus dem Zimmer muss zu Untersuchungen. Wenn ich da bin, kommt kein Mensch an die Schublade.

Gerda …

Ich weiß gar nicht, ob ich die Fotos Gerda nicht zuspielen sollte. Sie so hier auf dem Tisch liegen lassen, dass sie das Gefühl hat, sie habe die Bilder selber entdeckt. Gegen meinen Willen. Das würde vieles vereinfachen.

Aber die Kreta-Bilder und die aus Thailand gibst du mir. Jetzt. Sofort.

Ute-Marie!

Oder ich gehe.

Oder ich sperre zu.

Du begreifst nicht, wie ernst es mir ist. Jetzt. Bitte. Sofort.

Augustus nimmt die Bilder aus der Schublade, gibt ihr die aus Kreta und Thailand. Sie prüft, ob es alle sind, und verstaut sie in der Tasche ihres Schwesternmantels.

Glück gehabt.

Wer?

Du! Wenn du das nicht begriffen hättest, dass es für mich mehr als tödlich wäre, dass es für mich vernichtend wäre, wenn irgendjemand diese Fotos sähe, dann, lieber Augustus, hätten wir, weil wir zutiefst nicht zusammenpassen, nichts mehr zu tun gehabt mit einander.

Ich leihe dir die Bilder. Sie gehören mir. Wenn du mir gehörst, wie ich dir gehöre, dann gehört mir alles, was du bist und hast, wie dir alles gehört, was ich bin und habe. Weil du das noch nicht ganz begreifst, leih ich dir die Bilder. Drei Männer haben dich fotografiert. Für zwei davon, für die beiden Ärzte, hast du dich auf Kreta und in Thailand nackt fotografieren lassen. Offenbar hast du keine Ahnung, wie du wirkst. Nackt. In hundert Stellungen. Immer unter einem riesigen Himmel und vor einem unendlichen Meer und in einem enormen Sand. Und jetzt das Gewaltige, Schatz. Du vergibst dir nichts. Auf keinem dieser von zwei gierigen Männern geknipsten Bilder kommt es auch nur zur geringsten Peinlichkeit. Weder zierst du dich, noch bietest du dich an. In allen Stellungen nackt, als wärst du allein. Tatsächlich keimte in mir die Hoffnung: du seist allein gewesen. Sag dazu nicht Ja und nicht Nein. Aber du bist auf allen diesen Bildern bei dir. Bei dir selbst. Und das ist, gestatte mir das schlichte Wort, einnehmend! Wenn mich je etwas in unserer Zusammengehörigkeit bestätigt hat, dann sind es diese Bilder. Deinen Vinze liebe ich dafür, dass er dich nur angezogen fotografieren will. Angezogen bist du frech, übermütig, provozierend. Da gibst du an. Du findest es toll, dass dir, was du anhast, so gut steht. Du feierst dich in Röcken, Blusen und Kleidern. Da könnte man sagen: Du bietest dich an, du willst verführen. Und sei es deinen Vinze. Und wie du lachst! So ein Lachen habe ich noch auf keiner Fotografie gesehen.

Weil Vinze das Fotografieren so ernst nimmt. Wie der sich krümmt und biegt und streckt, bis er endlich abdrückt! Er hat gedacht, ich lache ihn an. Ich habe über ihn gelacht.