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Nach dem Erfolg von »Das Geheimnis von Wishtide Manor« und »Die Schatten von Freshley Wood«: der dritte Band der Reihe um Laetitia Rodd von der Bestseller-Autorin Kate Saunders London, 1853: Eigentlich sollte Laetitia Rodd lediglich dem berühmten Schauspieler-Ehepaar Transome während seiner Trennung zur Seite stehen – schließlich ist sie in der guten Gesellschaft für ihre Diskretion bekannt. Doch noch während Mrs. Rodd versucht, hinter die intriganten Machenschaften der Familie zu blicken, überschlagen sich die Ereignisse: Im Londoner King's Theatre wird eine Leiche gefunden und die Transomes geraten unter Verdacht – denn sie waren als letztes im Besitz des Theaters. Haben sie etwas mit dem Toten zu tun? Inmitten von dunklen Geheimnissen, verbotenen Gefühlen und einem verhängnisvollen Brand, der beinahe alle Spuren vernichtet hätte, beginnt Laetitia Rodd zu ermitteln. Ein neuer mitreißender Fall für Laetitia Rodd, die Ermittlerin, die alles sieht und keinem auffällt
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Seitenzahl: 425
Kate Saunders
Laetitia Rodd’s dritter Fall
Kriminalroman
Eigentlich sollte Laetitia Rodd nur das Ehepaar Transome während seiner Trennung begleiten. Doch dann führen ihre Ermittlungen Mrs. Rodd in die scheinbar sittenlose Welt des Theaters: Plötzlich steht sie zwischen zwei verfeindeten Familien, inmitten von Rivalität, Eifersucht und höchst intrigantem Handeln. Als bei Renovierungsarbeiten des vor 10 Jahren abgebrannten King’s Theatre die Leiche eines jungen Mannes gefunden wird, verschärft sich die Situation abermals: Das Theater war als letztes im Besitz der Transomes und der Tote, ein Schauspieler, trägt noch das Kostüm seines letztes Auftrittes – gespielt wurde »Romeo und Julia«. Was für ein Drama hat hier stattgefunden, fragt sich Laetitia.
Weitere Krimis von Kate Saunders:
»Das Geheimnis von Wishtide Manor. Laetitia Rodds erster Fall«
»Die Schatten von Freshley Wood. Laetitia Rodds zweiter Fall«
Kate Saunders ist erfolgreiche Autorin zahlreicher Romane und Kinderbücher, für die sie – auch in Deutschland – ausgezeichnet wurde. Als Journalistin und Rezensentin schreibt sie u.a. für die »Sunday Times« und »Cosmopolitan«, ist als Jurorin tätig und arbeitet für das Radio. Sie ist begeisterte Londonerin und leidenschaftliche Theaterbesucherin, wie der neueste Band ihrer Serie um die viktorianische Ermittlerin Laetitia Rodd beweist.
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Der Frühling ließ in diesem Jahr auf sich warten. Zwar war der Winter nicht besonders kalt gewesen, dafür aber derart feucht, dass in allen möglichen und unmöglichen Ecken schwarze Schimmelflecken aufgetaucht waren und Mrs. Bentley sich eine schlimme Rippenfellentzündung zugezogen hatte. Erst als die Sonne kurz nach Ostern ein paar schüchterne Strahlen durch die trüben Wolken schickte, ging es meiner Vermieterin wieder gut genug, um nach unten kommen und sich neben den warmen Herd setzen zu können.
Nachdem ich Mrs. B also auf den guten Windsor-Lehnstuhl verfrachtet und in einen Haufen Decken und Wolltücher gewickelt hatte, entdeckte ich auf der Fußmatte einen Brief, den offenbar jemand persönlich dort hingelegt hatte.
Sehr geehrte Mrs. Rodd,
wie ich hörte, sind Sie als Privatdetektivin tätig, insbesondere in Angelegenheiten, die große Diskretion erfordern. Es kommt Ihnen hoffentlich nicht ungelegen, wenn ich Sie heute Nachmittag um drei Uhr aufsuche, um einen möglichen Auftrag mit Ihnen zu besprechen.
Hochachtungsvoll,
Benjamin Tully
Mr. Tully war einer unserer Nachbarn im Well Walk, ein Schauspieler im Ruhestand. Wir kannten uns gut genug, um uns auf der Straße mit einer kurzen Verbeugung und einem Lächeln zu grüßen, aber Mrs. Bentley war weitaus besser mit ihm bekannt, also reichte ich den Brief an sie weiter. »Sie wissen nicht zufällig, was er will, Mary?«
Es war offenbar genau die richtige Frage, um die Lebensgeister meiner Vermieterin neu zu wecken; ich freute mich, dass wieder Glanz in ihre hellblauen Augen kam, während sie die Zeilen studierte.
»Nein, Ma’am, da weiß ich auch nicht mehr als Sie. Aber Mr. Tully ist ein feiner Kerl und vor allem ein guter Nachbar. Er hält beispielsweise einige Katzen, so dass sich auf seiner Terrasse schon jahrelang keine Maus mehr hat blicken lassen.«
»Soll ich ihn im Wohnzimmer empfangen, oder wird er sich hier unten wohler fühlen? Herrjemine, ich weiß gar nicht, wie ich einem Schauspieler begegnen soll!«
Zu der Zeit wurden Schauspieler als andersartiges Volk betrachtet, sowohl was die Moral als auch was den gesellschaftlichen Umgang betraf. Auch wenn man allmählich begann, manche Darsteller als ernsthafte Künstler anzusehen, konnten sie von jemandem meines Standes – der Witwe eines Archidiakons und damit dem Inbegriff von Sittsamkeit – noch lange nicht wie ihresgleichen empfangen werden.
»Ich würde sagen: hier unten, Ma’am«, urteilte Mrs. Bentley entschieden. »Wenn Sie sich ins Wohnzimmer setzen, müssen wir ein weiteres Feuer anmachen, was wir uns nicht leisten können – weil dieser Kohlenhändler, der es Ihnen so angetan hat, ein ausgemachter Gauner ist.«
Ich musste lachen, denn ich war froh, dass es ihr wieder gut genug ging, um schimpfen zu können. Fast wäre sie an dieser Infektion verstorben, und ohne Mary Bentley wäre es hier überaus traurig und einsam geworden. Unsere Beziehung reichte so viel weiter als zwischen Wirtin und Mieterin üblich. Als wir uns kennenlernten, fünf Jahre vor der Zeit, über die ich hier schreibe, hatte ich gerade meinen geliebten Mann verloren und war auf einen Schlag fast bettelarm geworden.
Alle waren davon ausgegangen, dass ich bei meinem Bruder Fred in Highgate einziehen werde. Vor allem die Frau meines Bruders hatte damit gerechnet, dass ich aus reiner »Dankbarkeit« umsonst auf ihre ganzen Kinder aufpassen würde und sie das Kindermädchen entlassen könnte. Doch sosehr ich diese Kinder auch liebte, kam solcherlei nicht für mich in Frage; meine Unabhängigkeit bedeutete mir alles, und so machte ich mich auf die Suche nach einer passenden Unterkunft.
Es war eine trübselige Erfahrung, und ich erspare der geneigten Leserschaft die Auflistung aller schäbigen kleinen Zimmer, der abgetakelten Wirtinnen und der Wucherpreise. Auch Mrs. Bentleys schmales Häuschen in Hampstead schien auf den ersten Blick nicht sonderlich passend, doch beim zweiten Hinsehen gefiel es mir sehr gut – genau wie Mary Bentley. Sie erzählte, sie habe vor vielen Jahren, als ihre fünf rothaarigen Söhne noch klein gewesen waren, die Unterkunft an den Dichter John Keats und seine zwei Brüder vermietet (wie sie alle hineingepasst hatten, ist mir noch heute ein Rätsel), und ich nahm dies als gutes Omen.
Seit zehn Jahren wohnte Mr. Tully vier Häuser weiter im Well Walk. Er war klein und schmal, hatte dünne graue Haare und strahlend blaue Augen in einem alterslosen, unschuldig wirkenden Gesicht. Obwohl er ein steifes Bein hatte und mit einem Krückstock lief, bewegte er sich flink und geradezu anmutig. Punkt drei Uhr klopfte er an die Tür, verbeugte sich und hielt mir einen Kümmelkuchen entgegen.
»Den habe ich heute Morgen gebacken, Mrs. Rodd; ich weiß doch, dass Mrs. Bentley meinen Kümmelkuchen liebt.«
Es schien ihm nicht das Geringste auszumachen, dass ich ihn in die Küche hinunterführte, wo er sich mit ausladender Geste vor Mrs. B verneigte und neben dem Herd Platz nahm. Sein Kuchen war exzellent: weich und süß und saftig, mit der genau richtigen Menge an Kümmel, der ihm das gewisse Etwas verlieh. Ich freute mich, dass Mrs. B ein Stück davon aß – ihr mangelnder Appetit bereitete mir immer Sorge.
»Ich hoffe, Sie verzeihen, dass ich Sie so direkt anspreche«, sagte Mr. Tully. »Ich komme im Auftrag einer guten alten Freundin, die um Ihren Ruf weiß, sehr diskret zu sein.« Er zog bedeutungsschwer die Augenbrauen hoch. »Sie ist mit der Familie Heaton bekannt.«
Mrs. Bentley und ich tauschten Blicke; der Heaton-Fall war mein erster großer Erfolg als Privatdetektivin gewesen und brachte immer noch Kundschaft ein, wie Mrs. Bentley es gern formulierte.
»Nicht, dass der Fall bei meiner Freundin auch nur annähernd ähnlich läge«, beeilte Mr. Tully sich zu sagen. »Es gibt keine Toten – ja, nicht einmal ein Verbrechen. Es handelt sich nur um eine … Situation, die ein sehr behutsames Vorgehen erfordert.«
»Natürlich, Mr. Tully, ich verstehe«, versicherte ich ihm. »Ich verurteile niemanden, und es gibt wenig, das mich zu schockieren vermag. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Diese Freundin«, fuhr er fort, »ist in Theaterkreisen gut bekannt; ihr Name lautet Transome.«
»Wie Thomas Transome?« Ich war mit der Theaterszene nicht sonderlich vertraut, doch selbst ich hatte von dem gefeierten Theaterdirektor und Schauspieler gehört.
»Ja, Ma’am.« Ein gewisser Stolz schien in seinen Augen aufzuleuchten. »Thomas Transome und seine Familie leiten das Duke of Cumberland’s Theatre am Haymarket. Vor meinem Abschied von der Bühne verbrachte ich viele glückliche Jahre in seinem Ensemble.«
»Erzählen Sie ihr von dem Feuer«, sagte Mrs. Bentley.
»Ach, du meine Güte, ja! Vor zehn Jahren, als wir noch im King’s Theatre an der Drury Lane spielten, gab es ein schreckliches Feuer – der Grund für meinen Rückzug aus der Schauspielerei.« Er deutete auf sein versehrtes Bein. »Ich wurde schwer verletzt. Meine Erinnerung an die Nacht ist lückenhaft, aber Tom Transome behauptet, ich hätte ihm das Leben gerettet. Ob das nun stimmt oder nicht: Er verschaffte mir ein kleines Einkommen, damit ich mein Leben sorgenfrei fortführen konnte. Tatsächlich ist er ungewöhnlich großzügig.«
»So scheint es.«
»Er organisierte damals eine Wohltätigkeitsvorführung und überließ mir alle Einnahmen. Aber ich will nicht weiter vom Theater sprechen – Mrs. Bentley hält das Theater für einen Ort der Sünde. Und um Tom geht es vordergründig auch nicht. Die Freundin, von der ich gesprochen habe, ist seine Frau, Mrs. Sarah Transome.«
»Bitte verzeihen Sie mir meine Unwissenheit«, sagte ich, »aber ist sie auch eine Schauspielerin?«
»Das ist sie, Ma’am. Zu ihrer Glanzzeit war sie eine großartige Schauspielerin, eine der besten. Und ihre drei Töchter stehen ebenfalls auf der Bühne.«
»Weshalb benötigt sie meine Dienste, Mr. Tully?«
Sein Kummer war ihm anzusehen. »Geradeheraus gesagt: Weil Tom sich verliebt hat.«
»Oh.« Das hatte ich nicht erwartet, für einen Moment fehlten mir die Worte. »Entschuldigung?«
»Er hat sich Hals über Kopf in Constance Noonan verliebt, die neben ihm als Romeo gerade die Julia spielt. Sie ist achtzehn Jahre alt. Tom hatte bereits in der Vergangenheit mit einigen jungen Schauspielerinnen … nun, man mag es ›amouröse Verwicklungen‹ nennen – doch bisher eher diskret. Diesmal ist es anders. Er scheint geradewegs den Verstand verloren zu haben und redet davon, mit diesem Mädchen zusammenzuziehen.«
»Was für eine Schande!«, entfuhr es Mrs. Bentley.
»Da möchte ich wohl zustimmen«, sagte ich schnell, weil ich Mr. Tully nicht aufhalten wollte, wo er gerade so schön in Fahrt war. »Aber wir sollten ein Urteil aufschieben, bis wir alle Fakten gehört haben – wofür benötigt Mrs. Transome meine Unterstützung?«
»Sie braucht eine Fürsprecherin, die für sie eintritt.« Seine blassen Wangen röteten sich. »Ihr Mann will sie aus dem Haus werfen.«
Mrs. B deutete mit den Lippen erneut das Wort »Schande« an.
»Hat er dafür einen Grund genannt, abgesehen von seiner eigenen Untreue?«, wollte ich wissen.
»Er beschuldigt Mrs. Sarah, ihren Pflichten als Mutter nicht ausreichend nachzukommen, was ausgemachter Blödsinn ist und lediglich ein Vorwand, um ihr zu verwehren, was ihr rechtlich zusteht. Sie braucht den Rat einer Dame wie Ihnen, mit der sie offen sprechen kann.«
»Mrs. Rodd kann so leicht nichts schockieren!«, sagte Mrs. B und nickte mir zu.
»Mrs. Sarah ist völlig verzweifelt, Mrs. Rodd, und es zerreißt mir fast das Herz, sie so unglücklich zu sehen. Tom scheint es auf eine gerichtliche Trennung anzulegen, und das wohl aus Geiz; ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist! Und sie weiß nicht, wem sie vertrauen kann.«
»Was ist mit ihren Töchtern – leben sie denn nicht bei ihr?«
»Nur die jüngste Tochter, Cordelia. Sie ist neunzehn Jahre alt und Toms ganzer Stolz. Es hat ihn schwer getroffen, dass sie ganz bei ihrer Mutter lebt und kein Wort mehr mit ihm spricht. Die mittlere Tochter, Olivia, ist vierundzwanzig. Sie hat sich auf Toms Seite geschlagen und das Haus der Mutter verlassen. Und die mit siebenundzwanzig Jahren älteste, Maria – inzwischen Maria Betterton –, ist mit ihrem Ehemann gerade auf Amerika-Tournee. Sie hat ihrem Vater einen Brief geschrieben, der ihn so wütend machte, dass er Sachen an die Wand warf. Der Name Betterton streut nämlich noch mehr Salz in die Wunde.«
Er unterstrich seine Aussage mit wissendem Nicken, doch als er unsere fragenden Gesichter sah, fügte er hinzu: »Zwischen den Transomes und den Bettertons besteht bekanntermaßen eine Fehde, ähnlich wie zwischen Romeos und Julias Familien, den Montagues und den Capulets.«
»Lassen Sie uns zu Sarah Transome zurückkehren.« Ich merkte bereits, dass diese Geschichte in hundert Richtungen zerfasern konnte, und befand es für zweckmäßig, die Dinge so einfach wie möglich zu halten. »Ich werde sie sehr gern treffen und im Hinblick auf Abfindungsvereinbarungen für sie sprechen – falls meine Unterstützung tatsächlich von Nutzen sein kann.«
»Danke!«, rief Mr. Tully, und sein Gesicht leuchtete vor Erleichterung auf. »Sie können sie jederzeit zu Hause besuchen, im Pericles Cottage am Ham Common in Richmond.«
Zwei Tage später fuhr kurz nach dem Frühstück eine höchst extravagante Kutsche im Well Walk vor, um Mr. Tully und mich von Hampstead nach Richmond zu bringen: ein vierrädriger, leuchtend blauer Zweispänner, auf dessen Tür ein Wappen prangte.
»Das ist kein echtes Wappen«, erklärte Mr. Tully munter. »Tom hat es selbst entworfen und den Kulissenmaler des Theaters damit beauftragt; er liebt pompöse Auftritte.«
Eine Handvoll Kinder aus der Nachbarschaft bestaunte die Kutsche aus nächster Nähe. Und die zwölfjährige Hannah Bentley aus Mrs. Bs Horde rothaariger Enkel, die ich herbestellt hatte, damit ihr in meiner Abwesenheit jemand Gesellschaft leistete, winkte uns durch unser Wohnzimmerfenster zu, als gehörten wir zur königlichen Familie.
Bei genauerem Hinsehen fiel mir auf, dass sowohl die Lackierung als auch die Innenausstattung der Kutsche schon recht verschlissen und ausgeblichen waren.
»Tom hat die Kutsche Mrs. Sarah überlassen«, erzählte mir Mr. Tully. »Er wohnt jetzt in Herne Hill und fährt lieber mit seinem Einspänner zum Theater und zurück. Und es heißt, dass er dem Mädchen eine feine Brougham-Kutsche kaufen möchte – aber das ist bislang nur ein Gerücht.«
»Er muss ja sehr wohlhabend sein«, sagte ich.
»Das ist er in der Tat, Mrs. Rodd. Das Duke of Cumberland’s Theatre hat sich als wahre Goldmine erwiesen. Der Brand im vorherigen Theater hat ihn fast ruiniert, aber allen Unkenrufen zum Trotz feierte er anschließend einen Erfolg nach dem anderen.« Mr. Tully hatte einen Korb dabei, den er nun aufklappte, um mir ein Zinnfläschchen und eine Reihe in hellbraunes Papier eingeschlagene Päckchen zu zeigen. »Ich habe ein paar Schinkenbrote, einige Scheiben Topfkuchen und eine Flasche Sherry dabei, falls Sie sich stärken möchten.«
»Im Moment nicht, danke sehr.«
»Sie haben recht, es ist noch zu früh. Vielleicht später.«
»Ich staune über Ihre Fertigkeiten in der Küche, Mr. Tully.«
»Kochen und Backen sind mir liebe Hobbys geworden, vor allem seit meinem Ruhestand.«
Unweigerlich sah ich auf sein verletztes Bein, das dünner war als das andere und zudem ein wenig verdreht. »Wie ist das Feuer damals entstanden, wenn ich fragen darf?«
»Durch ein defektes Rampenlicht. Das Haus ging in Flammen auf wie eine Zunderbüchse. Zum Glück war das Theater schon geschlossen, sonst hätten Hunderte von Menschen umkommen können.«
»Sie sagten, Mr. Transome sei damals im Gebäude gewesen. Wo waren seine Frau und seine Töchter?«
»Die Mädchen waren ohnehin zu Hause, und Mrs. Sarah befand sich mit der Kutsche schon auf halbem Weg nach Richmond, als das Feuer ausbrach. Sie hatten an dem Abend ›Romeo und Julia‹ gegeben – sie als Julia neben ihrem Mann als Romeo.« Er erzählte es mit einem gelassenen Lächeln, und doch zog eine gewisse Anspannung über sein sonst so argloses Gesicht. »Der Brand war der Auslöser für ihren ersten großen Streit – das können Sie ruhig schon vor Ihrem Treffen erfahren. Denn Tom musste sich immens verschulden, um überhaupt in das neue Theater ziehen zu können.«
»War das alte Theater nicht versichert gewesen?«
»Schon, aber nicht ausreichend, um den Gesamtschaden zu begleichen. Tom war klar, dass er seinen guten Ruf nur halten könnte, wenn er das Duke of Cumberland’s Theatre mit einer Sensation eröffnen würde, und so wagte er einen mutigen Schritt: Er nahm seine Produktion von ›Wie es euch gefällt‹ wieder auf, die bereits im King’s Theatre ein Publikumsmagnet gewesen war. Aber nun wurde das Stück mit seiner Tochter in der Hauptrolle aufgeführt anstatt mit seiner Frau. Er sagte ihr, sie sei zu alt.«
»Arme Mrs. Transome!«
Mr. Tully seufzte. »Ja, das war eine harte Entscheidung – aber das Leben ist nun einmal hart, und am Ende hat Tom recht behalten. Marias Vorstellung als Rosalind – neben ihrem Vater als Orlando – war ein grandioser Erfolg.«
»Berichtigen Sie mich bitte, wenn ich falsch liege, denn ich möchte die Zusammenhänge genau verstehen: Maria ist die Tochter, aus der dann Mrs. Betterton wurde … trotz der Animositäten zwischen den Familien?«
»Ja, und dieser Verrat hat Tom zutiefst verletzt.«
»Wissen Sie, was hinter der Feindseligkeit steckt?«
»Nicht genau – aber die Bettertons agieren hinterhältig und gerissen, Ma’am. Sie behaupten, mit jenem Betterton verwandt zu sein, der während der Restaurationszeit ein berühmter Schauspieler war, aber ich habe das nie geglaubt. James Betterton stammt aus irgendeinem irischen Sumpf, und eine Menge Leute werden Ihnen sagen, dass sein Name früher Jimmy McGinty war.«
»Mrs. Betterton muss eine energische junge Dame sein, dass sie sich ihrem Vater so offen widersetzte.« Ich versuchte im Geiste, das Puzzle der Familiengeschichte zusammenzusetzen.
»Nun, sie ist ihm unwahrscheinlich ähnlich, das ist das Problem.« Seine Augen blitzten. »Beide sind eigenwillig und stur. Unter uns gesagt, stand Maria ihrer Mutter nie besonders nahe, und nachdem sie Toms Hauptdarstellerin geworden war, schien sie sie geradewegs zu verabscheuen. Tom und seine Tochter waren einander sehr zugetan und in der Stadt die Sensation – bis Maria den jungen Betterton kennenlernte. Er ist der zweite Sohn der …«
»Mr. Tully«, unterbrach ich, »bitte ersparen Sie mir einen weiteren Familienstammbaum, während ich noch mit dem der Transomes ringe! Wer war nun die, die zu ihrem Vater zog?«
»Olivia.«
»Olivia – danke. Sie sagten, sie sei auch Schauspielerin. Hat sie denn die Rolle ihrer Schwester als Rosalind an der Seite des Vaters übernommen?«
»Ach, um Himmels willen – nein! Und darum rankt sich ein weiteres Drama. Die arme Olivia kann sich mit keiner ihrer Schwestern messen. Auch sie ist gut auf der Bühne, auf ihre Weise. Aber Maria und Cordelia haben den Löwenanteil von Toms Talent geerbt und stellen sie eindeutig in den Schatten. Das weiß sie und ist dementsprechend eifersüchtig. Deshalb hält sie so zu Tom.«
»Also stehen sie sich besonders nahe?«
»Nun – sie vergöttert ihren Vater geradezu, und natürlich hat er sie sehr lieb, aber es ist klar ersichtlich, dass er die anderen vorzieht. Er war untröstlich, als Maria durchbrannte; man konnte sein Schluchzen im ganzen Theater hören.«
»Wann genau ist das passiert?«
»Vor drei Jahren, als die Familie noch zusammenlebte. Olivia bettelte Tom an, er solle ihr Marias Rollen geben, doch er ließ sich nicht erweichen und stellte die kleine Cordelia auf die Bühne, die gerade erst sechzehn geworden war.«
»Das muss Olivia ganz schön wütend gemacht haben.«
»Das ist noch milde ausgedrückt, Ma’am. Sie war fuchsteufelswild.«
»Und doch hat sie ihrem Vater verziehen und das Haus ihrer Mutter verlassen.«
»Sie würde dem alten Gauner alles verzeihen, wenn Sie mich fragen.«
»War Cordelia nicht zu jung für ein so großes Debüt?«
»Für gewöhnlich würde ich Ihnen recht geben, aber Cordelia hat geschauspielert, seit sie laufen konnte; ihren ersten Auftritt hatte sie mit sechs Jahren als Fee im ›Sommernachtstraum‹. Ihr Debüt im Duke of Cumberland’s Theatre war ein rauschender Erfolg.«
Wir fuhren geradeaus Richtung Süden, und nach vielen schier endlosen Reihen neuerbauter Häuser wurden die Wege grüner, und man sah Wiesen und Gärten. Sehr hübsch waren die bunten Farbtupfer der Osterglocken und Schlüsselblumen, die im Hampstead Heath zu diesem Zeitpunkt noch kaum blühten und nur vereinzelt zu entdecken waren.
»Bevor wir auf Mrs. Transome treffen«, sagte ich, »würde ich von Ihnen gern noch wissen, wann ihr Ehemann Miss Noonan kennenlernte.«
»Für ihn lief es gerade ausgesprochen gut.« Mr. Tully stockte und verdrehte die Augen. »Ist es nicht immer so? Nun. Es geschah vor einem Jahr. Tom sah Miss Noonan im Theatre Royal in Wakefield. Sie spielte die Hauptrolle in einem grässlichen Versdrama mit dem Titel ›Boadicea‹, das der ortsansässige Mr. Chatterton für sie geschrieben hatte – jede Provinzstadt hat ja ihren eigenen schlechten Dichter. Tom war auf Anhieb fasziniert, zuerst allerdings nur in professioneller Hinsicht. Er setzte alle Hebel in Bewegung, sie nach London zu holen, damit sie dort als Julia mit ihm auf der Bühne stehen konnte.«
»Ich würde ja meinen, dass er für die Rolle des Romeo schon zu alt ist.«
»Auf der Bühne hat er eine überaus jugendliche Ausstrahlung. Wenn er Miss Noonans glühenden Liebhaber spielt, könnte man schwören, er sei nicht älter als ein Knabe. Die Aufführung wurde ein riesiger Erfolg, und nicht viel später verlor er sein Herz. Beinahe war es abzusehen: Als Maria fortging, hatte er verkündet, er werde den Romeo nie wieder spielen, nicht einmal mit Cordelia. Für Miss Noonan hat er seinen damaligen Entschluss dann aber revidiert.«
»Ich verstehe. Das hat in seiner Familie sicherlich für Ärger gesorgt.«
»Wie ich schon sagte, Ma’am: Es hat die Familie entzweit.«
Als die Kutsche den Ham Common erreichte, brach die Sonne gerade durch die Wolken und übergoss die grüne Weite mit gleißendem Frühlingslicht. Ich staunte über die Schönheit der Wälder und Wiesen so nahe der Stadt und spähte durch das knospende Grün auf die feinen Häuser, die es noch kaum zu verbergen vermochte. Mr. Tully deutete auf die Pförtnerloge am Tor des herrschaftlichen Ham House – einst Sitz der Earls of Dysart – und begeisterte sich darüber, wie schön es doch sei, »aufs Land« zu fahren. Ich war auf dem Lande großgeworden und wusste, dass diese saubere, aufgeräumte Vorstadtidylle damit wenig gemein hatte.
Pericles Cottage war ein flaches, langgestrecktes, weiß verputztes Haus, das sich auf einer weiten Rasenfläche hinter einer Ziegelmauer versteckte. Eine stämmige Irin mittleren Alters, die das graue Haar sauber unter eine schwarze Seidenhaube gesteckt trug, ließ uns ein. Sie bat uns, einen Augenblick zu warten, und Mr. Tully flüsterte mir zu, sie sei früher Mrs. Transomes »Garderobiere« gewesen: »Die zwei kennen sich schon sehr lange, Ma’am, schon bevor sie Tom begegnete.«
Die Eingangshalle war hell und geräumig, mit schwarz-weißen Fliesen und unzähligen Bildern an der Wand, die ich gern näher betrachtet hätte. Auf allen waren Schauspieler und Schauspielerinnen in prächtigen Kostümen und dramatischen Posen zu sehen. Einige der Gemälde bildeten Porträts auffallend hübscher Frauen ab, die meisten jedoch zeigten Männer, genau genommen ein und denselben Mann: Thomas Transome in Rüstung und Toga, in Strümpfen und im mittelalterlichen Wams, und immer sah er bemerkenswert gut aus.
Die Haushälterin kehrte zurück und führte uns in einen lichtdurchfluteten Salon mit wenig Mobiliar, aber großen Fenstern, die den Blick auf einen Garten mit üppig blühenden Krokussen und Osterglocken freigaben.
»Mrs. Rodd, ich freue mich sehr, Sie zu sehen.«
Von diesem Moment an hatte ich nur noch Augen für Sarah Transome. Auch heute, Jahre später, ringe ich nach Worten, um sie zu beschreiben; sie war weder besonders jung noch außergewöhnlich hübsch, aber sie hatte etwas bestrickend Lebhaftes und Sprühendes an sich, was ihr eine attraktive und einnehmende Ausstrahlung verlieh. Ihre Augen und ihr Haar waren von sanftem Dunkelbraun. Sie trug keine Haube und unter den schwarzen Seidenröcken keine Krinoline, so dass sich die geschmeidigen Bewegungen ihres schlanken Körpers gut erkennen ließen. Sie musste schon weit in ihren Vierzigern sein und wirkte dennoch auffällig mädchenhaft – vor allem, als Mr. Tully sich zu einem Handkuss verneigte.
Sie lächelte. »Mein lieber Ben, was sind Sie wieder galant! Bitte setzen Sie sich doch an den Kamin, Mrs. Rodd. Murphy bringt uns gleich eine Erfrischung. Es ist überaus freundlich von Ihnen, mich zu besuchen, wo Sie doch wissen, dass dies ein Haus der Schande ist.«
»Nun übertreiben Sie aber, meine Liebe!«, protestierte Mr. Tully. (Ich musste mich noch an den sehr vertrauten Umgangston gewöhnen, den Theaterleute untereinander pflegen, und strengte mich sehr an, nicht tadelnd die Augenbrauen hochzuziehen.) »Keiner hält Sie für eines Vergehens schuldig.«
»Mir ist nicht bekannt, dass Sie oder Ihre Töchter mit irgendeiner Schande behaftet wären«, sagte ich schnell. »Für das Verhalten Ihres Mannes kann man Sie nicht verantwortlich machen.«
»Sie sind sehr freundlich«, sagte Mrs. Transome.
Ich setzte mich in einen Sessel, dessen roter Plüschbezug leicht modrig roch.
Mr. Tully ging zu einem der hohen Fenster. »Da ist Cordelia! Sie kann mir Gesellschaft leisten, während Sie sich mit Mrs. Rodd unterhalten.«
Über den Rasen spazierte eine hübsche junge Frau in einem weiten grünen Kleid, der das offene Haar bis auf den Rücken reichte.
»Meine Tochter«, sagte Mrs. Transome zu mir gewandt und seufzte schwer. »Ich muss wohl dankbar sein, dass sie sich an der frischen Luft bewegt, denn die meiste Zeit liegt sie in ihrem Zimmer auf dem Bett.«
»Ist sie krank?«
»Oh, nein, ihr fehlt nichts – abgesehen davon, dass sie kaum ein Wort spricht, seit sie das Theater ihres Vaters verlassen hat. Ben, mein Bester, versuchen Sie doch, sie aufzumuntern, bevor sie uns alle zu Tode schmollt.«
Mr. Tully verneigte sich und verließ den Raum. Mrs. Transome setzte sich auf die andere Seite des Kamins. Von oben blickte Thomas Transome als Julius Cäsar auf uns herab – mit Kürass und Lorbeerkranz vor einem im Hintergrund tosenden Sturm.
»Ja, der gute alte Tom.« Mrs. Transome lächelte, als sie bemerkte, dass ich das Gemälde über dem Kaminsims studierte. »Es wurde kurz vor Cordelias Geburt angefertigt. Sie bekam ihren Namen, weil sie seine dritte Tochter war und er mit ihnen allen ›König Lear‹ aufführen wollte, wenn sie groß wären.«
»Sie sind sicher froh, sie jetzt an Ihrer Seite zu haben.«
»O ja, das bin ich. Offen gestanden war ich ein wenig überrascht; sie hat ihren Status als Hauptdarstellerin im Ensemble ihres Vaters sehr genossen. Und dass er sich mit diesem Noonan-Mädchen so zum Affen macht, ging erst los, nachdem Cordelia das Theater verlassen hatte. Ich meine, er war zwar schon bis über beide Ohren verliebt, und das ganze Theater tratschte darüber – aber bevor er sich mit Cordelia überwarf, war er noch einigermaßen bei Verstand gewesen.«
»Wissen Sie, was zwischen ihnen vorgefallen ist?«
Sie schnitt eine Grimasse. »Sie war eifersüchtig auf die Noonan, darauf läuft es hinaus. Dass er das Mädchen als Julia besetzte, brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Da erst erinnerte Cordelia sich an ihre Pflicht gegenüber ihrer armen verlassenen Mutter. Sie verließ das Theater ihres Vaters – und seitdem schmollt und jammert sie.«
Ich fühlte mich nicht ganz wohl bei diesem Gespräch. In der Art, wie sie von ihrem eigenen Kind sprach, lag eine gewisse Härte, und ihre Haltung mir gegenüber war von einer unverblümten Offenheit, die mir fremd war. Dennoch zweifelte ich nicht daran, dass Sarah Transome tief verletzt worden war; die Fassade konnte ihren Schmerz nicht verbergen.
»Mrs. Transome«, sagte ich, »Mr. Tully hat mir schon ein wenig erklärt, was Sie von mir wünschen, aber ich würde es nun gern ausführlicher von Ihnen selbst hören.«
»Das wird nicht lange dauern. Tom und ich sind fertig miteinander, und es muss eine Vereinbarung für die Trennung erstellt werden. Er will, dass ich so billig und abgelegen wohne wie nur irgend möglich – vermutlich wünscht er sich, ich würde mich einfach in Luft auflösen.«
Murphy platzte, ohne anzuklopfen, ins Zimmer; sie trug ein großes Tablett mit Flaschen und Gläsern.
»Der Schlachter steht wieder an der Hintertür, Mrs. Sarah; er will nicht weggehen, bevor er etwas Geld bekommt.«
Mrs. Transome, die nicht im Mindesten verärgert schien, seufzte. »Was für ein lästiger Mensch! Gib ihm fünf Schilling, aber nur, wenn er uns weiterhin Fleisch bringt. Da sehen Sie, wie es mir ergeht, Mrs. Rodd! Bis mein Mann mir ein Einkommen bewilligt, bin ich vollkommen mittellos!«
Trotz des bekundeten Elends wurde mit nahezu extravaganter Großzügigkeit aufgetischt. Sobald Murphy gegangen war, um den Schlachter zu besänftigen, reichte Mrs. Transome mir einen Teller mit exquisiten Keksen – sicher aus einer Feinbäckerei im West End – sowie ein Glas sehr guten Madeira.
»Haben Sie sich schon von einem Anwalt beraten lassen?«, erkundigte ich mich.
»Nur informell. Aber es hat gereicht, um zu wissen, dass das Gesetz nicht auf meiner Seite ist. Ich gelte als Eigentum meines Mannes, und wenn ihm danach ist, kann er mich ausrangieren wie einen Satz alter Löffel. Einen Anwalt nehme ich erst, wenn wir eine akzeptable Vereinbarung getroffen haben – bis dahin brauche ich eine Fürsprecherin, die mein moralisches Recht als Toms Ehefrau und Mutter seiner Kinder verteidigt. Ich habe ihn gewarnt, ich werde keine Ruhe geben, bis er mir nicht ausreichend Geld und eine anständige Unterkunft zur Verfügung stellt.«
»Das ist sehr vernünftig«, sagte ich vorsichtig. Tatsächlich lag mir nicht daran, Thomas Transomes Ehebruch zu unterstützen, doch wo der Schaden nun bereits angerichtet war, brauchte seine Frau jemanden, die ihre Interessen vertrat. »Hat Ihr Mann denn einen Rechtsbeistand?«
»Und ob«, gab Mrs. Transome zurück. »Einen seiner Freunde aus dem Garrick Club … einen sehr bekannten Anwalt namens Frederick Tyson. Vielleicht haben Sie von ihm gehört?«
»Man hat meine eigene Schwester gegen mich angesetzt – das ist der beste Witz, den ich seit Jahren gehört habe!«
»Fred, sei bitte ernst! Ich habe versucht, ihr klarzumachen, dass wir unmöglich gegeneinander arbeiten können, aber sie wollte es einfach nicht einsehen.«
Mein Bruder Frederick Tyson war Londons berühmtester Rechtsanwalt und für seine dramatischen Auftritte im Gerichtssaal bekannt. Wir saßen in seinem geräumigen Backsteinhaus in Highgate im Arbeitszimmer, an dessen Wänden einige der Zeichnungen und Karikaturen von ihm prangten, die regelmäßig in der Boulevardpresse veröffentlicht wurden. Als kleiner Junge hatte er wie ein pausbäckiger Cherub ausgesehen und seine »vernünftige« große Schwester zu allem möglichen Unfug verleitet. Mit nun fünfundfünfzig Jahren war er ein wohlbeleibter Mann mit dichten grauen Locken – und war noch genauso zu Schandtaten aufgelegt wie früher.
»Ach, Unsinn, meine Liebe! Je mehr ich darüber nachdenke, umso besser gefällt es mir. Die Transomes werden sich nie einigen, wenn ihre Berater sich nicht grün sind. Und von meiner Seite aus ist es nur eine informelle Angelegenheit – ein Gefallen für einen Freund. Also vertrete ich den aufbrausenden Kasperl und du die sanfte Gretel, und so können wir sie hoffentlich davon abhalten, mit der Pritsche aufeinander loszugehen.«
Es war früher Abend, und das dumpfe Trampeln und Geschrei von oben bedeutete, dass gerade die jüngsten seiner elf Kinder zu Bett gebracht wurden. Unter uns waren gedämpfte Geräusche aus der Küche zu vernehmen, in der das Abendessen zubereitet wurde. Freds Frau war ebenfalls oben, um sich für eine kleine Abendgesellschaft umzuziehen, zu der sie mich (widerstrebend) in letzter Minute eingeladen hatte.
Als seine erneute Lachsalve verebbt war, schenkte Fred uns Wein nach. Sein Arbeitszimmer war geräumig und trotz all der juristischen Wälzer und fragwürdigen französischen Romane in den Wandregalen überraschend gemütlich. Das üppige Kaminfeuer brannte so heiß, dass mir die Augen tränten.
»Kennst du Thomas Transome denn gut?«, erkundigte ich mich.
»Er ist ein Bekannter aus dem Garrick Club, und ich habe ihn schon häufig auf der Bühne gesehen.«
»Kannst du ihn gut leiden?«
Fred grinste. »So, wie du fragst, kannst du ihn wohl überhaupt nicht leiden.«
»Ich finde sein Verhalten niederträchtig – geradezu schändlich!«
»Ja, womöglich ist es das.«
»Womöglich? Mein lieber Fred, er hat seine Frau und seine Familie im Stich gelassen. Er turtelt öffentlich mit seiner Geliebten! Wie kann sein Publikum das einfach so hinnehmen?«
»Weil er ein Genie ist.«
»Das ändert daran doch nichts.«
»Ich möchte dir einen Rat geben«, sage Fred. »Schauspieler werden gemeinhin als Außenseiter der Gesellschaft angesehen, was bedeutet, dass sie sich wie Außenseiter benehmen können – sie leben in ihrer eigenen kleinen Welt mit eigenen Gesetzen und Gewohnheiten. Das musst du akzeptieren, sonst wirst du sie nie verstehen. Betrachte dich als Reisende durch ein fremdes Land und halte dich mit deinem Urteil zurück.«
Ich sah das Vernünftige in diesem Ansatz und konnte ihn dennoch nicht gutheißen. »Ich mag keine Doppelmoral und tue mich schwer, Ausnahmen zu akzeptieren – Genie hin oder her.«
»Ich nehme dich mal mit, wenn er auftritt, dann verstehst du vielleicht, in was für einen besonderen Bann er sein Publikum schlägt.«
»Hast du seine Frau ebenfalls auf der Bühne gesehen?«
»Natürlich – und alle seine Töchter. Sarah war mal ein charmantes kleines Ding. Was hältst du von ihr?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ihre Art sagte mir nicht so sehr zu, obwohl sie überaus nett und gastfreundlich war.«
»Sie ist ganz schön wütend.« Mein Bruder leerte seinen Claret und schenkte sich nach. »Das solltest du ihr zugutehalten. Deine Aufgabe besteht darin, der Frau zu einer angemessenen Vereinbarung zu verhelfen – ich habe Transome gewarnt, ich werde nichts unterstützen, das sie um das ihr moralisch Zustehende betrügt, und er hat mir versichert, er wolle sie fair behandeln. Er ist wirklich kein übler Kerl.«
»Hm.«
»Schau doch, wie zuvorkommend er sich deinem Nachbarn gegenüber verhalten hat.«
»Mr. Tully hat ihm das Leben gerettet, als sein Theater abbrannte.«
»Ah, das Feuer … eine schreckliche Geschichte!«, rief Fred. »Fanny und ich waren kurz zuvor noch dort gewesen; es war ein großes Glück, dass das Theater zum Zeitpunkt des Brandes schon geschlossen war.«
Ich hatte viel über dieses ominöse Feuer nachgedacht. »Die Ursache soll ja ein defektes Rampenlicht gewesen sein.«
»Das war die Schlussfolgerung des Untersuchungsrichters – wobei natürlich Gerüchte über Brandstiftung kursierten.«
»Aber es war keine?«
»Natürlich nicht, aber Schauspieler schmücken langweilige Geschichten eben gern aus: Es hieß, Transomes erbitterter Konkurrent James Betterton habe das Feuer gelegt. Angeblich habe er einen Spion in das Ensemble eingeschleust, der sich dann rechtzeitig aus dem Staub machte.«
»Ist da etwas dran?«
Fred lachte laut und schallend auf, so wie er es gern tat, wenn er schon etwas Wein intus hatte. »Überhaupt nichts! Meiner Meinung nach halten Transome und Betterton ihre Feindschaft nur deshalb aufrecht, weil es gut für das Geschäft ist – wobei er tatsächlich wütend war, als Maria zur anderen Seite überlief und mit dem Sohn von Betterton durchbrannte.«
»Hat er ihr inzwischen vergeben?«
»Sie haben eine offizielle Versöhnung inszeniert, und dann sind Maria und ihr Mann umgehend nach Amerika abgereist. Wir werden sehen, wie es sich gestaltet, wenn sie wieder hier ist. Aber Maria ist kein großer Fan von Miss Constance Noonan, so viel weiß ich bereits.«
»Du hast das Mädchen gewiss schon auf der Bühne erlebt, oder? Sie muss sehr hübsch sein.«
»Sie ist eine Göttin«, schwärmte Fred. »Ihr Haar ist wie gesponnenes Gold, ihre Augen sind Saphire, und sie hat eine Stimme wie ein Engel.«
»Ich nehme an, sie wohnt bereits bei Mr. Transome.«
»Da liegst du falsch. Die junge Dame wohnt offiziell noch bei ihrer Mutter in Pentonville. Es heißt wohl, dass sie eine eigene ›Vereinbarung‹ erwartet.«
»Also wirklich!«
»Nun schürz mal nicht so kritisch deine Lippen, meine Gute. Ich werde dich morgen ins Theater mitnehmen, dann kannst du dir die Herrschaften persönlich anschauen.«
Das Duke of Cumberland’s Theatre war ein riesiges weißes Gebäude mit einem Säulenportikus und hell leuchtenden Gasfackeln rechts und links des Eingangs. Auf dem Haymarket drängten sich die Leute; in der Schlange der Kutschen kamen wir nur langsam voran. Einige von ihnen waren riesig und trugen echte Wappen auf den Türen. In der Menschenmenge um uns herum mischte sich jede Art von Volk – Gentlemen mit Zylindern aus Seide, Bettler, Gammler und Diebe.
Fred musste über mein staunendes Gesicht lachen. »Wann bist du das letzte Mal im Theater gewesen?«
»Matt und ich haben Macready als König Lear gesehen; das war damals eine Privatvorführung für den Erzbischof von Canterbury.« Ich riss mich vom Anblick draußen vor dem Fenster los. »Ich bin solche Menschenmassen nicht gewohnt.«
»Nun ja, hier läuft immerhin ›Romeo und Julia‹, gespielt von Transome und Noonan – das ist die Sensation der Stunde«, erklärte Fred fröhlich, während er sich die Krümel von seiner ausladenden weißen Weste wischte. »Fanny und ich waren dort, Richter und Bischöfe waren dort, selbst meine Gerichtsschreiber haben es gesehen; der Mann muss mittlerweile ein Vermögen gescheffelt haben. Und wie überaus passend, dass wir unsere schicksalhaft Verliebten gleich in den Rollen schicksalhaft Verliebter sehen!«
»Ich glaube, ich mache mir nicht viel aus ›Romeo und Julia‹«, erwiderte ich. »Die Tragödie ist so furchtbar, und die Liebenden sind beide so töricht.«
»Ich bin sicher, du hättest das törichte Paar ruckzuck verkuppelt – und ganz Verona gleich mit, wo du schon mal dabei gewesen wärst«, sagte Fred. »Lass dich einfach darauf ein. Am Ende des Abends wird es dir dein hartes Herz zerreißen. Die arme Fanny hatte zwei Tage lang rotgeschwollene Augen!«
»Ich bin nicht hartherzig«, gab ich schmallippig zurück. »Nur vernünftig.«
»Ich wette eine halbe Krone, dass du Tränen vergießen wirst.«
»Unsinn! Ich verschwende keine Träne an erfundene Geschichten.«
»Du wirst es nicht verhindern können! Und ich warne dich bereits jetzt – ich werde heulen wie ein Schlosshund.«
Wir hatten den hohen Säulengang erreicht; mein Bruder half mir aus der Kutsche und führte mich durch das Gewimmel vor dem Eingang ins Theater. Über einem Meer aus Köpfen sah ich zwei große Porträts an der Wand hängen – einen schlanken, dunkelhaarigen Mann und ein hübsches Mädchen mit üppiger blonder Haarpracht.
Eine ältere Platzanweiserin mit Häubchen und Schürze geleitete uns in unsere Sitznische im dritten Rang und nahm meinen schwarzen Umhang und meine Haube sowie den Zylinder meines Bruders entgegen. Fred bat sie, uns eine Flasche Sherry zu bringen, und gab ihr einen Schilling Trinkgeld.
»So viel!«, entfuhr es mir.
»Das Geld ist keinesfalls verschwendet. Die gute Frau war selbst einmal Schauspielerin, und das Trinkgeld, das sie als Platzanweiserin erhält, wird vermutlich den Großteil ihres Einkommens ausmachen.«
»Tatsächlich? Das arme Ding – was für eine mühselige Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen!« Ich setzte mich auf einen der hochbeinigen goldfarbenen Stühle und starrte in die zahlreichen Gesichter in den umliegenden Rängen (für den Fall, dass es ein Feuer geben würde, hatte ich mir auf dem Weg hierher jede Tür gemerkt). Das Stimmengewirr, die Gaslampen, die Musiker, die im Orchestergraben ihre Instrumente stimmten – all das machte mich ganz benommen. Der größte Lärm kam von der obersten Galerie, die Fred den »Olymp« nannte, obwohl sich die Zuschauer dort mitnichten wie Götter verhielten: Als der blaue Samtvorhang aufschwang, begannen sie zu stampfen und zu toben, dass es die Musik gänzlich übertönte.
Ich verstehe nicht genug vom Theater, um diese Inszenierung des Shakespeare-Dramas kundig zu beschreiben; mein Bruder schluchzte irgendwann in seinen Sherry, ich jedoch interessierte mich mehr für die Schauspieler als für das Stück.
Bei Mr. Transomes erstem Auftritt brach der Olymp in ein solch ohrenbetäubendes Gejohle und Getrampel aus, dass das gesamte Gebäude erzitterte. Mr. Transome quittierte den Applaus mit leichtem Nicken und wartete geduldig, bis der Lärm sich legte. Fred hatte ihn als »jugendlich« beschrieben, und ich muss zugeben, dass mich seine jungenhafte Ausstrahlung überraschte; anders kann man es wirklich nicht bezeichnen. Thomas Transome – in roten Strümpfen und blauem Samtwams – war von schlanker, eleganter Statur und hatte wohl geschnittene Gesichtszüge. Er bewegte sich mit müheloser Anmut und hatte eine angenehm eingängige Stimme. Auch wenn sein Spiel mich nicht zu Tränen rührte, merkte ich doch, dass ich ihm den vor Leidenschaft glühenden Jüngling abnahm.
Und welche Meinung auch immer ich von Constance Noonan gehabt haben mochte – bei ihrem ersten Erscheinen verschlug es mir tatsächlich den Atem. Ausnahmsweise einmal hatte Fred nicht übertrieben. Ihr Haar schien von reinstem Gold, ihre Augen waren so blau wie Lavendel, und in ihrer sanften, elegischen Stimme schwang eine berückende Süße von Poesie. Und die Liebe sprach aus ihr; sie schien vor Liebe zu leuchten und erfüllte damit das gesamte Theater, bis selbst meine vernünftigen Augen feucht wurden.
»Jetzt verstehst du es«, sagte Fred am Ende der Vorstellung und schnäuzte sich kräftig die Nase. »Ich nehme es Transome nicht übel, dass er sich in sie verliebt hat; ich bin ja selbst gänzlich in sie vernarrt.«
Die Platzanweiserin kehrte zurück und führte uns an den Reihen vorbei zu einer mit grünem Filz bezogenen Tür am Ende des Ganges. Durch diese Tür betraten wir eine andere Welt, den verborgenen Kosmos hinter der Bühne, in dem mir fast schwindelig wurde. Fred schien das alles sehr vertraut; er führte mich über eine feuchte Steintreppe, die von exaltierten, nur halb bekleideten Menschen bevölkert war, die sich schreiend unterhielten und keinerlei Notiz von uns nahmen. Ich bemühte mich, mir meine Irritation nicht anmerken zu lassen, doch die nackten Arme und Brüste trieben mir die Schamesröte ins Gesicht.
Ein gepflegter, freundlicher Mann meines Alters öffnete die Tür zu Thomas Transomes Garderobe. Er trug das wenige noch verbliebene graue Haar um seine Glatze kurzgeschoren, und im Brustteil seiner groben Stoffschürze steckten jede Menge Nadeln.
»Mr. Tyson! Guten Abend, Sir.« Vor mir verneigte er sich fast eine Spur zu anbiedernd. »Ma’am.«
»Guten Abend, Cooper«, sagte Fred. »Ist der Meister in vorzeigbarem Zustand?«
»Ja, Sir, er erwartet Sie bereits.« Cooper bat uns einzutreten und rief: »Sie sind da, mein Bester! Und eine Dame ist dabei, eine echte … wir sollten also auf unsere Sprache achten.«
Die Garderobe war ein geräumiges Zimmer mit kleinem Kamin, einem mit Chintzstoff bezogenen Tagesbett, drei Polstersesseln sowie einem großen Schminktisch. Sehr interessant fand ich dort die farbigen Fettstifte, die ordentlich aufgereiht auf einem Handtuch lagen.
Durch eine weitere Tür betrat nun Mr. Transome den Raum. »Ah, da sind Sie ja, Mrs. Rodd; Ben Tully erzählte mir bereits, dass wir es fertiggebracht haben, sowohl Tyson als auch seine Schwester zu engagieren, und ich halte das für ein ausgezeichnetes Konzept; außerdem habe ich Johnny Heaton mehrfach Lobgesang auf Sie singen hören.«
Ich war höchst irritiert über diesen plötzlichen Ausbruch von Vertraulichkeit, wo wir uns doch gerade erst kennengelernt hatten, und brachte nur ein gemurmeltes »Sehr erfreut« zustande. (Trotz meiner Verwirrung notierte ich im Geiste, dass Mr. Tully also noch in Kontakt zu Mr. Transome stand; die Loyalität dieser Leute war anscheinend recht flexibel, um es einmal vorsichtig auszudrücken.)
»Und Tyson – wie geht es Ihnen, mein Junge? Mrs. Rodd, bitte entschuldigen Sie meine unvollständige Bekleidung und setzen sich in den Sessel, der dem Feuer am nächsten steht – Coopsy, bring ihr den Fußschemel.«
Transome war in einen prächtigen Hausmantel aus dunkelrotem Samt gehüllt. Er hatte sich die Schminke aus dem glattrasierten Gesicht entfernt und Romeos romantische Perücke abgenommen, so dass nun sein eigenes schwarzes Haar zu sehen war. Nun wirkte er nicht mehr wie der leidenschaftliche Jüngling, den ich auf der Bühne erlebt hatte; an seinen Schläfen zeigte sich ein Hauch von Grau und um die hübschen dunklen Augen ein feines Netz aus Fältchen. Trotzdem strahlte Thomas Transome durch sein sprühendes Wesen und seinen geradezu überwältigenden Charme eine bemerkenswerte Jugendlichkeit aus.
Während Fred und ich auf den Sesseln Platz nahmen, tänzelte Mr. Transome durch den Raum. »Bevor Sie mir übrigens zu meiner Vorstellung gratulieren, lieber Tyson – was Sie gewiss gleich tun werden –, möchte ich Ihnen zu der Ihren gratulieren. Wie man im Club erzählt, haben Sie die Jury gestern mit Bravour überzeugt und den Henker abermals um die Ausübung seines Berufs betrogen; wenn ich irgendwann einmal jemanden umbringen sollte, werden hoffentlich Sie mich verteidigen.«
»Danke.« Fred lächelte. »Es war eine meiner besseren Darbietungen.«
»Und heute waren Sie also erneut in der Vorstellung. Wie hat es Ihnen gefallen?«
»Hervorragend«, sagte Fred. »Sogar noch besser als das letzte Mal. Ihr Tod hat mir fast das Herz gebrochen.«
»Sie sind sehr freundlich. Ja, ich fand auch, dass es gut lief, aber Cooper sagt, ich sei im ersten Schwertkampf ›daneben‹ gewesen.«
»Das waren Sie durchaus, Sir«, sagte Cooper. »Sie haben auf frevlerische Weise bei der Fußarbeit gepatzt, mein Bester.«
»Sehen Sie, Mrs. Rodd? Vor seinem Garderobier ist kein Schauspieler ein Held.«
»Mich hat Ihr Spiel sehr beeindruckt, Mr. Transome«, sagte ich. »Wenn etwas daran falsch gewesen sein sollte, so habe ich es nicht bemerkt.«
»Besten Dank!« Mr. Transome verbeugte sich elegant. »Hast du gehört, Coopsy? Hör also auf, an deinem Herrn herumzumäkeln, und hol mir lieber mein Abendessen.« Zu mir gewandt, fügte er hinzu: »Sie müssen mir meine schlechten Manieren vergeben, Ma’am; Cooper holt mir nach jeder Vorstellung mein Abendessen aus dem Wirtshaus; es ist die einzige richtige Mahlzeit, die ich an einem Arbeitstag bekomme, und die muss ich essen oder vergehen.«
»Was – Sie fasten vor jeder Vorstellung?«, entrüstete sich Fred. »Das könnte ich im Gericht niemals; ich trete nur mit vollem Magen auf.«
»Mein lieber Tyson, das können Sie nicht vergleichen. Sie können essen, bis Sie umfallen, denn keinen kümmert es, wie dick Sie sind. Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie einen jugendlich schlanken Romeo spielen, aber ich muss mir jeden Bissen gut überlegen, sonst platze ich aus meinem Kostüm.«
Er hatte eine so drollige Art, dass ich unweigerlich kichern musste, während Fred laut loslachte und sich selbstgefällig und nicht im Mindesten beleidigt über den dicken Bauch strich.
»Und inzwischen fällt es mir immer schwerer, meine Figur zu halten.« Mr. Transome begutachtete kurz sein schmales Abbild in einem der vielen Spiegel. »Als junger Bursche konnte ich hemmungslos alles essen. Erst seit kurzem muss ich aufpassen – da ich noch lange keine Absicht hege, Shakespeares Falstaff zu geben.«
Cooper zog einen blauen Mantel über, ohne die Schürze vorher abzulegen. »Das Übliche, Mr. Tom?«
»Ja – und denk diesmal an das Senftöpfchen.«
»Jawohl, Sir.« Bevor er den Raum verließ, schob Cooper eine Handvoll Silber- und Kupfermünzen zusammen, die in größerer Menge scheinbar achtlos auf einem Regal verstreut lagen.
»Ich bin gezwungen, mit Bargeld zu bezahlen«, sagte Mr. Transome. »Keine Wirtschaft in dieser Stadt gewährt Schauspielern Kredit. Wahrscheinlich ist das auf schlechte Erfahrungen zurückzuführen, und ich muss sagen, ich kann es ihnen nicht verdenken; Schauspieler waren schon zu Roscius’ Zeiten im guten alten Rom als Zechpreller bekannt.« Er setzte sich – nicht unbedingt theatralisch, aber doch mit anmutiger Geste – auf das Tagesbett. »Nun aber zu dem eigentlichen Grund Ihres Besuchs. Sie haben meine Frau kennengelernt, Mrs. Rodd, die Ihnen zweifellos meine unzähligen lasterhaften Vergehen auflistete.«
»Sie macht sich vor allem Sorgen um das Geld.« Ich wollte die Sache praktisch angehen und ihm keinesfalls den Eindruck vermitteln, ich würde seine zynische, nonchalante Art gutheißen. »Und sie weigert sich, das Haus in Richmond zu verlassen, bevor sich ein anderes passendes Haus gefunden hat. Das erscheint mir auf jeden Fall vernünftig.«
Mr. Transome seufzte. »Das wäre durchaus vernünftig, wenn diese Frau nicht so hochtrabende Ideen hätte! Ich gebe zu, dass mein erstes Angebot – das kleine Häuschen in Edmonton – ein eher knauseriger Vorschlag war, aber sie braucht auch kein so großes Anwesen wie das Pericles Cottage. Zwei unserer Töchter sind bereits aus dem Haus, und ich möchte wetten, dass Cordelia über kurz oder lang zur Vernunft kommen und zu mir zurückkehren wird.«
Er hielt abrupt inne, taxierte mich kurz und nahm einen reuevollen Gesichtsausdruck an; dieser Mann konnte sein Publikum sehr gut einschätzen und seine Vorstellung bis in die kleinste Geste hinein entsprechend anpassen. Er hatte meine vergeblichen Versuche, meine Missbilligung zu kaschieren, durchschaut.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er leise. »Meine Gefühle galoppieren mir in jegliche Richtungen davon; es ist meine Schuld, dass meine Familie derart zerrissen ist.«
»Es ist sehr bedauerlich, dass Ihre Töchter entgegengesetzte Positionen beziehen. Bevor irgendeine Art von Vereinbarung getroffen werden kann, sollten Sie und Ihre Frau sich einigen, wo sie wohnen sollen.«
Er schien ein wenig verblüfft. »Nun ja … Maria ist verheiratet, und für sie ist das Finanzielle bereits geregelt. Für die beiden anderen ist ausreichend Platz in unserem neuen Haus in Herne Hill.«
»Mr. Transome!«, entfuhr es mir fast ein wenig zu scharf. »Ihnen muss doch bewusst sein, dass sie unmöglich bei Ihnen wohnen können!«
»Warum denn nicht? Es ist ein außergewöhnlich hübsches Haus.«
»Aber ihr Ruf wäre dahin! Sie können nicht erwarten, dass Ihre Töchter mit Ihnen und Ihrer Geliebten unter einem Dach leben!«
Ich formulierte es so geradeheraus wie möglich, da er mich vorher anscheinend nicht verstanden hatte, doch er zuckte nur die Achseln. »So etwas spielt in Theaterkreisen keine besondere Rolle.«
»Das spielt keine besondere Rolle?«
Fred bedachte mich mit einem warnenden Blick, und ich zwang mich zur Ruhe.
»Wie Mr. Tully mir sagte«, fuhr ich fort, »besteht Ihrerseits offenbar der Vorwurf, Ihre Frau würde ihren Pflichten als Mutter nicht ausreichend nachkommen.«
»Ach, das können Sie streichen«, wischte Mr. Transome meinen Einwand leichthin fort. »Da wurden im Eifer des Gefechts ein paar Dinge so dahingesagt … Ich fürchte, ich war noch wütend auf Sarah, weil sie Maria beim Durchbrennen unterstützt hatte.« Plötzlich fing er an zu grinsen. »Meine liebe Mrs. Rodd, wenn Sie Ihre Augenbraue noch ein Stückchen höher ziehen, kriegen Sie sie möglicherweise niemals wieder hinunter.«
»Verzeihung«, erwiderte ich schwach (und vermied den Blick zu Fred, den meine Verlegenheit sicherlich amüsierte). »Davon hat Mrs. Transome mir nichts erzählt; ich höre soeben zum ersten Mal, dass sie das junge Paar unterstützt hat.«
»Das hat sie nur gemacht, um sich an mir zu rächen; zudem stand sie immer schon unter Marias Fuchtel.«
»Ich dachte, Sie und Mrs. Betterton hätten sich wieder versöhnt«, sagte Fred. »Sagen Sie nicht, diese rührende Szene war bloß Theater!«
Ich fand diesen Einwurf geradezu impertinent, doch Mr. Transome lachte nur.
»Ich wollte den Bettertons keine Chance geben, mir die Rolle des gestrengen Vaters zuzuweisen – aber eine wohltätige Veranstaltung macht noch lange keine Versöhnung.«
Meinen Bruder amüsierte dies sehr, was Mr. Transome wiederum zu einer Imitation von Marias Ehemann verleitete, wie dieser Hamlets Laertes mit zu engen Kniebundhosen spielte. Er war so urkomisch, dass auch ich kichern musste, und Fred bekam vor lauter Lachen fast einen Anfall.
Mitten in diese Spontanvorstellung kehrte Cooper zurück. Er trug einen Stapel aus Tellern mit Hauben zum Warmhalten, und in seiner Brusttasche steckten Messer und Gabel. Auch er musste lachen, während er Transomes Abendessen anrichtete, und murmelte: »Dieser Mann ist einfach zum Schießen.«
Mr. Transome setzte sich vor sein schlichtes Mahl aus Rinderbraten, Kartoffeln und Soße (einfache Kneipenkost, direkt aus den Küchentöpfen; der Mann war in seinen Essgewohnheiten nicht wählerisch).
Zum Käse holte er eine Karaffe hervor und zeigte uns, wie er mit einem großen Schluck Brandy »gurgelte«, um seine Kehle zu entspannen. »Das sollten Sie bei Gericht auch mal versuchen, Tyson, bevor Sie das nächste lange Resümee vortragen.«
Die zwei Männer tranken lachend ihren Brandy und schienen mich vollkommen vergessen zu haben, so dass ich Thomas Transome aus nächster Nähe beobachten konnte. Ich verstand nun, warum Fred ihn so gern mochte; noch nie hatte ich jemanden erlebt, der so unverschämt und gleichzeitig so einnehmend war.
Als Fred und ich das Theater verließen, hatten wir einen vagen Entwurf der Vereinbarung zwischen Ehemann und Ehefrau erstellt. Mr. Transome, den Fakten und Zahlen langweilten, war weder rachsüchtig noch knauserig. Ich hatte sogar den Eindruck, dass sich die Angelegenheit schnell beilegen lassen würde. Außerdem wollte ich die Welt der Schurken und Schergen des Theaters so schnell wie möglich hinter mir lassen. Ich hüte mich stets davor, Menschen zu verurteilen, aber bei diesem Fall hatte ich tatsächlich Sorge, ich könnte meinen Ruf beschmutzen.
Noch bis spät in die Nacht saß ich vor dem leeren Kamin in meinem kleinen Wohnzimmer, denn über den Sims hatte ich meinen kostbarsten Besitz gehängt: das von Edwin Landseer gemalte Porträt meines geliebten Ehemannes. Es zeigte eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem echten Matt und gab naturgetreu seinen warmherzigen und zugleich fragenden Ausdruck wieder. Oh, wie sehr wünschte ich, jetzt mit ihm sprechen zu können! Er war ein grundgütiger Mensch gewesen, aber ich hatte das ungute Gefühl, dass er mit diesem sehr speziellen Fall nicht einverstanden gewesen wäre.
In den nächsten vierzehn Tagen gingen eine Reihe von Briefen zwischen meinem Bruder, mir und dem streitenden Paar hin und her. Der angriffslustige Kasperl konnte sich irgendwann dazu durchringen, der sanften Gretel eine kleine Kutsche zu gewähren, und Gretel konnte sich ihrerseits dazu durchringen, ein bescheidenes, aber hübsches Häuschen in Maida Hill, in der Nähe von Paddington, zu beziehen.
Der nächste Vorfall in dieser Angelegenheit ereignete sich, als ich nicht im Mindesten irgendwelche Schauspieler im Sinn hatte, sondern die unhygienischen Zustände im Armenviertel um die Kreuzung Seven Dials in Camden, am Ende der St. Martin’s Lane. Ich war die Schriftführerin des Komitees für die Errichtung neuer Armenhäuser in diesem Viertel (ach, was für ein langwieriges Unterfangen das werden sollte; es dauerte einige Jahre, um ein passendes Grundstück zu finden, und viele weitere, um das Geld für den Bau aufzutreiben). Unser Treffen an jenem Morgen fand in einem Haus an der Uferstraße Strand statt, unweit der Kirche St. Martin’s-in-the-Fields und dem Nelson-Denkmal.
Es war ein wunderbarer Tag. Nach der Besprechung konnte ich nicht widerstehen, noch ein wenig durch die geschäftigen Straßen zu spazieren. Ich fand es schon immer bemerkenswert, dass ein richtig schöner Frühlingstag alles – und jeden – fröhlich erscheinen lässt. Ich besuchte den großen Markt in Covent Garden, und weidete mich in bester Laune sogar an Staub und Schmutz, an dem Rattern der Wagenräder auf dem Kopfsteinpflaster und den Schreien der Händler und ihrer Esel. Es war Anfang Mai, so dass es schon erste Erdbeeren gab, und der süße Duft der roten Früchte versetzte mich ins Erdbeerbeet meiner lieben Mutter zurück (sie hatte wegen der Vögel ein Netz darübergelegt, aber vor meinem gierigen Bruder konnte sie ihre Ernte nie vollständig retten).