Die Jagd - Karl Eidem - E-Book
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Die Jagd E-Book

Karl Eidem

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Beschreibung

Eine Ermittlerin, die an ihre Grenzen geht … Der spannungsgeladene Kriminalroman »Die Jagd« von Karl Eidem & Jale Poljarevius als eBook bei dotbooks. Ein alter Fall, der sie wie in einem Albtraum gefangen hält … Endlich ist es so weit! Die Festnahme des Verbrechers, den sie schon so lange jagt, scheint für die Stockholmer Kommissarin Hannah Kaufman zum Greifen nah: Aslan Bassajew, ein Mann, der bereit ist, für seine Ziele über Leichen zu gehen – sogar, wenn es die von Kindern sind. Für Hannah ist er die Ausgeburt des Bösen, sie wird erst ruhen, wenn sie ihn vor Gericht gebracht hat. Doch der Zugriff des Sondereinsatzkommandos misslingt, Aslan kann fliehen – und in dem Chaos, das nun über sie hereinbricht, muss Hannah sich eine erschütternde Frage stellen: Wer in dem sich immer enger zusammenziehenden Netz aus sensationshungrigen Journalisten, Polizei und Angehörigen der Opfer treibt ein doppeltes Spiel? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der abgründige Thriller »Die Jagd« des skandinavischen Bestseller-Autorenduos Karl Eidem & Jale Poljarevius ist der ist der zweite Fall für die schwedische Ermittlerin Hannah Kaufman. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 382

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Über dieses Buch:

Ein alter Fall, der sie wie in einem Albtraum gefangen hält … Endlich ist es so weit! Die Festnahme des Verbrechers, den sie schon so lange jagt, scheint für die Stockholmer Kommissarin Hannah Kaufman zum Greifen nah: Aslan Bassajew, ein Mann, der bereit ist, für seine Ziele über Leichen zu gehen – sogar, wenn es die von Kindern sind. Für Hannah ist er die Ausgeburt des Bösen, sie wird erst ruhen, wenn sie ihn vor Gericht gebracht hat. Doch der Zugriff des Sondereinsatzkommandos misslingt, Aslan kann fliehen – und in dem Chaos, das nun über sie hereinbricht, muss Hannah sich eine erschütternde Frage stellen: Wer in dem sich immer enger zusammenziehenden Netz aus sensationshungrigen Journalisten, Polizei und Angehörigen der Opfer treibt ein doppeltes Spiel?

»Die Jagd« sowie die weiteren Bände um die Ermittlerin »Hannah Kaufman« erscheinen außerdem als Hörbücher bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über die Autoren:

Karl Eidem ist ein schwedischer Autor und Finanzanalyst.

Jale Poljarevius ist Polizeipräsident und ein Experte in Sachen organisierte Kriminalität sowie Bandenkriminalität. Er ist auch aufgrund seiner Expertenrolle in der schwedischen TV-Show »Efterlyst« bekannt.

Bei dotbooks erscheint ihre Krimi-Reihe um »Hannah Kaufman« im eBook: »Die Kinderklinik«»Die Jagd«»Die nie vergessen«

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eBook-Ausgabe Mai 2023

Die schwedische Originalausgabe erschien erstmals 2019 unter dem Originaltitel »Jakten«.

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2020 Jale Poljarevius, Karl Eidem

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2022 Jale Poljarevius, Karl Eidem und SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-646-7

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Karl Eidem & Jale Poljarevius

Die Jagd

Hannah Kaufman ermitteltBand 2

Aus dem Schwedischen von Alina Becker

dotbooks.

Desperado, why don’t you come to your senses?

You been out ridin’ fences for so long now

Oh, you’re a hard one

But I know that you got your reasons

These things that are pleasin’ you

Can hurt you somehow

»Desperado«, The Eagles

Einleitung

Es war Hochsommer, und über Stockholm strahlte die Sonne. Die Bäume bewegten sich nur träge in der warmen, kaum spürbaren Brise, der es nicht einmal gelang, das Laub zum Rascheln zu bringen. Auch die Vögel gaben keinen Laut von sich. Das musste die Ruhe vor dem Sturm sein – dieser seltsam kurze, unwirkliche Moment, bevor das Chaos losbrach. Und die Natur bereitete sich gerade darauf vor.

Hannah Kaufman, Kommissarin bei der Stockholmer Polizei, stand auf der Eisenbahnbrücke und blickte durch ihr Fernglas auf die Kleingartenkolonie hinunter. Ein militärgrün gestrichenes Häuschen schob sich in ihr Blickfeld. Der grüne Farbton hat etwas von Erbrochenem, dachte Hannah. Eine hübsche Holztreppe führte hinauf zur roten Tür, ebenfalls rot bemalt waren die Fensterumrandungen. Zu Hannahs Rechten, auf der anderen Seite der Bahngleise, ragten die Hochhäuser von Tanto auf. Hinter den gewölbten Gebäuden breitete sich das dunkelblaue Wasser des Årstaviken aus. Würde es ein Sommertag werden, an den sie gern zurückdachte oder eher nicht?

Die Ruhe in der Kleingartenkolonie war trügerisch. Wenngleich nichts darauf hindeutete, hatten die Nationalen Einsatzkräften die militärgrüne Hütte umstellt – mit ihrem Einsatz hatten sie schon früh am Morgen diskret begonnen. Aufnahmen von einer Wärmebildkamera der Polizei hatten bestätigt, dass in der Hütte etwas pulsierte – jemand musste sich darin befinden. Die Razzia konnte allerdings erst starten, wenn sich alle Mitarbeiter auf ihren Posten befanden und alle Fluchtwege überwacht wurden. Rund um die Kolonie waren unauffällige Absperrungen errichtet worden.

Hinter Hannah donnerte ein Zug über die Eisenbahnbrücke. Die Besitzer der umliegenden Gartenhäuschen waren auf unterschiedliche Weise gewarnt und zum Verlassen ihrer Grundstücke aufgefordert worden. Die Erstürmung stand kurz bevor, aber die meisten Bewohner von Södermalm hatten nichts davon mitbekommen und genossen weiter die wohlige Sommerwärme, so gut ihnen dies gelang. Tage wie dieser heutige musste man in Schweden mit dessen langen, kalten und dunklen Herbst- und Wintermonaten voll und ganz auskosten.

Es war etwa elf Uhr vormittags, und die Einsatzkräfte hatten gerade den Countdown für ihren Zugriff verkündet. Dieses Mal durfte Hannah nicht aktiv an der Operation teilnehmen. Sie war stinksauer deswegen. Natürlich hatte sie darum gebeten, war aber von der Einsatzleitung abgewiesen worden und stand nun mit ihrem Fernglas auf der Årstabron-Brücke, etwa dreihundert Meter von der Kleingartenhütte entfernt, in der sich wahrscheinlich der Terrorist Aslan Bassajew versteckte. Hannah trug ihr Haar offen, und es lag wie eine schwere Decke auf ihren Schultern. Die Fahndung der letzten Tage hatte den Aufenthaltsort des Terroristen nahezu bestätigt – so gut wie. Jemand, der ihm äußerlich glich, hielt sich in der Hütte auf. Neben Hannah stand ein Drohnenflieger, ein sogenannter UAS-Pilot. Er hatte diese hohe Position ausgewählt, um besser Sichtkontakt zu seinem Flugroboter halten und ihn zum Ziel lenken zu können. Die Aufnahmen der Drohne wurden dem UAS-Piloten auf einen kleinen Monitor überspielt.

»Schauen Sie!«, sagte er zu Hannah und hielt stolz den Bildschirm in die Höhe, auf dem die Gartenhütte aus der Vogelperspektive zu sehen war. Sogar das Dach war grün. Die Drohne flog vollkommen lautlos, schwebte wie ein nach seiner Beute ausspähender Adler in der Luft. Hannah verspürte ein wachsendes Gefühl der Übelkeit. Ihr Magen zog sich zusammen. Ängstlich schaute sie sich um. Um den Terroristen nicht misstrauisch zu machen, hatten sie einige zivile Aktivitäten im Umkreis zugelassen. Ab und zu schlenderte ein Hundebesitzer in angemessenem Abstand vorbei. Zwei als Jogger verkleidete Polizisten drehten ihre Runden und nickten unauffällig zu Hannah hinauf. Sie schaltete ihr Funkgerät ein und konnte augenblicklich die Kommunikation zwischen den Kräften vor Ort und den Einsatzleitern mitverfolgen. Der Zugriff rückte immer näher. Bald war die Ruhe vor dem Sturm vorbei, das spürte Hannah ganz deutlich. Die Sensoren hatten Bewegungen im Inneren der Hütte aufgezeichnet. Jetzt durfte nichts mehr schiefgehen. Der Terrorist durfte nicht noch einmal entkommen. Das wäre eine Schande.

»T minus sechs. Haben alle Beteiligten ihre Positionen eingenommen? Kommen.«

Noch sechs Minuten.

Dreihundertsechzig winzige Sekunden. Hannahs Herz schlug immer schneller.

»Alle auf Position. Wir haben Bildmaterial von der Drohne über dem Gebäude. Kommen.«

»Ist Lasse-Maja vor Ort? Kommen.«

»Das wissen wir nicht, aber vermutlich schon. Die Wärmebildkamera meldet gerade keine Aktivitäten. Vielleicht schläft er noch. Das tut er tagsüber häufiger. Kommen.«

Der Codename des Terroristen für den Funkverkehr lautete Lasse-Maja. Besagter Lasse-Maja war ein schwedischer Trickdieb gewesen, der sich als Frau verkleidet haben soll, um nicht entdeckt zu werden. In dieser Hinsicht gab es eine Parallele zu Aslans blondem Haar, mit dem er unbemerkt hatte entkommen können. Die intensive Beobachtung der letzten Tage hatte gezeigt, dass der Terrorist gegen die Uhr lebte. Tagsüber schlief er und nachts war er wach und verschwand plötzlich vom Radar. Seine Lebensmittel kaufte er in den wenigen Geschäften in der Hornsgatan unten in Hornstull. Er unternahm lange nächtliche Spaziergänge durch die leeren Straßen, und niemand wusste genau, wie lange er diesem Dasein schon frönte. Allerdings konnte auch niemand mit Sicherheit behaupten, dass es sich wirklich um Aslan Bassajew handelte, denn junge, mittellose Männer aus dem Ausland waren dieser Tage keine Mangelware in Stockholm. Die Anweisungen der Polizei waren klar: Vorsicht walten lassen und keinen Skandal lostreten. Lieber einen Tag länger auskundschaften als einen Tag zu wenig, lautete die Devise.

Auf dem letzten brauchbaren Bild einer Überwachungskamera des Kinderkrankenhauses war zu sehen, wie der Mann, der sich Aslan Bassajew nannte, etwa eine Woche nach dem Anschlag das Gebäude verlassen hatte. Er musste also die abgebrühte Dreistigkeit besessen haben, sich die ganze Zeit im Krankenhaus versteckt und den Sturm schlicht und ergreifend ausgesessen zu haben. Und dann war er schnurstracks hinausmarschiert. In seinem Versteck hatte er sich offenbar die Haare gebleicht, denn einige Zeit später stieß die Polizei in dem Belüftungsraum unterm Dach des Krankenhauses auf eine zurückgelassene Flasche Wasserstoffperoxid. Hatte er sich dort die ganze Zeit in einem Hohlraum versteckt?

»T minus vier«, knisterte es aus dem Funkgerät. »Wiederhole, T minus vier. Ende.«

Hannah hatte das Gefühl, als wäre seit dem letzten Funkspruch eine halbe Stunde vergangen, nicht nur zwei Minuten. Die Zeit verrann so langsam wie die Schweißperlen auf ihrem Rücken.

Alle anderen Teammitglieder bestätigten kurz, sich auf ihren Posten zu befinden und bereit zum Zugriff zu sein. Wenn es sich wirklich um Aslan handelte, warum hielt er sich so nah am Tatort versteckt? Das war doch krank. Warum hatte er das Kinderkrankenhaus des Universitätsklinikums nicht so weit wie möglich hinter sich gelassen? Auch das konnte niemand sagen. Sie hatten seinen Bruder Hassan Bakirew wieder und wieder verhört, aber der weigerte sich, ihnen Aslans Aufenthaltsort zu verraten. Angeblich hatte er nichts mit den subversiven Aktivitäten seines Bruders zu tun. Hannah glaubte ihm zwar nicht, aber was brachte das schon? Wenn Hassan nicht reden wollte, dann musste er das auch nicht tun. Sie hatten kein wirksames Druckmittel gegen ihn in der Hand.

»T minus zwei.«

Plötzlich hatte Hannah das Gefühl, als ob sich ihr Blickfeld fokussierte. Das Einzige, was sie sah, war die Kleingartenhütte. Die Sekunden zerbröselten, wurden beinahe sichtbar, wie kleine Brocken aus Zeit. Der UAS-Pilot konzentrierte sich und runzelte die Stirn. Falls der Terrorist zu fliehen versuchen würde, war es seine Aufgabe, sich mit der Drohne an dessen Fersen zu heften ‒ mit diesem Raubvogel aus Stahl. Hannahs Gedanken hörten auf, wie Schmetterlinge umherzuflattern. Sie konnte den Atem ihres Kollegen hören und seinen Puls spüren. Der Kollege erinnerte sie an eine Sphinx.

Die Explosion ließ die ganze Gegend erzittern. Ein schwarz gekleidetes Mitglied der Einsatztruppe lief auf die Hütte zu und riss an der Tür, die sich sofort öffnete. Warum war sie nicht verschlossen? Hannah blinzelte und versuchte, einen besseren Blick durch das Fernglas zu erhaschen. Zwei Rauchgranaten wurden zur Ablenkung durch die offene Hüttentür geworfen, während zwei weitere Einsatzkräfte auftauchten. Hannah beobachtete, wie nach und nach mehr Männer in Schwarz das Haus umstellten. Der Rauch der Nebelkerzen quoll durch die Türöffnung und verdeckte die Sicht aufs Innere der Hütte. Jemand schrie laut auf, und es fielen ein paar Schüsse. Darauf folgten noch weitere Schüsse. Und dann Stille. Hatten sie ihn kampfunfähig gemacht? Weitere Einsatzkräfte stürmten auf die Hütte zu und verschwanden im Rauch. Hannah hielt den Atem an und glaubte plötzlich, eine Katze aus dem Haus huschen und verschwinden zu sehen. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie hielt den Atem an.

Dann knisterte es wieder aus dem Funkgerät.

»Negativ«, sagte jemand. »Lasse-Maja ist ausgeflogen. Das Haus ist leer. Wir haben ihn verpasst. Kommen.«

Hannah kam sich vor, als hätte ihr jemand einen Faustschlag in die Magengrube verpasst. Das war ihre Chance gewesen, aber sie hatten zu lange gewartet. Die Schande war nicht länger ein Schreckgespenst, sondern war Wirklichkeit geworden.

»Scheiße!«, fluchte sie lautstark. »Verdammte Scheiße! Ist der Mistkerl uns schon wieder durch die Lappen gegangen. Warum habt ihr auch so lange mit dem Zugriff gewartet?!«

Der AUS-Pilot reagierte nicht, aber auch er wirkte enttäuscht und frustriert.

»Wir wissen ja nicht einmal mit Sicherheit, dass er das war«, sagte er schließlich entschuldigend. »Schauen wir mal, was die Zukunft bringt.«

Hannah fand, dass er sich wie ein Diplomat anhörte.

»Die Zukunft?!«, schnaubte sie. »So etwas gibt es nicht.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Drehen Sie noch eine Runde mit der Drohne!«, ordnete Hannah an. »Es kann ja durchaus sein, dass er noch in der Nähe ist. Versuchen Sie, ihn zu finden!«

Der UAS-Pilot war Hannah Kaufman eigentlich in keiner Weise verpflichtet, denn er war den Nationalen Einsatzkräften unterstellt. Doch irgendetwas in ihrem Ton veranlasste ihn dazu, den Befehl auszuführen. Die Drohne stieg in die Luft, und die Hüttendächer auf dem Bildschirm wurden immer kleiner. Währenddessen quoll weiterhin Rauch aus dem kleinen grünen Holzhaus.

»Er wird uns beobachten«, erklärte Hannah. »So krank ist er allemal. Können Sie etwas sehen?«

»Pst! Ich versuche, mich zu konzentrieren. Schauen Sie selbst!«

Er rückte näher an sie heran, damit sie ebenfalls auf den Bildschirm schauen konnte. Die Drohne hatte nun eine Flughöhe von etwa fünfzig Metern erreicht, und es wurde immer schwieriger zu erkennen, was am Boden geschah. Außerhalb des Geländes hatte sich bereits eine Gruppe Schaulustiger versammelt. Die Vertreter der Abendzeitungen würden auch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Im Funkgespräch wurde erörtert, wie es mit der Operation weitergehen sollte. Die Drohne surrte weiter hinauf, und die Kamera fing das Wasser des Årstaviken und die Dächer der hohen Tanto-Häuser ein.

»Was ist das?«, fragte Hannah plötzlich.

Ihr Kollege zoomte näher heran. »Was meinen Sie?«

Hannah schaltete sich selbst ins Funkgespräch ein.

»Da liegt jemand auf einem Dach und beobachtet den Zugriff durch ein Fernglas. Gehört der zu uns? Kommen.«

»Welches Dach? Kommen«, antwortete der Einsatzleiter.

»Ein Dach der Tanto-Gebäude. Kommen.«

Hannah und der Drohnenpilot wechselten einen Blick. Johan Swärd, der Leiter der Einsatzkräfte, hätte den Funkspruch ebenfalls gehört und antwortete sofort: »Können Sie uns die Person auf dem Dach genauer beschreiben? Kommen.«

Die Drohne verlor an Höhe, damit alle, die Zugang zu den Bildern hatten, die Person erkennen konnten, die auf dem Dach lag und die ganze Aktion verfolgte.

»Ist die betreffende Person blond? Kommen.«

»Warten Sie … Ich glaube, er hat eine Glatze. Und er hat Lunte gerochen. Hat mich gesehen. Er steht jetzt auf. Kommen.«

»Das ist er«, sagte Hannah mit verkniffener Miene. »Verdammt noch mal, das ist Aslan. Er beobachtet uns. Genau in diesem Moment. Verdammt.« Sie vergaß ganz, ihren Beitrag mit Kommen zu beenden.

»Was ist los? Kommen!«, rief Johan Swärd.

»Sie ist hinter ihm her«, antwortete der Drohnenpilot. »Ist schon losgerannt. Over and out.«

Ohne auch nur eine Sekunde Zeit zu verlieren, stürmte Hannah die Brücke hinunter. Sie bog scharf nach links in den Katarina Taikons Gång ein, lief unter der Brücke hindurch, beschleunigte ihre Schritte und hielt auf das nächstgelegene Gebäude mit der architektonisch interessanten Wölbung zu. Sie hatte nicht vor, ihn noch einmal davonkommen zu lassen, und versuchte, beim Laufen einen klaren Gedanken zu fassen. Wahrscheinlich würde er den Aufzug oder die Treppe hinunter ins Erdgeschoss nehmen und dann versuchen, über die dem Wasser zugewandte Rückseite des Gebäudes zu entkommen. Er würde schließlich nicht den Polizisten direkt in die Arme laufen wollen, sondern sich unter die Leute am Ufer mischen. Er mochte zwar gestört sein, aber dumm war er keineswegs.

Am Gebäude angekommen, schaute sie sich die Hausnummern an. Nirgends regte sich etwas. Hannah rüttelte an der Tür mit der Nummer 67. Sie war verschlossen.

»Ich muss außen herum«, schnaufte sie und sprintete erneut los.

Kurz darauf sah sie den blauen Årstaviken direkt vor sich. Zwischen ihr und dem Wasser lagen nur ein kleiner Spielplatz und ein Parkplatz. Eine Frau mit Kinderwagen hing am Handy, ein Mann parkte sein Auto, stieg aus und schloss sorgfältig ab. Wo steckst du? Ein Jogger machte ein paar Stretchingübungen neben einem Laternenpfahl. Ein älteres Ehepaar mit Papiertüten in den Händen schlenderte auf dem Weg zu den Glascontainern über den Rasen. Wo zum Teufel steckst du? Hannah versuchte, alle Eindrücke zu verarbeiten, während es in ihren Schläfen zu pochen begann.

»Sollen wir Verstärkung anfordern? Kommen«, hörte sie es aus ihrem Kopfhörer knistern. »Hannah, wo sind Sie? Kommen!«

»Der Verdächtige befindet sich in der Nähe der Tanto-Häuser. Ende.«

Hannah hatte keine Lust, sich mit ihren Teamkollegen aufzuhalten, denn die hatten ihre Chance gehabt und verpasst. Jetzt mussten sie selbst entscheiden, was zu tun war. Sie ließ den Blick wieder durch die Umgebung schweifen. Ob der Typ noch im Haus war? Allmählich beruhigte sich ihre Atmung nach dem kurzen Sprint. Sie konnte nichts Verdächtiges erkennen, aber vielleicht sollte sie die Passanten befragen? Möglicherweise hatten die etwas gesehen. Eigentlich musste er hier vorbeigelaufen sein – es sei denn, er hielt sich noch im Haus versteckt. Hannah schaute sich noch einmal um, entdeckte den Jogger und rief in seine Richtung: »Hallo, Sie da!«

Er reagierte nicht sofort. Ob er Kopfhörer trug und Musik hörte?

»Hallo!«, wiederholte Hannah und lief auf ihn zu. »Polizei!«

In diesem Moment ließ er den Laternenpfahl los und setzte sich in Bewegung, allerdings weg von ihr, in Richtung Krankenhaus, Eriksdalsschwimmbad und dem Stadtviertel Skanstull.

»Halt!«, rief Hannah, als sie sah, dass der Mann immer schneller lief. »Polizei!«

Und dann fiel der Groschen. Das war er. Es gefiel ihm anscheinend, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Sie tastete nach der Dienstwaffe und versuchte, die Situation einzuschätzen. Wenn sie freie Schussbahn hatte, würde sie nicht lange fackeln und ihn erschießen, aber er lief zu schnell fort.

Hannah setzte sich in Gang. Sie musste ihn schnappen, jetzt oder nie. Hoffentlich hatten die Einsatzkräfte Verstärkung angefordert und versuchten, den Terroristen abzufangen. Außerdem hatten sie ja noch die Drohne. Der Abstand zwischen ihnen betrug etwa zweihundert Meter, wurde aber immer größer. Er lief schnell, mit federnden Schritten, und es sah nicht so aus, als könnte sie ihn einholen. Im Gegenteil. Der Fußweg schlängelte sich am Wasser entlang und war voller Menschen. Manchmal stieß Hannah versehentlich jemanden an und verlor an Tempo.

»Polizei! Aus dem Weg!«, rief sie in regelmäßigen Abständen.

Es ging immer weiter am Wasser entlang. Von Zeit zu Zeit erhaschte Hannah einen Blick auf seine mit lockeren Schritten fliehende Gestalt, wenn er sich aus einem Pulk Spaziergänger löste, bevor er hinter der nächsten Kurve verschwand. Hannah hoffte auf Verstärkung, aber von der Drohne war weit und breit nichts zu sehen. Wie schwer kann es bitte schön sein? Hannah wurde immer langsamer. Ihr Körper begann zu schmerzen und sie spürte, wie es ihr sauer in der Kehle aufstieg. Den Sommer über war sie zu deprimiert und energielos gewesen, um trainieren zu können. Das rächte sich nun.

Abgesehen davon, dass sie immer mehr an Geschwindigkeit verlor, musste Hannah ständig Menschen ausweichen und stehen bleiben, um nicht mit Kindern oder Kinderwagen zusammenzustoßen. Oben auf dem Hügel zu ihrer Linken erhob sich das Krankenhaus. Hannah hatte ihr Ziel aus den Augen verloren und wusste, dass er ihr entwischen würde, falls er nicht zufällig ins Stolpern kam oder von einem hilfsbereiten Passanten aufgehalten wurde. Und wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass dies eintreten würde?

Die Menschenmenge wurde immer dichter, und in wenigen Minuten würden sie das Schwimmbad erreicht haben. Dort konnte er leicht in der Masse der badebegeisterten Stockholmer untertauchen. Hannah spürte, wie ihr schwerer Atem in ihrem Hinterkopf pochte. Scheiße, dachte sie. Verdammte Scheiße. Sie lief weiter, aber in einem gemäßigten Tempo. Der Sprint war vorbei. Er hatte gewonnen. Schon wieder.

Noch bevor auch nur eine der hervorragend ausgebildeten Einsatzkräfte zu ihr aufgeschlossen hatte, bevor sie eine große Suchaktion gestartet hatten und die Drohne über dem Außenbereich des Eriksdalsbadet kreiste, wurde Hannah etwas klar. Sie hatte ein Gegenmittel gegen die Depression gefunden, welche sie den ganzen Sommer über nicht losgelassen und selbst den strahlendsten Sonnenschein zu verdunkeln vermocht hatte. Auch wenn sie ihn verloren hatte, war etwas anderes wieder da: der Funke. Die Jagd war ihr Gegengift. Das Verlangen, ihn zu jagen, würde sie am Leben erhalten und ihr helfen, den Kopf nicht in den Sand zu stecken. Hannah lächelte. Sie würde ihn jagen – wenn es sein musste, bis ans Ende der Welt.

Und dort, am Ende der Welt, würde sie ihn vernichten.

Kapitel 1

Am Tag vor der dramatischen Jagd auf Aslan Bassajew am Ufer des Årstaviken hatte Hannah Kaufman in einem Sessel auf dem Polizeirevier gesessen, vor sich hingestarrt und sich innerlich leer gefühlt.

»Und wie ging es Ihnen dabei?«, fragte die Dame ihr gegenüber. »Können Sie das beschreiben?«

Hannah sah sich im Raum um. Er war so neutral und farblos gestaltet, dass es schon fast wieder ins Auge stach. Als hätten sie sich wirklich Mühe gegeben, eine möglichst nichtssagende, uninspirierende Umgebung zu schaffen. Die leicht übergewichtige Frau in der wallenden Kleidung schaute Hannah mitfühlend an. Aus ihrem Blick sprach die Hoffnung, bald eine Antwort zu bekommen. Anstrengende Sekunden verstrichen.

»Traurig, natürlich«, antwortete Hannah schließlich emotionslos. »Und leer. Deprimiert. Hatte die Nase voll von dem ganzen Scheiß.«

Die Dame nickte verständnisvoll. »Sie haben ein Kind sterben gesehen und sich deshalb schlecht gefühlt. Was meinen Sie, wie das mit der Tatsache zusammenhängt, dass Sie keine eigenen Kinder haben? Macht das die Dinge erträglicher oder schlimmer?«

Wieder empfand Hannah, wie beunruhigend anonym der Raum gestaltet war. Ich habe keine Ahnung, verdammt noch mal!, wollte sie schreien. Was ist denn das für eine beschissene Frage?

»Ich weiß nicht«, sagte sie stattdessen. Sie war zu wohlerzogen, um eine Szene zu machen. Und welchen Sinn hätte es schon? »Woher soll man so etwas wissen?«, fragte sie zurück. »Man hat eben nur ein Leben und versucht, es so gut wie möglich zu leben.«

Ihr Mund fühlte sich trocken an.

»Ich dachte mir, Sie hätten vielleicht selbst ein paar Gedanken dazu, Hannah. Schauen Sie, ich habe nicht vor, Sie in irgendeine Richtung zu drängen. Es ist wichtig, dass wir …, dass wir Ihre Gefühle gemeinsam entschlüsseln. Werden Sie von Ihrem Mann unterstützt?«

Von welchem Mann?,wollte Hannah sagen, biss sich aber auf die Zunge und warf einen Blick auf die Uhr. Ihr blieb noch eine halbe Stunde von ihrer Therapiesitzung – eine halbe Ewigkeit, und die Luft im Raum war jetzt schon zum Schneiden dick. Hannah wollte nur noch raus.

»Ich bin seit dem Attentat nicht mehr ich selbst«, sagte sie schließlich. Das war eine blutleere, beinahe banale Aussage, aber sie fühlte sich gezwungen, irgendetwas von sich zu geben. »Es kommt mir so vor, als gäbe es kein Zurück zu der Person, die ich vorher war. Er hat etwas in mir zerstört.«

»Er?«

»Er, der Terroristenanführer. Aslan Bassajew.«

Der Raum nahm ihr die Luft zum Atmen.

»Haben Sie das Gefühl, dass der Krieg schon vorbei ist, Hannah?«

Sie zuckte zusammen. »Wie meinen Sie das?« Das war der erste wirklich prägnante Satz, den sie von ihrer Therapeutin zu hören bekam ‒ der erste Satz, der sie zusammenzucken ließ.

»Ich frage mich, ob der Krieg für Sie schon vorbei ist.«

»Von welchem Krieg reden Sie?«

»Vom Krieg gegen die Terroristen, den Sie ja tatsächlich gewonnen haben.«

»Wie meinen Sie das? Der ist natürlich vorbei. Das Krankenhaus ist befreit.« War die Psychotante vollkommen meschugge?

Die Therapeutin schaute Hannah direkt an. »Ich erkläre es Ihnen. Manche sagen, beim posttraumatischen Belastungssyndrom ginge es darum, nicht in der Lage zu sein, im Leben weiterzukommen und das Erlebte auf funktionale Weise loszulassen. Es lebt in Ihnen weiter und richtet Schaden an, wie eine Art Virus, der sich in Ihrem Gefühlsleben einnistet. In der Psyche.«

»Was hat das mit Krieg zu tun, wenn ich fragen darf?«

»Entschuldigung, das ist nur ein Ausdruck, eine Art Metapher. Ein Bild. Als die Vietnamveteranen in die Vereinigten Staaten zurückkehrten, konnten sie nicht einfach in das Leben aus der Zeit vor ihrer Abreise zurückkehren. Stattdessen zog es sie hinaus in den Wald. Irgendwann merkten ihre Therapeuten, dass sie die Soldaten mit einem einzigen Satz erreichen konnten.«

Hannah starrte sie an. »Mit welchem Satz?«

»Der Krieg ist vorbei. The war is over. Das war die einzige Botschaft, die wirklich bei den Veteranen ankam, denn sie befanden sich immer noch im Krieg. Sie konnten nicht einfach wie zuvor weitermachen.«

»Wie kommt man denn über etwas so Schreckliches hinweg?«

»Indem Sie mit mir reden, zum Beispiel«, schlug die Dame lächelnd vor. Hannah lächelte zurück, bezweifelte aber, dass das helfen würde. Da bräuchte sie wohl stärkere Medikamente. Höllensommer nannte Hannah diese Jahreszeit, wenn sie darüber nachdachte.

Die Therapiesitzung war überstanden, und Hannah verließ das Polizeirevier mit schweren Schritten. Über dem Kronobergspark schien die Sonne. Im April hatte sie die Befreiung des Kinderkrankenhauses in der Stockholmer Innenstadt koordiniert. Dann war der Mai gekommen und dann der Juni, aber die Sonne weigerte sich hartnäckig, den Nebel zu durchdringen, in dem Hannah sich bewegte – als lebte sie in einem Schwarz-Weiß-Film.

Der Vorfall an der Kinderklinik hatte ihr zwar Auszeichnungen und schöne Worte von hohen Tieren eingebracht, aber keinen Seelenfrieden. Im Gegenteil. Die Bilder dieses Tages hingen ihr noch immer nach, vor allem die Leiche von Uno Jacobsson, die sie, eingewickelt in ein weißes Laken, den Hügel vor dem Krankenhaus hinuntergetragen hatte. Die Erinnerung quälte sie, sowohl im Schlaf als auch im Wachzustand. Sie verfolgte sie Tag und Nacht, sodass sich Traum und Wirklichkeit vermischten. Die Staatsorgane hatten ihre Arbeit gemacht, das System hatte funktioniert, aber die Menschen waren durch die Erlebnisse geschädigt worden. Sie selbst auch. Doch es stimmte, es war ihnen gelungen, das Gebäude vom Wahnsinn zu befreien und den Gewalttätern ihren gerechten Lohn zukommen zu lassen.

Allen, bis auf einen. Bis auf den, der überlebt hatte und verschwunden war.

Die ganze Therapie kam Hannah vor wie ein einziges Theater, ein Rollenspiel. Und leider beschränkte sich dieses Gefühl nicht auf die Therapiestunden. Ihr ganzes Leben fühlte sich wie ein Schauspiel an. Wenn sie mit ihrem Mann Erik schlief, dann hastig und aus Pflichtbewusstsein. Wie es verheiratete Paare eben machten, vor allem, wenn sie schwanger werden wollten. Was allerdings auch nicht passieren wollte. Ihr Körper weigerte sich hartnäckig, einem kleinen Embryo Platz einzuräumen, ganz so, als sei irgendetwas in ihrer Beziehung nicht damit vereinbar. Erik und sie sprachen nie darüber. Was gäbe es auch schon zu sagen? Die ganze Sache hatte sich zu einer anstrengenden Aufgabe entwickelt, einem dunklen Tunnel, den sie gemeinsam zu durchqueren versuchten.

Also, was konnte sie tun, um diesen posttraumatischen Zustand zu durchbrechen? Wo war der Ausgang aus diesem düsteren Theaterspiel, das sie langsam zu ersticken drohte? Würde sie den Schritt wagen und sich von Erik scheiden lassen? Oder sich erst einmal von ihm trennen? Hannah hatte schon ein paar Mal darüber nachgedacht, aber die Angst, ihn zu verletzen oder sogar kaputtzumachen, war zu groß. Was würde aus ihm werden, wenn sie aus seinem Leben verschwand? Sie war eindeutig die Stärkere in ihrer Beziehung, er hatte immer zu ihr aufgeschaut – zu der toughen, schönen, exotisch wirkenden Polizistin. Konnte sie Erik das wirklich antun?

Sie verschob die Entscheidung auf irgendeinen ungewissen Zeitpunkt in der Zukunft, aber ihr Leben in dem kleinen grünen Reihenhaus in Nacka fühlte sich, gelinde gesagt, in vielerlei Hinsicht unbefriedigend an. Obwohl es immer mehr unbeantwortete Fragen gab, wurde die Stille am Esstisch von Tag zu Tag schmerzhafter. Manchmal sprach Erik ihre hormonellen Probleme an, aber Hannah wollte nicht darüber diskutieren. Das verkrafte sie nicht, sagte sie immer, was er als große Ironie empfand, denn Kraftlosigkeit war immerhin das Leitsymptom ihrer Krankheit. Der Sommer war wirklich unerträglich, dachte Hannah auf dem Heimweg von ihrer Therapiesitzung.

Außerdem hatte Hannahs Vater Avner Kaufman, der im April unerwartet bei ihnen eingezogen war, eines Tages im Juli ohne Vorwarnung verkündet, wieder auszuziehen. Die Arbeit rief angeblich, und er hätte Aufträge in aller Welt auszuführen – wichtige Kunden, Männer mit Macht, Jobs, die erledigt werden müssten. Was genau er tat, hatte er nie wirklich erklärt. Erik hatte erleichtert gewirkt, aber Hannah fiel es durchaus schwer, sich mit dem Gedanken anzufreunden. In den paar Monaten, die er bei ihnen gewohnt hatte, waren sie einander nähergekommen, und sie wusste, dass sie ihren Vater tatsächlich vermissen würde. Seine plötzliche Abreise hatte sie verletzt.

Abgesehen davon, dass er vermocht hatte, sie psychisch aufzubauen, hatte er auch für ihre physische Sicherheit garantiert, da Aslan Bassajew sich immer noch auf freiem Fuß befand. Wenn Hannah allein in der Stadt unterwegs war, warf sie immer wieder nervöse Blicke über die Schulter. Falls Aslan ein rachsüchtiger Spinner war, würde er sich eines Tages an ihre Fersen heften, aber solange Avner tagsüber im Haus herumlief, konnte sie wenigstens sicher sein, dass ihr der Terrorist nicht in ihrem Schlafzimmer auflauern würde. Avner hatte früher für den Mossad gearbeitet, und Hannah war sich sicher, dass ihr Vater sie beschützen würde, solange er bei ihr und Erik wohnte. Wenn Avner ging, würde es demzufolge vorbei sein mit diesem Gefühl der Sicherheit. Und es blieb die Frage, wie sie aus ihrer psychischen Sackgasse herausfinden sollte. Diese Frage hatte sie sich immer und immer wieder gestellt, bis sie an jenem Morgen Anfang August unerwartet die Antwort darauf erhalten hatte: Ihr Telefon klingelte, und die Polizei teilte ihr mit, dass eine Razzia gegen den Terroristen aus dem Kinderkrankenhaus bevorstand.

Kapitel 2

Hannah wurde von dem Häckselgeräusch eines Rasenmähers geweckt. Sie blieb noch eine Weile im Bett liegen und ließ den Tag langsam auf sich zukommen. Mittlerweile war sie mit der weißen Zimmerdecke und deren kaum erkennbarer Musterung bestens vertraut. Wahrscheinlich war es Avner, der dort draußen dem Gras zu Leibe rückte, energischer Frühaufsteher, der er war, wahrscheinlich schon mit vier Tassen starkem Kaffee und zehn Zigaretten intus.

Die andere Seite des Bettes war leer. Erik war vermutlich schon bei der Arbeit und prüfte die Jahresbilanzen seiner Klienten. Aber Eriks Matratze war nicht das einzig Leere im Raum. Hannah selbst fühlte sich wie ausgehöhlt. Leer, müde und deprimiert. Nach Aslan wurde gefahndet, vielleicht würde er ohne ihr Zutun verhaftet, aber dennoch befand er sich auf freiem Fuß. Dieser verdammte Kindermörder. Während die Sonne langsam den Himmel erklomm, veränderte sich der Anblick der Zimmerdecke.

Erst, als der Rasenmäher verstummte, bemerkte Hannah, dass ihr Telefon klingelte. Es war ihr Kollege Johan »Latschen« Eriksson, der die Fahndung nach Aslan Bassajew leitete und zeitweise ihr Vorgesetzer war.

Sie zögerte einen Moment, als könnte ihr zeitweiliger Vorgesetzter durchs Telefon sehen, dass sie nicht nur nackt, sondern auch niedergeschlagen war. Dann fasste sie sich ein Herz und nahm den Anruf entgegen.

»Latschen?« Johan Eriksson hatte seinen Spitznamen seiner Vergangenheit als Mittelstreckenläufer zu verdanken.

»Hannah«, sagte Johan. »Ich glaube, wir wissen, wo er ist. Also Aslan. Kommst du vorbei?«

Sie setzte sich wie von der Tarantel gestochen auf. Zum ersten Mal seit Langem hatte sie das Gefühl, dass ihre Schritte sie in die richtige Richtung führten. Fünf Minuten später saß sie im Auto und fuhr etwas zu schnell von Nacka in Richtung Innenstadt, während die Gedanken in ihrem Kopf rasten. Latschen hatte ihr am Telefon nicht mehr erzählen wollen, aber wenn sie sich beeilte, konnte er sie kurz auf den neuesten Stand bringen, bevor die Polizei zuschlug.

»Ich will bei der Razzia dabei sein«, sagte sie, kaum, dass sie sein Büro betreten hatte. »Ohne mich geht niemand da rein. Auf gar keinen Fall.«

»Ich schau mal, was sich machen lässt«, antwortete er, ohne irgendetwas zu versprechen. »Das hast du nicht zu entscheiden, Hannah. Und jetzt hör mir zu, anstatt gleich mit Forderungen ins Haus zu fallen!«

Der Fall lag ihr persönlich am Herzen. Sehr sogar. Während dieses irrsinnigen Geiseldramas hatte sich eine bizarre Beziehung zwischen ihr und Aslan entwickelt. Der andere war ständig präsent, und sie führten eine Art erbitterten Kampf. Anpassung an die Gesellschaft gegen Extremismus, eine Ideologie gegen die andere. Aber auch Mensch gegen Mensch. Hannah und Aslan verkörperten diesen Kampf. Sie hasste ihn für alles, was er den Kindern, deren Eltern und dem Krankenhauspersonal angetan hatte und sie hatte Rache geschworen. Ihre Gedanken rauschten wie ein Wasserfall, chaotisch und doch mit einer klaren Richtung und einem deutlichen Ziel. Die Stadt um sie herum kam ihr vor wie eine Kulisse.

»Anfang des Sommers bekamen wir einen Hinweis«, fuhr Latschen fort. »Er kam von einer älteren Dame aus Södermalm. Sie besitzt einen Kleingarten in Tantolunden, schon seit den Sechzigerjahren.«

»In der Nähe des Krankenhauses, meinst du?«, fragte Hannah und musterte ihn angespannt. »Da oben auf dem Hügel, auf der anderen Seite der Bahnlinie?« Latschen nickte. »In der Nähe des Krankenhauses, richtig. Die alte Dame geht immer seltener dorthin, seit ihr Mann verstorben ist, aber ab und zu schaut sie bei ihrem Garten vorbei, zupft ein bisschen in den Blumenbeeten herum und trinkt eine Tasse löslichen Kaffee …«

»Komm zur Sache!«, unterbrach Hannah ihn. »Was ist los?«

»Für Small Talk hast du wirklich nichts übrig«, neckte er sie und nahm einen Schluck Wasser. »Also, die alte Dame hat irgendwann bemerkt, dass ein paar Häuser weiter ein neuer Mieter eingezogen war, und in einer solchen Kleingartenkolonie gibt es eigentlich keine große Fluktuation. Wer einmal so ein Häuschen besitzt, der verkauft es nicht so schnell. Und weil ihr das Ganze seltsam vorkam, hat sie die Polizei angerufen. Das war so ein Dunkler, aber blond, hat sie gesagt und wurde zu Recht abgewimmelt ‒ man hielt sie eben für so eine verrückte Alte, die sich von den rechtsnationalen Schwedendemokraten zu sehr hat einlullen lassen und wahrscheinlich schon auf eine Demenz zuschlittert. Aber dann rief die Frau erneut an, um zu melden, dass der Nachbar wohl permanent dort wohne, was gemäß der Satzung des Kleingartenvereins offenbar nicht erlaubt ist. Irgendjemand hat sich das notiert, und nach einer Weile ist es zu mir durchgesickert.«

Latschen verstummte und schaute Hannah durchdringend an. Er leitete das ENFAST-Team, das dafür verantwortlich war, Aslan aufzuspüren und zu finden, und ihm war bewusst, was das für Hannah bedeutete. Obwohl sie sich im Laufe des Sommers kennengelernt hatten, wusste Hannah nicht viel über Latschens Privatleben, nur, dass er unverheiratet war und jeden Tag laufen ging. Er war seit fünfundzwanzig Jahren bei der Stockholmer Polizei und in Kollegenkreisen so etwas wie eine lebende Legende. Im Laufe der Jahre hatte er Hunderte Kriminelle verhaftet und sich ein umfangreiches Verbrecherwissen angeeignet. Wie kein anderer konnte er sich an Namen, Aussehen und Biografien der Übeltäter erinnern. Latschen war eben ein Bulle durch und durch. Hannah hatte ihre Bedenken gehabt, als sie gehört hatte, dass er die Führungsrolle im Team übernehmen sollte, aber in den wenigen Monaten, die sie jetzt zusammenarbeiteten, hatte sich ihre Skepsis in Vertrauen verwandelt.

»Auf jeden Fall haben sie die alte Dame irgendwann eingeladen«, fuhr Latschen fort. »Haben ihr Fragen gestellt, ihr Fotos gezeigt. Sie hat ihn identifiziert, mehrmals.«

»Wann war das?«

»Vorgestern, glaube ich. Ist noch nicht lange her.«

Hannah sprang auf.

»Verdammte Hacke – vorgestern? Also hatte er zwei weitere Tage, um sich aus dem Staub zu machen? Er könnte jetzt schon in Kabul sein!«

»Die Dame sprach immer wieder von seinen blonden Haaren, und irgendwann fiel den Kollegen ein, dass oben im Belüftungsraum Wasserstoffperoxid gefunden wurde.«

»Er ist es, Johan. Wer sollte es sonst sein? Wann greifen wir zu? Ich weiß, dass er es ist! Komm schon, wir können doch nicht hier herumsitzen!«

Rastlos marschierte sie in dem großen Konferenzraum hin und her. Latschen gab ihr ein Zeichen, sich zu beruhigen.

»Herumbrüllen und Fluchen bringt nichts, Hannah! Du weißt doch selbst, was alles für einen solchen Zugriff nötig ist. Ein falscher Schritt, und schon sind alle hinter dir her. Die Medien fallen immer wieder über die Polizei her. Keine größere Razzia ohne mediale Überwachung.«

»Das ist mir scheißegal, Latschen. Scheißegal. Wann legen wir los?«

»Wir haben schon Ermittler in Zivil vor Ort. Seit gestern Abend untersuchen sie die Lagepläne der Kleingartenkolonie. Glaub mir, es war nicht leicht, da ranzukommen – also, an die Pläne.«

Hannah schaute ihn an und konnte ihren Ärger nicht länger verbergen. »Es geht um die Nationalen Einsatzkräfte, oder? Die landesweit operierenden Spezialkräfte sollen den Zugriff durchführen, oder? Johan Swärd und seine Gang mit David Wie-heißt-er-noch-gleich? Diese Meute von Machos?«

»Willst du jetzt hören, was geplant ist, oder nicht? Es liegt ganz bei dir, Hannah.«

Sie nickte und setzte sich wieder. »Wie viel Zeit haben wir? Ich will dabei sein. Ich will sehen, wie er auffliegt.«

Ein paar Stunden später, nach dem gescheiterten Zugriff, lief Hannah über den Fußweg, der Tantolunden mit dem Eriksdalsschwimmbad und Skanstull verband, und verfolgte den Terroristen, bis sie die Kraft verließ und sie immer weiter hinter ihm zurückfiel. Je langsamer seine Verfolgerin wurde, desto schneller schien der Terrorist sich fortzubewegen. Mit federnden Schritten näherte er sich dem Schwimmbad und hielt dabei Ausschau nach dem roten Wagen, den Teymur, der Logistiker, beiläufig erwähnt hatte. Der Wagen sollte für den Fall auf ihn warten, dass etwas schiefging. In der Nähe des Weges picknickten Familien, bewaffnet mit Körben voller Essen und großen Decken. Auf dem Parkplatz vor dem Eriksdalsbadet, direkt unter der Skanstullsbrücke, wartete der Logistiker in einem roten Auto, so, wie er es dem Terroristen versprochen hatte.

Teymur hatte Aslan bei ihrem Treffen in der Kleingartenhütte einen sogenannten GPS-Tracker gegeben, eine Art Peilsender. Teymur wusste also genau, wann der Terrorist wo auftauchen würde, und öffnete ihm schon die Beifahrertür, als Aslan herangekeucht kam.

»Steig ein!«, sagte er. »Wir fahren sofort los.«

Sie ließen nur eine Staubwolke zurück.

»Sie lag weit zurück«, sagte der Logistiker. »Keine Sorge!«

Der Terrorist schnaufte immer noch nach seinem Dauerlauf, und der Schweiß rann ihm über die Stirn. Nach ein paar Minuten beruhigte sich sein Atem. In der Zwischenzeit hatten sie einige Kilometer in Richtung Norden zurückgelegt. Die Stimmung im Wagen war angespannt.

»Warum gehst du diese Risiken ein?«, fragte der Mann hinter dem Lenkrad schließlich. »Warum verlässt du nicht einfach das Land? Ich kann das ganz einfach einfädeln, das weißt du. Geronimo steht hinter dir.«

Geronimo war nicht nur der Name eines berühmten Häuptlings der Apachen, sondern der Codename für Abu Q, den spirituellen Führer der beiden Männer.

»Du weißt genau, warum, Teymur. Hier bin ich jemand. Hier werde ich gefürchtet.«

»Bis sie dich erwischen. Dann bist du ein Niemand.«

»Sie erwischen mich nicht. Nicht mit deiner Hilfe. Wohin fahren wir überhaupt?«

»Was glaubst du?« Sie näherten sich Norrtull. »Wir fahren in die Hochburg der Gangs, wo sich kein vernünftiger Polizist mehr hinwagt. Dort bist du sicher, solange du dir nicht noch mehr Unsinn einfallen lässt.«

Der Terrorist schaute aus dem Fenster. Sie passierten das Karolinska-Universitätskrankenhaus, dann den Nordfriedhof, und irgendwann kamen die langen, öden Autobahnabschnitte. Es war nicht viel los auf den Straßen, aber Teymur hielt sich trotzdem an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Mit einer so teuren Fracht geblitzt zu werden, wäre der Gipfel der Dummheit. Die Stimmung war nach wie vor gedrückt.

»Ich kann sie nicht ausstehen«, sagte Aslan. »Sie nervt mich. Sie zeigt mir keinen Respekt.«

»Respekt?«, platzte sein Fahrer heraus. »Sie hat den Einsatz am Krankenhaus geleitet, nicht wahr? Warum sollte sie dir Respekt entgegenbringen? Wahrscheinlich hasst sie dich bis aufs Blut.«

»Weil ich Aslan Bassajew bin«, erklärte der Terrorist mit überlegenem Lächeln. »Weil ich Respekt verdiene! Und das werde ich ihr schon beibringen.«

»Du solltest dich von ihr fernhalten. Sie könnte durchaus zu einer Spezialeinheit gehören, die hinter dir her ist. Abstand, Abstand, Abstand – das ist das Einzige, was du von ihr halten solltest.«

»Wie heißt sie noch mal?«

»Hannah irgendwas.«

Sie fuhren durch Sollentuna.

»Ich bin Aslan Bassajew und nehme keinerlei Befehle entgegen, Teymur. Ich erteile Befehle. Ist das klar?«

Teymur nickte bedächtig. Er hatte nicht vor, Aslan eine Szene zu machen. Aslan war weder sein Auftraggeber noch bezahlte er ihn. Aber der Terrorist brauchte Schutz, und Teymurs Aufgabe war es, für seine Sicherheit zu sorgen und Autos, Wohnungen und alles andere zu beschaffen, was gebraucht wurde. Nach einem kurzen Moment des Schweigens kam Teymur jedoch wieder auf ihr eigentliches Thema zu sprechen.

»Das hier war trotzdem ein unnötiges Risiko, so nah am Geschehen zu bleiben. Du hättest sofort Leine ziehen sollen, als du das Gefühl hattest und dann klar war, dass sie dich aufgespürt hatten.«

»Oder eben doch.«

Teymur warf ihm einen fragenden Blick zu, und Aslan fuhr fort: »Ich bin nicht geschnappt worden, was soll das Gejammer also? Beruhige dich mal! Und wo geht es jetzt eigentlich hin? Wo sollen diese berühmten Hochburgen der Gangs sein?«

»In Stockholm wird es zu heiß für dich. Dort erwischen dich diese schwedischen Mistkerle.«

Der Terrorist lächelte nur und warf den Kopf in den Nacken. »Noch nicht, Bruder, noch nicht. Also, jetzt zum dritten Mal: Wohin fahren wir?«

»Nach Uppsala. Dort kannst du dich ausruhen und musst dich nicht die ganze Zeit gejagt fühlen.«

»Hast du mit Abu Q gesprochen?«

»Nein, niemand spricht jemals mit Abu Q.«

Sie fuhren weiter nach Norden, immer noch brav alle Verkehrsregeln befolgend. Nach einer halben Stunde zeichneten sich in der Ferne die Umrisse der hohen, spitzen Domtürme ab. Sie näherten sich ihrem Ziel.

Kapitel 3

Johan Jacobsson saß im Umkleideraum der Feuerwache und starrte an die Wand. Ein Tag noch, dann war er vom Dienst befreit. Er konnte es kaum glauben, geschweige denn akzeptieren, dass er etwas Unrechtes getan haben und nun vom schwedischen Staat seiner Freiheit beraubt werden sollte. Das war so absurd. Seiner Freiheit beraubt. Wie absurd das war. Er hatte nichts anderes getan als die Jungs von den Nationalen Einsatzkräften, aber ihn hatte die Polizei noch am selben Tag festgenommen, als er einen der Terroristen getötet hatte. Während sich der Aufruhr allmählich legte, war er verhört und gleich im Anschluss von der Staatsanwaltschaft verhaftet worden.

Vier Tage später fand seine erste Anhörung vor dem Stockholmer Bezirksgericht statt, und er wurde mit Verdacht auf Totschlag in Untersuchungshaft genommen. An Augenzeugen mangelte es nicht. Er hatte während der Befreiungsaktion einen der Terroristen erwürgt. Ein winziges Zeitfenster hatte sich geöffnet, und er hatte es genutzt. Die Terrorgruppe war zwar überwältigt worden, aber die Einsatzkräfte hatten einige von ihnen noch nicht gefesselt oder erschossen. Am Morgen dieses verhängnisvollen Tages hatten die Terroristen seinen Sohn Uno getötet, und keine Sekunde hatte Johan daran gezweifelt, nicht wenigstens einen von ihnen umzubringen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Am besten mit bloßen Händen. Dass die Angelegenheit ein juristisches Nachspiel haben würde, war ihm erst bewusst geworden, als die Handschellen klickten, aber selbst in diesem Moment hätte er niemals geglaubt, verurteilt zu werden, da er mehr als alle anderen im Kinderkrankenhaus geopfert hatte. Uno war sein einziges Kind gewesen. Sein Augenstern.

Die Zeit seit seiner Verhaftung hatte er wie eine Reise erlebt. Eine Lehre. Er hatte die schwedische Rechtsmaschinerie bei der Arbeit verfolgen können, korrekt, unbestechlich und völlig gleichgültig dem Kontext gegenüber. Die Ermittler hatten vier Wochen Zeit gehabt, ihre Arbeit abzuschließen. Sie schafften es nicht. Die Polizei war nicht gewillt, die Aufnahmen der Überwachungskameras aus dem Krankenhaus freizugeben, auf denen der Ablauf der Ereignisse deutlich zu erkennen war – fast wie in einem Actionfilm. Johan hatte den Terroristen von hinten angesprungen, ihm den Arm um den Hals gelegt und zugedrückt. Die Untersuchungszeit wurde um vier Wochen verlängert, und nach zwei Monaten wurde schließlich die Verhandlung angesetzt. Johan Jacobsson wurde wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt, die er in einer entsprechenden Haftanstalt verbüßen sollte.

Dabei war das schwedische Haftsystem schon komplett ausgelastet. Die Gefängnisse waren zum Bersten voll. Somit wurde für Johans Fall eine pragmatische Lösung gefunden. Bestand Fluchtgefahr? Hatte er eine kriminelle Vergangenheit? Da beide Fragen mit Nein beantwortet werden konnten, gaben sich die Strafvollzugsbehörden damit zufrieden, Johan der sogenannten Meldepflicht zu unterwerfen, was bedeutete, dass er einmal in der Woche auf dem Polizeirevier Norrmalm antanzen musste. Obwohl kein Zweifel bestand, dass die Strafe angesichts der Umstände verkürzt werden würde, konnte Johan das Urteil nicht akzeptieren. Sein Körper erschien zwar regelmäßig, um seiner Meldepflicht nachzukommen, aber seine Gedanken waren ganz woanders. Der eigentlich Schuldige befand sich noch auf freiem Fuß, während er selbst verhaftet und um einen Teil seines Lebens gebracht werden sollte. Das passte doch nicht zusammen.

Nun saß er da und starrte auf die Wand im Umkleideraum, neben sich eine aufgeschlagene Abendzeitung. Ihm war das Gerücht zu Ohren gekommen, dass der Anführer der Terroristen den Anschlag überlebt hatte. Jetzt las er von der Razzia in Tantolunden und war sich sicher, dass an dem Gerücht etwas dran war und der Terrorist noch lebte. Nein, er war nicht nur am Leben, sondern bewegte sich immer noch frei in Stockholm. Als Johan von der Arbeit nach Hause kam, war er erschüttert und beschwingt zugleich. Seine Gedanken waren bereits einen Schritt weiter: bei der Jagd.

Der Jagd, die noch kommen sollte.

Kapitel 4

Mit dem Beginn derJagd war die psychologische Pattsituation gebrochen. Ihr Beruf als Polizeikommissarin hielt Hannah bei der Stange, als sie mit der anstrengenden Hormonstörung zu kämpfen gehabt und sich vergeblich nach einem eigenen Kind gesehnt hatte. Der Beruf bei der Polizei bedeutete einen Rettungsanker, denn sie liebte ihre Uniform und fühlte sich darin so wohl wie in ihrer eigenen Haut. Sie verkörperte darin die Hüterin von Ordnung und Gesetz, die Richterin über Recht und Unrecht.

Der Vorfall im Kinderkrankenhaus hatte sie verändert oder zumindest stark beeinflusst. Nichts hatte sie darauf vorbereiten können, mit dem toten Jungen auf dem Arm mitten durch die Schlangengrube zu stapfen. Dieses Ereignis hatte Fragen aufgeworfen, die sie selbst kaum in Worte zu fassen vermochte, immer wieder, unbewusst oder vorbewusst. War es möglich, das Böse zu bekämpfen? Wollte sie wirklich Kinder in diese Welt setzen? Die Fragen waren da, aber bis an die Oberfläche schafften sie es nicht.

Ihr waren auch Zweifel an ihrer Ehe mit Erik gekommen. Allein die Tatsache, dass sie eher seinen Beruf des Wirtschaftsprüfers vor Augen hatte als die Tatsache, dass er ihr Ehemann war, wenn sie an ihn dachte, konnte doch kein gutes Zeichen sein. War er wirklich der Richtige für sie? In letzter Zeit war es etwas besser geworden. Die Jagd