Die invasive Art - Manuel Schmitt - E-Book

Die invasive Art E-Book

Manuel Schmitt

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Beschreibung

Wenn die Fische verschwinden und Meere zu Wüsten werden: Öko-SciFi trifft Klima-Thriller  Die Ozeane sterben. Die Fischbestände schwinden, und Wissenschaftler auf der ganzen Welt versuchen in beispiellosen Projekten, die drohende Katastrophe abzuwenden. Ein solches Projekt ist die Tiefseestation Bathos IV, deren Besatzung — die philippinische Geologin Mayari, die norwegische Biologin Svea und der amerikanische Ingenieur Mat — mehr über das Meeressterben herausfinden wollen. Beim Sichten der Drohnenaufnahmen stoßen sie auf eine ungewöhnliche Ansammlung von Quallen, deren pulsierendes Leuchten tausende Fische wie magisch anzieht. Gebannt von dem Schauspiel müssen die drei Aquanauten kurz darauf alles infrage stellen, was sie über das Meer und seine geheimnisvollen Bewohner zu wissen glaubten. Sind diese Quallen der Grund für das Meeressterben? Oder im Gegenteil, sind sie die Lösung? Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt … Im hochspannenden und actionreichen Science–Fiction-Thriller von Manuel Schmitt kämpfen drei junge Wissenschaftler um die Rettung der Ozeane und kommen einer Wahrheit auf die Spur, die auf dramatische Weise die Zukunft der Menschheit beeinflussen wird. Für Fans von Frank Schätzings »Der Schwarm« oder James Camerons »The Abyss«. Manuel Schmitt ist als SgtRumpel auf YouTube, Twitter und Facebook aktiv und hat mit dem phantastischen Roman »Godmode« sein Autorendebut gefeiert.

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Manuel Schmitt

Die invasive Art

Ein Science-Fiction-Thriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die Ozeane sterben. Auf der ganzen Welt schwinden die Fischbestände, und Wissenschaftler versuchen verzweifelt, die drohende Katastrophe abzuwenden. Die philippinische Geologin Mayari, die norwegische Biologin Svea und der amerikanische Ingenieur Mat arbeiten auf der Tiefseestation Bathos IV, als sie bei einem Drohnenausflug einen Schwarm ungewöhnlicher Quallen entdecken, deren pulsierendes Leuchten tausende Fische wie magisch anzieht. Plötzlich müssen die drei alles infrage stellen, was sie über das Meer und seine geheimnisvollen Bewohner zu wissen glaubten.

Sind die Quallen der Grund für das Meeressterben? Oder die Lösung? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Prolog

Momentaufnahme

Teil 1: Mayari

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Momentaufnahme, Hjalmar

Teil 2: Svea

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Momentaufnahme, Pelayo

Teil 3: Mat

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Epilog

Nachwort

Prolog

Unwiderruflichkeit ist etwas, das Menschen nur schwer akzeptieren. Wenn etwas unwiderruflich, irreversibel, endgültig fort ist, dann bleibt trotzdem die irrationale Hoffnung, es wiederzuerlangen. Es sei vielleicht doch nicht so schlimm. Man habe noch nicht alle Optionen getestet, bisher einfach keine Lösung gefunden. Der Mensch sträubt sich mit aller Kraft gegen die Endgültigkeit. Émile selbst war das beste Beispiel dafür. Sogar der Tod darf für viele nicht das Ende sein, stattdessen hält die Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits hartnäckig das Unumstößliche auf Distanz.

Wie viele andere hatte auch Émile die Irreversibilität nicht ernst genommen. Tatsächlich hatte die gesamte Weltgemeinschaft nur träge auf ein drohendes Ende reagiert. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, eine Gefahr erst dann als solche zu erkennen, wenn sie unmittelbar in das eigene Leben eingreift. Solange es nur die anderen betrifft, muss sich selbst eine globale Bedrohung dem Alltag unterordnen, denn nichts kann so in Anspruch nehmen wie die Routine des täglichen Lebens. Kundengespräch. Kinder abholen. Mittagessen. Einkaufen: Kaffee, Flasche Wein, Klopapier. Rechnung schreiben. Monatsabschluss. Rasen mähen. Eine Trivialität löst die andere ab.

Émile hatte oft darüber nachgedacht, ob er sich anders hätte verhalten können. Anzeichen des Unheils waren schon lange zu erkennen gewesen, doch die wenigen, die wach genug in die Zukunft blickten, kamen mit ihren Kassandrarufen nicht gegen die Behäbigkeit ihrer Mitmenschen an. Sehenden Auges steuerte man auf die Katastrophe zu, wissend, dennoch seltsam gleichgültig, fast trotzig.

Für dieses Verhalten gab es sicherlich eine Erklärung. Émile glaubte, dass der Mensch das Unwiderrufliche nicht akzeptiert, weil es ihn entmachtet. Es nimmt ihm die Freiheit der Entscheidung, zwingt ihn, in einer bestimmten Weise zu handeln, um den point of no return — etwas, das der menschliche Verstand anscheinend nicht in seiner vollen Bedeutung erfassen kann — nicht zu überschreiten.

Und nun war es zu spät: Die Katastrophe stand kurz bevor. Es gab keinen Menschen mehr, der den Verlust nicht in der einen oder anderen Weise zu spüren bekam. Das Unwiederbringliche war fort. Und die Welt in Aufruhr. Sie bäumte sich gegen das drohende Ende auf, klammerte sich eben an jene irrationale Hoffnung, dass es doch noch einen Ausweg geben könnte. Musste.

Doch Émile hoffte nicht mehr. Er war der Einzige, der wusste, was zu tun war. Denn ihm war das Unmögliche gelungen: Er hatte das Irreversible reversibel gemacht. Er hatte die Regeln geändert.

Er hatte die Unwiderruflichkeit besiegt.

Momentaufnahme

Montag, 12. Mai 2064, Ngerulmud, Republik Palau

Dichte graue Wolken zogen über dem roten Wellblechdach nach Süden. Regen prasselte auf das kleine Vordach der Veranda, und Aukai starrte gedankenverloren auf den Platz vor seinem Haus. Zahlreiche Pfützen hatten sich über Nacht gebildet und den sonst staubtrockenen Sand in zähen Schlamm verwandelt. Schon den ganzen Morgen zog das Unwetter über Palau hinweg, und auch wenn der Regen hin und wieder einmal in ein leichtes Nieseln überging, wusste Aukai, dass sich das Wetter den ganzen Tag über kaum ändern würde.

Seufzend griff er in die Hosentasche seiner Bermudas und kramte eine ramponierte Schachtel Zigaretten hervor. Hierba Fuerte, eine philippinische Marke. Routiniert klopfte er gegen die Unterseite der Packung und ließ damit eine der Zigaretten hervorschnellen. Die Regierung Palaus hatte der Tabakindustrie in unzähligen Kampagnen und Entwöhnungsprogrammen den Kampf angesagt, aber Aukai hatte sich das Rauchen nie abgewöhnen können. Oder wollen.

Ein leiser, entfernter Donner durchbrach das eintönige Rauschen der Regentropfen. Es war genau das richtige Wetter für den heutigen Tag. Düster. Unangenehm. Traurig. In den vergangenen zwei Monaten hatte Aukai das Näherkommen des 12. Mai ignoriert, hatte bewusst davon abgesehen, die Tage zu zählen. Er hatte vermeiden wollen, in Abhängigkeit von einem inneren Countdown zu leben, der sich ständig in seine Gedanken eingenistet und diese vergiftet hätte. Es war ihm gelungen. Er hatte die letzten Wochen genossen, hatte sie verbracht, als wäre die Hypothek nicht real, als würde sein Kontostand sich wie von Zauberhand wieder erholen, ganz ohne Opfer. Kein Wunder also, dass dieser Montag, der 12. Mai 2064, dann doch überraschend für ihn kam und er sich dem Ganzen nicht gewachsen fühlte. Heute ging eine Ära zu Ende. Mit Aukai endete eine Tradition. Das Erbe seines Vaters und seines Großvaters wurde zum Opfer finanzieller Überlegungen. Ihm war schlecht.

Die Übelkeit hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich die Zigarette anzustecken, die er nun schon ein paar Minuten zwischen den Lippen hielt. Verfluchte Welt! Er zog an der Zigarette, hielt die Luft für einige Sekunden an und blies dann den Rauch in den Regen hinaus. Wie ein Vorhang aus transparenten Schnüren schoss das Wasser von dem schrägen Wellblechdach hinunter.

Der Regen machte ihm nichts aus. Aukai war sein Leben lang zur See gefahren und hatte keine Angst vor Unwettern. Respekt schon, Angst nicht. Der Wind spielte immer eine wichtige Rolle — je stärker der Wind, desto gefährlicher das Gewitter. Doch heute war die Windstärke zu vernachlässigen, die Wolken wurden nur langsam gen Süden getragen. Wäre heute nicht das Ende aller Tage, er wäre vielleicht trotz allem hinausgefahren. Vielleicht hätte er Glück gehabt und ihm wäre etwas ins Netz gegangen. Schnapper. Makrelen. Meeräschen.

Dann hätte er sich mit Hiro, Tommy, dem alten Keoki und Pono unter dem Pavillon getroffen, den Fang gegrillt und chinesisches Importbier getrunken, auf einem Stück Räucherfisch herumgekaut und geredet. Über den Fischfang. Über das Wetter. Über Frauen. Selten über Politik. Aukai schüttelte lächelnd den Kopf. Er tat gerade so, als würde er sich nie wieder mit seinen Freunden treffen können. Das war natürlich Unsinn. Trotzdem würde es nicht mehr dasselbe sein. Das Schiff gehörte zu ihm wie seine Zigaretten, er war Aukai, der Fischer, einer der Letzten seiner Art in Palau.

Er drückte seine Kippe an dem hölzernen Geländer der Veranda aus. Ausgetrocknete Farbe und Asche fielen zu Boden. Das Haus benötigte dringend einen Anstrich, doch das Geld reichte einfach nie. Der Ertrag aus dem Fischfang war in den letzten Jahren so spärlich geworden, dass Aukai eine Hypothek auf das Haus aufnehmen musste. Er hatte niemandem davon erzählt, denn er hatte sich dafür geschämt. Das alte, einstöckige Holzständerhaus war seit Jahrzehnten in Familienbesitz, und er stand kurz davor, das Gebäude zusammen mit einem Hektar Grund an die Bank zu verlieren. Das Schiff zu verkaufen war sein einziger Ausweg gewesen.

Außerdem war er müde. Im August würde er sechzig Jahre alt werden. Er hatte sein Lebtag als Fischer gearbeitet. Schon als Kind hatte er seinen Vater aufs Meer hinaus begleitet, so wie dieser auch mit seinem Vater — Aukais Großvater — schon in frühen Jahren hinausgefahren war. Der Fischfang war das Familiengeschäft gewesen, das Handwerk wurde von Generation zu Generation weitergereicht, ebenso wie das Wissen um ertragreiche Fischgründe in Palau, deren Abhängigkeit von Mondzyklen, Jahreszeiten, von Ebbe und Flut und den Strömungen. Er hatte gelernt, Netze aus Palmenwedeln zu knüpfen, eigene Speere zu schnitzen und mit Angeln, Krabbenfallen und Harpunen umzugehen. Er war seinem Vater auf dem Wasser näher gewesen als an Land; in Palau entwickelte sich die Beziehung zwischen Vätern und Söhnen zu großen Teilen auf gemeinsamen Ausflügen zu den Buchten der Inseln oder auf das offene Meer hinaus. Mit Aukai endete das alles — er hatte nie die richtige Frau gefunden, um eine Familie zu gründen. Außerdem war das Wissen um die Fischgründe inzwischen wertlos. Früher war alles anders gewesen. Er konnte sich an Bastkörbe voller Fische erinnern, an den Sonnenaufgang auf hoher See, an den Geruch von frischem Fisch und den Salzgeschmack auf der Zunge. An das Lachen seines Vaters, der barfuß auf seinem kleinen Kutter herumgesprungen war und mit ihm zusammen die Netze eingeholt hatte. Aukai seufzte erneut und schnippte den Zigarettenstummel zu einem Aschenbecher, der neben der Eingangstür stand. Er traf. Wenigstens etwas.

Ein kurzer Blick auf sein Smartphone bestätigte ihm, dass es an der Zeit war, aufzubrechen. Trotz allem Unbehagen über den Verkauf seiner Semael wollte er nicht zu spät im Hafen erscheinen. Besser noch, er wollte ein wenig früher ankommen, um ein letztes Mal ein wenig Zeit auf seinem Schiff zu verbringen. Alleine in der Kajüte sitzend und vom Klopfen der Regentropfen begleitet, wollte er in Selbstmitleid baden, bevor die Semael den Besitzer wechseln würde. Er hatte sich zu diesem Anlass eine kleine Flasche Tanduay besorgt — eigentlich ein für seine Verhältnisse zu teurer Rum, aber der traurige Anlass und der damit einhergehende Erlös hatten eine solche Investition in Aukais Augen gerechtfertigt.

Er betrat das Haus und suchte seine Sachen zusammen: die Flasche Rum, Bootsschlüssel und Papiere. Eine Jacke brauchte er nicht, denn trotz des Regens war es angenehm warm, sodass eine kurze Hose und ein Hemd vollkommen ausreichten. Einen Regenschirm besaß er zwar, fand ihn aber auf die Schnelle nicht. Und so ging er kurz darauf mit hastigen Schritten zu seinem Truck, die Papiere zum Schutz vor den Tropfen an seinen Bauch gepresst.

Ein kurzer Blick in den Rückspiegel aktivierte den integrierten Retinascanner, der Aukais Identität feststellte und den Elektromotor lautlos einschaltete. Die Konsole leuchtete auf, Scheibenwischer surrten los, und die Seitenspiegel richteten sich automatisch aus. Aukai griff nach dem Lenkrad und drückte sanft das Gaspedal hinunter. Mit einem leisen Surren setzte sich der Wagen in Bewegung. Der Hafen war nicht weit entfernt. Tatsächlich war nichts auf Palau weit entfernt. Ausgenommen Ngeaur vielleicht, die einzige der großen Inseln, die noch nicht über eine Brücke an das Straßennetz Palaus angeschlossen war. Die Semael lag im Hafen Malakal, etwa zehn Kilometer von seinem Haus entfernt. Ein Katzensprung.

Der für Palau typische grobe Straßenbelag aus Beton war von unzähligen winzigen Pfützen übersät. Links und rechts der Fahrbahn wucherten Palmen und Brotfruchtbäume, die sich leicht im Wind wiegten. Aukai liebte Palau immer noch. Auch wenn die Inseln in den letzten Jahrzehnten tragische Veränderungen durchgemacht hatten, so war dies nun mal seine Heimat. Nicht wegen der einzigartigen Insellandschaft, der Riffe und des Vulkangesteins fühlte er sich hier zu Hause, sondern vor allem wegen der Menschen. Sie waren freundlich, unaufgeregt, bodenständig. Naturverbunden. Palau hatte als eine der letzten Regionen der Welt seine maritime Artenvielfalt zumindest in Teilen erhalten können. Noch heute besuchten Wissenschaftler aus aller Welt die Riffe.

Aukai fuhr am East Plaza Suites vorbei, einem alten Luxushotel. Der quadratische Bau ragte zwischen Mangobäumen in den Himmel und erinnerte an vergangene Zeiten, als Tourismus noch eine der wichtigsten Einnahmequellen der Region gewesen war. Chinesische Besucher hatten zu Aukais besten Kunden gehört, wenn er mittags in den Hafen einfuhr und seinen Fang direkt vom Schiff aus verkaufte. Nun stand das Hotel leer, der Putz bröckelte von der Fassade, einige der Fenster waren zersprungen. Den fünfundzwanzig anderen Hotels in Palau erging es ähnlich, kaum eines beherbergte noch Gäste. Ein Zustand, den die Bewohner der Inseln selbst herbeigeführt hatten. Sogar Aukai hatte damals für das Tourismusverbot gestimmt, auch wenn er dadurch gut die Hälfte seines Umsatzes verloren hatte.

Genau das war der Grund, warum er so stolz auf die Menschen in Palau war. Sie waren bereit, Opfer zu bringen. Der Tourismus hatte viel Geld in die Republik gespült, doch als Wissenschaftler den Rückgang der Artenvielfalt in den Riffen feststellten und Alarm schlugen, hatten die Palauer gehandelt. Die 19000 Bewohner der Inseln hatten in einem historischen Volksentscheid fast einstimmig beschlossen, dass der bis dahin existente Naturschutz drastisch ausgeweitet werden sollte. Die Menschen hatten die wirtschaftliche Stagnation akzeptiert und den Tourismus sowie neue Bauprojekte rigoros gestoppt. Investoren waren abgesprungen, Unternehmen hatten den Archipel verlassen, und Fluglinien sowie Transportschiffe hatten die Routen nach Palau gestrichen. Auch Aukai hatte die strengen Auflagen eingehalten und hatte nur dort gefischt, wo es erlaubt gewesen war.

Er lenkte seinen Truck auf die Brücke, die seine Insel Babeldaob mit der südlich gelegenen Insel Koror verband. Unzählige kleine Wellen tanzten auf dem Meer. In der Ferne sah er die sanften grünen Hügel der Nachbarinsel Ngerekebesang, eingehüllt in Nebelwolken. Er konnte die Dächer der kleinen Stadt Meyuns erkennen, in der Tommy seine Tauchschule geführt hatte. Auch Tommy hatte schließen müssen, ebenso wie ein Großteil der Geschäfte in Palau. Nun reparierte er Waschmaschinen und andere Elektrogeräte. Aber Tommy hatte das akzeptiert, so wie viele andere auch. Und, verflucht noch eins, auch er, Aukai, würde sein Schicksal akzeptieren und seinem Schiff nicht trübselig hinterhertrauern. Unwillkürlich strich er mit der rechten Hand über die Flasche Tanduay, die auf dem Nebensitz lag.

Aukai fuhr durch die Hauptstadt Palaus, die ebenso wie die Insel, auf der sie sich befand, Koror hieß. Vorbei an zwei Supermärkten, einer Kirche, der Post und dem klassizistischen Bau des Finanzministeriums. Und immer wieder Hotels. Das Palasia Paradise, das Palau Resort, das Canoe Hostel. Manchmal fanden solche Gebäude eine neue Verwendung als Büroräume oder Lagerstätten. Nur Hotels, die eine besondere Aussicht bieten konnten und nicht im Laufe der Zeit verfallen waren, nahmen die wenigen Gäste auf — Wissenschaftler, Journalisten, Familienbesuch vom Festland. Die Anreise war teuer geworden, Flugzeuge landeten vielleicht einmal in zwei Wochen auf der Hauptinsel.

Einer dieser seltenen Gäste war Otto Kerstein, ein Deutscher. Er würde Aukais Semael kaufen. Immerhin blieb das Schiff in Palau, es wurde für eine wissenschaftliche Expedition gebraucht. Fast war Aukai ein klein wenig stolz deswegen. Sein altes Schiff, der 33 Meter lange Trawler der norwegischen Marke Caterpillar, Baujahr 2015, mit eigenem Kühlsystem und 300 Kubikmetern Fassungsvermögen war in hervorragendem Zustand. Aukai hatte alle Inspektionen eingehalten, Reparaturen teilweise selber vorgenommen und auch das Navigationssystem mit modernen Geräten erneuert. Das Schiff war sein Lebensunterhalt gewesen, sein Werkzeug, das er tagtäglich im Einsatz gehabt hatte. Und nun würde es eine neue Arbeit als Forschungsschiff annehmen. Aukai musste lächeln. Er hatte auf See immer mit dem Schiff geredet, als könne es antworten, es direkt angesprochen und manchmal auch verflucht. Es war nur konsequent, dass er nun darüber sinnierte, das Schiff würde wie ein Lebewesen mit einem eigenen Willen »eine neue Arbeit annehmen«.

Er bog von der Hauptstraße ab auf ein kleines Dock, an dem vielleicht zehn Schiffe lagen. Das größte davon war die Semael. Vielleicht würde er sich nach dem Tilgen der Hypothek von dem Restgeld ein kleines Motorboot besorgen, mit dem er hin und wieder hinausfahren konnte. Nicht um zu fischen, sondern einfach um das Schaukeln auf den Wellen nicht zu vergessen. Seufzend schlug er die Autotür zu und begab sich ein letztes Mal auf sein Schiff, die Flasche Tanduay in der Hand. Es regnete immer noch.

Als er den nassen Metallsteg, der auf das Schiff führte, betrat, fiel sein Blick auf das Wasser zwischen Schiffswand und Pier. Milchige Wolken waberten im dunklen Grün des Hafenbeckens. Unzählige Quallen irrten scheinbar ziellos im Wasser umher, je tiefer sie sich befanden, desto unschärfer wurden ihre Konturen. Es waren erstaunlich viele Medusen, nicht nur in der Nähe seines Schiffes. Das gesamte Hafenbecken war angefüllt mit einer Wolke aus weißen Punkten, die sich langsam veränderte. Kopfschüttelnd betrachtete Aukai den Schwarm eine Zeit lang. Es kam häufiger vor, dass Quallen in die Buchten geschwemmt wurden. Hunderte. Tausende. Sie erschienen plötzlich über Nacht und verschwanden einige Tage später ebenso unerwartet. Manchmal waren die Strände anschließend tagelang überzogen von glibberigen Quallenkörpern, die langsam in der Sonne austrockneten.

Er erinnerte sich an den Ongeim’l Tketau — einen Quallensee im Inneren der Insel Koror, der früher eine der Sehenswürdigkeiten Palaus gewesen war. 30 Millionen Exemplare der ungiftigen goldenen Qualle hatten den See bevölkert und Tauchern ein atemberaubendes Schauspiel geliefert. Aukai war einige Male selbst in den See abgetaucht und hatte sich mit Brille und Schnorchel in eine seltsam fremde Welt begeben. Tausende kleiner Gallertkörper schwebten im Wasser und leuchteten in hellem Orange auf, wenn sie von Sonnenstrahlen getroffen wurden — daher stammte der Name goldene Qualle. Das war vor dreißig Jahren gewesen, inzwischen war der Bestand auf ein paar hundert Tiere zusammengeschrumpft — trotz der strengen Maßnahmen. Ebenso wie in der Unterwasserwelt um die Inseln herum hatten die neuen Regeln und Verbote auch das Meeressterben im See nur verlangsamen, nicht aber aufhalten können.

Aukai starrte gedankenverloren auf die Quallen im Hafenbecken. Schließlich riss er sich von dem hypnotischen Anblick los, strich die nassen Haare aus der Stirn und begab sich in die Kajüte der Semael. Er setzte sich auf eine fest eingebaute Eckbank mit braunem Lederbezug und schenkte sich den Rum in ein trübes Glas ein. »Auf dich, alte Dame!«, prostete er in den Raum hinein. Ein paar Minuten blieb er sitzen, nahm die Atmosphäre der kleinen Brücke in sich auf und versuchte, sich alles so genau wie möglich einzuprägen. Die Hebel, die Knöpfe, das rote Steuerrad. Die Rückstände von Klebestreifen, mit dem er Poster und Postkarten an die Wände geklebt hatte. Die kleinen Macken im Holz, die Risse im Silikon, die Kaffeeflecken auf hellem Kunststoff. All das war Teil der Geschichte, seiner Geschichte.

Ein energisches Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf die kleine Wanduhr neben der Kajütentür. Es war fünf vor zehn. Herr Kerstein war fünf Minuten zu früh, aber das war typisch für den Deutschen. Aukai kannte das schon von den vorigen Treffen, bei denen sie das Schiff besichtigt und den Preis ausgehandelt hatten. Nun fehlten nur noch die Übergabe der Papiere und die Überweisung des Geldes. Beides würde hier auf dem Schiff stattfinden. Jetzt.

Aukai atmete tief ein, stand auf und strich ein letztes Mal liebevoll über das Ruder. Dann ging er mit zwei schnellen Schritten zur Tür und öffnete sie.

Teil 1: Mayari

Kapitel 1

Dienstag, 5. August 2064, Malakal Island, Republik Palau

Mayari öffnete die Tür ihres Hotelzimmers und trat in den Flur. Der Teppichboden dämpfte ihre Schritte sowie das Geräusch der ins Schloss fallenden Tür. Während sie den Gang entlang zum Fahrstuhl lief, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Es roch muffig und nach Kakerlakenspray. Mayari verabscheute Teppichböden. Und dieser hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen. Flecken in allen Schattierungen ließen den beigen Farbton nur noch erahnen. An einigen Stellen war der Stoff eingerissen, und die Ränder wölbten sich widerspenstig nach oben. Darunter kam heller Estrich zum Vorschein, wie Knochen in einer klaffenden Wunde. Der Teppichboden war, wie so vieles in diesem Hotel, ein Überbleibsel aus besseren Tagen.

Mit einem leisen Glockenton öffneten sich die Türen des Aufzugs, und Mayari betrat die Kabine, erleichtert, statt des pelzigen Teppichs nun Noppen aus schwarzem Gummi unter den Füßen zu haben. Eigentlich machte ihr der etwas heruntergekommene Zustand des Hotels nichts aus — sie war keine Diva, auch wenn sie Besseres von zu Hause gewohnt war. Sie fand sogar, dass der überwucherte Garten des Hotels, die an einigen Stellen rissige Fassade oder die veralteten Möbel einen gewissen Charme besaßen. Sie erinnerten stoisch an alten Glanz und vergangenen Luxus. Nur der Teppichboden war ein echter Makel, denn er war nicht nur alt, sondern auch dreckig. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was alles zwischen den Härchen klebte.

Mit einem erneuten Ping gingen die Fahrstuhltüren auf und entließen Mayari in die Lobby des Laguna Aparthotel. Die geräumige Eingangshalle war leer. Personal war in diesem Hotel Mangelware. Sie hatte die Besitzerin des Hotels kennengelernt — Hinatea Williams — eine freundliche Dame in ihren Sechzigern, die es sich nicht leisten konnte, viele Angestellte zu beschäftigen. Die Instandhaltung des Gebäudes beschränkte sich auf unbedingt notwendige Reparaturen und die gelegentliche Gärtnerarbeit. Das Putzen und Waschen der Bettbezüge erledigte die rüstige Miss Williams selbst.

Im Laguna Aparthotel wurde auch kein Frühstück serviert. Es gab zwar einen großen Speisesaal und eine Küche, aber auch hier fehlte inzwischen das Geld, um Kellner, Köche und Nahrungsmittel zu bezahlen. Miss Williams vermietete die Zimmer des Hotels ohne jeglichen Schnickschnack: keine Minibar, kein Restaurant, kein Service. We can only provide you with clean rooms and a fantastic view. Das stand sogar auf der Webseite. Mayari störte das alles nicht. Sie verbrachte schließlich nicht ihren Urlaub auf Palau, sondern war zum Arbeiten und Lernen hier — ins Hotel kam sie sowieso nur zum Schlafen. Und eine Übernachtung war günstig; zumindest günstiger als im anderen noch in Betrieb befindlichen Hotel in Palau. Im Vergleich zu den Philippinen allerdings waren beide Hotels billig.

Auf ein Frühstück wollte Mayari dennoch nicht verzichten. Ein kurzer Blick auf die Terrasse, die einen atemberaubenden Blick auf eine kleine Bucht mit palmenbesetztem Sandstrand bot, verriet ihr, dass sie die Erste war, die ihr Zimmer verlassen hatte. Die anderen würden jedoch bestimmt nicht lange auf sich warten lassen. Normalerweise traf sich die ganze Crew gegen neun auf der Terrasse. Es war fast eine Art Ritual. Ihr Vater umriss kurz die Pläne für den Tag, man trank eine Tasse Kaffee, genoss die ersten Sonnenstrahlen und las die Nachrichten auf dem Smartphone, bevor sich alle zum Aufbruch bereit machten. Sie mochte das.

Mayari durchquerte die Lobby und verließ das Hotel durch die gläserne Haupttür. Es war noch angenehm kühl für Palauer Verhältnisse. Die frische Luft roch nach Meer. Sie überquerte die Straße, auf der nur wenige Autos unterwegs waren, und steuerte eine Reihe von Flachbauten an; alle waren mit dem für den Archipel typischen Wellblechdach bedeckt. Ähnlich wie das Hotel waren auch die meisten anderen Gebäude in Palau schmucklos, zweckmäßig und etwas altertümlich. Auf einem stand in großen Buchstaben Palau Central Bar. Es war der nächstgelegene Ort, an dem Mayari Kaffee, Tee und etwas Süßes erstehen konnte. Ein einfaches Frühstück für die Crew.

Die Republik Palau war ein aus 342 Inseln bestehender Archipel im Pazifik, über 600 Kilometer von den Philippinen im Westen und ebenso weit von Indonesien im Süden entfernt. Im Norden und Osten befand sich nur offenes Meer. Moderne technische Errungenschaften, wie Mayari sie von den Philippinen her kannte, waren hier eher selten anzutreffen. In Palau benutzte man immer noch Geldscheine und Münzen, da die Datenraten für den täglichen Gebrauch der Kryptowährungen zu teuer waren. Öffentliche Internetknotenpunkte gab es nicht. Nur Überweisungen größerer Beträge wurden digital vorgenommen, für den täglichen Bedarf verwendete man immer noch den Dollar. Während in den Großstädten neue Baumaterialien wie Textil-Zement oder intelligenter Stahl verwendet wurden, begnügten sich die Leute in Palau mit althergebrachtem Stahlbeton oder Holzständerbauten. Die Autos waren zwar mit Elektromotoren ausgestattet, den Straßen fehlte jedoch ein modernes Führungssystem, sodass die Palauer die Wagen immer noch selber steuern mussten und nicht der künstlichen Intelligenz das Steuer überlassen konnten, ähnlich wie in entlegenen Gegenden auf dem Festland.

Die Inseln stellten eine geologische Anomalie dar, einen geografischen Witz inmitten einer Wasserwüste. Vulkanische Aktivität hatte vor Jahrtausenden mitten im Nirgendwo ein ungewöhnliches Paradies erschaffen. Im 20. Jahrhundert war Palau für seine Riffe auf der ganzen Welt bekannt geworden. Eine reiche, vielfältige Unterwasserwelt hatte Touristen angezogen und die Bürger Palaus reich gemacht. Heute war von dem alten Glanz kaum mehr etwas übrig. Palau schien in der Zeit eingefroren zu sein; hier hatte sich seit 50 Jahren kaum etwas verändert. Innovationen erreichten den Archipel nicht, denn schon die hohen Transportkosten schreckten Unternehmer ab. Palau wurde nur mit dem Nötigsten versorgt, mit kleinen Transportschiffen, die meist von Palauer Bürgern selbst gesteuert wurden.

Und doch war Mayari gerne hier. Sie mochte die liebenswerte Dickköpfigkeit der Palauer, die Naturschutz vor wirtschaftliche Interessen gestellt hatten. Genau diese Dickköpfigkeit war letztendlich auch der Grund für die Anwesenheit ihrer Crew. Hier im Archipel schritt das Meeressterben langsamer voran als im Rest der Welt. Die Regierung hatte zusammen mit der Bevölkerung eine beispiellose Kehrtwende vollbracht. Von Tourismushochburg zu Reservat. Von den 342 Inseln standen seit 2035 mehr als drei Viertel unter strengem Naturschutz, der sogar das bloße Betreten der Inseln untersagte. Palau war der ideale Ort für Meeresbiologen wie ihre Eltern.

Mayari betrat die Palau Central Bar und bestellte vier Milchkaffees und einen grünen Tee bei Tariu, einem jungen Mann mit rundem Gesicht und kurz geschorenen schwarzen Haaren. Er lächelte ihr zu und begann, die große Kaffeemaschine zu bedienen. Leise Musik drang aus einer kleinen pinken Beatbox, ein Song der Gruppe KYU SHINE. Mayari betrachtete die Süßspeisen, die in einer Glasvitrine auf dem Tresen aufbewahrt wurden.

»Die roten Muffins sehen gut aus«, sagte sie.

»Ah ja, die Red Velvet Cupcakes. Erdbeeren, Sahne und Schokolade«, rief ihr Tariu über den Lärm des Milchaufschäumers zu.

Ihre Mutter liebte Erdbeeren. Für ihren Vater, Miguel und Ana würde sie die Cinnamon Rolls kaufen, aber für ihre Mutter und sich selbst die Red Velvets. Außerdem noch drei glasierte Milchbrötchen und zwei Zuckerdonuts. Zufrieden gab sie ihre Bestellung an Tariu weiter, der es schon gewohnt war, dass das schmächtige Mädchen tagtäglich den halben Gebäckbestand aufkaufte.

»Mayari, richtig?«, fragte er, während er alles in eine Pappschachtel packte. Mayari nickte lächelnd. Tariu hatte schon dreimal nach ihrem Namen gefragt, weil er ihn immer wieder vergaß.

»Wo kommst du eigentlich her?«

»Von den Philippinen. Surigao City.«

»Ah, Philippinen. Da war ich einmal. In Manila. Viele Menschen. Zu viel Stress. Ist Surigao auch so?«

»Nein, nicht ganz so schlimm. Bei uns gibt es auch viele Inseln, ähnlich wie hier. Aber fast alles ist zugebaut. Viele Menschen, viele Autos. Und noch mehr Tuk Tuks.«

Tariu grinste und stellte alles vor Mayari auf den Tresen: die Schachtel, vier Pappbecher mit Milchkaffee und einen fünften mit einem Teebeutel. Zuletzt goss er noch heißes Wasser in den letzten Becher. »Macht zwölf Dollar. Und warum bist du hier in Palau?«

»Ich begleite meine Eltern. Sie sind Wissenschaftler, Biologen. Wir arbeiten an einem Experiment.«

Tarius Augen leuchteten auf. »Ah, ihr seid wegen der Fische hier. Ich habe mal Engländer kennengelernt, die haben hier auch alle möglichen Dinge untersucht. Ich finde das immer interessant. Bist du denn auch Biologin?«

Mayari schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin noch nicht einmal ausgebildete Wissenschaftlerin. Ich studiere noch. Geologie.«

»Das ist was mit Steinen und so, richtig?«

»Hat auch was mit Steinen zu tun, ja.« Sie lachte.

»Und das Experiment? Geht’s um das Meeressterben?«

Jemand wie Tariu war in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Begriffe wie »Naturschutz«, »Artenvielfalt« und »Meeressterben« in Kultur, Sprache und Geschichte eingebunden waren, lange bevor eine internationale Gemeinschaft von Wissenschaftlern Alarm geschlagen hatte. Mayari hatte viel über Palau gelesen, bevor sie hierhergekommen war. Die Inselrepublik hatte zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer UN-Vollversammlung erstmals vehement gefordert, dass die Verantwortung jedes einzelnen Staates für den Klimawandel in einem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag festgehalten wird. Die Initiative hatte keinen Erfolg gehabt.

Erst 2032, fast ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Antrag, wurde einem solchen Gutachten stattgegeben. Die Palauer Regierung hatte die Forderung zwar jährlich wiederholt, aber der eigentliche Anlass für die Zustimmung der anderen Länder war letztendlich ein anderer gewesen: Die internationale Staatengemeinschaft stand am Rand einer Klimakatastrophe, und die Kosten für eine Abwendung waren astronomisch hoch. Für jeden Staat wurden je nach Verantwortungsgrad verpflichtende Kostenbeteiligungen errechnet, um den Schlamassel bezahlen zu können. Zu lange war man mit nur halbherzigen Maßnahmen gegen die Erderwärmung vorgegangen, hatte Schlupflöcher offengelassen, Unternehmen hofiert und Arbeitsplätze gesichert.

Mayari hatte die erste große Klimaintervention nicht miterlebt. Ihr Vater hatte ihr davon erzählt. Mit drastischen Maßnahmen und drakonischen Strafen, die international durchgesetzt wurden, war es gelungen, den CO2-Ausstoß nicht nur zu verringern, sondern sogar Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu binden. Massive Aufforstungen in Afrika, Australien und den Tropen sowie einige neue Erfindungen, die CO2 aus der Luft filterten und mit weiteren Komponenten zu Baumaterial verdichteten, hatten den Klimawandel aufhalten können. Trotzdem waren im darauffolgenden Jahrzehnt Hungersnöte ausgebrochen und ganze Landstriche unbewohnbar geworden. Die Folgen des Klimawandels hatten auch auf dem Archipel ihre Spuren hinterlassen: Palau hatte durch den Anstieg des Meeresspiegels gut die Hälfte seiner Oberfläche verloren. 14 kleinere Inseln waren komplett überspült worden. Nur mit größter Mühe hatte man die Siedlungsgebiete sichern können.

2045, Mayaris Geburtsjahr, waren sich die Wissenschaftler einig, dass der Planet sich auf dem Weg der Besserung befand. Viel war noch zu tun, aber die richtigen Entscheidungen waren getroffen, längst notwendige Institutionen gegründet und Reservate eingerichtet worden. Doch der Klimawandel war nur eine von mehreren Baustellen. Vor vier Jahren wurde erneut der weltweite Notstand ausgerufen, nachdem man festgestellt hatte, dass sich die Zahl der Lebewesen in den Ozeanen drastisch verringerte. Eine Entwicklung, die unter Wissenschaftlern seit Langem bekannt war, jedoch nicht in dem Ausmaß: Der Bestand in den Ozeanen hatte sich seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts alle 30 Jahre halbiert — inzwischen verschwanden jedes Jahr50 Prozent der noch vorhandenen Fischbestände. Man taufte diese Entwicklung das Meeressterben.

Palau war auch hierbei seiner Zeit voraus gewesen. Schon Jahre vorher hatte man den Rückgang der Artenvielfalt auf den Riffen bemerkt. Die Bürger in Palau reagierten mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, und riegelten den Archipel für den Tourismus ab — mit herben Konsequenzen für die Wirtschaft. Die Bemühungen waren dennoch nur bedingt von Erfolg gekrönt, das Meeressterben konnte nicht vollständig aufgehalten werden. Palau stand zwar im internationalen Vergleich gut da, aber auch hier verringerten sich die Fischbestände kontinuierlich.

»Ja, es geht ums Meeressterben. So wie bei inzwischen fast aller maritimen Forschung«, antwortete Mayari.

Tariu seufzte und nickte. Er nahm den Teebeutel aus dem Becher und warf ihn in einen Abfalleimer. »Grüner Tee sollte nicht zu lange ziehen. Zwei Minuten maximal. Ich gebe dir noch einen Karton für die Becher.« Mayari nickte und half Tariu, die fünf Getränke in den Tragekarton zu stecken.

»Ihr solltet den Wal untersuchen«, sagte er plötzlich.

»Welchen Wal?«

»Haben sie heute im Radio gesagt. Namai Bay. Ein Wal ist da gestrandet. Oder angespült worden, weiß nicht mehr. Ist aber tot, glaube ich. Das müsste deine Eltern doch interessieren, oder? Vielleicht könnt ihr den Wal untersuchen und herausfinden, warum er gestorben ist?«

Mayari hielt inne. Ein gestrandeter Wal war tatsächlich eine interessante Nachricht. Allerdings nicht, um eine Untersuchung durchzuführen. Die Ursache für das Meeressterben war unter Wissenschaftlern umstritten, und bisher hatte man sich nicht auf eine These einigen können. Eine gesteigerte Todesrate, zum Beispiel durch Schwermetalle, Sauerstoffmangel oder Nahrungsknappheit spielte laut aktueller Forschung nur eine untergeordnete Rolle und war nicht der eigentliche Grund für das weltweit erhöhte Schwinden der Fischbestände. Strenge Reglementierungen hatten auch den Fischfang als alleinige Ursache für das Meeressterben ausgeschlossen. Selbst in geschützten Bereichen wie in den Riffen Palaus reduzierte sich die Anzahl der Lebewesen jedes Jahr. Der Kadaver eines Walfisches konnte jedoch von großem Nutzen für das Experiment sein.

»Das wird meine Eltern auf jeden Fall interessieren, danke dir!«, sagte Mayari. Tariu wirkte zufrieden.

»Wenn du das Meer rettest, denk daran, dass ich dir von dem Wal erzählt habe!«

Mayari griff lächelnd nach dem Frühstück für die Crew. Mit Sicherheit saßen inzwischen alle auf der Terrasse im Hotel.

»Adiós, Tariu!«, rief sie im Hinausgehen.

»Mechikáng«, antwortete er auf Palauisch.

• • •

Wie sie vermutet hatte, waren die anderen in der Zwischenzeit auf der Terrasse eingetroffen. Ihr Vater Isko hatte sich auf einen weißen Plastikstuhl unter einen der Bastsonnenschirme gesetzt und las die neuesten wissenschaftlichen Nachrichten auf seinem Smartphone. Ihre Mutter Fiann stand am Rand der Terrasse und blickte auf das Meer hinaus. Sie trug eine weite weiße Bluse, Bluejeans und praktische Wanderstiefel. Auf dem Kopf ein schwarzes Cap mit einer hochgesteckten Sonnenbrille, über der Schulter einen kleinen blauen Rucksack. Ihr schwarzes Haar hatte sie, ebenso wie Mayari, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Es war einfach zweckmäßig; auf dem Schiff wurden einem die Haare vom Wind sonst ständig ins Gesicht geweht.

»Guten Morgen!«, rief Mayari in die Runde und stellte die Getränke und die Schachtel mit dem Gebäck ab. Sie war die Jüngste des Teams und die Einzige, die ihr Studium noch nicht abgeschlossen hatte. Sie war sozusagen die Praktikantin der Expedition, und somit fiel ihr die Aufgabe zu, für das morgendliche Frühstück zu sorgen. Ihr machte das nichts aus.

Ihre Eltern Isko und Fiann Tiong waren Meeresbiologen und leiteten das kleine Team, das neben Mayari noch aus dem Vermessungstechniker und Datenspezialisten Miguel Suárez und der Geologin Ana Suárez bestand. Beide hatten sich bei einer früheren Expedition kennengelernt und waren seit knapp einem Jahr verheiratet. Er kam aus Chile, sie aus Spanien; beide lebten und arbeiteten auf den Philippinen. Für Mayari war die Anwesenheit der Suárez ein Glücksfall, denn sie hatte in Ana eine hervorragende Mentorin gefunden. Sie benötigte für ihr Studium sowieso ein Praxissemester, und als ihre Eltern die Finanzierung für das Experiment bewilligt bekommen hatten, bot sich Mayari eine einzigartige Chance. Sie konnte den Sommer über mit ihren Eltern auf See verbringen und gleichzeitig als Assistentin einer ausgebildeten Geologin wertvolle Erfahrungen sammeln.

»Zimtschnecken!«, rief Ana. »Ich liebe Zimtschnecken!« Mayari grinste. Ana war schlank, konnte aber Unmengen von Teigwaren verschlingen, seien es süße Cinnamon Rolls oder herzhafte Siopao — eine philippinische Dampfnudel mit Füllung, welche die Spanierin wann immer möglich als Vorspeise bestellte. Ana hatte sich ihr braunes Haar ebenfalls zusammengebunden; allerdings zu einem unförmigen Dutt, den sie mit einem geklauten Essstäbchen mehr schlecht als recht aufgesteckt hatte. Sie war ein Energiebündel, ein fröhlicher Wirbelwind, chaotisch und wild. Umso erstaunlicher war es gewesen, als Mayari sie das erste Mal arbeiten gesehen hatte. Plötzlich war aus dem quirligen Mädchen eine ernste Wissenschaftlerin geworden, die hoch konzentriert und penibel Buch führte und Daten auswertete. Mayari bewunderte Ana und war dankbar, ihre Assistentin sein zu können.

Miguel hingegen war vollkommen anders. Ein gutmütiger, langsamer und wortkarger Mann. Ein breites, manchmal fast grimmiges Gesicht und stämmige, stark behaarte Arme, dichtes schwarzes Haar und ein gepflegter Vollbart. Der Chilene verstand es, Anas ungestümem Charakter mit Ruhe und Gelassenheit zu begegnen. Vielleicht verstanden sich die beiden genau deshalb so gut. Sie ergänzten sich. Miguel nickte Mayari dankbar zu und nippte an seinem Kaffee. Morgens war er noch wortkarger als sonst.

»Ich habe vielleicht eine interessante Nachricht«, sagte Mayari. Ihr Vater blickte von seinem Smartphone auf und nahm sich ebenfalls einen Kaffee.

»Das trifft sich gut — alles, was die Newsportale ausspucken, ist schlimm. Nur Hiobsbotschaften.«

Das war schon seit einiger Zeit so. Die Weltgemeinschaft hatte das Meeressterben lange ignoriert — ähnlich wie vor Jahrzehnten den Klimawandel. Erst als Lieferengpässe entstanden, Fangquoten nicht eingehalten werden konnten und Investoren massive Verluste hinnehmen mussten, rückte das Problem in den Fokus von Wirtschaft und Politik. Die drastische Abnahme der Fischbestände wirkte sich auf so viele Bereiche aus, dass nur wenige Experten das gesamte Ausmaß eines vollständigen Zusammenbruchs der Fischereiindustrie absehen konnten. Und so meldeten nun täglich neue Industriezweige Probleme an: Die Herstellung von Medikamenten und Impfstoffen, von Tiernahrung, Dünger oder auch technischen Produkten wie Schmiermittel oder Transformatorenöl geriet ins Stocken, manchmal brach eine Produktion komplett zusammen. Fischteile wurden auch in der Chemie, in der Kosmetik und sogar in der Kleidungs- und Werkzeugproduktion verwendet. Ganz zu schweigen von der Unmenge an Fisch, die als Nahrungsmittel benötigt wurde. Es gab ganze Staaten, deren Bruttoinlandsprodukt maßgeblich vom Fischfang abhing und die zuerst auf diplomatischem Wege und schließlich mit Waffengewalt um Fischereirechte stritten. Der Preis für das Kilogramm Fisch war in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen.

Ihr Vater sah sie über den Rand seines Bechers erwartungsvoll an, während er an dem Kaffee nippte. »Anscheinend ist über Nacht ein Wal gestrandet, in der Namai Bay. Tariu, der Junge vom Central, hat es heute Morgen im Radio gehört.« Isko zog die Augenbrauen hoch, schaltete das Smartphone erneut ein und begann zu tippen. Mit Sicherheit war er schon dabei, die palauischen Websites nach der News abzusuchen.

»Ein ganzer Wal? Was denn für einer? Blauwal? Buckel? Beluga?«, fragte Ana.

»Das weiß ich nicht. Dazu hat Tariu nichts gesagt. Aber Namai Bay ist nicht weit. Vielleicht können wir kurz vorbeischauen, bevor wir mit dem Schiff hinausfahren …«

»Ein Pottwal!«, rief ihr Vater aus und zeigte ihr ein Foto auf seinem Smartphone. »Es ist ein Pottwal.«

»Dann sollten wir uns beeilen, meint ihr nicht? Es ist neun Uhr fünf und damit noch recht früh. Aber je länger wir warten, desto wahrscheinlicher, dass sich jemand anders daran zu schaffen macht«, sagte Fiann, die inzwischen zu ihnen gekommen war. Solange Mayari denken konnte, war ihre Mutter zielstrebig und pragmatisch gewesen. Sie war eine der Personen, die lieber handelte als redete. Während andere noch planten und überlegten, hatte sie schon die Ärmel hochgekrempelt und machte. Mayari hatte viel von ihr geerbt. Ihre Mutter blickte auffordernd in die Runde. »Wir können den Kaffee ja auch unterwegs trinken.« Ana und Miguel standen auf, beide mit dem Kaffee in der einen Hand und je einer angebissenen Zimtschnecke in der anderen. Mayari musste grinsen.

»Moment!«, protestierte ihr Vater und hob beschwichtigend die Hände. »Lasst uns wenigstens kurz überlegen, wie wir die Sache am besten angehen.« Ana und Miguel setzten sich zögernd wieder hin.

»Ein Pottwal ist kein Thunfisch, den kriegen wir nicht so einfach an Bord. Und was ist mit den Behörden? Ich habe keine Ahnung, ob man einen gestrandeten Wal einfach so … für die Forschung verwenden kann.«

»Vielleicht ist es besser, um Verzeihung zu bitten, als um Erlaubnis zu fragen.« Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. »Und was soll denn sonst mit dem Wal passieren? Meinst du, die hiesigen Restaurants erheben Anspruch darauf, ein Walsteak aus dem Kadaver schneiden zu dürfen?«

»Wahrscheinlich nicht«, gab ihr Vater zu. »Trotzdem können wir uns den Wal nicht einfach so unter den Nagel reißen. Ich werde bei der Polizei oder beim Rathaus anrufen, nur um sicherzugehen.«

Ana schluckte einen weiteren Bissen der Zimtschnecke hinunter und nickte. »Ich finde es trotzdem richtig, dass wir schon mal hinfahren. Vielleicht sollten wir uns sogar aufteilen. Eine Gruppe fährt mit dem Auto, und die anderen kommen mit dem Schiff nach.« Miguel saß nur stumm daneben und nippte weiter am Kaffee.

»Ich fahre mit dem Auto!«, rief Mayari sofort. Sie hatte den Führerschein erst vor ein paar Monaten gemacht und freute sich über jede Gelegenheit, am Steuer sitzen zu können. Sie mochte es, das Fahrzeug selbst zu bedienen. Gas geben, Spur halten, Blinker setzen. Während andere die Steuerung ihres Autos komplett der künstlichen Intelligenz überließen, um während der Fahrt zu arbeiten, zu lesen oder auf dem rPad zu spielen, zog Mayari es vor, selbst am Steuer zu sitzen.

Ihre Mutter lächelte. »Dann werde ich wohl besser mitfahren und die Geschwindigkeit kontrollieren …« Mayari verzog das Gesicht und streckte ihr die Zunge raus, musste dann aber grinsen. Ihre Mutter kramte in ihrem Rucksack, holte den Autoschlüssel hervor und warf ihn ihrer Tochter zu.

Ihr Vater gab sich geschlagen und stand auf. »In Ordnung! Wir brauchen wahrscheinlich eh das Werkzeug aus dem Wagen.« Ana und Miguel standen abermals auf, entschuldigten sich und liefen noch einmal hinauf in ihr Zimmer, um Ausrüstung und Unterlagen zu holen. Sie würden mit Isko zusammen auf dem Schiff in die Namai Bay fahren.

Mayari war froh, dass Tariu ihr von dem Wal erzählt hatte und sie damit etwas zur Expedition beitragen konnte. Es war so aufregend! Außerdem hatte sie noch nie einen Pottwal aus der Nähe gesehen. Auch wenn dieser leider tot war, musste allein die Größe des Tieres beeindruckend sein. Wie lang wurde ein Pottwal überhaupt? 14 Meter? War Moby-Dick nicht auch ein Pottwal gewesen? Sie konnte sich nicht daran erinnern, ob in dem Buch eine Längenangabe vorkam, aber Moby-Dick war sicherlich länger als 14 Meter. Sie schüttelte den Kopf. Natürlich war der berühmte weiße Wal außerdem eine erdachte Kreatur; von der Realität inspiriert, aber dennoch der Fantasie des Autors entsprungen.

»Komm schon! Worauf wartest du?«, fragte ihre Mutter. Sie stand an der Tür zur Lobby und sah Mayari ungeduldig an. Isko telefonierte anscheinend schon mit irgendeiner Palauer Behörde. Schnell nahm sich Mayari noch ein Red Velvet, winkte ihrem Vater kurz zu und lief dann ihrer Mutter hinterher.

Kapitel 2

Die Straßen auf Palau waren meistens leer, und somit war das Fahren ein Genuss für Mayari. Ganz anders als in Surigao. Dort kämpften elektrische Tuk Tuks und Fahrräder, Autos und Kleintransporter um die Vorherrschaft auf der Straße. Jeder glaubte, im Recht zu sein, und teilte das den anderen Verkehrsteilnehmern schreiend oder hupend mit. Im Vergleich dazu waren die schmalen, aber nur wenig befahrenen Betonstraßen Palaus Orte der Ruhe und Erholung. Mayari liebte es, die Küstenstraßen mit dem gemieteten weißen Zhongshun Pick-up entlangzufahren. Sie hatte ein Fenster geöffnet, ließ den linken Arm aus dem Auto hängen und die warme Luft durch ihre Finger gleiten.

Namai Bay lag im Norden des Archipels, auf der östlichen Seite der größten Insel Babeldaob, etwa 40 Kilometer von ihrem Hotel entfernt. Das integrierte Navigationssystem zeigte an, dass Mayari noch eine gute halbe Stunde Autofahrt vor sich hatte. Sie lächelte und beschleunigte auf einem geraden Straßenabschnitt. So etwas wie Blitzer gab es auf Palau nicht. Und der Wagen lag wirklich gut auf der Straße.